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Eine junge Polizistin liegt tot in einem Streifenwagen. Ihr Kollege wurde durch einen Kopfschuss schwer verletzt. Als er aus dem Koma erwacht kann er sich nicht mehr erinnern. Die Kommissare Lena Lieck und Tom Schneider sichern eine mysteriöse DNA-Spur die bereits an zahlreichen Tatorten in Deutschland gesichert wurde aber keiner bestimmten Person zugeordnet werden konnte. Je näher die Lösung des Falles rückt desto intensiver tauchen bei Lena schmerzhafte Erinnerungen an ihre Kindheit auf und Tom wird mit der der Schattenseite seines Lebens konfrontiert; eine traurige Vergangenheit, die gegenwärtig ist wie nie zuvor. Angelehnt an authentische Fälle und mit Blick hinter die Kulissen polizeilicher Ermittlungen und auf die Gefühlswelten seiner Ermittler präsentiert Jörg Schmitt-Kilian dicht an exis- tierenden Personen eine dramatische Story, in der sich die Fik- tion mit einem erschreckend realem Hintergrund vermischt. "Ein herausragender Kriminalroman, geschrieben von einem Insider mit profunder Kenntnis und angelehnt an eine der spektakulärsten Mordserien in der deutschen Kriminal geschichte mit einem Blick hinter die Kulissen polizeilicher Ermittlungen und auf die Gefühlswelten der Kommissare." PIPER-Empfehlung zum "Buch des Monats"
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Seitenzahl: 337
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Jörg Schmitt-Kilian
SPURENLEGER
Der erste Fall für Lena Lieck
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Das Buch:
In Erinnerung an
Vorbemerkung des Autors
Prolog
1.
2.
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31.
32.
Epilog
Nachschlag
Danke
Anhang
Impressum neobooks
Jörg Schmitt-Kilian
SPURENLEGER
Der erste Fall für Kommissarin Lena Lieck
Originalausgabe: PIPER-Verlag München
Aktualisierte Ausgabe: 2017
Alle Rechte: Jörg Schmitt-Kilian
Cover-Foto: Charly Hofstätter / Axel Boesen
Autorenfoto: Carmen Schüller
Eine junge Polizistin liegt tot in einem Streifenwagen. Ihr Kollege wurde durch einen Kopfschuss schwer verletzt. Als er aus dem Koma erwacht kann er sich nicht mehr erinnern.
Die Kommissare Lena Lieck und Tom Schneider sichern eine mysteriöse DNA-Spur die bereits an zahlreichen Tatorten in Deutschland gesichert wurde aber keiner bestimmten Person zugeordnet werden konnte.
Je näher die Lösung des Falles rückt desto intensiver tauchen bei Lena schmerzhafte Erinnerungen an ihre Kindheit auf und Tom wird mit der der Schattenseite seines Lebens konfrontiert; eine traurige Vergangenheit, die gegenwärtig ist wie nie zuvor.
Angelehnt an authentische Fälle und mit Blick hinter die Kulissen polizeilicher Ermittlungen und auf die Gefühlswelten seiner Ermittler präsentiert Jörg Schmitt-Kilian dicht an existierenden Personen eine dramatische Story, in der sich die Fiktion mit einem erschreckend realen Hintergrund vermischt.
„Ein herausragender Kriminalroman, geschrieben von einem Insider mit profunder Kenntnis und angelehnt an eine der spektakulärsten Mordserien in der deutschen Kriminalgeschichte mit einem Blick hinter die Kulissen polizeilicher Ermittlungen und auf die Gefühlswelten der Kommissare.“
PIPER-Empfehlung „Buch des Monats“
Bambus, Hännes, Robert und Sam, meine ersten»Bärenführer« auf dem 1. Polizeirevier »Münz«, der berühmt berüchtigten Koblenzer »Davidwache«,
Gerd, Kracher und Lanzi von der Kripo, Hermann vom MEK, Ritzo vom SEK, Burkhardt und Jöbi vom Personalrat, die uns alle viel zu früh verlassen haben.
In stillem Gedenken an
»Mafia-Jäger« Oberstaatsanwalt Horst Leisen, der mir bis zu seinem frühen Tod ein wertvoller juristischer Berater war,
und
Polizeimeisterin Michele Kiesewetter, die am 25. April 2007 in Heilbronn von Mitgliedern des NSU am helllichten Tag in ihrem Streifenwagen erschossen wurde.
»Spurenleger« ist ein Roman, zu dessen Entstehung mich eigene Erlebnisse im polizeilichen Alltag und Medienberichte über die spektakulärste Mordserie in Deutschland inspiriert haben. Am 25. April 2007 wurde die Polizistin Michele Kiesewetter in Heilbronn in ihrem Streifenwagen erschossen und ihr Kollege durch einen Kopfschuss schwer verletzt. Dieser Mord, die Jagd nach einem Phantom und die mysteriöse DNA-Spur am Tatort, die bis zur Manuskriptabgabe meiner bei PIPER München erschienenen Originalausgabe nicht identifiziert werden konnte, waren Auslöser für diesen Kriminalroman.
»Spurenleger« keine Enthüllungsgeschichte. Die Romanfigur der Polizistin Sabine Laube und deren familiäre Geschichte hat nichts mit der getöteten Polizistin gemeinsam. Der Bezug zu dem wahren Kriminalfall wurde ausschließlich aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammengetragen.
Bereits vor dem tragischen Tod der jungen Polizistin Michele Kiesewetter hatte ich ein Manuskript mit dem Arbeitstitel »Ein Toter meldet sich zu Wort« über den Mord an einem Drogenfahnder in seinem Dienstwagen geschrieben und konnte nicht ahnen, dass die Realität meine Phantasie überholt.
Ebenfalls konnte ich vor Bekanntwerden der NSU-Affäre nicht ahnen, dass dieser Mord einen terroristischen Hintergrund hat, aber meine Protagonistin Lena Lieck hatte beim Schreiben des Tatortbefund-Berichts auch dieses Motiv in Erwägung gezogen. Dennoch wären Ermittlungsergebnisse und Ähnlichkeiten mit existierenden Personen rein zufällig. Aber die Ereignisse, die meine Hauptprotagonisten Lena Lieck und Tom Schneider bewegen, spiegeln realitätsnah die Gefühlswelten von Frauen und Männern im Polizeidienst wider, die mit vielen menschlichen Schicksalen konfrontiert werden.
Fachausdrücke, Abkürzungen und Begriffe im Polizeijargon werden in einem Glossar am Ende des Romans erklärt.
Er zieht den Zigarettenrauch tief und gierig ein, atmet langsam aus und blickt gedankenverloren auf die dunkle Wolkendecke, die tief über die Stadt hinwegzieht. Seit einigen Tagen tauchen vor seinem geistigen Auge wieder diese Erinnerungen auf. Die Vergangenheit ist nach dem aktuellen Vorfall erschreckend präsent und überlagert die Gegenwart. Dabei hatte er die Ereignisse in der untersten Schublade seines Gedächtnisses abgelegt. Unter Verschluss gehalten, aber niemals wirklich vergessen, denn diese Erinnerungen haben sich auf immer und ewig in sein Gedächtnis eingebrannt.
