Verblendet - Schmitt-Kilian Jörg - E-Book

Verblendet E-Book

Schmitt-Kilian Jörg

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Beschreibung

Ayse Y. flieht vor ihrem brutalen Ehemann. Kurz darauf wird ihr neuer Freund in Koblenz getötet. Alle Spuren führen zurück zu ihrer Familie nach Darmstadt. Tage später geschieht ein zweiter Mord. Mit derselben, beim BKA registrierten Tatwaffe wurde vor fünf Jahren die Polizeikommissarin Sabine Laube beim Reiterstandbild am Deutschen Eck erschossen. Ist der Polizistenmörder von damals zurück? War verbindet ihn mit den beiden Opfern? Als der Verfassungsschutz die Gefahr eines drohenden Terroranschlags enthüllt, wird klar, dass es um mehr geht als persönliche Motive...

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Seitenzahl: 440

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Jörg Schmitt-Kilian / Jutta Siorpaes

Verblendet

Kriminalroman

Die Handlung und alle Personen sind völlig frei erfunden;Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

© EDITION-TZ.DE

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Layout & Druck: TZ-Verlag & Print GmbH, 64380 Roßdorf

EDITION-TZ.DE

Tel. 0 61 54 / 8 11 25

E-Mail: [email protected]

www.edition-tz.de

ISBN 978-3-96031-016-7

eISBN 978-3-96031-055-6

Inhalt

Prolog: Sonntag, 25. April

Freitag, 24. April, fünf Jahre später

Samstag, 25. April

Sonntag, 26. April

Montag, 27. April

Dienstag, 28. April

Mittwoch, 29. April

Donnerstag, 30. April

Freitag, 1. Mai

Samstag, 2. Mai

Sonntag, 3. Mai

Montag, 4. Mai

Dienstag, 5. Mai

Mittwoch, 6. Mai

Donnerstag, 7. Mai

Samstag, 9. Mai

Samstag, 9. Mai

Montag, 11. Mai

Dienstag, 12. Mai

Dank

Über den Autor

PROLOG

Sonntag, 25. April

Die Ampel schaltet auf Rot. Der grüne Alfa Romeo bremst hinter dem Streifenwagen. Die zwei Männer schauen sich kurz an. Sie haben den Überfall mehrfach trainiert. Nach gezielten Schüssen durch die Heckscheibe zur Sicherheit noch einmal von rechts und links. Der Beifahrer zieht jetzt ebenfalls seine Handschuhe an und greift nach den Masken auf dem Rücksitz.

»Verdammt. Schon wieder grün«, zischt der Fahrer und trommelt mit beiden Händen auf das Lenkrad. Zwei Sekunden zu lang gewartet. Das Polizeifahrzeug setzt sich wieder langsam in Bewegung und fährt Richtung Deutsches Eck. Kurz vor der Kurve am Reiterdenkmal des deutschen Kaisers verlangsamt der Streifenwagen das Tempo und parkt neben den Containern vor der Bruchsteinmauer am Ludwigmuseum ein.

Polizeikommissarin Sabine Laube lenkt den Funkstreifenwagen Rhein 11/1 auf den Parkplatz und parkt rückwärts ein. Der grün-weiße Mercedes-Kombi sollte nun zwischen den hohen Sträuchern nur schemenhaft zu erkennen sein. Sogar die beiden Blaulichter auf dem Dach werden vermutlich von der einbrechenden Dämmerung verschluckt. Ein geschickter Platz zum Observieren. Wer unentdeckt beobachten will, darf selbst nicht erkannt werden. Das hatte sie in der Fachhochschule der Polizei gelernt. Sabine schaltet den Motor aus, beugt sich nach rechts, legt ihre Unterarme auf die Oberschenkel ihres Kollegen, grinst ihn von unten an, greift nach dem Drehknopf im Handschuhfach und reduziert die Lautstärke des Funkgeräts. Sie nimmt wieder ihre Sitzposition ein und tippt mit den Zeigefingern auf das Lenkrad. »Bernd, willst du nachher weiterfahren?«

Polizeioberkommissar Bernd Müller nickt, öffnet wortlos die Beifahrertür und steigt aus. Sabine rutscht auf den Beifahrersitz, während ihr Kollege um den Streifenwagen herumgeht und sich hinter das Steuer setzt. Sie beobachtet die Mädchen, die am Rheinufer ständig auf und ab gehen. Keine älter als Anfang zwanzig. Jünger als sie selbst. Als Lolita zurechtgemacht, mit Puppengesichtern und Schmollmündern, locken sie Freier an, die auf Frischfleisch stehen. Die Mädchen sind nicht teuer. Für die Männer sind sie nur billige Flittchen, die sie bei Tageslicht mit Verachtung strafen würden. Auch heute wird sie mindestens einem dieser geilen Böcke den Spaß verderben, ihn so scharf kontrollieren, dass er nach der Personenüberprüfung den Grund vergessen haben wird, warum er sich um diese Uhrzeit hier herumtreibt.

Bernd Müller dreht mit ruhiger Hand eine Zigarette. Durch das geöffnete Seitenfenster strömt warme Abendluft. Mit dem Sturmfeuerzeug zündet er den Glimmstängel an und bläst die Rauchkringel spielerisch aus dem Fenster. Er stellt den Fahrersitz auf Liegeposition und hofft auf eine ruhige Nacht »ohne besondere Vorkommnisse«, aber irgendwas geschieht nachts immer.

Verkehrsunfall mit oder ohne Verletzte. Schlägerei. Einbruch. Alarmauslösung. Vermisstenanzeige. Familientragödie. Suizid. Spektakuläre Verfolgungsfahrt. Widerstand. Leichensache. Und so weiter. Manchmal die ganze Palette in einer einzigen Nacht.

Nach einem Blick auf die sich an den Felsen anschmiegenden und von zahlreichen Scheinwerfern beleuchteten Gebäude der Festung Ehrenbreitstein schließt er die Augen und zieht noch einmal an seiner Zigarette. Ein letzter gieriger Zug bis tief in die hintersten Verästelungen seiner Lunge. Er dreht die Rückenlehne des Fahrersitzes hoch, wirft den abgebrannten Glimmstängel aus dem Auto und – blickt in ein rundes schwarzes Loch. Ruckartig dreht er den Kopf nach rechts und spürt gleichzeitig den Druck von kaltem Metall an seinem Hinterkopf. Er öffnet den Mund zu einem Schrei. Doch die Worte bleiben im Hals stecken. Seine Hand greift zum Pistolengriff. Tausendmal hatte er diese Bewegung trainiert, tausendmal ist nichts passiert.

»Lass die Knarre stecken«, flüstert eine bedrohliche Stimme. Im Augenwinkel bemerkt Bernd eine zweite Pistole, die eine schwarze Hand auf Sabines Hinterkopf ansetzt. Er dreht sich zu ihr. Ihre angstvollen Blicke treffen sich.

Im gleichen Moment zerreißt ein Schuss die Stille. Sabines Kopf fliegt auf das Armaturenbrett. Blutspritzer auf der zersplitterten Windschutzscheibe. Die dunkelrote Flüssigkeit sickert aus dem Loch in ihrer Stirn und verfärbt ihr Gesicht.

Er kann ihre gebrochenen Augen nicht mehr erkennen.

Dann bellt ein zweiter Schuss. Der Knall zerschmettert seine Ohren. Flackernde Lichtblitze brennen in seinen Augen. Sein Kopf explodiert. Die Kugel durchbohrt seine rechte Gehirnhälfte. Er spürt den brennenden Schmerz im Magen, schmeckt das warme Blut in seinem Mund, spürt eine dünne Flüssigkeit, die sich ihren Weg vom Kopf über das Gesicht weiter über den Hals auf seinen Oberkörper bahnt. Sein Kopf sinkt auf die Brust. Wie durch einen Nebelschleier sieht er, wie sich sein weißes Diensthemd rot verfärbt. Der Druck im Gehirn lässt nach. Die Luft entweicht. Wie aus einem Luftballon nach einem kleinen Nadelstich. Er kann nicht mehr atmen. Mit letzter Kraft wirft er einen Blick nach oben. Die Lichter der Festung Ehrenbreitstein erlöschen, als hätte sie ein riesiger Mund ausgeblasen. Dunkelheit breitet sich aus. Ewige Dunkelheit? Ewig? Ewig kann verdammt lang sein. Frau und Kinder allein im Haus. Dann herrscht Stille. Totenstille.

»11/5 für Rhein kommen«, rauscht die Stimme eines Kollegen von der Einsatzzentrale durch den Funkkanal.

»11/5 hört«, meldet sich Polizeikommissarin Andrea Bühler.

