Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Wie Sie dieses Buch nutzen können
Kapitel I - Denn wir wissen nicht, was sie tun …
Copyright
Der Autor:
Jörg Schmitt-Kilian, geboren 1953, Kriminalhauptkommissar und ehemaliger Rauschgiftfahnder, arbeitet schwerpunktmäßig in der Drogen- und Gewaltprävention mit Veranstaltungen, Schulungen und Lesungen. Neben erfolgreichen Büchern zu diesen Themen schrieb er ein Rock-Musical sowie die Vorlagen für den TV-Film JENNY und den Kinofilm LAUF UM DEIN LEBEN (mit Uwe Ochsenknecht) nach seinem Bestseller VOM JUNKIE ZUM IRONMAN über die unglaubliche Lebensgeschichte des Weltspitzetriathleten Andreas Niedrig.
www.schmitt-kilian.de
Vorwort
Die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen sowie die steigende Gewaltbereitschaft junger Menschen gegenüber Erwachsenen standen nach dem Amoklauf von Gregor R. im Gymnasium Anspach und dem tödlichen Angriff von zwei jungen Männern auf Dominik Brunner an der S-Bahn-Station in München erneut im Fokus der Medienberichterstattung.
Jugendliche Gewalttaten werden zunehmend mit einer unvorstellbaren Brutalität begangen, und nicht selten werden die Opfer schwer verletzt und manchmal sogar getötet.
Aber nicht nur Amokläufe, sondern auch andere schwere Gewalttaten lösen in der Öffentlichkeit immer wieder Entsetzen aus. Mit jeder (oft »künstlich dramatisierten«) Berichterstattung steigt die »German Angst«. In zahlreichen Diskussionen und Studien versuchen Experten, das Phänomen zu beleuchten und Erklärungsansätze zu finden. Dabei taucht immer wieder die Frage auf, ob die tragischen Einzelfälle nicht ein verzerrtes Bild auf die Gesamtsituation werfen.
• Ist die Jugend wirklich gewalttätiger als früher?
• Verdrängen wir bei der Betrachtung von dramatischen Ereignissen die Tatsache, dass die meisten schweren Gewalttaten (mit Ausnahme des Amoklaufs) von jugendlichen Intensivtätern begangen werden?
• Wie reagieren wir auf die »alltägliche« Gewalt?
• Was ist noch »normal«, und wo ziehen wir die Grenze zur zielgerichteten »schweren« Gewalt?
• Wie konsequent handeln wir, wenn Jugendliche Gewalt ausüben?
Mit dem Praxisbuch Gewaltprävention möchten das Gütersloher Verlagshaus und ich engagierten Lehrerinnen und Lehrern, besorgten Müttern und Vätern sowie allen Bezugspersonen junger Menschen Orientierungshilfen vermitteln, wie wir präventive Maßnahmen umsetzen und durch rechtzeitiges Erkennen einer sich anbahnenden Krisensituation zeitnah und konsequent reagieren können.
Bezugspersonen von jungen Menschen stoßen immer wieder an ihre Grenzen, wenn die von Michael Winterhoff in seinen Bestsellern beschriebenen »kleinen Tyrannen« größer werden.
Viele Erwachsene wissen oft nicht, wie sie auf Provokationen, aggressives Verhalten und gewalttätige Handlungen der Jugendlichen reagieren sollen. Wenn junge Menschen »über die Stränge schlagen«, wird entweder weggeschaut oder übertrieben reagiert. Die einen ignorieren Warnsignale, andere wiederum reagieren in einem der Situation unangemessenen Rahmen, oder erkennbare Warnsignale werden als »harmlos« eingestuft. Bei Konfliktsituationen macht sich in Elternhäusern, Schulen und Jugendverbänden oft eine gewisse Hilflosigkeit breit.
»Natürlich will man einen Schüler nicht wegen eines blöden Spruchs diffamieren«, war die Entschuldigung einer Lehrerin: Sie hatte die konkrete Amokdrohung eines Schülers gegenüber zwei Mitschülerinnen »überhört«. Erst als sich die Mädchen den Eltern anvertrauten, wurde die Polizei informiert.
