Spy Parents - Geheimagenten in Wuppertal - Anke Höhl-Kayser - E-Book

Spy Parents - Geheimagenten in Wuppertal E-Book

Anke Höhl-Kayser

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Beschreibung

In einer neuen Schule coole Freunde gewinnen! Das steht für Johannes, der gerade nach Wuppertal gezogen ist, ganz oben auf der Liste. Er peppt sein langweiliges Dasein einfach auf, indem er behauptet, seine Eltern seien Agenten in geheimer Mission. Doch immer, wenn die geheimnisvolle Kaminuhr zwölf schlägt, werden die Schwindeleien Wirklichkeit: Plötzlich ist die Wuppertaler Mafia hinter Johannes her, eine feindliche Schwebebahn fliegt in die Luft und die Agentenmutter stellt im Zoo Verfolger mit einem Elefanten-Betäubungsgewehr kalt. Nicht zu vergessen Elfryda Poslowski, die nervtötende Haushälterin mit einem Faible für grellbunte Kittelschürzen und gesundes Essen. Als es immer gefährlicher für Johannes wird, will er sein altes Leben zurück. Doch er hat die Rechnung ohne die Kaminuhr gemacht ...

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Monika Kubach wurde 1970 geboren und im zarten Alter von wenigen Monaten von ihrem älteren Bruder auf den Kopf gestellt, als er mit ihrem Kinderwagen Rennauto spielte und eine Bodenwelle übersah. Sie schreibt daher hauptsächlich Satiren und humoristische Gedichte.

Anke Höhl-Kayser wurde 1962 in Wuppertal geboren. Sie hat leider weder Geschwister noch einen älteren Cousin mit einem Baseballschläger, denen sie ihren Dachschaden in die Schuhe schieben könnte. So muss sie die Tatsache, dass sie Fantasy für alle Altersgruppen, Kurzgeschichten und Lyrik schreibt, ganz allein ausbaden.

Wir bedanken uns ganz herzlich bei unserer Lieblingstestleserin Frauke für ihre hilfreichen Anregungen.

Kinder- und Jugendbücher von

Anke Höhl-Kayser:

Eine Fee namens Johnny

Der Zeitwandler – Restart

Magische Novembertage – Ein märchenhafter

Aufstand auf Sylt

Die Schatten von Sev-Janar

Ronar

Ronar – Zwei Welten

Ronar – Drei Ähren

Inhalt

Grau und grausig

Agenten wider Willen

Der Pate von Wuppertal

Selbstzerstörung aktiviert

Der geheimste Code von allen

Bahn in black

Nachts im Zoo

Im Agentenhauptquartier

Der größte Kracher von allen

»Wind ist kalt in Sylt!«

Eine Seefahrt, die ist …

Geschüttelt oder gerührt?

Uhrgeschichte

Antiquitäten to go

Bitte nicht ausziehen

1. Grau und grausig

Ein Regentropfen genau ins Auge: war ja klar. Wuppertal war bescheuert. Das hatte Johannes schon gewusst, bevor der Regen das Innere seiner Schuhe in ein Fußbad verwandelt hatte. Trotz Imprägnierung.

Die ganze Stadt war grau, genauso wie der Himmel darüber. Und das Anfang Juni. In Karlsruhe hatte er zu dieser Jahreszeit oft schon seine Bermudashorts tragen können.

Johannes wartete auf die Schwebebahn, die ihn zu seiner neuen Schule bringen sollte. Er schaute auf die Armbanduhr: So ein Mist, er hatte fünf Minuten mit dem Paketboten vertrödelt, der ein Riesenpaket mit einem unleserlichen Absender im Hausflur abgeliefert und erwartet hatte, dass Johannes das Ding die drei Treppen hinauftrug. Ihm war ohnehin schon flatterig zumute. Er musste allein mit Wuppertals seltsamem Transportmittel fahren, weil ihn seine Mutter am ersten Tag im neuen Job nicht begleiten konnte. Und Papa war noch in Karlsruhe, er würde erst in drei Monaten nachkommen, wenn er auf seiner neuen Arbeitsstelle in Düsseldorf anfangen konnte.

Johannes hatte zwar auch in der Grundschule immer öffentliche Verkehrsmitteln genutzt, und seine Mutter und er waren am Wochenende die Strecke mit dem Auto abgefahren, aber es war eine Schwebebahn.

Schwebebahnfahren war nicht Straßenbahnfahren, auch wenn Mama die Schwebebahn als das angenehmste Verkehrsmittel der Welt schilderte. Die Straßenbahn stand mit ihren Rädern fest auf den Schienen, und die waren auf der Straße, wie der Name schon sagte. Die Schwebebahn hing an einem Gerüst, und die Straße war etliche Meter darunter.

Die Station bebte leicht. Johannes' Herz hämmerte. Da war die Bahn, in einem coolen Hellblau. Wenn er nicht damit hätte fahren müssen, hätte er sie schick gefunden. Johannes schluckte. Der Wagen hielt, er pendelte schwungvoll auf Johannes zu und wieder zurück. Die Wuppertaler stiegen, davon unbeeindruckt, ins Innere. Johannes zögerte fast zu lange, dann sprang er im letzten Moment in den Zug, als die Entriegelung mit einem Klicken bereits das Schließen der Türen ankündigte. Die Bahn setzte sich in Bewegung. Johannes ließ die angestaute Luft aus den Lungen entweichen: Er war drin.

»Nur zwei Stationen bis zu deiner Schule«, hatte Mama gesagt.

Ich schaffe das, dachte er wie ein Mantra. Er suchte gar nicht erst nach einem Sitzplatz auf den gepolsterten Bänken, sondern hielt sich krampfhaft an der Haltestange neben der Tür fest.