»Standort?«

»Rheinstraße, Höhe Riesenfürstenhof.«

»11/5. Fahren Sie umgehend zum Parkplatz Danziger Freiheit. Anrufer will in einem Streifenwagen zwei leblose Personen entdeckt haben. Weitere Fahrzeuge sind unterwegs. Achten Sie auf Eigensicherung.«

Drei weitere Streifenwagenbesatzungen rennen zu ihren Dienstfahrzeugen und rasen mit Blaulicht und Martinshorn in halsbrecherischem Tempo Richtung Deutsches Eck. Noch bevor sie den Tatort erreichen, hallt der schrille Schrei von Andrea Bühler durch den Funkkanal:

»11/5 an Rhein. Wir brauchen einen Notarzt! Bernd lebt noch!«

Sekunden später ertönt der schrille Alarmgong vor der Ansage einer Ringalarmfahndung.

»Hier Rhein, Rhein kommt mit Ring 20! Ringmittelpunkt Koblenz. Parkplatz Danziger Freiheit. Eine Kollegin im Streifenwagen erschossen! Ein Kollege durch Kopfschuss schwer verletzt! Alle Kontrollpunkte besetzen! Noch keine Hinweise auf Täter und Fluchtfahrzeug. Funkdisziplin wahren! Achten Sie auf Eigensicherung!«

Die kreisenden Rundumleuchten der Einsatzfahrzeuge zucken wie blaue Blitze durch die Dunkelheit und tauchen die Innenstadt in ein gespenstisch flackerndes Lichtspiel. Das Sirenengeheul der Martinshörner dringt durch Mark und Bein. Anwohner laufen auf die Straße und befürchten eine Katastrophe. Bei älteren Koblenzern werden Erinnerungen an die Bombenangriffe wach, nach denen die Stadt in Trümmern lag. Schwer bewaffnete Polizeibeamte in gelblich fluoreszierenden Westen errichten Kontrollstellen.

Die Polizisten ahnen nicht, dass die Mörder zu diesem Zeitpunkt bereits mit hoher Geschwindigkeit auf der Eifel-Autobahn Richtung Luxemburg fahren.

Zehn Minuten später streift Kriminalhauptkommissarin Lena Lieck die cremefarbenen Gummihandschuhe über ihre feingliedrigen Hände und betritt den Tatort. Zwischen Streifenwagen und Müllcontainern liegt ein blutender Polizist auf dem Rücken. Die Männer in den roten Westen versuchen, den Kollegen mit der Professionalität der routinierten Ersthelfer zu reanimieren. Der junge Notarzt setzt eine Spritze. Ein Sanitäter hält die Infusionsflasche, der zweite presst dem Polizisten eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht. Lena tritt näher.

»Wird er durchkommen?«, fragt Lena leise.

»Es wird schwierig.«

Lena spürt die Resignation in der Stimme des jungen Arztes. Dann geht sie zum Streifenwagen. Der blutüberströmte Kopf einer jungen Polizistin liegt auf dem Armaturenbrett. Dünne Blutstreifen rinnen auf der Frontscheibe bis hinunter zu den Lüftungsschlitzen der Armaturenverkleidung. Als Lena das Gesicht erkennt, würde sie am liebsten laut aufschreien. Sabine, liebste Freundin. Mein Gott, das darf doch nicht wahr sein.

Freitag, 24. April, fünf Jahre später

1.

…die Hände zittern, wenn ich dem Tagebuch meine geheimsten Gedanken anvertraue. In dem kleinen Büchlein habe ich die schlimmste Zeit meines Lebens dokumentiert. Nur meine Peiniger, meine Therapeutin und Jan wissen, was wirklich geschehen ist.

Oder zumindest das meiste, denn jede Einzelheit der Scheußlichkeiten, die sie mir angetan haben, konnte ich nicht erzählen. Vor allem Jan nicht. Gewisse Dinge sagt man nicht dem Mann, den man liebt. Und meiner Freundin Gonca habe ich aus Scham gar nichts erzählt. Zur Polizei bin ich aus diesem Grund auch nicht gegangen, obwohl mir die Therapeutin dringend geraten hatte, ich sollte die Verletzungen von einer Ärztin attestieren lassen. Sie bezeugen, dass mir der Tod verlockender erschienen ist als diese Hölle auf Erden, in der ich lebte.

Ich sehe sie noch vor mir, die Rasierklinge, wie sie in meine Haut eindringt und wie das Blut hervorquillt, ich spüre, wie es sich warm auf meiner linken Hand ausbreitet, sehe die roten Tropfen auf dem weißen Bettlaken. Ich lag in meinem Bett unter der Decke und hoffte, dass sie nicht gleich entdeckten, was ich getan habe.

Besser wäre es gewesen, sich mit aufgeschnittenen Pulsadern in die Badewanne zu legen, weil das Blut im Wasser nicht gerinnt und man schneller stirbt. Das hatte ich im Internet in einer Anleitung zum Suizid gelesen. Aber das ging nicht, weil sie mir nicht lang genug erlaubten, allein im Badezimmer zu bleiben. Sie ließen mich jedoch auch in meinem Zimmer nicht in Ruhe, weshalb ich nicht genügend ausgeblutet war, als sie mich fanden.

Heute bin ich froh, dass ich noch lebe, auch wenn ich im Gegensatz zu den längst verheilten Wunden in der Haut an denen in meiner Seele noch immer leide. Nach all der Zeit und den vergeblichen Versuchen der Psychotante.

»Glauben Sie mir. Irgendwann werden Sie das alles vergessen können«, hatte sie mir versprochen. Sie hat sich geirrt.

Auch heute noch wecken mich nachts diese Stimmen. Sie schreien wutentbrannt ihre Drohungen heraus. Wiederholen sich ständig. Klingen wie ein Echo in meinen Ohren: Wir werden dich töten, wenn du nicht tust, was wir sagen.

Ich halte mir die Ohren zu, aber vergebens, denn die Stimmen kommen von innen, brüllen ja in mir. Dann tauchen die Bilder auf, so klar, als sei alles erst gestern geschehen. Ich fühle, wie behaarte Hände meinen Hals umklammern, ringe nach Luft und spüre die Schläge auf meinem Körper, die Tritte in die Nieren, die Schmerzen im Unterleib.

Ich habe Todesangst, bis ich endlich erwache, völlig erschöpft und schweißgebadet.

Ich weiß, wäre mir die Flucht nicht gelungen, hätten sie mich längst getötet. Und sie trachten mir immer noch nach dem Leben, aber sie wissen nicht, wo ich bin.

Trotzdem lebe ich in ständiger Angst …

Der Mann legt das Tagebuch auf den kleinen Beistelltisch in der Wohnung, in die er soeben gewaltsam eingedrungen ist. Er fingert die letzte Zigarette aus der Marlboro-Packung, zündet den Glimmstängel an und blättert weiter in dem Büchlein bis zur aktuellen Aufzeichnung aus der vergangenen Nacht.

Heute Abend habe ich mich mit Jan gestritten. Er will, dass ich mich endlich aus diesem Gefängnis befreie und zur Polizei gehe. Er meint, ich kann mich nicht mein ganzes Leben lang verstecken. Daher gibt es nur eine Lösung: Ich muss sie alle anzeigen.

Wirklich alle.

Jetzt kann ich nicht einschlafen. Immer wieder gehen mir seine Worte durch den Kopf. Ich weiß ja, dass er Recht hat. Und darum werde ich seinem Rat folgen. Gleich morgen Mittag nach der Arbeit rufe ich Jan an, und dann gehen wir gemeinsam zur Polizei.

Das wirst du nicht mehr erleben, denkt er, und ein verächtliches Grinsen breitet sich auf seinem vernarbten Gesicht aus. Er steckt das Tagebuch in die Innentasche seiner abgewetzten, schwarzen Lederjacke, schraubt den Schalldämpfer auf die Pistole und atmet tief ein. Nur gut, dass er diese Schlampe noch rechtzeitig gefunden hat. Das Tagebuch darf nicht in die Hände der Polizei gelangen.

Seine nervös-zittrigen Finger öffnen die zweite Zigarettenpackung. Er zündet sich eine weitere Zigarette an und zieht den Rauch tief in seine teerschwarze, kranke Lunge. Noch maximal sechs Monate hat ihm der Arzt gesagt, nachdem er von seiner Ausbildung im Terrorcamp der „Al Kaida“ im März zurück nach Deutschland gekommen war. Er hat nichts mehr zu verlieren, nicht mehr als sein Leben. Aber sie wird noch vor ihm sterben.

Seine Gedanken wandern einige Jahre zurück. Die Vergangenheit ist gegenwärtig wie nie zuvor: Ihre Schreie dröhnen in seinen Ohren. Er spürt das tosende Beben in seiner Brust. Da ist sie wieder, diese blanke Wut, die ihn damals überfallen hatte, als sie nicht so wollte wie er und die anderen. Sie hatte nur so getan, als würde sie ihm gehorchen und ihn verarscht. Dieses Drecksweib. War einfach weggelaufen.