Wenn wir zeitnah und konsequent reagieren, können wir dem »Sprücheklopfer« Hilfe anbieten und vielleicht sogar Schlimmeres verhindern. Fachdisziplinen können bei der (rechtzeitigen) Betrachtung des Einzelfalls Rückschlüsse ziehen, ob und wie weit sich ein Schüler auf dem Weg zur Gewalt befindet.
Wie aber können wir das Einpendeln zwischen Wegschauen und Ausrasten erreichen und angemessen reagieren?
Aktuelle Fakten, strategisches Basiswissen aus neuen Studien und Erfahrungen in Projekten mit jungen Menschen liefern wichtige Hintergrundinformationen für die Umsetzung präventiver Angebote, für das rechtzeitige Erkennen zielgerichteter Gewalthandlungen und für zeitnahes Handeln in konkreten Krisensituationen.
Dieses Buch zeigt keine psychologischen Hintergründe der Entstehung von Gewalt auf und kann auch kein Patentrezept liefern. Jedoch können die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen und die in der Praxis gewonnenen Erkenntnisse Lehrern und Eltern wichtige Anregungen für den alltäglichen Umgang mit jungen Menschen vermitteln.
Ich hoffe, dass Sie in diesem Buch Antworten und Anregungen finden, wie wir koordinierte und kontinuierliche Präventionsarbeit leisten und in Krisensituationen konsequenter als bisher reagieren können.
Jörg Schmitt-Kilian, im Februar 2010
Wie Sie dieses Buch nutzen können
Das Praxisbuch Gewaltprävention will Lehrern, Eltern und allen Erziehern Orientierungshilfen vermitteln, wie wir »Auffällige« und Krisensituationen (es muss nicht immer ein Amoklauf sein!) erkennen und konsequent handeln. »Ich mach euch fertig!« versucht, die im (schulischen) Alltag am häufigsten gestellten Fragen zu beantworten:
• Wie finden wir einen Zugang zu den Denkmustern, Grundhaltungen und Gefühlswelten junger Menschen?
• Mit welchen Methoden können Jugendliche in die Rolle eines Opfers »schlüpfen«?
• Wie können wir Gewalt in der Schule auf ein erträgliches Maß zurückschrauben und auffälligen Schülern Hilfe anbieten?
• Was wünschen sich Jugendliche von Eltern, Lehrkräften und anderen Bezugspersonen?
• Wie können wir die Kultur des Hinschauens fördern, ohne zu stigmatisieren und durch zeitnahes und konsequentes Handeln Schlimmeres verhindern?
Zur besseren Lesbarkeit benutze ich meistens nur die männliche Bezeichnung. »Auffälliger« steht als Synonym für Jugendliche, die Probleme haben und bei denen die Gefahr besteht, dass sie irgendwann »explodieren«. In der Jugendsprache hat das Wort »Opfer« einen festen Platz eingenommen, wenn jemand ausgegrenzt, gehänselt oder auf andere Weise seelisch und körperlich verletzt wird. Oft wird auch die Bezeichnung EMO* entgegen seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht.
Die Kapitel in dem Buch sind in sich abgeschlossen, sodass Sie je nach Interessenlage gezielt nachlesen können.
Das 1. Kapitel: Denn wir wissen nicht, was sie tun … ist der Einstieg in ein bewegendes Thema mit drei aktuellen Fallbeispielen. Ich skizziere kurz die unterschiedlichen Formen der Gewalt an Schulen und beschreibe eine Situation, in der Schüler einer Klasse mich gezielt »fertigmachen« wollten.
In Kapitel 2: Informieren statt verschweigen lasse ich medienwirksame Amokläufe der letzten zehn Jahre Revue passieren, werfe einen Blick auf Daten, Fakten und Tendenzen der allgemeinen Jugendkriminalität im Spiegel der polizeilichen Kriminalstatistik und beleuchte die Ergebnisse aktueller Studien, aus denen wir Früherkennungssignale und Schutzfaktoren ableiten können.