Adlerbrücke. Der Zug hielt. Senkrechte grüne Lichtbalken signalisierten das Türöffnen. Aussteigen. Das Pendeln machte ihn schwindelig, er sprang in einem Satz auf den Bahnsteig. Beinahe hätte er sich längelang auf die Nase gelegt, aber ein hageres Mädchen fing ihn auf. Sie war fünf Zentimeter größer als er und hatte ein hässliches schwarzes Brillengestell, das ihn an Brillen aus den Sechzigerjahren erinnerte. Und sie trug Zöpfe. Die Haarfarbe war irgendwas Undefinierbares zwischen Blond und Braun.

»Bitte, gern geschehen«, sagte das Mädchen auf sein Schweigen hin spitz, ließ ihn los und ging die Treppe hinunter. Er folgte ihr in einigem Abstand, man sollte ihn mit der personifizierten Uncoolness nicht sehen. Er hatte schon herausgefunden, dass es besser war, sich den coolen Kindern anzuschließen, wenn man irgendwo akzeptiert werden wollte. Es gab Augenblicke, da schämte er sich für seine Feigheit, aber so war er nun mal. Es gab mutige Jungs und kluge Jungs, und er gehörte eindeutig zu den Letzteren.

Die Schule war riesig, und er hatte keine Ahnung, wohin er gehen musste. Er spurtete hinter einer Schülergruppe her, auf gut Glück, und rempelte mit jemandem zusammen. Das Mädchen aus der Schwebebahn.

»Du hast es eilig, oder? Wohin willst du denn?«

Johannes kramte hektisch nach dem Zettel mit der Raumnummer. Das Mädchen warf nur einen Blick darauf, dann nickte sie.

»Komm schon!«

Es gongte bereits zum zweiten Mal, als sie die Klasse erreichten. Das Mädchen ging zielstrebig zu einem Tisch. Viele Schüler schauten hoch, deshalb ging Johannes dem Mädchen nicht hinterher, sondern blieb neben der Tür stehen. Mann, war das peinlich.

Zum Glück kam die Lehrerin. Sie war jung, hatte braune Locken und ein fröhliches Gesicht. Er mochte sie auf Anhieb.

»Ah«, sagte sie, als sie ihn sah, »du bist Johannes Reuber, oder? Der Neue. Ich bin Frau Neumann, die Klassenlehrerin. Setz dich neben Amelie.«

Sie deutete unmissverständlich auf den Stuhl neben dem blassen uncoolen Mädchen. Johannes biss sich auf die Lippe, als er unter gefühlt tausend bohrenden Blicken durch die Klasse zu seinem Platz ging.

Frau Neumann schaute erwartungsvoll drein, bis auch das letzte Gemurmel erstorben war, dann verkündete sie: »Ich möchte euch euren neuen Mitschüler vorstellen. Johannes, stehst du einmal auf, damit dich alle sehen können? Johannes Reuber kommt aus Karlsruhe zu uns. – Und, Johannes, hast du schon einen Eindruck von Wuppertal bekommen?«

Johannes spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss. Er begann zu stottern.

»Ja – äh – es regnet hier – äh – ziemlich viel. Mehr als in – äh – Karlsruhe. Aber meine Lehrerin dort hat schon gesagt, dass Wuppertal die niederschlagreichste Stadt im Ruhrgebiet wäre.«

Einen Augenblick lang herrschte Totenstille. Dann brach ein Tumult los. Johannes hörte nur Worte wie »Ruhrgebiet«, »typisch« und »der Trottel«. Sein Gesicht glühte. Was hatte er denn jetzt gemacht?

Frau Neumann klatschte ärgerlich mehrfach in die Hände, bis die Ruhe wiederhergestellt war.

»Ich denke, Johannes weiß im Gegenzug Dinge über Karlsruhe, die euch neu sind«, fauchte sie. »Wenn man aus Baden-Württemberg kommt, dann muss man nicht zwangsläufig wissen, dass Wuppertal nicht im Ruhrgebiet liegt. – Magnus! Statt dich mit deinen Tischnachbarn zu unterhalten, könntest du Johannes vielleicht über seinen Irrtum aufklären!«

Der Junge, den sie angesprochen hatte, war bullig, hatte ein selbstgefälliges Grinsen auf dem Gesicht, und Johannes wusste sofort, dass er derjenige war, der hier den Ton angab. Die Jungs und Mädchen im Umkreis hingen an seinen Lippen.

»Wuppertal liegt im Bergischen Land, das kann so ein Schwabe wie du natürlich nicht wissen«, sagte Magnus überheblich und zeigte Johannes unter dem Tisch den Stinkefinger.

»Ich bin kein Schwabe, ich bin Badener«, zischte Johannes zurück.

»Hahaha! Dann badest du wohl viel? Johannes heißt er – ist Bademeister!«

»Danke, Magnus, für diesen ungeheuer konstruktiven Beitrag, und jetzt können wir uns ernsthafteren Themen zuwenden, denke ich!«

Johannes setzte sich, während die anderen ihre Sachen hervorholten, und wartete darauf, dass sein Gesicht wieder Normaltemperatur annahm.