Aber Allah hatte ein Einsehen. Hat ihn zu ihr geführt, oder besser gesagt Cousin Erkan, der von Darmstadt nach Koblenz gezogen war. Er hat sie sofort erkannt, ist ihr gefolgt und hat umgehend Ayses neue Adresse mitgeteilt. Das war die Nachricht, auf die er lange gewartet hat. Inzwischen kennt er ihre Arbeitszeiten und weiß, wo er sie treffen kann. Treffen! Ja, er wird sie treffen. Neun Millimeter. Genau zwischen die Augen. Sie hat seine Autorität mit Füßen getreten. Seine Brüder haben ihn ausgelacht. Verspottet. Hätte sie sich damals umgebracht, müsste er sich heute nicht die Finger schmutzig machen. Sie hatte es mehrmals versucht. Aber selbst dafür war sie zu blöd. Was nach dem Mord kommt, ist egal. Es macht keinen Unterschied, die letzten Wochen seines Lebens in einer kargen Gefängniszelle zu verbringen oder in einem beschissenen Krankenhaus von Ungläubigen zu Tode gepflegt zu werden. Irgendwann wird er elendig verrecken. Und wenn sie ihn nicht erwischen, bleibt genügend Zeit, um bei einem spektakulären Selbstmordattentat möglichst viele Ungläubige mitzunehmen in den Tod. Der Name Ali Yilmaz soll sich für immer und ewig in das Gedächtnis der Menschen einbrennen. Wie die Namen seiner Glaubensbrüder Said und Cherif Kouachi, die in Frankreich diese Schmierfinken von der Zeitung getötet und den Propheten gerächt haben. Und auch den Namen von Amedy Coulibaly, der am gleichen Tag in dem jüdischen Supermarkt vier Menschen getötet hatte, wird niemand vergessen. Er ist stolz darauf, dass er die drei Dschihadisten kannte. Coulibaly hatte er die Schutzweste aus einer deutschen Produktion geliefert und gegen die Waffe getauscht, mit der er heute die Schlampe umbringen wird. Für sie braucht er die Kalaschnikow nicht, die ihm seine von der belgischen Polizei getöteten Brüder aus dem belgischen Verviers besorgt hatten. In Paris, Verviers und Kopenhagen sind sie gestorben. Bald würde er die Brüder im Paradies wiedersehen, aber vorher …

Das Läuten der Wohnungsklingel reißt ihn aus seinen Gedanken.

2.

Jan Rummel drückt auf den Klingelknopf an Ayses Wohnungstür. Die junge Türkin, mit der er seit einigen Wochen befreundet ist, hatte ihm unter Tränen ihre Leidensgeschichte erzählt. Danach war sein Hass auf diese radikalen Muslime noch mehr gewachsen. Ayse wollte ihre Peiniger nicht anzeigen. Stattdessen lebt sie in der ständigen Angst vor Entdeckung. Gestern Abend hatten beide einen handfesten Streit, weil er damit gedroht hatte, der Polizei einen Tipp zu geben. Diese Schweine gehören endlich zur Rechenschaft gezogen. »Die Polizisten können dich schützen, wenn du endlich auspackst«, hatte er ihr erklärt. Ayse hatte getobt und ihn gegen Mitternacht aus der Wohnung verwiesen.

Bei dem plötzlichen Aufbruch hatte er sein iPhone vergessen.

Jan betätigt mehrfach die Klingel an der Wohnungstür. Warum öffnet Ayse nicht? Sie müsste ihre Auslieferungsfahrt schon beendet haben. Hat er Ayse gestern Abend so stark unter Druck gesetzt, dass sie die Beziehung beenden will?

»Ayse, mach bitte auf. Gib mir mein Handy! Ich weiß, dass du zuhause bist. Ich habe dich hinter der Tür gehört.«

»Ayse, mach bitte auf. Gib mir mein Handy! Ich weiß, dass du zuhause bist. Ich habe dich hinter der Tür gehört«, ruft eine männliche Stimme im Flur.

Fuck. Die Bitch hat wieder einen deutschen Freund.

Er bewegt sich auf Zehenspitzen zur Tür und hält die Waffe mit dem Schalldämpfer schussbereit in seiner Hand.

Dann wagt er einen Blick durch den Türspion.

»Ayse, bitte. Gib mir wenigstens mein Handy«, wiederholt der Typ mit den kurzen blonden Haaren und klopft gegen die Tür. Gleich wird der Mann bemerken, dass sie unverschlossen ist.

Als Jan fester anklopft, öffnet sich die Tür wie von Geisterhand. Erst jetzt bemerkt er, dass die Wohnungstür aufgebrochen wurde.

Mit dem rechten Fuß versetzt er ihr einen leichten Stoß und betritt die Wohnung. »Ayse? Wo bist du?«, ruft er in den Flur hinein. Er lehnt sich mit dem Rücken an die Wand und bewegt sich in dem engen Flur im Seitenschritt bis zur geschlossenen Schlafzimmertür. Im Sekundentakt tauchen vor seinem geistigen Auge schreckliche Bilder von einem Tatort auf. Ayse tot in ihrem Bett? Blutüberströmt? Erschossen? Erstochen? Vergiftet?

Vergewaltigt? Jan Rummel atmet tief durch, ehe er das Schlafzimmer betritt.

3.

Kriminalhauptkommissar Tom Schneider sitzt an seinem Schreibtisch im vierten Stock des Polizeipräsidiums. Er schaut auf die Uhr und aktiviert den Kalender seines iPhones, um sich zu vergewissern, dass er den heutigen Termin korrekt eingetragen hat. Stimmt! Wolfgang Klein wollte kurz vor zehn Uhr vorbeikommen. Sein ehemaliger Kollege hatte ihn vor einigen Tagen um ein Gespräch gebeten, um sich über Toms Arbeit im Zeugenschutz zu informieren. Als Tom den Grund wissen wollte, hatte Wolfgang erwidert: »Ohne besonderen Anlass. Einfach so.« Wolfgang konnte schon während der gemeinsamen Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei in Mainz nicht lügen und Tom bezweifelt, dass er es beim Verfassungsschutz gelernt hat. Allerdings sollte Wolfgang bald aufkreuzen, denn Tom möchte hinunter zum Rhein, um anlässlich des fünften Jahrstages der Ermordung von Polizeikommissarin Sabine Laube einen Blumenstrauß an dem inzwischen verwitterten Holzkreuz niederzulegen, das die Kollegen aus der B-Schicht der Polizeiinspektion 1 am Tatort errichtet hatten. Nach der Gedenkminute für die Kollegin wäre dann die perfekte Zeit für Spaghetti Carbonara nach italienischer Art bei Loredana und Antonietta in der Trattoria Adria.

Das Klingeln des Telefons unterbricht seine Gedanken. Endlich. Pförtner Willibald würde ihm seinen Besucher anmelden. Aber am anderen Ende der Leitung nervt ihn ein Mitarbeiter aus der Personalabteilung und beanstandet seine letzte Spesenabrechnung, weil Tom entgegen der Vorschrift die Erstattung von vier Euro Parkgebühr beantragt hatte. Das ist mal wieder typisch. Erst kürzlich hatte die Verwaltung einem Kollegen vom Rauschgiftkommissariat nach einem Einsatz bei Rock am Ring einen Cent auf dessen Girokonto überwiesen. Der Betrag ergab sich aus der Differenz zwischen der Erstattung des Tagegelds und den eingereichten Reisekosten. Dem verantwortlichen Korinthenkacker Schleimig war offensichtlich nicht bekannt, dass Reisekosten unter einem Euro nicht ausgezahlt werden.

Erstaunlich, dass ich mich wieder über solche Kleinigkeiten aufregen kann, denkt Tom. Das sind keine Probleme. Wirkliche Probleme hatte er gehabt, als der Mörder der jungen Polizistin ihn töten wollte. Und nicht nur ihn. Eine Geisel hatte das Drama in der Einsamkeit der Provence nicht überlebt. Claire, ruhe in Frieden.

Und plötzlich tauchen wieder die Schatten der Vergangenheit auf. Vor genau fünf Jahren hatte alles begonnen. Mit dem Mord an Sabine Laube und der anfangs mysteriösen DNA-Spur, die bereits an zahlreichen Tatorten in Deutschland gesichert wurde.

4.

Die Sonderkommission Deutsches Eck hatte ein Phantom gejagt. Einen Mörder ohne Gesicht. Einen Unsichtbaren, der keinen einzigen Hinweis auf seine Identität hinterlassen hatte. Zwar war in Sabine Laubes Streifenwagen eine DNA-Spur gesichert worden, die auch an anderen Tatorten im gesamten Bundesgebiet gefunden worden war. Aber diese mysteriöse DNA konnte keiner Person zugeordnet werden. Kommissar Zufall hatte schließlich nachgeholfen, aber die Art, wie er die Ermittler auf die richtige Spur geführt hatte, hatte niemand vorhersehen können: Kriminalhauptkommissarin Lena Lieck war dem Mörder von Sabine Laube während ihres Urlaubs zufällig in Frankreich begegnet. Obwohl Lena ihn nicht erkannt hatte, fühlte der französische Killer Pierre Bouillon sich in die Enge getrieben und hatte die Polizistin entführt. Bei Toms Versuch, Lena und deren Freundin Claire zu befreien, gerieten die beiden ebenfalls in die Gewalt des Mörders, der ihnen sein Motiv offenbarte, weil er davon ausging, dass niemand überleben würde. Pierre Bouillon war als kleiner Junge Zeuge der Hinrichtung seiner Eltern in Saint-Nicolas geworden, dem kleinen Fischerdorf in den Calanques, vollstreckt von korrupten Polizisten aus Marseille.