Die Zeit vergeht so schnell. Sie zerrinnt wie feiner Sand aus den Händen. Niemand kann sie aufhalten. Plötzlich schallen ihre spitzen Schreie wie ein Echo in seinen Ohren. Hatten diese Worte wirklich ihren Mund verlassen? Oder entspringen diese seiner Phantasie? Er spürt wieder das tosende Beben in seiner Brust, doch sein Verlangen vermischt sich mit dieser kalten Angst, dass die Vergangenheit seine Zukunft zerstören könnte.
Und ist es noch so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen.
Dieser Spruch seiner Großmutter taucht immer wieder in seinem Gedankenlabyrinth auf.
Wie wird sie reagieren, wenn ihre Erinnerungen wach werden? Er darf nicht darüber nachdenken, hat Angst vor ihrer Reaktion. Sie ist eine starke Frau und würde ihn vernichten.
Das Bauwerk seines bis heute sehr erfolgreichen Lebens würde dann wie ein Kartenhaus zusammenfallen.
Er reibt die feuchten Handinnenflächen an den Lehnen des dunkelbraunen Ledersessels ab. Aber er kann die Spuren seiner Angst nicht wegwischen.
Er muss etwas tun. Er darf keinen Tag länger warten. Muss aktiv werden. Allein. Wie damals. Kein Mittäter. Keine Mitwisser. Wie damals.
Nur ihr Tod kann sein Leben retten.
Wie ein ferngesteuerter Roboter steigt er aus dem Ledersessel. Er ahnt, wo er sie morgen Abend treffen kann. Treffen! Er lächelt.
Treffen genau zwischen ihre katzengrünen Augen. Sein Plan ist riskant, aber er hat keine andere Wahl. Er muss es tun. Wie damals.
Der Funkstreifenwagen RHEIN 11/1 rollt nahezu geräuschlos auf den kleinen Parkplatz hinter dem Deutschen Eck am Zusammenfluss von Rhein und Mosel. Polizeikommissarin Sabine Laube parkt den Streifenwagen rückwärts vor der alten Bruchsteinmauer am Ludwig-Museum ein. Der Streifenwagen ist neben den Müllcontainern nur schemenhaft zu erkennen. Die Blaulichter auf dem Dach werden von der Abenddämmerung verschluckt. Niemand würde neben übel riechenden, mit Graffiti beschmierten Containern ein Polizeifahrzeug vermuten. Ein geschickter Platz zum Observieren. Wer unentdeckt beobachten will, darf selbst nicht erkannt werden. Das hatte sie an der Hochschule der Polizei gelernt.
Seit der Personenüberprüfung der stadtbekannten Junkies in den Rheinanlagen vor dem Koblenzer Schloss hat sie mit Polizeioberkommissar Bernd Müller kein einziges Wort gewechselt. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass sie während der ersten Nachtstreife immer an diesen Ort fährt. Nur ein Auftrag von der Einsatzleitstelle RHEIN oder dem Dienstgruppenleiter der Schutzpolizeiinspektion 1 mit dem Rufnamen RHEIN 11 kann sie von diesem Ritual abhalten.
Sabine Laube schaltet den Motor aus, dreht den Schalter für die Lautstärke des Funkgeräts zurück und blickt in die Dunkelheit. Kurze Zeit später wird die Stille im Streifenwagen durch ein kurzes Rauschen unterbrochen. Die blecherne Stimme des Kollegen Werner von der Einsatzzentrale im neunten Stock des Koblenzer Polizeipräsidiums ertönt aus dem Funkgerät: »RHEIN 11/5 für RHEIN kommen!«
»11/5 hört!«, meldet sich Polizeikommissarin Andrea Bühler, die erotischste Stimme der Polizeiinspektion 1. Sie erkennen sich an ihren Stimmen wie vertraute Menschen, die häufig miteinander telefonieren.
»RHEIN 11/5. Fahren Sie VU ohne. Friedrich-Ebert-Ring, Höhe Bahnhofstraße, Fahrtrichtung Rhein-Mosel-Halle. Die Beteiligten erwarten Sie an der Unfallstelle!« Sabine atmet erleichtert aus. Der Auftrag »VU ohne« für die Aufnahme des Verkehrsunfalls ohne Verletzte wird an die Besatzung eines anderen Funkstreifenwagens erteilt. Alltagskram. Kleinigkeiten. Sie hat Wichtigeres zu tun.
»11/5 verstanden!«, bestätigt Andrea Bühler, indem sie nur kurz die Sprechtaste betätigt. Dann knackt es in der Leitung, und anschließend breitet sich wieder Stille im Funkkanal aus. Oftmals die Ruhe vor dem Sturm. Niemand weiß, was in der nächsten Sekunde geschehen wird. Und das ist gut so.
Sabine Laube tippt nervös mit den Zeigefingern auf das Lenkrad. »Willst du nachher weiterfahren?«, fragt sie, ohne ihren Kollegen anzuschauen. Bernd Müller nickt. Er öffnet wortlos die Beifahrertür, steigt aus, geht um den Streifenwagen herum und setzt sich hinters Steuer. Sabine ist inzwischen auf den Beifahrersitz gerutscht. Von hier aus kann sie besser beobachten. Ihr Blick wandert wieder zu den Dirnen, die am Rheinufer auf Freier warten. Die meisten jünger als Sabine. Auf Lolita gemacht, mit Puppengesichtern und Schmollmündern. Sie locken Freier an, die auf frisches Fleisch stehen. Männer aus allen Berufsgruppen finden hier eine kurze Befriedigung ihrer Lust. Die Mädchen sind nicht teuer. Für die Männer sind es nur billige Flittchen, die sie bei Tageslicht mit Verachtung strafen würden. Auch heute wird sie mindestens einem dieser geilen Böcke den Spaß verderben, ihn dermaßen scharf kontrollieren, dass er am Ende würde, warum er sich um diese Uhrzeit hier herumtreibt. Immer wieder dieses Déjà-vu-Erlebnis bei den Personenkontrollen. Die – meist älteren – Männer jammern, suchen Ausreden, rechtfertigen sich. Es sei wirklich das erste Mal. Echt, das müsse sie glauben. Dann stottern sie, werden verlegen und gestehen ihre Angst, die Gattin könne davon erfahren. Aber eigentlich seien die Ehefrauen selbst schuld. Im
ehelichen Bett würde ja schon lange nichts mehr laufen. Eklige Schweißperlen tropfen dann von ihren Gesichtern. Meist ziehen sie ein verschmutztes Taschentuch aus der Hose und wischen sich mit dem unappetitlichen Rotzfänger übers Gesicht. Sie zittern. Jämmerliche Kreaturen. Arme Menschheit!