»Johannes, ich glaube, du weißt noch nicht, dass eine Klassenfahrt ansteht?« Frau Neumann lächelte ihm freundlich zu. »Wir fahren übernächste Woche für fünf Tage nach Sylt. Sei doch bitte so nett, mir nach der Stunde die Kontaktdaten deiner Eltern zu geben, damit ich die Infoblätter an sie übermitteln kann. Für dich ist das eine tolle Gelegenheit, deine Mitschüler besser kennenzulernen – und andersrum natürlich genauso. Die Klasse freut sich schon riesig!«

Freudiges Gemurmel wurde laut. Die Klassenfahrt schien der ganz große Hit zu sein, wenn Johannes die zufriedenen Mienen um sich herum richtig einschätzte. Er fand das offen gestanden auch ziemlich abgefahren. Mama hatte schon gesagt, dass sie dieses Jahr nicht in Urlaub fahren würden. Und nun bekam er dank der neuen Schule einen Ausgleich: Strandurlaub an der Nordsee kurz vor den Sommerferien.

Für einen Moment vermisste er Karlsruhe überhaupt nicht mehr.

Dann wurde ihm die Sitzsituation wieder bewusst. Er schaute sich verstohlen in der Klasse um: Er befand sich ganz eindeutig am Tisch der Uncoolen. Amelie gegenüber saß kerzengerade ein indisch aussehender Junge, dem das Wort Streber quer über die Stirn geschrieben schien, und blätterte nervös in seinem Deutschbuch, und neben ihm hockte ein schwarzhaariges Mädchen mit pickelübersätem Gesicht und riesiger Zahnspange. Denkbar schlechter Start. Das würde echt schwer werden, hier raus und rüber zu den Leuten um Magnus zu kommen. Wie sagte sein Vater immer: »Man muss das Eisen schmieden, so lange es heiß ist.«

Also frisch ans Werk.

Als es zur Pause gongte, stand Johannes auf und schlenderte unauffällig zu der Gruppe um Magnus.

» … mein Dad hat mir total coole Fotos geschickt«, berichtete der gerade seiner andächtig lauschenden Fangemeinde. »Gestern hat das Schiff in Rio de Janeiro angelegt. Wusstet ihr, dass diese komische Statue bei Nacht beleuchtet ist? Hier, schaut mal!«

Er zog ein Smartphone heraus und schaltete es an. Johannes erhaschte einen Blick auf die riesige Christus-Statue, die vor nächtlichem Himmel in weißem Licht erstrahlte.

Magnus drehte sich zu ihm um.

»Na, willst wohl auch mal gucken, was?«, feixte er. »Cool, oder? Mein Vater ist Kapitän auf der Princess Donatella, das ist das größte Kreuzfahrtschiff der Tosca-Line. In den Ferien darf ich immer mitfahren. Ich habe schon die ganze Welt gesehen! Mein Dad schickt mir dauernd Fotos, der Speicherplatz von meinem Smartphone ist komplett voll. – Was macht dein Vater denn so, Bademeister?«

Jetzt locker bleiben. Wenn er sich cool verhielt und nicht auf den Spott reagierte, hatte er eine echte Chance, akzeptiert zu werden. Magnus war zwar groß und ziemlich muskulös, aber er war kein Schlägertyp, und seine Freunde sahen auch eher harmlos aus.

Doch was sollte Johannes sagen? Sein Vater war Buchhalter. Johannes hatte noch nicht einmal eine genaue Vorstellung von dessen Tätigkeit, und die wenigen Erzählungen hatten ziemlich langweilig geklungen. Genauso bei seiner Mutter: Sie war bisher Angestellte bei einem Steuerberater gewesen, und Geld regnete nicht unbedingt hagelschauermäßig auf die Reubers herab. Das war der Grund, weshalb sie nach Wuppertal umgezogen waren. Der Patenonkel hatte dort eine gut laufende Steuerberatungskanzlei, die er aufgrund seines Alters an Johannes' Mutter übergeben wollte. Die Reubers hatten hin und her überlegt, denn wegen des Umzugs brauchte auch der Vater eine neue Stelle.

Geld war bei ihnen häufig ein Thema, und Johannes wusste von seinen besser gestellten Klassenkameraden: Wenn man viel über Geld sprach, hatte man meistens wenig davon.

Die Aussichten auf einen deutlichen Mehrverdienst nach dem Umzug waren gut – das hätte erfreulich sein können. Aber Johannes war die Kohle im Moment so was von egal. In Karlsruhe hatte er es schon längst in die Coole-Kids-Gruppe geschafft. Hier ging alles wieder von vorn los.

»Äh –«

Magnus begann zu lachen und die Gruppe stimmte mit ein.

»Dann lass mich raten, Bademeister: Dein Vater ist Küchenmesser und misst Küchen! Oder Gabelstapler und stapelt Gabeln! Oder Türöffner und öffnet Türen! Oder Obstbauer und baut Obst!«

Oder Buchhalter und hält Bücher. Oder Steuerberaterin und berät Steuern. Na super. Wenn er das jetzt sagte, dann war er komplett untendurch. Er schluckte und holte tief Luft.

»Mein Vater ist im Ausland, genauso wie meine Mutter.«

In Magnus' blauen Augen blitzte ein Funken Interesse auf.

»Super, und wo?« Er klang immer noch überheblich. Johannes merkte, wie er sauer wurde. Der würde ihn nicht irritieren!

»Das darf ich euch nicht sagen.«

»Und wieso nicht?«

»Weil es geheim ist!«

Das war Johannes einfach so rausgerutscht. Es hatte eine überraschende Wirkung.

In der Klasse herrschte plötzlich Stille. Magnus blinzelte ein bisschen und verzog den Mund. Johannes sah, dass sein Satz Erfolg gehabt hatte. Ein anderer Junge schob sich an Magnus vorbei.