Damals war er zwölf Jahre alt und schwor Rache. Fünf Polizisten wollte er töten. Nummer eins und zwei hatte er in Frankreich bereits auf grausamste Art ermordet. Sein drittes Opfer war Sabine Laube gewesen. Ein Auftragsmord. Zwei musste er noch töten, um seine Mission zu erfüllen und das Versprechen einzulösen, dass er seiner sterbenden Mutter gegeben hatte. Zwei, die ihm nichtsahnend in die Arme gelaufen waren: Lena und Tom, die beiden Hauptkommissare, die er in seine Gewalt brachte.

»Zwei auf einen Streich«, hatte der Mörder gesagt und gelacht wie ein Wahnsinniger. In letzter Sekunde hatte ein Sondereinsatzkommando der französischen Polizei seinen perfiden Plan vereitelt, aber Pierre Bouillon konnte sich der Festnahme entziehen. Er ist bis zum heutigen Tag spurlos verschwunden.

Nach dem Drama in der Nähe von Salon-de-Provence war Tom mehrere Monate in einer Klinik für Psychosomatik im Allgäu und danach zur Kur in Bad Reichenhall gewesen. Lenas Behandlung in Davos dauerte wesentlich länger. Die unbeteiligte, völlig unschuldige Claire starb einige Tage nach ihrer Befreiung aus der Gewalt des Geiselnehmers in einem Krankenhaus in Marseille.

Toms Wechsel von der Mordkommission in den Zeugenschutz im Rahmen seiner Wiedereingliederung war die logische Konsequenz jener tragischen Ereignisse aus der Vergangenheit.

5.

Jan atmet erleichtert auf. Ayses Bett ist ungenutzt. Keine weibliche Leiche im Schlafzimmer. Hatte Ayse das Bett bereits für die nächste hoffentlich gemeinsame Nacht gerichtet? Jan wirft einen Blick in Küche und Bad. Es scheint niemand in der Wohnung zu sein. Wann hat Ayse sie verlassen? Bereits gestern Abend nach dem Streit? Freiwillig? War sie entführt worden? Oder ist sie heute Morgen ganz normal zur Arbeit gegangen? Aber warum wurde die Wohnungstür aufgebrochen? Er muss sie unbedingt anrufen. Im Wohnzimmer sucht er sein iPhone. Verdammt, wo hatte er das Handy gestern Abend hingelegt?

Der Mann kommt näher. Wenn er die Balkontür öffnet, wird ihn der lautlose Schuss ins Jenseits befördern. Der deutsche Bastard hat den Tod ebenso verdient wie Ayse, diese Hure.

Jan öffnet die Balkontür, blickt in ein rundes schwarzes Loch vor dem Gesicht eines fremden Mannes. Er spürt nur noch, wie das Geschoss in das Gehirn eintritt und eine warme Flüssigkeit über die Stirn auf die Nase sickert. Dann wird alles schwarz und er stürzt zu Boden.

Bastard, Bastard, Bastard. Bei jedem Wort tritt er dem Toten mit seinen spitzen Schuhen so fest er kann in die Rippen. Dann spuckt er ihm auf den Kopf. Der Hund hat es mehr als verdient.

6.

Ayse hastet auf klappernden Absätzen die grau gefliesten Treppenstufen zu ihrer Wohnung hinauf. Flüchtig streifen ihre Augen den Unrat in den Ecken des Treppenhauses. Fastfood-Verpackungen, Essensreste, sogar Glasscherben. Sehr passend zu dem Scherbenhaufen meines Lebens, denkt sie. Und jetzt auch noch der Krach mit Jan. Wieso hatte sie gestern Abend so überreagiert? Dafür straft Jan sie nun mit seinem Schweigen. Den ganzen Vormittag hatte er sich nicht gemeldet. Und die Tür hatte er auch nicht geöffnet, als sie eben auf dem Nachhauseweg von der Arbeit an seiner Wohnungstür klingelte. Sie wollte ihm wenigstens sein Handy zurückgeben. Das muss er vermissen. Jan telefoniert ständig, checkt alle halbe Stunde seine Mails und chattet häufig in WhatsApp. Sie möchte sich mit Jan aussprechen und heute Abend Versöhnung feiern. Bei dem Gedanken lächelt sie unwillkürlich und stellt sich vor, wie Jan sie zärtlich in seine Arme schließt, wie sein warmer Atem über ihre Haut streicht, wie seine feuchten Lippen ihren Hals küssen. Doch im nächsten Moment vertreibt die Gegenwart ihre Gedanken. Den Blick starr auf ihre Wohnungstür gerichtet, verharrt sie wie angewurzelt auf dem Treppenabsatz. Die Tür steht offen und nicht nur das. Sie ist aufgebrochen worden.

Ayse spürt, wie sich die Härchen im Nacken aufstellen. Sie streckt den Kopf vor, um zu lauschen. Es ist ruhig. Doch wenn sie auch kein anderes Geräusch wahrnimmt, ist es möglich, dass jemand in der Wohnung sitzt und wartet. Auf sie wartet! Sie weiß auch, wer.

So leise wie möglich läuft Ayse auf Zehenspitzen das Treppenhaus wieder hinunter. Es ist so weit, denkt sie und streicht sich eine Haarsträhne aus der schweißnassen Stirn. Wie Jan es prophezeit hatte. Sie haben mich gefunden. Denn wer sonst sollte in dieser Gegend einbrechen, in der es nichts zu holen gibt? Damit ist die Zeit der Entscheidung gekommen. Wie die nach Jans Meinung auszusehen hat, ist klar, und er hat Recht. Ayse seufzt leise und blickt hinter sich. Alles ist ruhig. Niemand folgt ihr. Also nichts wie weg hier, solange es noch geht. Sie rennt zu den Garagen, die zwischen der Straße und dem Wohnblock liegen. Die Gebäude bieten Sichtschutz und gewähren gleichzeitig freien Blick auf den Hauseingang. Als sie völlig außer Atem die Rückseite der Garagen erreicht, lehnt sie sich an die Wand und wählt die Notruf-Nummer der Polizei.

»Ich möchte einen Einbruch melden«, sagt sie mit zitternder Stimme und bemerkt, wie gehetzt sie klingt.

»Bitte nennen Sie Ihren Namen und die genaue Adresse«, erwidert der Polizist in ruhigem Ton.

»Mein Name ist Yilmaz. Ayse Yilmaz.«

»Frau Yilmaz. Wo wohnen Sie?«

Ayse nennt ihre Adresse im Stadtteil Lützel und fügt hinzu: »Im zweiten Stock. Linke Tür. Sie wurde aufgebrochen.«

»Wo sind Sie jetzt?«

»Bei den Garagen vor dem Haus. Ich habe es nicht gewagt, in die Wohnung zu gehen.«

»Das ist gut so. Bleiben Sie, wo Sie sind, ich schicke einen Streifenwagen vorbei.«

7.

Ayse wartet ungeduldig im Schutz der Garagen und beobachtet weiter den Hauseingang. Bis jetzt hat keine Person das Gebäude verlassen. Es kommt ihr fast wie eine halbe Ewigkeit vor, als der Streifenwagen am Straßenrand neben der Einfahrt zu den Garagen anhält. Endlich. Zwei Beamte in Uniform steigen aus. Der Fahrer ist jung, groß und kräftig, sein Beifahrer deutlich kleiner, älter und von hagerer Gestalt. Sie kommen auf die Garagen zu. Ayse wirft einen vorsichtigen Blick zum Hauseingang. Dann gibt sie ihre Deckung auf und läuft den Polizisten entgegen.

»Ich bin Ayse Yilmaz. Ich habe Sie angerufen.«

»Ihre Wohnung liegt im zweiten Stock links?«, fragt der junge Polizist.

Ayse nickt. »Genau. Sie erkennen die Wohnung sofort. Die Tür wurde aufgebrochen.«

»Alles klar. Wir gehen jetzt hinauf und sehen nach. Sie warten hier, bis wir wiederkommen«, ordnet der Ältere an.