Manche weinen sogar. Und wenn die Personenüberprüfung negativ ist, beruhigen sie sich wieder und starren unverfroren auf Sabines Brüste. Einige machen sie dann richtig an: »Von Ihnen würde ich mich auch gerne verhaften lassen.« »Wollen Sie mir keine Handschellen anlegen?«
»Sie sind viel zu hübsch für eine Polizistin.« Und andere schwachsinnige Sprüche. Am liebsten würde Sabine im Dienst ihr T-Shirt mit der Aufschrift Ich hab auch Augen, du Idiot!, tragen. Aber das würde gegen die Kleiderordnung bei der Schutzpolizei verstoßen. Lena Lieck von der Kripo dagegen kann anziehen, was sie will. Hosenanzug, Jeans, Lederjacke, schickes Kostüm. Pumps. Bei K kein Problem. Wenn sie morgen Mittag ausgeschlafen hätte, würde sie Lena anrufen und sich mit ihr zum Power-Shopping in Wiesbaden verabreden. Sie hatte Lena beim letzten Flurfest im Präsidium kennengelernt und fand die Kollegin vom Kommissariat für Kapitaldelikte auf Anhieb sympathisch. Von Lena könnte sie sicherlich noch viel lernen. Nicht nur für die Vorbereitung auf die Prüfung für den Schwarzgurt in Judo. Irgendwann würde sie auch von S zu K wechseln. Aber nicht zur Mordkommission, sondern am liebsten zur Sitte, dem Fachkommissariat, in dem Gewaltdelikte gegen Frauen und Kinder bearbeitet werden. Und den Grund dafür kennt niemand, außer ihm.
***
Polizeioberkommissar Bernd Müller dreht sich mit ruhiger Hand eine Zigarette. Durch das geöffnete Seitenfenster strömt
die warme Abendluft. Er zündet mit dem Sturmfeuerzeug den Glimmstängel an und bläst die Rauchkringel aus dem Fenster. Bernd denkt an seine Frau Ute, die Kinder und das fast bezugsfertige Einfamilienhaus in Neuborn, dem kleinen Westerwalddorf in der Nähe von Koblenz. Er stellt den Fahrersitz auf Liegeposition und hofft, dass in der nächsten halben Stunde kein Freier die Mädchen anspricht. Bis kurz vor Beginn der Nachtschicht hat er am Bau gearbeitet. Ein harter Tag.
Hoffentlich wird es eine ruhige Nacht. Ein Nachtdienst »ohne besondere Vorkommnisse«. Aber dieser Vermerk ist eher selten im Rapport der Schutzpolizeiinspektion 1. Irgendwas geschieht nachts immer: Verkehrsunfall, Schlägerei, Einbruch, Alarmauslösung, Vermisstenanzeige, Familientragödie, Verfolgungsfahrt, Leichensache und so weiter. Manchmal die ganze Palette in einer einzigen Nacht.
Morgen würde das Dach aufgeschlagen. Er freut sich auf das Richtfest mit Handwerkern, Freunden und den vielen Kollegen aus der Schicht, die ihn tatkräftig unterstützt haben. In ein paar Wochen würde er mit Ute, Jenny und Ben einziehen. Ein lang ersehnter Traum ginge in Erfüllung. Jenny würde die Grundschule besuchen, nur zweihundert Meter vom neuen Haus entfernt, Ben auf das Gymnasium Asterstein wechseln. Für die Fahrt zum Polizeipräsidium benötigt er über die Umgehungsstraße nur zehn Minuten. Bernd kann es kaum erwarten, endlich aus der kleinen Wohnung in dem Koblenzer Stadtteil Karthause in das eigene Haus umzuziehen. Vielleicht würde er einen belgischen Schäferhund kaufen und sich als Diensthundeführer bewerben. Das Grundstück am Rande des kleinen Dorfs bietet sich förmlich an, und der sehnlichste Wunsch der Kinder war schon immer ein eigener Hund. Trautes Heim, Glück allein. Er freut sich auf das gemeinsame Leben unter dem eigenen Dach. Beim Blick auf die sich dicht an Fels anschmiegenden Gebäude der Festung Ehrenbreitstein, die von zahlreichen Scheinwerfern beleuchtet wird, versinkt Bernd Müller immer tiefer in Gedanken. Hinter der Arenberger Höhe auf der anderen Seite des Rheins würde ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Auf den Höhen des Westerwaldes ist es immer ein paar Grad kälter als im Rheintal. Im letzten Winter lag der Schnee so hoch, dass man eine Loipe für den Ski-Langlauf rund um den Golfplatz Denzer Heide spuren konnte. Er freut sich riesig darauf und wirft einen kurzen Blick auf Sabine. Er weiß immer noch nicht, warum Sabine bei der ersten Nachtstreife an diesen Ort fährt. Obwohl sie ansonsten ein eingespieltes Team sind. Nur ein einziges Mal hatte er Sabine nach dem Grund gefragt. Sie wolle kontrollieren, ob auch Minderjährige auf den Strich gehen, hatte sie geantwortet. Ihre Antwort klang nicht überzeugend. Da steckt mehr dahinter. Das spürt er.
Irgendwann würde er sie noch einmal fragen. Vielleicht heute Nacht zwischen vier und sechs, wenn die Zeit bis zum Schichtende nicht vergehen will und man jede Gelegenheit zur Überbrückung der letzten zwei Stunden nutzt.
***
Der Mann, der kein Mörder werden wollte, sitzt auf dem Mauersims hinter der Bruchsteinwand und starrt auf die rot glühende Spitze in der Finsternis, die in kurzen Abständen aufleuchtet. Der Polizist hat sich eine Zigarette angezündet.
Auf dem Parkplatz steht immer noch der Lieferwagen mit der Aufschrift Deutscher Paketdienst. Vor dreißig Minuten sind zwei junge Männer durch die Hecktür eingestiegen. Zunächst hatte er befürchtet, es könne sich um ein Observationsfahrzeug der Polizei handeln. Aber als der Wagen leicht schaukelte, war ihm klar, was sich im Fahrzeuginnern abspielt. Er erschrickt, als der Motor aufheult und der Lieferwagen den Parkplatz verlässt. In seiner Anspannung hatte er nicht bemerkt, dass die beiden Männer wieder in das Führerhaus gestiegen waren.
Die zwei jungen Bordsteinschwalben gehen auf der Rheinpromenade auf und ab, rauchen eine Kippe nach der anderen und warten auf Freier. Wenn sie wieder in die andere Richtung gehen, ist die Gelegenheit günstig. Die billigen Nutten auf der anderen Straßenseite könnten nicht erkennen, was in wenigen Sekunden neben den Müllcontainern geschehen wird.
Sein Blick konzentriert sich wieder auf den Streifenwagen. Ob sie sich einem anderen Menschen anvertraut hatte? Eher unwahrscheinlich. Sie traut keinem Menschen über den Weg.