»Geheim, oder? Echt jetzt? Boah.« Der Sprecher hatte blauschwarzes Haar und buschige Augenbrauen. Er hielt ihm die Hand zum Abklatschen hin: »Ich heiße Kosta. Eigentlich Konstantinos, aber so nennt mich keiner. Setz dich zu uns, Johannes, erzähl mehr!«

Johannes schlug ein, während sein Gehirn fieberhaft arbeitete. In den Gesichtern der anderen sah er gespannte Erwartung. Dem musste er gerecht werden! Aber ihm fiel nicht das Geringste ein.

Der Gong zur zweiten Stunde war wie eine Erlösung. Der Weg zurück zum Tisch der Uncoolen reichte nicht aus, um den Schweiß auf Johannes' Stirn zu trocknen. Amelie sah ihm fragend entgegen.

2. Agenten wider Willen

Als die Mittagspause kam, war Johannes bewusst, dass er sich jetzt nicht mehr drücken konnte. Magnus beobachtete ihn unentwegt, aber mit weitaus weniger freundlichem Blick als Kosta. Johannes tat so, als würde er seinen Rucksack ordentlich einräumen, als er sah, dass Magnus an seinen Tisch geschlendert kam.

»Hallo, Bademeister!«

Oh danke, jetzt hatte er seinen Spitznamen endgültig weg.

»Wirst du uns denn jetzt in deine Geheimnisse einweihen?«

Johannes fühlte, wie ihm wieder die Röte in die Wangen stieg. Er sah das freundliche, runde Gesicht seines Vaters vor sich, die schelmisch blinzelnden Augen hinter den Brillengläsern, die schütteren, hellbraunen Haare mit den grauen Strähnen. Es gab niemanden, der weiter von den Begriffen geheimnisvoll, gefährlich oder abenteuerlustig entfernt war als er. Niemanden, der normaler war. Seine Freizeit, wenn er welche hatte, verbrachte er mit Johannes. Er spielte mit ihm Computer, ging mit ihm schwimmen und Fahrrad fahren, brachte ihn zum Lachen. Er hatte keine einzige beeindruckende Freizeitbeschäftigung, im Gegenteil. Er pflegte zu sagen: »Mein Sohn ist mein Hobby!«.

Vielleicht war der Gedanke an seine Mutter hilfreicher? Sie war schon ziemlich alt, Mitte vierzig, und zwei Jahre älter als sein Vater. Sie war ein bisschen pummelig.

Nach eigener Aussage war ihr größtes Abenteuer ein Friseurbesuch mit Dauerwelle gewesen. Die Erinnerung daran half jetzt gerade nicht nennenswert weiter.

Wie Papa machte sie gern Witze. Bei Reubers wurde viel geflachst. Johannes' Vater sagte, wenn er dachte, Johannes würde ihn nicht hören: »Ines, für deine Figur brauchst du einen Waffenschein.«

Waffenschein! Das klang doch geheimnisvoll, oder?

»Meine Mutter hat einen Waffenschein.«

Huch. Das hatte er doch eigentlich gar nicht sagen wollen. Aber jetzt war es draußen. Magnus runzelte die Stirn und zog eine Augenbraue hoch.

»Na und? Bennos Vater auch. Der ist Hobbyjäger und geht jedes Wochenende in den Wald. Der schießt Rehe und Hirsche.«

»Und …Bären …und …Bären …!«

Ein aufgeregter dicker Junge drängelte sich an Magnus vorbei. Das war also Benno. Seine Brille beschlug, weil er so zappelig war, er nahm sie hektisch herunter und wischte sie am T-Shirt ab. Das schien er häufiger so zu machen. Ein Wunder, dass er durch dieses Milchglas überhaupt etwas sehen konnte.

»Weißt du und da ist dieser Bär über die Grenze gekommen und der hat das ganze Nutzvieh gerissen und die Bauern haben um Hilfe gebeten und da ist mein Vater mit einigen anderen Jägern hingefahren und hat ihn abgeschossen –« Benno war vor Aufregung so atemlos, dass er beim Luftholen quietschte. Er redete wie ein Maschinengewehr, vermutlich hatte er Angst, Magnus oder die anderen könnten ihn unterbrechen.

Johannes fragte sich, von welcher Grenze Benno sprach. Die Grenze zum Ruhrgebiet? Und gab es hier irgendwo Bären?

»Aber warum konnte man ihn nicht wieder dorthin zurückbringen, woher er gekommen ist?«, erkundigte er sich.

Magnus schob Benno ein Stückchen zur Seite, und ein kurzes Gerangel entstand.

»Ist doch klar«, sagte er, weil Benno immer noch keine Luft zum Sprechen hatte. »Wie willst du so 'n Riesenbär denn zurückschaffen? Klar, man könnte ihn betäuben, aber wer sagt dir, dass er nicht wiederkommt? Ist viel zu gefährlich.«

»Raubtiere gehören in den Zoo, sagt mein Vater immer«, keuchte Benno. »Und nicht in die Natur.«

»Äh«, machte Johannes. Er fand das überhaupt nicht einleuchtend. Wollte man nicht allerorts die verschwundenen Wildtiere wieder ansiedeln? Wölfe, Bären, Luchse und Wildkatzen? Irgendwie kam ihm das so typisch vor – überall in Deutschland wurde Naturnähe gepredigt, aber die Eingeborenen in Wuppertal knallten die Wildtiere einfach ab.

»Mein Vater hat auch einen Waffenschein!« Das war jetzt ein Mädchen. Er fasste es nicht. Die sah ja aus wie ein Supermodel! Solche Locken hatte Johannes noch nie gesehen. Und überhaupt – so eine Haarfarbe! Einzelne Strähnen in der kastanienbraunen Fülle waren goldblond. Sie grinste ihn selbstbewusst an und warf die Locken mit einer geübten Bewegung in den Nacken.