Dann setzen sich die Beamten in Bewegung. Ayse schaut ihnen nach. Inzwischen ist sie umringt von neugierigen Kindern, die irgendwo in der Nähe gespielt und das Polizeiauto bemerkt haben müssen. Nach einer Weile erscheinen auch einige Eltern, wahrscheinlich herbeigerufen von den Sprösslingen, die schon ein Handy besitzen. Die Erwachsenen bleiben auf Distanz und starren herüber. Ayse kennt sie nur vom Sehen, von flüchtigen Begegnungen im Treppenhaus, bei der Müllentsorgung an den Containern oder auf den Wegen zwischen den Wohnblocks. Sie begegnet kurz ihren fragenden Blicken. Was ist hier los, wen werden die Beamten dieses Mal festnehmen? Dann wendet sie sich ab, richtet ihre Augen wieder angespannt auf den Hauseingang und fragt sich, warum die Beamten nicht zurückkommen, obwohl schon fast fünf Minuten vergangen sind. Plötzlich bemerkt sie im Augenwinkel zwei weitere Streifenwagen und ein Zivilfahrzeug mit einem Blaulicht auf dem Dach, die in der Nähe der Garagen anhalten. Vier Uniformierte sowie eine Frau und ein Mann in Zivil steigen aus und gehen mit schnellen Schritten zum Hauseingang. Eine junge Polizistin in Uniform, begleitet von einem älteren Kollegen, kommt direkt auf Ayse zu.

»Frau Yilmaz?«

»Ja, das bin ich.«

»Mein Name ist Silke Schön. Kommen Sie bitte mit uns.«

»Mit Ihnen? Wohin?«, fragt Ayse und betrachtet die Frau irritiert, deren Ton deutlich kühler ist als jener der beiden Polizisten zuvor.

»Beruhigen Sie sich, Frau Yilmaz«, sagt die Polizistin. »Wir nehmen Sie jetzt mit aufs Präsidium und dort erzählen sie uns, was wirklich passiert ist.«

Bei diesen Worten schrillen Alarmglocken in Ayses Kopf.

»Wie meinen Sie das, was wirklich passiert ist?«, fragt sie und weicht instinktiv zurück.

»Ich weiß es doch auch nicht«, fügt die Polizistin schnell hinzu. Ayse mustert sie erstaunt.

»Wenn Sie es nicht wissen, wie soll ich es wissen?«, fragt Ayse. Doch ehe die Polizistin antworten kann, sieht Ayse den Rettungswagen, der in diesem Moment hinter den Einsatzfahrzeugen am Straßenrand einparkt. Gleich darauf schieben zwei Männer in roten Jacken eine fahrbare Trage an Ayse vorbei. Neben ihnen geht der Notarzt mit seinem Koffer. Alle drei verschwinden im Hauseingang.

»Was ist denn passiert?«, flüstert Ayse, doch anstatt einer Antwort, umklammert der Polizist mit eisernem Griff ihren Oberarm.

»Kommen Sie«, sagt der Beamte knapp. Gleichzeitig greift seine Kollegin nach Ayses Handtasche. Ayse will ihre Tasche festhalten, aber die Polizistin ist schneller und entreißt sie ihr mit einem kräftigen Ruck.

»Geben Sie mir meine Tasche«, ruft Ayse.

»Sie bekommen Sie wieder, sobald ich einen Blick hineingeworfen habe«, erklärt die Polizistin, deren Namen Ayse schon wieder vergessen hat.

»Warum muss ich mich von Ihnen so behandeln lassen? Ich habe doch nichts getan«, murmelt Ayse und schaut zu dem Beamten auf, der sie immer noch festhält. Er erwidert weder ihren Blick noch antwortet er, sondern führt Ayse schweigend hinüber zum Polizeiauto und öffnet die hintere Tür der Beifahrerseite.

»Steigen Sie bitte ein«, fordert er sie im ruhigen Ton auf. Dabei legt er fast fürsorglich seine Hand über ihr Haar, vermutlich, damit sie sich beim Einsteigen nicht den Kopf an der Dachkante des Streifenwagens stößt. Er schlägt die Tür zu, geht um den Streifenwagen herum und setzt sich neben Ayse.

8.

Die Polizistin startet den Motor und fährt los. Der Polizist neben Ayse auf der Rückbank starrt nach vorne und schweigt. Als sie Richtung Innenstadt über die Balduinbrücke fahren, blickt Ayse durch das Seitenfenster. Rechts das abgewrackte Stadtbad, das abgerissen wird, links die Alte Burg, die ebenfalls renovierungsbedürftig ist. Wie oft hat sie die alte Brücke während der vergangenen drei Jahre überquert? Drüben in der Weißergasse wohnt Jan. Wo mag er in diesem Moment sein? Was würde geschehen, wenn er ausgerechnet jetzt in ihrer Wohnung auftaucht? Sie muss ihn unbedingt anrufen. Aber da fällt ihr ein, dass beide Handys in ihrer Handtasche stecken, die von der jungen Polizistin vorne auf den Beifahrersitz gelegt wurde. An der großen Kreuzung der Herz-Jesu-Kirche biegt die Polizistin rechts ab auf den Friedrich-Ebert-Ring und hält vor der Schranke am Polizeipräsidium. Sie öffnet das Seitenfenster, hält ihren Schlüssel an einen kleinen Kasten und kurz darauf öffnet sich die Schranke. Die Polizistin fährt bis zum Eingang der Polizeiwache.

Ayse will die Tür öffnen und stellt fest, dass diese verriegelt ist. Die Polizistin steigt aus und öffnet die Tür.

»Kindersicherung, für alle Fälle«, sagt der Polizist neben ihr und grinst dabei.

Mit einer einladenden Geste fordert er Ayse zum Aussteigen auf. Die junge Polizistin hakt sich bei Ayse unter. Wie eine gute Freundin. Im Gebäude begegnen ihnen Menschen in Zivil und in Uniform. Männer. Frauen. Junge. Alte. Ayse bemerkt ihre prüfenden Blicke auf dem Weg zum Fahrstuhl. Was sie wohl denken? Sieht Ayse aus wie eine Ladendiebin? Wie eine Betrügerin? Eine Drogenkonsumentin? Eine junge Mutter, die aus Verzweiflung ihr Kind vor einem Krankenhaus abgelegt hat? Oder vielleicht sogar wie eine Mörderin?

Der Aufzug fährt nach oben. Dann ertönt ein Klingelzeichen und eine Frauenstimme meldet über den kleinen Lautsprecher: »Achte Etage! Bitte aussteigen!« Die Aufzugtür gleitet auf. Ayse tritt in einen kahlen, von zahlreichen Türen gesäumten Flur. Die Polizistin, die immer noch Ayses Handtasche trägt, reicht ihr die Hand und verabschiedet sich.

»Wie war nochmal Ihr Name?«, fragt Ayse.

»Silke Schön«, antwortet die junge Polizistin mit einem Lächeln und deutet mit dem rechten Zeigefinger auf das Namensschild an ihrer Uniform. »Wiedersehen«, sagt sie.

»Aber«, stammelt Ayse. »Was ist mit meiner Tasche?«

»Noch ein bisschen Geduld, Frau Yilmaz«, sagt die Frau und ihr Lächeln ist schon wieder verschwunden. Sie dreht sich um und geht davon. Ayse möchte ihr nachsetzen, aber da ist wieder dieser feste Griff des Polizisten um ihren Arm.

»Hier entlang, Frau Yilmaz«, sagt er höflich, aber bestimmt.

Es ist klar, dass es keine andere Möglichkeit gibt als ihm zu folgen.

Ihre Schritte hallen auf dem Kunststoffboden unangenehm laut. Der Polizist öffnet die letzte Tür am Ende des schmalen Flurs. Ayse betritt den Raum und schaut sich um. Er ist fast leer und fensterlos, nur ein Tisch mit einer Lampe und vier Stühle. Der Polizist deutet auf einen von ihnen: »Bitte setzen Sie sich.« Er bleibt neben der Tür stehen. Wie ein Wächter. Es fehlt nur noch, dass er die Tür zusperrt.

»Bin ich jetzt verhaftet? Sie haben anscheinend vergessen, dass ich die Polizei gerufen habe«, platzt Ayse heraus und fixiert den Mann mit stechendem Blick.

Er reagiert nicht, sondern schaut stur geradeaus. Da erfasst Ayse ein heftiges Gefühl der Verlassenheit. Sie sehnt sich nach Jan.

Danach, dass er ihr hilft. Dass er seinen Arm schützend um ihre Schulter legt und sie an sich zieht, wie er es immer tut. Wie sie es liebt. Ayse schließt die Augen. Einen kurzen Moment lang glaubt sie, seine Berührung zu spüren.

9.

Der Luftzug reißt Ayse aus ihren Gedanken, als plötzlich die Tür auffliegt. Sie erschrickt. Ein junger, hochgewachsener Mann in schwarzem Polohemd und schwarzen Jeans betritt den Raum. Er war ihr schon aufgefallen, als er vorhin aus dem zivilen Einsatzfahrzeug vor dem Wohnhaus ausgestiegen war. Seine dunklen Haare sind militärisch kurzgeschnitten. Der Mann hat eine sportliche Figur und ist sehr attraktiv, was ihm sehr wohl bewusst zu sein scheint. Er könnte Ayse gefallen, wären da nicht seine stahlgrauen Augen, die eine unmenschliche Kälte ausstrahlen.