In Kapitel 3: Verstehen statt verdrängen verknüpfe ich beim Blick zurück in unsere Kindheit die Frage, ob die Jugend heute wirklich »schlecht(er)« ist. Der Anti-Gewalt-Trainer Stefan Werner hinterfragt in seinem Beitrag, ob Jugendliche ein Bedürfnis nach Gewalt haben.
Im 4. Kapitel: Hinschauen statt wegsehen habe ich einen Fragenkatalog mit Indikatoren zur Früherkennung einer sich anbahnenden Krisensituation erstellt. Dabei bin ich mir durchaus bewusst, dass eine Beurteilung der Gefährdungslage für ein Krisenteam im Einzelfall sehr schwierig ist. Aber ein Blick auf diese Fragen kann ein erster Schritt in die richtige Richtung sein, um durch angemessene Reaktionen »auffälligen« jungen Menschen Hilfe anbieten zu können.
Im Schlusskapitel: Handeln statt resignieren beschreibe ich methodische Schritte der Konzeption »Impulse« (www.schmitt-kilian.de), wie wir uns an die Lebenswelten von jungen Menschen herantasten und Eltern die Wünsche und Fantasien der Jugendlichen transportieren können. Alle Bausteine können in Projekte integriert und mit eigenen Ideen verknüpft werden.
Das Projekt »Wer nichts tut, macht mit« beschreibt, wie man couragiertes Verhalten einüben kann, ohne sich selbst zu gefährden. Die Konzepte der Antigewalt-Trainer Karl-Heinz Schreiber und Stefan Werner ergänzen die Anregungen und wollen das Interesse an Fortbildungsveranstaltungen wecken.
Im ANHANG werden die mit einem * gekennzeichneten Ausdrücke in einem Glossar erklärt. Den Fragebogen können Schüler nach einem Projekt ausfüllen. Der Denkzettel: »Betrifft mich« kann als Diskussionsgrundlage benutzt werden. Die Medienpakete von ProPK, eine Info über Gewaltvideos auf Handys sowie die Dokumentationsserie »Gewalt macht Schule« vom Medienprojekt Wuppertal sind im Unterricht einsetzbar.
Kapitel I
Denn wir wissen nicht, was sie tun …
In der Phase der Persönlichkeitsentwicklung tasten Jugendliche sich an Grenzen heran. Auf der spannenden Reise in die Welt der Erwachsenen überschreiten junge Menschen nicht selten diese Grenzen, die einen mehr, die anderen weniger, und manche schießen weit über das Ziel hinaus. Beleidigungen und körperliche Auseinandersetzungen unter Jugendlichen sind »normal« und eine alltägliche Form der Abgrenzung und der Verteidigung eigener Bedürfnisse. Mit einigen Gewalttaten werden Lehrer und Eltern direkt konfrontiert, andere bleiben unentdeckt, und manche werden erst nach Jahren bekannt. Mit zunehmendem Abstand zur Tat reduziert sich meistens auch die Entrüstung und Empörung über dieses Verhalten.
Wer die Zukunft verändern will, muss die Vergangenheit verstehen und sich in die »Rolle« der jungen Generation hineinversetzen. Dabei ist die Methode des Perspektivenwechsels ein geeignetes Instrumentarium, dieses Thema nicht nur mit eigenen Augen, sondern auch aus dem Blickwinkel der jungen Generation zu sehen. Viele Jugendliche erkennen oft nicht, wie stark sie andere mit Worten verletzen und bei einer direkten Konfrontation hören wir immer entschuldigende Floskeln. »Ich habe es doch nicht so gemeint«, »Der hat immer so getan, als ging es ihm am A… vorbei«, »Die hat mich ja auch beleidigt«, »…war doch selbst schuld«. Den Jugendlichen, die sich mit solchen Entschuldigungen für ihr Verhalten rechtfertigen, kann man die Frage stellen, wer denn letztendlich entscheidet, was Gewalt ist. Wir kommen gemeinsam zu dem Ergebnis: Gewalt ist das, was das Opfer als verletzend und kränkend empfindet. Dies bedeutet, dass auch Handlungen, die einer Person »im Spaß« zugefügt werden, als Gewalt zu werten sind, wenn das Opfer selbst dabei keinen Spaß empfunden hat.