»Mein Vater ist bei der Polizei, weißt du. Der geht jedes Wochenende auf den Schießstand, zum Üben. Damit er bei der Verbrecherjagd fit ist. Hier ist echt was los in Wuppertal, das glaubst du gar nicht. Jeden Tag sechs Mal mit Sirene von Vohwinkel bis Oberbarmen. Mord, Bankraub, Schutzgelderpressung, Autodiebstahl, mein Vater sagt immer, Wuppertal ist ein Schmelztiegel der Kriminalität.«

Johannes konnte nicht verhindern, dass seine Kinnlade herunterklappte. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass das hier so gefährlich war. Und dann ließ ihn seine Mutter allein zur Schule fahren?

»Du musst dir aber keine Sorgen machen«, beruhigte ihn das Mädchen. »Mein Vater hat die Sache total im Griff.«

Sie beugte sich vor und lächelte ihn strahlend an, dabei schüttelte sie wieder die Lockenmähne. Sie hatte eine teuer aussehende Zahnspange, aber das konnte den Gesamteindruck nicht trüben.

»Ich bin Britney Jollinger. Hi, Johannes!«

Er krächzte, als er: »Hi, Britney!« antwortete. Sie nickte ihm zu.

»Da hast du ja echt einen Mistplatz, bei den drei Krampfis«, verkündete sie. »Spinni die Spinne, Streberspießer und Vulkanpickel. Du meine Güte. Du tust mir echt leid, weißt du das?«

Sie sah ihn mitleidig an und ging dann zu ihrem Platz zurück. Ihre Mähne wippte bei jedem Schritt wie in einer Shampoowerbung.

»Die ist der Hammer, oder?« Magnus schien seine Gedanken erraten zu haben. »Du bist also auch ein Bewunderer weiblicher Schönheit. Na ja, kein Wunder, ihre Mutter war mal Miss Ostwestfalen. Gute Gene.«

»Du hast rote Ohren! Pass auf, dass dir die Augen nicht aus dem Kopf fallen!«

Johannes zuckte zusammen. Im Vergleich zu Britneys melodischer Stimme klang das hier wie ein Reibeisen. Er drehte sich um: Amelie. Das Mädchen mit der undefinierbaren Haarfarbe und den Zöpfen. Weia, war das ein ernüchternder Unterschied.

»Dir ist aber schon klar, dass sie Dauerwelle hat und dass die Haare gefärbt sind? Und sie hat sich Strähnchen machen lassen. Wenn man so was mit dreizehn anfängt, sind die Haarwurzeln kaputt, bis man dreißig ist.«

Ach du liebe Güte. War Amelie etwa neidisch auf diese Lockenpracht? Na ja, dazu hatte sie ja auch allen Grund, wenn man ehrlich war.

Magnus kicherte.

»Ah ja, Spinni die Spinne hat gesprochen. Dann spielst du wohl eher in der Liga, alles klar!«

Um Himmels willen! Bloß nicht! Johannes sprang so schnell auf, dass er seinen Stuhl umstieß, und ging Magnus mit großen Schritten hinterher.

»Die Fotos von Rio, die dir dein Vater geschickt hat, die würd ich gern mal sehen!«

Magnus drehte sich um und lächelte gönnerhaft.

»Klar, komm mit, ist eh Zeit zum Essen. Wir gehen in die Mensa. Hast du auch einen Essensausweis? Klasse. Dann zeig ich dir alles!«

Johannes atmete erleichtert aus. Das war ja gerade nochmal gutgegangen. Er drehte sich um und fing Amelies Blick auf. Sie sah überhaupt nicht enttäuscht oder verärgert aus. Sie grinste einfach nur. Wie jemand, der sich seiner Sache sehr sicher ist. Johannes brach wieder der Schweiß aus.

Die Mensa war riesig, genau wie die ganze Schule. Hier herrschte Chaos pur. An der Essensausgabe drängelten sich die Schüler. Johannes fiel auf, dass im Gedränge ein Tisch frei war.

»Das ist der Captain's Table«, informierte ihn Magnus. »So wie bei meinem Vater auf dem Schiff. Der Kapitän entscheidet, wen er zum Dinner einlädt, und ich mache das auch. Man muss seinen eigenen Wert kennen, sagt mein Vater. Ohne eine Führungspersönlichkeit geht es nicht; Menschen brauchen klare Anweisungen. So wie auf einem Kreuzfahrtschiff ist es überall anders auch. – Ich würde mich also freuen, dich heute am Kapitänstisch begrüßen zu dürfen.«

Oh ja, er war Mr Cool persönlich. Johannes streckte sich unwillkürlich, während er neben ihm zur Essensausgabe ging. Es war so, als ob Magnus' Coolness auf ihn abfärben würde.

Während des Essens zeigte Magnus seine Fotos. Er hatte jede Menge gespeichert. Rio, Los Angeles, Hawaii, Kuba, Jamaika, Dominikanische Republik, Acapulco, nach einer Weile wurde Johannes wirr im Kopf von all diesen exotischen Namen. Und die Bilder von dem Riesenkahn, den Magnus' Vater steuerte. Johannes empfand Neid. Seine Eltern waren so langweilig im Vergleich dazu. Was kannten die denn schon von der Welt? Den Karlsruher Hauptbahnhof. Er erinnerte sich an seine Mutter und ihre Schwester, wie sie vor einem Jahr einen Wochenendausflug nach Basel gemacht hatten. Johannes hatte schulfrei gehabt und durfte sie deshalb zum Bahnsteig begleiten. Er stand auf Züge, besonders auf den ICE. Das Design war so futuristisch – fast wie ein – Flugzeug? Moment. Und wenn seine Mutter nun stattdessen in eine große Boeing 757 gestiegen wäre, auf dem Weg über den Atlantik in die USA? Irgendwo hörte er eine Uhr ticken, unnatürlich laut. Ohne dass er es wollte, platzte es aus ihm heraus: »Meine Mutter war auch schon in Los Angeles!«

Das Bild war ganz klar: Statt ihrer Handtasche trug seine Mutter einen silbernen Aktenkoffer. Wenn er die Augen zusammenkniff, erkannte er eine kleine Ausbeulung unter dem Blazer. Und seine Tante…war nicht seine Tante …, sondern…

»Ach ja? Und was hat deine Mutter in L.A. gemacht?« Magnus wirkte nicht sehr beeindruckt.