Manche Frauen stehen auf solche Typen. Ayse definitiv nicht. Augen können nicht lügen.

»Lukas Arnold. Mordkommission. Guten Tag, Frau Yilmaz. Danke, dass Sie gewartet haben«, sagt der Kommissar und setzt sich rittlings auf den Stuhl gegenüber, ohne Anstalten zu machen, Ayse die Hand zu reichen.

Ayse schüttelt unmerklich den Kopf. Dieser Mann scheint über eine besondere Art von Humor zu verfügen. Gewartet, sehr witzig, was hätte ich denn sonst machen können? Aber sie sagt nur:

»Keine Ursache. Ich möchte schließlich erfahren, worum es hier geht.«

Ein leichtes Lächeln huscht über ihre Lippen, das von dem Mann nicht erwidert wird. Sie hat es geahnt. Ein menschlicher Eisblock. Der Kommissar betrachtet sie kühl.

»Genau das möchte ich von Ihnen wissen«, sagt er, öffnet ein Foto auf dem Samsung-Handy und hält das große Display direkt vor Ayses Augen.

»Frau Yilmaz, kennen Sie diese männliche Person?«

Ayse schaut sich das Bild mit dem Mann an, der in Rückenlage auf dem Teppich ihres Wohnzimmers liegt. Sein Kopf ist leicht zur Seite gedreht. Die vom Blut verdunkelten Haare glänzen nass und die Augen sind geschlossen. Ayse spürt den Schrei, der sich plötzlich in ihrem Hals bildet, doch es dringt kein Ton aus ihrem Mund. Sie kann nur stumm nicken.

»Wie heißt er?«, forscht Kommissar Arnold weiter.

»Jan.«

»Können Sie bitte etwas lauter sprechen? Hat er auch einen Nachnamen?«

»Jan Rummel!«

»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?«

»Er ist mein Freund.«

»Er war ihr Freund, Frau Yilmaz. Jan Rummel ist tot. Wir haben ihn in Ihrer Wohnung gefunden. Er wurde erschossen.«

Ayse schreit auf, ein langgezogener Schrei, der durch Mark und Bein strömt. Sie röchelt, schreit nochmals auf. Es klingt wie ein Schmerzgesang. Sie spürt die Gänsehaut, die sich auf ihrem ganzen Körper ausbreitet. Dann lässt sie ihr Gesicht in beide Hände fallen und legt ihren Kopf auf den Tisch. Sie hört die Stimme des Kommissars, der unbeeindruckt von dem Schock, den er ihr mit dieser Nachricht versetzt hat, weiterredet:

»Ihre Nachbarn berichten von einem lautstarken Streit zwischen diesem Herrn und Ihnen.«

»Der Streit war gestern Abend und danach hat Jan die Wohnung verlassen«, flüstert Ayse mit brüchiger Stimme und fügt leise hinzu: »Lebend!«

»Gibt es dafür Zeugen?«

»Keine Ahnung.«

»Was haben Sie gemacht, nachdem er die Wohnung verlassen hatte?«

»Ich bin ins Bett gegangen. Aber ich konnte nicht schlafen, falls Sie das auch interessiert.«

»Mich interessiert alles, wenn ein Mensch getötet wird, Frau Yilmaz. Und da die Gerichtsmediziner den genauen Todeszeitpunkt noch nicht bestimmt haben, möchte ich lückenlos wissen, was Sie seit gestern Abend bis jetzt gemacht haben.«

Jetzt erst hebt Ayse wieder den Kopf. Sie wischt mit der Hand über die Spuren ihrer Tränen auf der Tischplatte. Der Kommissar schaltet die Lampe auf dem Tisch ein und lenkt den Lichtstrahl auf Ayses Gesicht. Irritiert zieht sie die Augen zusammen und hebt die Hand schützend vor die Stirn, damit das grelle Licht sie nicht blendet. Was soll das? Wie behandelt sie dieser Kerl? Das gibt es sonst nur in Filmen, denkt sie.

»Wo waren Sie heute Vormittag?«, fährt er fort.

»Sie glauben doch nicht im Ernst, ich hätte Jan etwas angetan«, schreit Ayse den Kommissar auf, während noch mehr Tränen über ihr Gesicht fließen.

Sie senkt den Kopf und greift in alle Taschen ihrer Jeans. Vergeblich. Warum vergisst sie immer, Taschentücher einzustecken? Der Kommissar hat offensichtlich erraten, wonach sie sucht. Wortlos zückt er eine Packung Papiertaschentücher und hält sie ihr hin. Ayse nimmt sie entgegen und vermeidet dabei jeglichen Blickkontakt.

Sie zieht ein Tuch aus der Packung und putzt sich die Nase.

Nachdem sie sich geschnäuzt hat, knipst der Kommissar die Lampe wieder aus und fährt fort: »Versuchen wir es noch einmal, Frau Yilmaz. Ich glaube gar nichts. Mich interessiert nur, wo Sie heute Vormittag waren.«

»Das kann ich Ihnen sagen«, erwidert Ayse mit einem Seufzer.

»Ich bin um fünf Uhr dreißig aus dem Haus und mit dem Rad zur Arbeit gefahren.«

»Das ist wo?«

»Gemüsegroßhandel Zimmermann. Ich bin dort Fahrerin.«

»Der Zimmermann auf dem Wallersheimer Weg?«

Ayse nickt.

Arnold beugt sich sichtlich interessiert vor. »Interessant« brummt er. »Dann sind Sie viel allein unterwegs?«

»Normalerweise schon. Aber heute war ich bereits um acht Uhr wieder zurück, weil sich die Frauen von der Tafel angemeldet hatten.«

»Der Tafel?«

»Ja. Das ist das Hilfsprojekt, das sechstausend bedürftige Familien in Koblenz mit Essen versorgt. Viele der Bedürftigen haben kleine Kinder.«

»So was gibt es bei uns?«, fragt Arnold erstaunt. Das Elend der Menschen vor seiner Haustür scheint den eiskalten Typen nicht zu interessieren. »Wie lange blieben diese Damen?«

»Diese Damen sind freiwillige Helferinnen, die Obst und Gemüse bei uns abholen, was nicht mehr verkauft werden kann. Das verteilen sie dann an den Ausgabestellen. Sie verließen uns gegen halb zehn. Danach habe ich in der Halle ein wenig aufgeräumt und bin eine halbe Stunde später nach Hause gefahren. Da ich schon um sechs Uhr beginne, ist mein Dienst um zehn Uhr zu Ende. Ich arbeite nur halbtags dort.«

»Kann das jemand bezeugen?«

»Natürlich. Die Frauen der Tafel, Herr Zimmermann, seine Frau, mein Kollege Kevin. Und unser Lagermeister Herr Keller.«

»Okay, das reicht.« Der Kommissar winkt ab.

Ayse mustert ihn. Er wirkt nun nicht mehr kühl, wie zu Beginn des Gespräches, sondern eher genervt. Es stört ihn offensichtlich, dass bei dieser Befragung nichts herausgekommen ist und er sie nicht festnageln kann.

»Da wir Sie zunächst als Tatverdächtige nicht ausschließen können, wird unser Erkennungsdienst Ihre Hände und Ihre Kleidung auf Schmauchspuren untersuchen. Tragen Sie die gleiche Kleidung wie gestern Abend?«

»Nein, auch Türkinnen wechseln täglich ihre Kleidung.«

»Okay, dann werden wir mit in Ihre Wohnung fahren. Sie geben der Kollegin die Kleidungsstücke, die sie gestern getragen haben, und auch das, was Sie jetzt anhaben. Sie müssen sich zuhause komplett umziehen.«

Ayse starrt den Kommissar ungläubig an.

»Wir müssen nicht nur belastende, sondern auch entlastende Beweise sammeln. Sollten wir an Ihren Händen und Ihrer Kleidung keine Spuren finden, die wir mit dem Tathergang in Zusammenhang bringen können, dient das Ihrer Entlastung«, erklärt Arnold in einem etwas freundlicheren Ton und ergänzt mit einem anzüglichen Lächeln: »Keine Angst, ich werde Ihnen nicht beim Umziehen zuschauen.«

Wenn du sonst keine Probleme hast, denkt Ayse. Es wird Zeit, den Kerl zu überraschen. Sie atmet tief ein und aus. Nach allem, was passiert ist, darf sie nicht weiterschweigen. Das hieße ja, diese Schweine, wie Jan sie genannt hatte, zu schützen.

»Ich glaube, ich weiß, wer das getan hat«, flüstert sie.