Noch nicht einmal sich selbst. Sie ist zu misstrauisch. Berufskrankheit. Sie ist halt eine Polizistin. Ein verächtliches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Bald war sie eine Polizistin. Ihre letzten Minuten bis zur Grenze ins Jenseits, die verbleibende Zeit zwischen Leben und Tod hält er in seiner Hand. Ein Machtgefühl baut sich in ihm auf. Niemand würde ihm diese Tat zutrauen. Er hat bewiesen, dass er sich in seinem Job durchsetzen kann. Aber er kann auch charmant sein, hat im Laufe der Zeit ein feines Gespür entwickelt, wann er sich Menschen mit Entscheidungsgewalt zu unterwerfen hat und besser sein Fähnchen nach dem Wind dreht. Er zeigt anderen immer ein gefälliges Lächeln. Keiner, dem man einen Mord zutrauen würde. Und nun huscht ein eiskaltes Lächeln über sein Gesicht. Eiskalt, wie ihn kaum einer kennt. Außer ihr. Er steigt von dem Mauersims, entsichert die Waffe und schleicht an der Wand entlang. Der Geruch nach verrottendem Abfall und Katzenpisse wird intensiver. Nur noch wenige Sekunden. Niemand wird ihn daran hindern, das zu tun, was er tun muss. Selbsterhaltungstrieb. Eine wichtige Funktion zum Überleben. Ein Trieb, so alt wie die Menschheit selbst. Nur die Starken überleben.
***
Bernd Müller zieht noch einmal an seiner Zigarette. Ein letzter gieriger Zug bis tief in die hintersten Verästelungen seiner Lunge, dreht er die Rückenlehne des Fahrersitzes wieder hoch und wirft den abgebrannten Glimmstängel aus dem Fenster.
Er dreht sich zu Sabine um und starrt in den Pistolenlauf, der auf seinen Kopf zielt. Bernd öffnet den Mund zu einem Schrei, doch die Worte bleiben im Hals stecken. Seine Hand greift zum Pistolengriff. Tausendmal hatte er diese Bewegung trainiert. Auf dem Schießstand Pfaffendorfer Höhe, in der Raumschießanlage des Polizeipräsidiums, unter realistischen Bedingungen im Schießkino und beim Einsatztraining in der Eifel.
Tausendmal trainiert, tausendmal ist nichts passiert. Zu spät. Ein Schuss zerreißt die Stille. Grelles Mündungsfeuer brennt in seinen Augen. Flackernde Lichtblitze lassen seinen Kopf explodieren. Die Kugel durchbohrt seine rechte Gehirnhälfte. Er spürt den brennenden Schmerz im Magenbereich, schmeckt das Blut in seinem Mund. Dann bellt ein zweiter Schuss.
Er sackt auf dem Fahrersitz zusammen, spürt eine warme Flüssigkeit, die sich ihren Weg vom Kopf über das Gesicht weiter auf dem Hals auf seinen Oberkörper bahnt und das von Ute heute Nachmittag erst frisch gewaschene Diensthemd rot verfärbt. Hinter einem grauen Schleier bauen sich Bilder auf: Ute vor dem Bügelbrett, die lachenden Gesichter seiner Kinder, die in der Badewanne planschen. Das Wasser färbt sich langsam rot. Ein letzter Gedanke an Ute, Jenny und Ben. Allein im neuen Haus. Ohne ihn. Für immer. Und ewig.
Der Druck im Gehirn lässt nach. Die Luft entweicht. Wie aus einem Luftballon nach einem kleinen Nadelstich. Er kann nicht mehr atmen. Die Lichter der Festung Ehrenbreitstein werden schwächer. Dann erlöschen die großen Scheinwerfer, als hätte sie ein riesiger Mund ausgeblasen. Dunkelheit breitet sich aus. Ewige Dunkelheit? Ewig?
Ewig kann verdammt lang sein. Verdammt lang.
»RHEIN 11/5 für RHEIN kommen!« »11/5 hört!«, meldet sich Andrea Bühler. »Standort?« »Rheinstraße.« »Fahren Sie umgehend Parkplatz Danziger Freiheit. Anrufer will in einem Streifenwagen zwei leblose Personen entdeckt haben. Weitere Fahrzeuge von Ihrer Dienststelle sind unterwegs. Achten Sie auf Eigensicherung!« Für zwei Minuten breitet sich eine unheimliche Stille im Funkkanal aus. Es ist fast so, als sei die Zeit stehen geblieben. Drei weitere Streifenwagenbesatzungen der Polizeiinspektion 1 rennen zu ihren Dienstfahrzeugen und rasen zum Tatort. Kurz bevor alle den Einsatzort erreichen, hallt der verzweifelte Schrei von Polizeikommissarin Andrea Bühler durch den Funkkanal: »Wir brauchen dringend NAW! Bernd lebt noch!« Dann bricht sie weinend zusammen. Ihr Kollege teilt der Leitstelle die wesentlichen Fakten mit, und der Einsatzsachbearbeiter erteilt den Auftrag: »RHEIN 11/5 übernehmen Sie als Führungsfahrzeug bis auf Weiteres alle Maßnahmen vor Ort.« Kurze Zeit später ertönt in allen Streifenwagen der Region Koblenz bis hin zu den angrenzenden Dienststellen in Eifel, Westerwald, Hunsrück und Taunus der schrille Alarmgong für dringende Einsätze bei konkreter Gefahr für Leib oder Leben von Menschen. Nach dem letzten Gong rauscht Werners erregte Stimme durch den Funkkanal:
»Hier RHEIN an alle, hier RHEIN an alle! Ring 20! Ringmittelpunkt Koblenz. Parkplatz Danziger Freiheit.
Eine Kollegin im Streifenwagen erschossen! Ein Kollege durch Kopfschuss schwer verletzt! Kontrollpunkte besetzen! Vollsperrung aller Brücken und Ausfallstraßen! Alle Fahrzeuginsassen kontrollieren! Einsatzhundertschaft wird alarmiert! RHEIN 11 teilt die Sektoren für die Nahbereichsfahndung zu. Weitere Aufträge nach Eintreffen der alarmierten Kräfte. Funkdisziplin wahren! Achten Sie auf Eigensicherung!«
Absolute Priorität hat nun die Hilfeleistung für Bernd Müller. Aber es müssen auch schnellstmöglich fahndungsrelevante Hinweise über die Täter erlangt, die »Jungfräulichkeit des Tatorts« gesichert und der Bereich großräumig abgesperrt werden. Das ist mit den zurzeit im Dienst befindlichen Kräften nicht zu leisten. Polizeioberkommissar Christoph Retz von der Einsatzleitstelle RHEIN alarmiert den Rat vom Lagedienst, die Einsatzhundertschaft, die Diensthundeführer und alle Kollegen, die im näheren Umkreis wohnen. Polizeihauptmeister Christoph Kling informiert die Wasserschutzpolizei, die über den Rheinfunk für alle Fahrgastschiffe und Lastkähne ein vorläufiges Auslaufverbot erteilen und mit Unterstützung der alarmierten Kräfte alle Schiffe und die Uferbereiche kontrollieren wird. Die Polizeihubschrauberstaffel auf Flughafen Winningen steigt mit zwei Maschinen auf, und die Bundespolizei wird am Hauptbahnhof alle Reisenden der abfahrenden Züge kontrollieren.