»Ich weiß es nicht genau.« Johannes senkte die Stimme. Das Bild war immer noch ganz klar vor seinem inneren Auge. In seinem Kopf dröhnte das Ticken der Uhr. »Ich sollte nicht mitgehen, aber ich habe mich ins Auto geschmuggelt, weil ich sie zum Frankfurter Flughafen begleiten wollte. Ich wusste ja nicht … ob ich sie wiedersehe … es war so gefährlich … Und als sie ausstieg … Da habe ich das mit dem Aktenkoffer gesehen. Sie hielt ihn immer ganz nah bei sich, er enthielt brisante Informationen. – Und – sie hatte diesen Typen dabei, einen Riesenkerl, der schaute gefährlich aus. Ihre Hände waren so komisch nah beieinander, meine Mutter hatte einen Pulli darüber gelegt. Aber der ist verrutscht, und ich habe gesehen, dass sie den Mann mit Handschellen an sich gefesselt hatte! Das muss ein Verbrecher gewesen sein! Sie trug unter der Jacke ihren Schultergurt mit ihrer Dienstwaffe. Ich weiß nicht, wie sie die ins Flugzeug bekommen hat – bei den Sicherheitsbestimmungen an Flughäfen!«

Britney beugte sich vor. Ihre Augen glänzten.

»Sie hatte ganz sicher eine Sondergenehmigung«, erklärte sie. »Das bekommt man, wenn man ein hohes Tier ist – zum Beispiel beim Geheimdienst. Das ist ja total irre, auch das mit den Handschellen! Was um alles in der Welt macht deine Mutter?«

Geheimdienst. Johannes' Herz setzte einen Schlag aus, dafür tickte die Uhr immer weiter. Seine mollige Mutter und sein unscheinbarer Vater – getarnt als ganz normales Ehepaar. Sie lebten in Karlsruhe, hatten einen Teenager-Sohn, führten ein langweiliges Leben. Aber in Wirklichkeit …

»Meine Eltern sind Geheimagenten, aber das darf ich euch eigentlich gar nicht verraten – um euch und sie nicht in Gefahr zu bringen«, flüsterte er. »Ihr müsst mir schwören, dass ihr das niemandem erzählt! Meine Eltern sind ständig auf der ganzen Welt in geheimer Mission unterwegs. Deshalb hat mich meine Mutter auch nicht zur Schule gebracht – sie ist heute Morgen nämlich nach Palermo geflogen. Es geht um…die Mafia.«

Alles war ganz still geworden. Auch die Geräusche der anderen Jugendlichen in der Mensa blendeten sich aus. Johannes rieb sich die Schläfen und hielt sich seine Armbanduhr an die Ohren, auf der Suche nach dem dröhnenden Ticken. Die tickte aber so wie immer, fein und leise. Woher kam dieses laute Uhrgeräusch? Egal. In diesem Moment glaubte er ganz fest, was er da erzählt hatte. Und die Gruppe um ihn herum, Magnus, Kosta, Benno und vor allem Britney – sie glaubten es auch. Er sah es in ihren Augen. Sie wollten mehr.

Er zuckte zusammen, als sein Smartphone piepte. Er zog es aus der Tasche. Es war eine SMS seiner Mutter: »Wie läuft es denn so? Alles gut am ersten Tag in der neuen Schule? Nach deinem Stundenplan hast du jetzt Mittagspause. Schmeckt das Essen? Ich hole dich nachher ab, ich habe früher Schluss.«

»Was ist los?« Britney flüsterte nur noch. »Du wirst ja ganz blass, ist was passiert?«

Ausgerechnet heute hatte seine Mutter früher frei! Das passierte doch sonst nie! Und das hier war eine Ganztagsschule, er hatte montags immer um 16 Uhr Schluss. Das passte wie die Faust aufs Auge. Hätte er doch nur nicht eben gesagt, dass seine Mutter in Palermo war! So ein Mist! Wenn sie ihn abholen kam, und die anderen sahen sie, musste ihm etwas einfallen. Vielleicht konnte er sich ja einfach ganz schnell rausschleichen. Oder warten, bis die anderen weg waren!

»Es ist – eine Nachricht von meiner Mutter«, antwortete er gefasst. »Es … Es ist geheim.«

»Mann, aber deine Mutter ist okay, oder?« In Kostas Stimme schwang echte Besorgnis mit.

»Ja, schon …«

Rettung durch den Gong. Die Mittagspause war beendet. Im Aufbruchstrubel war kein Gespräch mehr möglich. Johannes hatte Zeit gewonnen. Er ließ sein Handy aufseufzend in die Hosentasche gleiten und ging hinter Magnus und den anderen her in die Klasse. Britney fing ihn an der Tür ab und sah ihm tief in die Augen, während sie beruhigend seinen Arm tätschelte.