Kaum hörbar dringen die Worte aus ihrem Mund, aber Arnold hat sie allem Anschein nach verstanden. Ayse registriert, wie sich sein Blick schlagartig verändert. Seine Augen sind nur noch zwei schmale Schlitze, als er neben ihren Stuhl tritt, eine Hand auf ihre Stuhllehne legt, die andere auf den Tisch und sich ganz nahe zu ihr beugt: »Was haben Sie soeben gesagt?«

Ayse räuspert sich.

»Ich kenne die Täter«, erklärt sie etwas lauter.

Im Augenwinkel bemerkt sie, wie der Polizist an der Tür ebenfalls näher an den Tisch herantritt. Auch er hat ihre Worte gehört.

»Und woher? Geben Sie zu, dass Sie eine Komplizin sind?« Der Ton des Kommissars ist scharf.

Ayse zögert verunsichert, doch dann bricht es unvermittelt aus ihr heraus: »Nein, keine Komplizin. Ich bin das Opfer. Diejenige, die sterben sollte. Jan war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Er ist tot, weil ich zu lange gewartet habe, die Kerle anzuzeigen.« Ayse schlägt, von einem weiteren Weinkrampf geplagt, beide Hände vors Gesicht. Dann spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter.

»Welche Kerle«, hört sie die Stimme des Kommissars nah an ihrem Ohr. Sie spürt seinen Atem. Er riecht nach Pfefferminz.

»Verraten Sie es mir, Frau Yilmaz.«

Ayse bemerkt, wie er leicht an ihrer Schulter rüttelt.

»Sind es Verwandte?«

Ayse nickt und schildert in wenigen Sätzen ihre Situation. Arnold tritt einen Schritt zurück. Erst jetzt wagt Ayse in den Raum zu schauen und sieht, dass der Kommissar zur Tür geht.

»Ich denke, das ist ein Fall für Kollegin Lieck«, sagt er zu dem Polizisten an der Tür und verlässt den Raum, ohne sich nur noch ein einziges Mal umzuschauen.

10.

Lena Lieck blickt auf die Einträge in ihrem Schreibtischkalender. Sie wird langsam nervös. Verflucht! Wo hat sie die E-Mail-Adresse des BKA vor einigen Tagen notiert? Sie sollte diese möglichst bald finden, denn die Bewerbungsfrist für den Ausbildungslehrgang zur Opferschutzbeauftragten läuft morgen ab. Sie muss die Mail noch heute Nachmittag senden. Endlich! Da steht sie. Kaum zu erkennen. Mit einem dünnen Bleistift hingekritzelt. Und direkt daneben in großen Lettern der rot markierte Eintrag TODESTAG SABINE. Lena schüttelt den Kopf. Hatte Sie das etwa selbst in den Kalender geschrieben? Sie erkennt Toms Handschrift. Wie kommt er dazu, etwas in ihren Kalender einzutragen? Als ob es nötig wäre, an jenes Ereignis schriftlich zu erinnern, das bis heute nachwirkt.

Lena lenkt den Blick auf den Computerbildschirm. Diese Bewerbung ist der Grund für einen Wechsel nach der brutalen Ermordung von Sabine Laube. Eine Umschulung zur Opferschutzbeauftragten wäre für Lena vor diesen dramatischen Ereignissen nie eine Option gewesen. Im Gegenteil. Eine Stelle als Sachbearbeiterin in der Mordkommission war bereits während der Ausbildung ihr Ziel gewesen. Aber mit der Zeit wurde die Allgegenwart des Todes mehr und mehr zum Problem. Kaum eine Woche verging ohne Leichensache und jeder Fall führte die Endlichkeit des eigenen Lebens mit aller Deutlichkeit vor Augen. Die Angst vor dem eigenen Tod verstärkte sich und es wurde für Lena zunehmend schwieriger, eine gefühlsmäßige Distanz zu den Fällen zu wahren. Damals, vor fünf Jahren, waren es vier Leichen in vierzehn Tagen gewesen. Zuerst das verhungerte Baby, tot in einer Plastikwanne im Kinderzimmer, das eher einer Müllkippe glich. Dann die aufgeblasene Wasserleiche am Rheinanleger. Der von Maden zerfressene Rest eines unbekannten männlichen Körpers im Stadtwald. Schließlich die im Dienst erschossene Polizistin Sabine Laube. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte Lena daran gedacht, sich beruflich zu verändern, aber sie wollte den Fall unbedingt klären und Sabines Mörder überführen. Es war nicht vorauszusehen gewesen, dass ausgerechnet diese Jagd nach dem Mörder, die in ihrer eigenen Geiselnahme gegipfelt hatte, die endgültige Wende im Job bringen würde. Lena bricht den Gedanken ab. Jetzt ist nicht der Moment, darüber nachzudenken. Und tippt die wesentlichen Wörter in den PC.

Kurz darauf ist die Bewerbung fertig. Lena fügt sie als Anhang an eine E-Mail, schreibt ein paar begleitende Zeilen ins Textfeld und fügt die E-Mail-Adresse des BKA in die Empfänger-Zeile ein. Dann klickt sie auf senden und lächelt. Ihre Therapeutin wäre begeistert. »Sie müssen aktiv Entscheidungen für Ihre Zukunft treffen, um das Trauma Ihrer Entführung und der Geiselnahme zu überwinden«, hatte die Therapeutin ihr in beinahe jeder Sitzung vorgebetet.

Lena hatte brav genickt. Es klang so einfach. Aber Wunden brauchen Zeit, um zu verheilen. Die sichtbaren, wie die des seit jenem Tag an den Rollstuhl gefesselten Polizeioberkommissars Bernd Müller, ebenso wie die unsichtbaren Risse in ihrer Seele. Das ist bei Tom nicht anders, kommt es Lena in den Sinn, denn er hat all das zusammen mit ihr erlebt und überlebt. Claire nicht.

Beim Gedanken an Tom schaut Lena unwillkürlich auf die Uhr. Sie muss ihn heute unbedingt noch treffen. Seit dem schrecklichen Mord vor fünf Jahren legen sie immer gemeinsam einen Blumenstrauß an der Stelle ab, an der Sabine mit einem Kopfschuss in ihrem Streifenwagen hingerichtet wurde.

Lena wählt Toms Nummer. Aber er meldet sich nicht. Sie legt das Mobiltelefon auf den Tisch zurück und schaut nochmal auf die Uhr. Noch nicht einmal zwölf Uhr. Tom ist offensichtlich schon wieder überpünktlich in die Mittagspause verschwunden. Man kann nicht behaupten, nur ich hätte mich verändert, denkt sie. Auch Tom ist nicht mehr derjenige, der er einmal war. Jener lässige Typ, mit dem man lachen und alberne Witze reißen, das eine oder andere Feierabendbier kippen und auch sonst so allerhand anstellen konnte.

»Mit Dir würde ich nicht nur Pferde stehlen, sondern durchs Feuer gehen und sogar eine Leiche vergraben, wenn es nicht meine eigene wäre«, hatte sie ihm nach einer durchzechten Nacht gestanden. Tom ist zwar nicht so ein attraktiver Typ wie Arnold, aber er ist eindeutig ihr Lieblingskollege. Lena seufzt.

Erneut schweifen ihre Gedanken ab und wandern zu jenem Abend auf Toms Hausboot Albatros, aus dem eine ganze Nacht geworden war. Bei dieser Erinnerung spürt Lena plötzlich eine unbestimmte Sehnsucht nach etwas, das sie nicht benennen kann. Doch dann erscheinen andere Bilder von Tom vor ihrem inneren Auge und die Sehnsucht verwandelt sich schlagartig in ein starkes Angstgefühl. Lena bemerkt, wie unvermittelt Schweiß auf ihre Stirn tritt und die Handinnenflächen feucht werden. Das Atmen fällt ihr schwer, sie ringt nach Luft und das Herz rast, schlägt immer schneller. Immer schneller. Tief ein- und ausatmen, befiehlt sie sich. Ein. Und aus. Und wieder ein. Und aus. Gleich ist es vorbei. Zufrieden stellt Lena fest, wie ihr Pulsschlag sich beruhigt. Immerhin gelingt es ihr inzwischen, diese Panikattacken zu beherrschen. Besser wäre allerdings, wenn sie endlich verschwinden würden. Aber das ist allem Anschein nach nicht möglich, solange der tägliche Kontakt zu Tom besteht. Er ist Schicksalsgenosse und gleichzeitig steter Quell der schrecklichen Erinnerung. Das verbindet. Und trennt zugleich.

11.

Lena steht mit einem Ruck auf. Schluss jetzt mit der Grübelei. Zeit für Kaffee, denkt sie und geht zum Automaten, als plötzlich ohne Vorwarnung die Tür auffliegt und gegen sie prallt. Nur mit Mühe fängt Lena den Stoß ab und fährt herum. Ihr Blick fällt auf den Kollegen Lukas Arnold.