Viele Einwohner haben sich schon zur Ruhe gelegt, als sie von den Sirenen der zahlreichen Martinshörner geweckt werden. In den Schaufenstern der Innenstadt spiegeln sich die kreisenden Blaulichter der Streifenwagen. Das Sirenengeheul dringt durch
Mark und Bein. Menschen öffnen die Fenster, einige laufen auf die Straße, befürchten eine Katastrophe, die sie aber nicht einordnen können. Vielleicht ein Erdbeben im Neuwieder Becken in der Nähe des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich? Bei den älteren Koblenzern werden Erinnerungen an schreckliche Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg wach. Damals lag die ganze Innenstadt in Trümmern. Immer mehr Rundumlichter der Einsatzfahrzeuge zucken wie blaue Blitze durch die Dunkelheit und tauchen die Innenstadt in ein gespenstisch flackerndes Lichtspiel. Schwer bewaffnete Polizeibeamte in gelb fluoreszierenden Westen haben auf allen Ausfallstraßen Kontrollstellen eingerichtet. Die Vollsperrungen von Balduinbrücke, Kurt-Schumacher-Brücke, Europabrücke, Südbrücke und Pfaffendorfer Brücke verursachen auch um diese Uhrzeit innerhalb kürzester Zeit einen Verkehrskollaps. Auf den Eisenbahnbrücken nach Güls und Horchheim und der Staustufe Koblenz werden Fußgänger und Radfahrer kontrolliert. An den Anlegestellen der beiden Fähren, auf den Fahrgastschiffen und den Lastkähnen, die an Rhein und Mosel vor Anker liegen, führen Beamte der Wasserschutzpolizei bereits die ersten Personenkontrollen durch.
***
Kriminalhauptkommissarin Lena Lieck steigt mit schlotternden Knien aus dem Dienstwagen. Sie versieht heute Nacht ihren Verfügungsdienst auf der Kriminalwache. Zehn Dienste pro Jahr muss jeder Angehörige der Kriminaldirektion leisten, da alle fünf Dienstschichten im Kriminaldauerdienst personell unterbesetzt ist. Lena kann sich nicht daran erinnern, dass sie beim Betreten eines Tatorts jemals so gezittert hat. Doch! Beim Anblick ihres ersten Mordopfers: eine zerstückelte Frau in einem Tiefkühlschrank, die von drei Metzgern zur Verdeckung der mehrfachen Vergewaltigung »fachgerecht klein geschnitten« wurde.
Die Kollegen der Schutzpolizei haben die Moseluferstraße und das Rheinufer für den Autoverkehr gesperrt. Alle Zufahrten zum Tatort zwischen Rhein und Mosel sind weiträumig abgeriegelt. Lena Lieck streift die cremefarbenen Gummihandschuhe über ihre feingliedrigen Hände und blickt den jungen Praktikanten von der Fachhochschule der Polizei kurz an. Sein erster Nachtdienst im KDD. Der junge Mann wird diese Bilder nie in seinem Leben vergessen. Sie werden ihn ein Leben lang verfolgen. Irgendwie tut er ihr leid. Aber er hat sich für den Beruf entschieden. Wie Lena auch. Sie ist drei Monate seine Praxisanleiterin und soll ihm das Rüstzeug für den polizeilichen Alltag mit auf den Weg geben.
»Ringalarmfahndung wurde ausgelöst. Alle Ausfallstraßen werden vollständig abgeriegelt, also Vollsperrung aller Brücken und Kontrolle aller Personen. Es werden Teams für eine Nahbereichsfahndung in den im Alarmplan festgelegten Sektoren eingeteilt. Jeder weiß, was er zu tun hat. Alle Personen werden überprüft und für eine spätere Auswertung registriert«, erklärt sie dem sichtlich geschockten Praktikanten. Der junge Kollege nickt nur. Es hat ihm die Sprache verschlagen. Eine solche Szene kennt er nur aus dem Fernsehen oder aus den Computerspielen mit seinen Freunden am Wochenende. In diesem Moment schwört er sich, nie mehr Tastatur, Maus oder Pad für ein Game über Verfolgungsfahrten mit Polizeifahrzeugen und anschließendem Schusswechsel in die Hand zu nehmen.
Lena Lieck atmet tief durch. Sie geht langsam mit kurzen Schritten auf den Parkplatz. Der junge Durchläufer trottet wie ein treuer Hund hinter ihr her. Zwischen Streifenwagen und Müllcontainer liegt ein blutüberströmter Polizist auf dem Rücken. Die Männer des Rettungsdienstes in ihren roten Westen versuchen den Kollegen mit der Professionalität der routinierten Ersthelfer zu reanimieren. Lena wirft einen kurzen Blick nach rechts und bleibt stehen. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Der junge Notarzt setzt eine Spritze. Ein Sanitäter hält die Infusionsflasche, der zweite presst dem Polizisten eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht. Dann heben sie den Schwerverletzten auf die Liege und tragen ihn zum Rettungswagen. »Wird er durchkommen?«, fragt Lena leise.
»Es wird schwierig«, antwortet der Arzt. Lena spürt die Resignation in seiner Stimme. Dann geht sie auf die Beifahrerseite des Streifenwagens. Der blutüberströmte Kopf einer jungen Polizistin liegt auf dem Armaturenbrett. Hektische Gespräche dringen aus dem Funkgerät. Dünne Blutstreifen rinnen von der Frontscheibe in die Lüftungsschlitze der Armaturenverkleidung. Das rote Rinnsal erweckt den Anschein, als wäre noch Leben in diesem Körper. Aber die Kollegin hat ihren letzten Atem ausgehaucht. Lena beugt sich über die Leiche. »Nei-i-i-n!«, würde sie am liebsten schreien. Ein unkontrolliertes Zittern überfällt ihren Körper. Das Gesicht unter dem frischen Blut. Mein Gott! Sabine! Lena blickt ihren Praktikanten an. Der kindlich wirkende Polizeistudent ist noch jünger als Sabine Laube. Wirkt eher wie ein bewaffneter Schülerlotse. Das rosafarbene Gesicht des jungen Mannes verfärbt sich zu einem gräulichen Weiß. »Ist sie wirklich ...?«, fragt er mit brüchiger Stimme. Lena nickt. Bevor sie sagen kann, dass er sich an solche Anblicke gewöhnen wird, dreht er sich um und übergibt sich in einem Schwall mitten auf dem Parkplatz. Lena muss die starke Frau mimen. Die taffeKommissarin. Wie so oft. Sie tritt hinter ihn und legt die Hand auf die Schulter des jungen Kollegen. Man hat ihr doch diesen jungen Mann für drei Monate anvertraut. Was soll sie ihm beim Anblick dieses grausamen Geschehens sagen? »Glaub mir! Das passiert dir nur beim ersten Mal. Mit der Zeit gewöhnst du dich an solche Anblicke«, lügt sie. Warum? Vielleicht würde der Kollege in einem anderen Beruf glücklicher. Lena versucht ihren Schwindel zu unterdrücken, der sie immer noch beim Anblick von Leichen überfällt. Niemals im Leben würde sie sich an den Tod gewöhnen. In der letzten Zeit treten diese Schwindelanfälle wieder öfter auf. Ohne erkennbaren Grund. Oft in Phasen der Ruhe.