»Ich kenn das«, erklärte sie nachdrücklich. »Diese ständige Angst. Aber du musst stark sein. Für deine Mutter!«

»Was ist mit seiner Mutter?«

Amelie! Schon wieder! Sie konnte nicht an Johannes und Britney vorbei, weil sie mitten im Türrahmen standen.

Britney warf wieder die Locken zurück und lachte schnippisch.

»Mann, Spinni die Spinne, zisch ab, das hier geht dich überhaupt nichts an! Du würdest es ja noch nicht mal verstehen, wenn ich es dir aufschreibe!«

»Versuch es doch mal! Ich bin nur nicht sicher, ob du zwei Sätze hintereinander fehlerfrei hinkriegst!« Amelie hatte wieder diesen selbstsicheren Gesichtsausdruck, der Johannes beunruhigte. Wenn man so aussah wie sie – jetzt fiel ihm auch noch ihr Rolling Stones T-Shirt mit der weit herausgestreckten Zunge auf, so was trug seine Oma auch – musste man dann nicht automatisch schüchtern sein?

»Ich denke überhaupt nicht daran, einem Loser wie dir was zu erzählen«, zischte Britney. »Typen wie du sind voll ätzend, da steh ich drüber!«

Sie warf noch einmal die Locken zurück und ging in die Klasse.

Amelie blieb vor Johannes stehen.

»Darf ich dir einen Tipp geben?«, fragte sie.

Johannes überlegte, ob er nein sagen sollte, aber das fand er einfach zu unhöflich. Also sagte er gar nichts.

»Du siehst ziemlich nett aus.«

Er starrte sie an. Was wollte sie von ihm? Ihre Miene war unbewegt.

»Du wirst nicht automatisch deshalb cool, weil du mit vermeintlich coolen Leuten abhängst. Und die passen echt nicht zu dir, lass es dir gesagt sein. Du verschwendest deine Zeit mit denen.«

Sie drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten, und ging auf ihren Platz. Johannes sah, dass die Augen von Magnus und seinen Freunden wieder auf ihm ruhten.

Ganz klar: So schnell wie möglich würde er Frau Neumann ansprechen, ob er sich an Magnus' Tisch setzen durfte!

Menschenskinder, Amelies Gelaber hatte ihm gerade noch gefehlt. Als wenn die Ahnung hätte! Natürlich färbte Coolness ab, und Uncoolness auch, dafür war Amelie ja das beste Beispiel. Aber es hatte Priorität, zu verhindern, dass seine neuen Klassenkameraden seine Mutter sahen.

Diese Riesenschule hatte doch mit Sicherheit mehr als einen Ausgang. Er wandte sich demonstrativ an den indischen Streberjungen, der bereits in seinem Heft blätterte: »Wo ist denn hier der Hinterausgang?«

Der Typ sah ihn an, als ob er verrückt geworden sei.

»Musst du flüchten?«, kicherte das Mädchen, das sie Vulkanpickel nannten.

»Nein, äh –«

»Ich kann ihn dir nach der Stunde gern zeigen.« Und wieder Amelie. Allmählich wurde es lästig. Das konnte er also auch vergessen. Damit kam Plan B zum Tragen.

Leider lehnte Frau Neumann seine Frage nach einem anderen Platz mit den Worten ab: »Gewöhn dich erst mal ein, Johannes, du kennst deine neuen Mitschüler doch noch gar nicht.«. Als es gongte, fischte Johannes behäbig sein Smartphone aus der Tasche und tat so, als würde er seine SMS lesen. Dann sammelte er ganz gemächlich seine Schulsachen ein. Stift für Stift in die Schlamperrolle, und das Heft nochmal sorgfältig durchblättern, ob auch nirgendwo Eselsohren waren …

»Soll ich dir nun noch den Weg zeigen?«, wollte Amelie wissen, die geduldig neben ihm wartete.

»Nein, danke, hat sich erledigt!« Johannes fand seinen Tonfall schon ganz schön fies, aber Amelie brauchte anscheinend klare Zurechtweisungen. Sie nickte und ging. Sofort hatte Johannes ein schlechtes Gewissen. Er war auch zu blöd.

Magnus und seine Clique riefen ihm nacheinander »Tschö!« zu. Johannes fühlte sich gleich viel besser.

Er ging langsam durch die endlosen Gänge zum Ausgang. Er verlief sich nicht und fand das Tor auf Anhieb. Aber wo waren jetzt die Parkplätze?

»Hey, Bademeister!«

Magnus' Stimme ließ ihn vor Schreck einen Satz machen. Der Spitzname klang inzwischen fast freundlich. »Was suchst du denn?«

»Äh, die Parkplätze.«

Magnus grinste und zog ihn in eine der backsteinroten Ecken des Gebäudes. Hier standen Kosta, Benno, Britney und noch ein paar andere, die Johannes nicht kannte. Sie hielten alle eine Hand hinter dem Rücken. Es roch verdächtig nach Zigarettenrauch.

»Das ist unser kleines Geheimnis. Kannst dir was drauf einbilden, dass du eingeweiht wirst. Willst du auch eine Kippe?«

Er hielt Johannes eine Zigarettenschachtel unter die Nase. Johannes wurde blass. Seine Eltern hatten eine unmissverständliche Einstellung zum Rauchen, seit Großonkel Herrmann an Lungenkrebs gestorben war. Und Johannes mochte den Tabakrauch auch überhaupt nicht, sein Hals kratzte davon. Er biss die Zähne zusammen und streckte die Hand nach den Zigaretten aus. Das war jetzt halt eine Mutprobe, und er war fest entschlossen, sie zu bestehen.