»Von Anklopfen halten Sie wohl nichts«, faucht sie ihn an und reibt sich die Schulter an der Stelle, wo die Kante der Tür sie getroffen hat. Dann macht sie auf dem Absatz kehrt, lässt ihn einfach stehen, gießt sich einen Kaffee ein und kehrt zurück an ihren Schreibtisch. Plötzlich weiß sie wieder, wieso sie diesem arroganten Typen bis jetzt das „Du“ verweigert, obwohl es, bis auf wenige Ausnahmen, unter gleichrangigen Kollegen und meist auch gegenüber Vorgesetzten durchaus üblich ist.

Arnold hatte schon mehrmals und immer siegesgewiss versucht, mit ihr Bruderschaft zu trinken. Zuletzt beim Betriebsausflug vor einigen Wochen, nachdem er gerade mit Marianne, einer Kollegin von der Sitte, Schluss gemacht hatte. Weil sie ohne die von ihm geforderte Begeisterung jene Stellungen mit ihm ausprobiert hatte, die er zuvor mit ihr zusammen im Kino in dem Film Fifty Shades of Grey gesehen hatte, so soll er sich im Kollegenkreis geäußert haben. Allergrößte Zurückhaltung ist hier die Devise, denkt Lena, will man nicht selbst eines Tages derartig bloßgestellt werden von diesem Weiberhelden. Angeblich hat er schon die halbe weibliche Belegschaft des Präsidiums flachgelegt.

Verwaltung. Schutzpolizei. Kriminalpolizei. Alle, die „nicht bei zehn auf dem Baum waren“. Und womöglich nicht nur das. Einer seiner markigen Sprüche lautet: Ein bisschen bi schadet nie …

Das kommt davon, wenn einer so unverschämt gut aussieht wie Lukas Arnold. Knackiger Körperbau, animalische Ausstrahlung. Ein Alphatier. Soll eine Granate im Bett sein. Aber andererseits auch unsicher, irgendwie postpubertierend, einer, dem auf die Stirn geschrieben steht: Ich bin dagegen. Wogegen genau, ist egal.

Hauptsache, dagegen. Und ein schlechter Verlierer ist er auch. Lukas wird nicht müde, auf Tom herumzuhacken, weil der vor fünf Jahren bei ihr landete und sie Arnold abblitzen ließ.

»Verzeihung«, sagt Lukas Arnold mit ungewohnt sanfter Stimme. »Aber ich brauche Ihre Hilfe.«

Wie bitte? Das sind ja in der Tat ganz neue Töne. Lena mustert den Kollegen überrascht. Der vor Selbstbewusstsein strotzende Herr Arnold steht da wie ein schüchterner Schulbub und gibt zu, allein nicht weiterzukommen. Oder ist das eine neue Anmachnummer? Sollte Letzteres der Fall sein, ist Arnold zumindest ein guter Schauspieler. Lena verkneift sich ein Grinsen.

Mit ernster Miene blickt sie zu ihm hoch und erwidert ebenso sanft: »Was kann ich für Sie tun, verehrter Kollege Arnold?«

»Es geht um eine junge Türkin. Sie sitzt im Vernehmungszimmer. Wir haben ihren deutschen Freund ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Sie behauptet, sie werde von Verwandten verfolgt, die sie umbringen wollen. Offensichtlich plant die Familie einen Ehrenmord, weil sie nach ihrer Zwangsverheiratung geflüchtet ist. Jemand hat in der Wohnung auf sie gewartet. Vater, Bruder, Ehemann, keine Ahnung.«

Er zuckt die Achseln und erklärt Lena kurz die aus seiner Sicht wichtigsten Fakten: »Sie meint, der Freund sei in dieser Familienfehde versehentlich zwischen die Fronten geraten. Als Tatverdächtige können wir die junge Frau allerdings noch nicht ausschließen, bis wir den genauen Todeszeitpunkt kennen und ihr Alibi überprüft haben. Daher benötigen wir Schmauchspurentests der Kleidung, der Hände und so weiter. Können Sie die Frau übernehmen und sich darum kümmern, dass sie die Kleidung abgibt?«

»Übernehmen«, wiederholt Lena und bedenkt Arnold mit einem vernichtenden Blick.

»In Ihre Obhut nehmen, Frau Opferschutz«, grinst Arnold und faltet beide Hände wie zu einem Gebet.

»Nun werden Sie nicht theatralisch. Das steht Ihnen nicht.«

»Nein? Ich denke, Frauen mögen sensible Männer.«

»Ja, aber nicht, wenn sie nur so tun, als ob. Also lassen wir das.« Arnold blickt wie ein begossener Pudel auf den Boden. Mein Gott, was ist mit dem denn heute los? Ist das seine neue Masche? Sie beschließt, nicht darauf einzugehen und kehrt zum Thema zurück. »Sie haben die Frau also weichgeklopft und mit Ihren üblichen Methoden diese Informationen aus ihr herausgequetscht?«

»So ungefähr, aber sehen Sie selbst.«

Arnold lässt seine Zunge über die Oberlippe wandern. Dann grinst er anzüglich, macht eine einladende Geste und wendet sich zur Tür. »Folgen Sie mir unauffällig.«

»Arschloch«, zischt Lena, betrachtet grinsend seinen knackigen Hintern und folgt ihm hinaus auf den Flur. Aber Arnold ist um die Ecke verschwunden. Sie geht zum Fahrstuhl. Als die Kabine ankommt, öffnet sie die Tür, steigt ein und drückt den Knopf für die achte Etage. Bevor sich der Lift in Bewegung setzt, verspürt sie einen Luftzug. Im nächsten Moment zwängt Arnold sich in den Fahrstuhl hinein.

»Wo kommen Sie denn her?«, fragt Lena.

»Ich war noch nebenan für kleine Königstiger. Hab es bis in den achten Stock nicht mehr ausgehalten«, grinst er mit einem jungenhaften Lächeln.

»Vor Schreck vorbeigemacht oder nachgetröpfelt?«, fragt Lena, als sie einige nasse Spritzer auf seiner Hose entdeckt.

»Weder … noch, nur Hände gewaschen und den Hahn zu voll aufgedreht«, reagiert er schlagfertig.

»Wer es glaubt«, kann Lena sich nicht verkneifen.

»Schauen Sie Männern immer zuerst auf den Hosenlatz und dann erst ins Gesicht?«

Lena spürt die Wärme in ihre Wangen steigen und schaut auf den Fahrstuhlboden in der Hoffnung, dass sich in der nächsten Sekunde die Fahrstuhltür öffnen und diese peinliche Situation beenden würde.

Sie atmet erleichtert auf, als das Klingelgeräusch ertönt und die weibliche Computerstimme sie zum Aussteigen auffordert.

Schnell tritt sie auf den Flur hinaus und folgt Arnold zum Vernehmungsraum, der einmal eine Teeküche war. Fensterlos. Arnold nutzt diesen Raum meist dann, wenn er einem Tatverdächtigen ein schnelles Geständnis abringen will.

12.

Sie treten gemeinsam ein. Lena grüßt Hannes, den altvertrauten Bezirksdienstbeamten mit einem Kopfnicken. Beim Blick auf die vier grünen Sternchen auf den Schulterklappen seiner Uniform bemerkt sie: »Und Hannes, immer noch Hauptmeister?«

»Wie du siehst, Frau Hauptkommissarin. Kein Silbersternchen.«

»Dabei würde ich dir den Kommissar gönnen.«

»Ich mir auch«, erwidert Hannes mit ernster Miene.

Der Beruf stiehlt uns unser Lächeln, schießt es Lena durch den Kopf. Weil wir Dinge sehen und erleben, die niemand sehen oder erleben sollte. Bei dem Gedanken drängen sich sofort wieder diese Bilder vor ihr inneres Auge. Lena schiebt sie beiseite. Es geht jetzt nicht um sie, sondern um die junge Frau, die dort drüben zusammengekauert am Tisch sitzt, das Kinn auf der Brust, die Arme um den Leib geschlungen, so, als wollte sie sich selbst beschützen. Laut Auskunft von Arnold heißt sie Ayse Yilmaz und ist einundzwanzig Jahre alt. Lena geht auf die junge Frau zu, die weiterhin auf den Boden schaut. Sie hört offensichtlich ihre Schritte und schaut zu Lena auf.

Lena lächelt die junge Frau an und reicht ihr die Hand.

»Frau Yilmaz? Mein Name ist Lena Lieck. Ich bin die Opferschutzbeauftragte des Polizeipräsidiums. Mein Kollege hat mir von dem Verdacht erzählt, den Sie geäußert haben. Ich komme, um Sie abzuholen.«

»Abholen? Wohin?«

Die Frau klingt verängstigt und eingeschüchtert. Ihre dunklen Augen sind weit aufgerissen. Kollege Arnold hat offensichtlich ganze Arbeit geleistet. Zwischen Opfer und Täter zu unterscheiden, war noch nie seine Stärke gewesen.