Nur nicht drüber nachdenken. Einfach weitermachen. Lena geht zu dem Fahrzeug zurück, in dem das Unfassbare geschehen ist. Ihr Blick bleibt an dem roten Rinnsal auf der Windschutzscheibe hängen. Sie spürt die Angst vor dem eigenen Tod. Wie wird ihr Leben enden? Unzählige Fragen bohren sich in ihr Gehirn. Sie tauchen immer auf, wenn sie Leichensachen bearbeiten muss. Leichen konfrontieren immer brutal mit der Endlichkeit des eigenen Seins. Aber wäre ein ewiges Leben nicht schlimmer? Forever young: eine ebenfalls erschreckende Vorstellung. Bei Todesermittlungen wird der Mensch innerhalb von einer Sekunde zur Sache. Zur Leichensache. Lena kann bei Sabines Anblick nicht sachlich bleiben. An diesem Tatort liegt nicht irgendein anonymes Opfer. Sabine ist eine Kollegin. Eine Frau, deren Körper sie schon berührt hat. Sabines herzerfrischendes Lachen beim letzten Flurfest klingt wie ein Echo in Lenas Ohren. Lena wollte das fröhliche Beisammensein um zehn Uhr verlassen. »Lena, genieße das Leben, jeden Tag, jede Stunde, keiner weiß, was in der nächsten Minute geschieht!«, hatte Sabine sie überredet, noch zu bleiben. Und danach verging die Zeit wie im Flug. Sie hatten bis in den frühen Morgen über Gott und die Welt geredet und trotz des Altersunterschiedes viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Wer weiß, was morgen ist? Sabines Worte. Lena fand so viel Vertrautes in dem Gesicht der jüngeren Kollegin. In einem fremden Gesicht. War Sabine ihr so ähnlich, wie eine jüngere Schwester, die sie nie hatte? Dachte sie an die Zeit, als sie selbst noch bei der Schutzpolizei Dienst verrichtete? Und dann sagte Sabine: »Carpe diem. Genieße den Tag. Jeden Tag, an dem du wach wirst. Jeder Tag ist ein besonderer Tag. Der erste Tag vom Rest deines Lebens.«
Und es klang aus dem Mund der jungen Frau nicht altklug. Lena versucht gefühlsmäßige Distanz herzustellen. Sie muss ihren Job erledigen. Nur nichts anfassen. Du bist Profi, flüstert sie vor sich hin und ballt voller Wut ihre Hände in den Hosentaschen. Dies ist bereits die vierte Leiche in vierzehn Tagen: Das verhungerte Baby, tot im Kinderzimmer. Die aufgeblasene Wasserleiche am Rhein-Anleger. Der von Maden zerfressene Rest eines unbekannten männlichen Körpers im Stadtwald. Und nun die durch einen Kopfschuss brutal ermordete Sabine.
Vier Leichen in vierzehn Tagen! Wenn in zwei Wochen vier Leichen deinen Weg pflastern, solltest du endlich über das Leben nachdenken, meldet sich ihre innere Stimme. Und vor sechs Wochen hatte sich ein Kollege erschossen. Einfach so! Motiv unbekannt. Angeblich. Einfach so? Bei Suizid in Polizistenkreisen werden offiziell meist private Probleme genannt. Das ist aber nicht immer der einzige Grund. Lena spürt erneut diese Angst. Mit der Angst vor dem Tod wächst der Mut zum Leben. Manchmal verlässt Lena der Mut. Und erneut ertönt diese innere Stimme in ihren Ohren: Du solltest mehr über dein Leben nachdenken. Sonst bleibst du auf der Strecke. Nimm eine Auszeit. Wie damals nach dem Verfahren gegen Silkes Vater. Die Therapie hat dir doch gutgetan. Du musst kein schlechtes Gewissen haben. Jeder ist zu ersetzen. Auch du! Du hast bei Helga erlebt, wie schnell man eine Kuh von der Weide jagt, wenn sie keine Milch mehr gibt. Lena steht wie zu einer Salzsäule erstarrt vor dem Streifenwagen. Dann schwankt ihr Kopf. Sie will sich an das Fahrzeug lehnen. Nein, nichts anfassen. Siehst du. Du schaffst es nicht. Lena hält sich die Ohren zu. Es nützt nichts, denn die Stimme spricht aus ihrem Innern und verstummt erst, als die Beamten des Erkennungsdienstes eintreffen und Lena dem Team von der Spurensicherung den Tatort übergibt. Die Kolleginnen und Kollegen von der Kriminaltechnik sehen in den weißen Schutzanzügen mit Kapuzen aus wie Schneemänner. Schnee im Sommer. Genauso unmöglich wie das Unfassbare, das hier geschehen ist? Nichts ist scheinbar unmöglich. Uniformierte Kollegen sperren den Tatort mit einem rot-weißen Band ab, damit keine Unbefugten den für die Spurensuche wichtigsten Bereich zertrampeln, eigene Spuren legen und wertvolle Spuren vernichten. Unbefugt sind ab sofort auch alle Polizisten, außer Spurensicherung und Gerichtsmediziner.
Ein Team der Schutzpolizei stellt den Lichtmast-Kraftwagen vor der Einfahrt zum Parkplatz ab. Riesige Halogenscheinwerfer tauchen den Streifenwagen in ein gespenstisches Licht. Ein abendlicher Spaziergänger würde Dreharbeiten für einen Tatortkrimi vermuten. Die Lampen machen die Nacht zum Tag. Ein Tag unter glühend heißer Sonne. Lena bleibt noch einige Minuten hinter der Absperrung stehen und lässt den Ort des grausamen Geschehens auf sich wirken.
Sie erschrickt, als sich eine Hand auf ihre Schulter legt. Lena dreht den Kopf leicht zur Seite. Es ist eine blasse, schmale, feingliedrige Hand mit zahlreichen Altersflecken. Sie kennt diese Hand und lehnt sich zurück.
»Ach, Harald! Ich könnte heulen«, flüstert Lena. »Warum tust du es nicht?«, antwortet Harald Sauer. Harald ist ihr Chef, der Leiter des Kommissariats für Kapitaldelikte. Er wird nun die Ermittlungen übernehmen und eine Sonderkommission einrichten. Harald winkt Günther Weller vom Erkennungsdienst zu sich. Die beiden Männer reichen sich stumm die Hand. »Wenn ihr vermessen, ausgetafelt, Fotos und das Video im Kasten habt, wird der Wagen mit der Leiche in die Waschhalle transportiert. Dort werden wir weiterarbeiten!« Weller nickt nur und geht zurück zu den Frauen und Männern in den weißen Overalls, die den Tatort vermessen und die Schilder mit den Nummern der jeweiligen Spuren positionieren. Erst im Präsidium würde man die tote Kollegin entkleiden, ihre Kleidungsstücke asservieren, mit Folie abkleben, um Mikrospuren zu sichern, und zuvor anhand von Sitzposition, Blutabrinnspuren und weiterer Merkmale eventuell Erkenntnisse über den wahren Tathergang gewinnen. Lena dreht sich kurz um und lehnt ihren Kopf an Haralds Schulter.