»Ich habe dicke Schminke auf mein Gesicht geschmiert, versteck meine Tränen hinter einer lächelnden Maske. Ich bin traurig, aber ich kann nicht weinen. Dabei würde ich so gerne mein wahres Gesicht zeigen. Aber wenn ich die Maske abnehme, habe ich Angst, dass die anderen mich noch mehr fertigmachen. So hoffe ich weiter, dass sie irgendwann aufhören. Ich muss nur so tun, als mache es mir nichts aus. Aber das stimmt nicht. Dabei macht mich das alles so fertig.«
Claudia, 14
In erster Linie wollen wir in diesem Buch die alltägliche Gewalt unter Jugendlichen betrachten. Ausgrenzen, drohen, hänseln, verleumden, beleidigen, erpressen, mobben, dissen und stalken sind neben körperlichen Angriffen »an der Tagesordnung«. Die wenigsten Fälle werden den Lehrern - wenn überhaupt, dann relativ spät - bekannt, weil sie sehr subtil ablaufen.
Schüler sind übereinstimmend der Meinung, dass Worte, die den wunden Punkt treffen und ständig wiederholt werden, mehr verletzten können als ein körperlicher Angriff. Dies gilt insbesondere für Beleidigungen von Familienmitgliedern (Hartz IV, Wohnverhältnisse, Mutter als Hure, Schlampe, Fotze bezeichnen, Behinderung von Familienangehörigen, Todesfall in der Familie).
»Man muss keinem eine reinhauen, um ihn zu verletzen. Wenn man den Schwachpunkt kennt, genügend ein einziges Wort, um den anderen fertigzumachen.«
Sascha, 16
Dennoch ist entscheidend, wer was sagt. Es gibt Schüler, die begrüßen sich im betont lässigen und coolen Umgangston gegenseitig mit »Hurensohn« oder »Schlampe«, »Spasti« oder »Bastard« (ohne oft die Bedeutung dieser Worte zu kennen) und empfinden es als normal. Wenn ein anderer diese Worte benutzt, hat er die Faust im Gesicht, da der Täter den »wunden Punkt« des Opfers getroffen hat.
Oft werden Jugendliche mit ihrem Schwachpunkt so lange gehänselt, bis sie ausrasten und sich körperlich wehren. Der Provokateur kann endlich zuschlagen, weil er angegriffen wurde und sich »natürlich verteidigen musste«. Jugendliche Täter provozieren das »Opfer«, um ihr eigenes Verhalten als Selbstverteidigung zu rechtfertigen.
Eine besondere Form der Ausgrenzung ist das Ignorieren der Anwesenheit eines Mitschülers. »Ich suche Gegner, keine Opfer« symbolisiert dem Opfer, dass es noch nicht einmal wert ist, sich mit ihm zu beschäftigen.
»Für die anderen Luft zu sein, ist schlimmer als manchmal Hänseln!«
Elena, 15
Zur Sensibilisierung möchte ich Ihnen exemplarisch für viele Begegnungen mit Jugendlichen drei Beispiele (die Originalschreibweise ist bewusst übernommen) geben, die mich besonders nachdrücklich berührt haben, obwohl in allen Fällen keine körperliche Gewalt eingesetzt wurde. Jugendgewalt hat viele unbekannte Gesichter und in Projekten berichten jugendliche »Opfer« immer wieder, wie sie von anderen »nur« mit Worten fertiggemacht werden.
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1. Auflage
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eISBN : 978-3-641-04839-6
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Leseprobe
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