»Ich fahr dann mal. Tschüss!« Eine stille Umarmung, länger als gewöhnlich. Harald sieht blass aus. Er hat nach der Darmoperation viel zu früh seinen Dienst wieder angetreten. Wolle sich ablenken, hat er damals gesagt. Nicht immer daran denken, ob der Krebs sich weiter ausbreitet, und zu Hause auf den Tod warten. Sich bei der Bearbeitung von Leichensachen von der Vorstellung lösen, selbst einmal in einer silbernen Wanne abtransportiert und in eine braune Kiste gelegt zu werden. Harald stürzt sich wie ein Wilder in die Arbeit und hofft, irgendwann neben einer Leiche tot umzufallen. Immer noch besser als ein langes Dahinsiechen mit Schmerzen, hatte er Lena vor einigen Wochen anvertraut. Lena steigt in den Opel Astra, der noch mit hektisch blinkendem Blaulicht zwischen den anderen Einsatzfahrzeugen am Rheinufer steht. Sie fährt zum Präsidium und schickt den jungen Mann nach Hause, nachdem sie auf der Rückfahrt zwei Mal anhalten musste, weil dem Praktikanten übel wurde. Lena zieht sich alleine in das Zimmer am Ende des Flurs zurück. Mit zitternder Hand schreibt sie auf dem PC den Eingangsvermerk, im Polizeijargon »erster Angriff« genannt. Der erste Angriff für Sabines letzte Streife. Ist wirklich geschehen, wonach es auf den ersten Blick aussieht? Hat Sabine ihren Kollegen mit einem gezielten Kopfschuss töten wollen und sich dann selbst gerichtet? Lena will die Gedanken an einen erweiterten Suizid verwerfen. Wäre nicht das erste Mal, dass sich zwei heimlich Liebende in das ewige Leben verabschieden, weil sie im irdischen Leben ihre Beziehung nicht ausleben können. Lena denkt an den Schulleiter, der vor drei Wochen seine Kollegin mit einem Kopfschuss getötet und sich dann selbst umgebracht hatte. Aber Sabine und Bernd hatten kein Verhältnis, da ist sich Lena ziemlich sicher. Nein, aber wer hat sie getötet? Hingerichtet!
Wurden die Schüsse aus der Dienstpistole abgegeben, oder hatten der oder die Täter eigene Waffen eingesetzt? Kannte Sabine ihren Mörder? Galt der Anschlag beiden?
War es ein allgemeiner Racheakt an der deutschen Polizei und die beiden wurden zufällig Opfer? Handelte es sich um einen persönlichen Hintergrund? War dies der Beginn einer Serie?
Will sich ein psychisch kranker Mensch an Polizisten rächen? Wurden die beiden zuvor in eine Falle gelockt? Viele Fragen verirren sich unstrukturiert in ihrem Gedankenlabyrinth, und Lena findet keine einzige Antwort. Bis zum heutigen Tage hätte niemand eine solche Tat für möglich gehalten. Neben der Suche nach möglichen Motiven würden die Spuren am Tatort und die Ergebnisse der daktyloskopischen Spurensicherung und DNA-Analysen, die Faser und Schmauchspuren den Weg zu dem oder den Tätern aufzeigen. Aber es dauert oft lange, bis das Ergebnis vom LKA auf dem Tisch liegt.
Und dann nimmt ein anderer Gedanke Gestalt an. Ein terroristischer Anschlag? Von links? Von rechts? Ein Attentat von Reichsbürgern die den Staat ablehnen? Oder kann es auch ein Racheakt der neuen RAF sein, der RoteArmee-Fraktion, die in den 70er-Jahren viele Repräsentanten des von ihr gehassten Staates entführt und umgebracht hat? Buback, Schleyer und viele andere wurden von den Terrorkommandos getötet. Waren die Hinrichtung, anders konnte man es nicht bezeichnen, und der zeitliche Zusammenhang mit der öffentlichen Erklärung der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe zur Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen den RAF-Terroristen Stefan Wisniewski nur ein Zufall? Noch immer sucht das BKA nach RAF-Mitgliedern. Existieren immer noch alte Zellen der Rote-Armee-Fraktion, die sich wieder zusammenrotten, oder nutzt eine neue Organisation die aktuelle RAF-Kontroverse? Waren Sabine und Bernd die ersten Opfer einer neuen innerdeutschen Terror-Welle?
Sind die Kopfschüsse wirklich noch »normale« Tötungskriminalität? Muss sich die deutsche Polizei auf eine Hinrichtungswelle gefasst machen, wenn eine persönliche Beziehungstat ausgeschlossen werden kann?
Ältere Autofahrer würden sich heute Abend an die Rasterfahndung in den Siebziger-und Achtzigerjahren erinnern, als die Bilder von Polizisten mit Maschinenpistolen bei den Straßenkontrollen die Schlagzeilen der Zeitungen beherrschten. Zurzeit lief bundesweit in allen deutschen Kinos Bernd Eichingers Film »Der Baader-Meinhof-Komplex« nach dem Buch des ehemaligen Spiegel-Chefredakteurs Stefan Aust. Erwachte durch die aktuelle Berichterstattung bei vielen potenziellen Tätern wieder die Wut auf das verhasste System?
Oder hatte der Anschlag vielleicht einen islamistischen Hintergrund? Deutschland im Fadenkreuz des Dschihad? Auch möglich. Seit dem terroristischen Anschlag am 11. September in New York scheint nichts unmöglich. Vor vier Wochen waren in Köln zwei Polizisten in einen Hinterhalt gelockt worden. Es wurde eine hilflose Person im Stadtpark gemeldet. Als die Polizisten dem reglos auf dem Boden liegenden jungen Türken erste Hilfe leisten wollten, sprang dieser plötzlich auf. Er hielt eine Waffe in der Hand. Gleichzeitig stürmten zwei weitere Männer hinzu und bedrohten die Polizisten mit Schusswaffen. Als die Beamten flüchteten, schossen die Täter mit Schreckschusspistolen. Die drei in Deutschland geborenen Türken wurden kurze Zeit später in Köln festgenommen. Bei der Vernehmung gaben sie zu, dass sie den Polizisten ihre Dienstwaffen entreißen und sie anschließend töten wollten. Sie wollten sich am Dschihad beteiligen. Deutschland sei wegen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr ihr Feind. War der Koblenzer Anschlag vielleicht sogar ein Racheakt für den missglückten Überfall auf die Kölner Kollegen? Lenas Überlegungen verirren sich immer mehr in einem Gedankenlabyrinth, aber sie findet keine Erklärung.
Zwischenzeitlich sind die komplette Diensthundeführerstaffel, die Einsatzhundertschaft der Bereitschaftspolizei aus Niederberg und alle im Alarmkalender registrierten Kräfte eingetroffen. Die Frauen und Männer erhalten im Präsidium ihre Aufträge vom Leiter der Polizeiinspektion 1 zur hermetischen Absperrung der Stadt zwischen den zwei Flüssen und zur Unterstützung der Fahndungsteams im Nahbereich.
Harald Sauer verteilt die Einzelaufträge an die Frauen und Männer der Sonderkommission »Deutsches Eck«. Die Teams schwärmen aus und suchen mögliche Zeugen. Das bedeutet: Klinkenputzen an allen Wohnungen im engeren Tatortbereich Taxifahrer befragen, welche Fahrgäste sie zur tatrelevanten Zeit befördert haben, Busfahrer des öffentlichen Personennahverkehrs, Toilettenfrauen, Schiffspersonal, die beiden Fährmänner, Gäste der Restaurants an der Rheinpromenade und des Biergartens am Moselufer, die Fahrgäste auf den Hotelschiffen, also alle möglichen Zeugen sowie Kollegen, Verwandte, Bekannte und sonstige Bezugspersonen der Opfer vernehmen.
Leider sind erfahrungsgemäß die Menschen, die am meisten reden, oft diejenigen, die am wenigsten wissen. Knallzeugen werden diese Spezies von den Kollegen der Schutzpolizei genannt, weil sie sich erst nach dem lauten Knall, verursacht durch den Zusammenstoß von zwei oder mehreren Fahrzeugen, umdrehen und danach die Entstehung des Verkehrsunfalls genau beschreiben. Harald Sauer wird die Ermittlungsergebnisse aus den Vernehmungsprotokollen wie Mosaiksteinchen zusammensetzen und hofft auf ein vollständiges Bild, das sie auf die richtige Spur der Verantwortlichen dieses Anschlags führt. Die ersten Zeugen werden bereits vernommen und Harald liest jede einzelne Vernehmung, hört sich die Antworten von Zeugen aus den Aufzeichnungen der Diktiergeräte an und notiert sich übereinstimmende und abweichende Schilderungen um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen.
Peter Schmitz (53), Postinspektor a. D. Ich fahre jeden Abend mit dem Rad meine Runde ums Deutsche Eck und habe schon oft einen Streifenwagen neben den Containern gesehen. Heute Abend war es anders. Ich hatte gleich so ein komisches Gefühl, weil das Blaulicht blinkte. Aber ich konnte nichts erkennen. Es war unheimlich, und ich habe mit dem Handy die 110 gewählt. Doch gut, dass es die Dinger gibt.
Nein, die haben sich nicht mehr bewegt. Ich habe gedacht, entweder schlafen die beiden, oder sie sind tot.
Nein, ich habe auch kein Stöhnen gehört.
Ich bin nicht auf den Parkplatz gefahren. Kurz danach kam ja schon der erste Streifenwagen.
Ich habe auch keine Schüsse gehört und niemanden gesehen.
Natürlich können Sie mich jederzeit erreichen. Ich habe auch immer Zeit. Tag und Nacht. Allzeit bereit, wie wir alten Pfadfinder sagen.
Ute Kuhn (23), Prostituierte
Logo, ich habe den Streifenwagen gesehen. Es ist ein beruhigendes Gefühl, wenn wir wissen, dass die Polizisten ein Auge auf uns werfen. Wir haben ja nichts zu verbergen.
Kostenloser Personenschutz ist nicht zu verachten. Ich gehe regelmäßig zum Gesundheitsamt und hab keinen Bock auf Stress.
Nein, das war keiner von unseren Kunden. Die meisten, die auf junge Mädchen stehen, sind verklemmte Typen. Die können dir nicht mal in die Augen schauen. Sie schieben ihre Nummer. Und das war’s denn. Wollen Sachen, die ihre Alte ihnen nicht erlaubt. Wenn sie einen mal kurz anschauen, dann blicken sie verschämt wie kleine Jungs, als wären sie soeben von ihrer Religionslehrerin beim Onanieren erwischt worden.
Ich habe keine Ahnung, wer das getan haben könnte. Hören Sie! Kurzer Rock, hohe Schuhe und kleiner Verstand. Warum soll ich mir denn meinen Kopf darüber zerbrechen? Jeden Tag werden in Deutschland Leute ermordet. Auch Prostituierte. Würden Sie dann auch so einen Fackelzug machen? Menschen sind Menschen. Denken Sie ans Brigittche, die im Alten Graben angeschafft hat. War bei allen beliebt und gehörte zum Stadtbild. Gestern hat man sie tot in der Wohnung gefunden. Aber das interessiert die Polizei nicht! War ja nur ne Nutte.
Ach so, das war ein natürlicher Tod. Sind Sie da sicher?
Nein, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Ich habe nur die Schüsse gehört, und dann sind Janine und ich vor lauter Schiss weggelaufen. Konnten doch nicht ahnen, dass jemand auf die Polizei feuert. Dachte, es sei ein durchgeknallter Zuhälter. Aber auf die Polizei schießen. Das kenne ich nur aus dem Fernsehen. Ich weiß nicht, wie viele Schüsse ich gehört habe.
Janine Lander (19), Verkäuferin
Ich gehe mit der Ute nur manchmal abends auf den Strich, um mir mein Gehalt ein bisschen aufzubessern. Mir tut es leid. Das mit der Polizistin, meine ich. Ziemlich oft hat uns eine junge
Frau kontrolliert. So ne Blonde. Sah richtig gut aus. Fast wie ein Model. Hätte sie mal gerne im kleinen Schwarzen gesehen, anstatt in diesem komischen Trachtenanzug. Mich hat sie beim ersten Mal genau überprüft, weil ich noch so jung aussehe. Darauf stehen die Alten halt, und ich sage auch nie mein richtiges Alter. Das würde sie abtörnen. Unsere Freier brauchen irgendwie diesen Schulmädchensex. Aus dem Grund trage ich auch diese komischen Klamotten. Mit denen würde ich noch nicht einmal auf Feldwegen spazieren gehen. Arme Menschen! Aber besser, sie reagieren sich bei uns ab, als jemanden umzubringen.
Was haben Sie gesagt?
Ja, das ist richtig. Als wir die Schüsse hörten sind wir in Richtung Riesenfürstenhof gelaufen. Wie Ute schon sagte.
Nein, wirklich nicht. Kein Auto. Keine Typen. Keine Menschenseele. Ehrlich! Und ich kann mich auch nicht an die Anzahl der Schüsse erinnern.
Wenn Sie noch Fragen haben, stehe ich natürlich zur Verfügung, aber bitte rufen Sie mich nicht in meiner Firma und auch nicht zu Hause an. Mein Chef würde mich rausschmeißen, und für meine Eltern würde eine Welt zusammenbrechen.
Kann ich mich darauf verlassen?
Danke, dass Sie dafür Verständnis haben.