In diesem Moment hörte er das Hupen. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz: SOS. Das war natürlich seine Mutter, mit dem Reuberschen Sinn für Humor.

»Ich muss leider weg, sorry, beim nächsten Mal!«

»Klar, kein Problem, bist sicher eilig wegen deiner Mutter. Komm, ich zeig dir die Parkplätze. Benno, halt mal meine Teerschleuder.«

Magnus legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schultern und schob ihn vor sich her. In jeder anderen Situation wäre Johannes begeistert gewesen, aber auf einmal sah er den Parkplatz und den Ford Focus seiner Mutter. Sie winkte ihm durch das offene Fenster energisch zu.

»Wer ist das denn? Die in der alten Karre, die dir da Luft zufächelt? Ich dachte, deine Mutter wäre in Palermo?«

Oh nein, um alles in der Welt, warum? Warum? Bleib ruhig, Johannes, mach es wie vorhin, denk dich rein in diese Geschichte, damit es plausibel klingt …

»Klar, meine Mom ist in Palermo. Das ist unsere Haushälterin.«

Magnus starrte. Jetzt war er wirklich beeindruckt.

»Das ist ja logisch, dass ihr Personal braucht, wenn deine Eltern dauernd unterwegs sind. Wie ist das denn so, mit 'nem Kindermädchen?«

Das gleichmäßige Ticken einer Uhr – unmöglich, dass eine Armbanduhr so laut sein konnte, das kam woanders her – half ihm bei der Konzentration. Johannes war drin in der Rolle.

»Ach«, sagte er wegwerfend, »die wechseln bei uns so schnell, da spielt das gar keine Rolle. Eine ist wie die andere. Für mich ist nur wichtig, dass sie halbwegs nett sind und tun, was ich ihnen sage.«

Magnus nickte gewichtig.

»Klare Ansagen, das ist auch die Ansicht meines Vaters. Es muss immer eine Führungspersönlichkeit geben, sonst funktioniert es nicht. Voll korrekt, was du machst!« Er klopfte Johannes auf die Schulter, dann setzte er eine Kennermiene auf. »Die sieht schon ganz schön fett aus, die füttert ihr wohl zu gut!«

Johannes rauschte in Nullkommanichts in die Realität zurück und hätte Magnus am liebsten eine reingehauen.

Er machte sich ruppig von seinem Arm los und rannte über den Parkplatz. Bevor Magnus etwas sagen konnte, war er schon ins Auto gesprungen.

»Fahr los, fahr los!«, fauchte er seine Mutter an.

Sie machte ein verständnisloses Gesicht, startete aber den Wagen.

»Na, das hört sich ja nicht nach einem schönen ersten Schultag an«, murmelte sie. »Was hat denn der? Zu viel auf Facebook unterwegs gewesen?«

Sie waren an Magnus vorbeigefahren, der wie ein Verrückter den abgespreizten Daumen in die Luft stieß und anzüglich grinste.

»Ach, der nervt nur ein bisschen«, antwortete Johannes wegwerfend.

3. Der Pate von Wuppertal

Nach drei Minuten bog Johannes' Mutter in die Gronaustraße ein, an deren unterem Ende sie eine Wohnung in einem Jugendstilaltbau gemietet hatten. Gegenüber stieg der Nommensenweg zwischen Bäumen stetig an. Das war eine schöne Lage, und das Haus selbst war auch echt schön. An der Hauswand rankte sich wilder Wein. Ein riesiges Treppenhaus öffnete sich wie in einem Museum, mit Babyengeln (seine Mutter sagte Putten dazu), einem Holzgeländer voller cooler Schnitzereien und alten Buntglasbogenfenstern. Die Decken in der Wohnung waren vier Meter hoch, und der Stuck war einfach phänomenal, Blumengirlanden, aber auch fantastische Formen und Figuren, mit Blattgold verziert. Die Fenster waren riesig, Johannes guckte vom dritten Stock auf die Bäume am Weg zur Hardt, einer Parkanlage, in der auch der Botanische Garten der Stadt lag.

»Wuppertal ist wirklich ganz schön bergig, kein Wunder, dass es im Bergischen Land liegt«, sagte er.

Seine Mutter lachte.

»In Wirklichkeit heißt es Bergisches Land wegen der Fürsten von Berg, die in Solingen auf Schloss Burg regierten. – Was ist denn das?« Sie beugte sich zu dem großen Paket, das Johannes vor der Wohnungstür hatte liegen lassen. »Ist das heute Morgen noch gekommen? Komisch, ich erwarte überhaupt nichts. Und dann noch Zerbrechlich, nicht stürzen, Achtung Glas! An wen ist das denn adressiert?«

Sie betrachteten den fleckigen, halb abgerissenen Paketaufkleber gemeinsam. Die Tinte war verschmiert – vermutlich wegen des Regens.

»Also, für mich sieht das schon aus wie Reuber«, murmelte seine Mutter, »guck mal, da ist das R, das e, da ganz eindeutig »ber«. Das »u« kann man irgendwie gar nicht lesen, aber das reicht ja auch schon. Kannst du den Vornamen identifizieren?«

»Es ist irgendwas mit s am Ende«, sagte Johannes, »aber das passt auf jeden von uns: Johannes, Ines und Claus.«

Johannes' Mutter legte den Kopf schief und bekam wieder diesen Eulenblick, wie immer, wenn sie versuchte, ohne ihre Brille etwas zu lesen.

»Die Hausnummer sieht aus wie ein @. Wenn man wenigstens den Absender lesen könnte! Aber der ist ja komplett verschmiert. Da kann man keinen einzigen Buchstaben entziffern.«

Sie wischte ein wenig auf dem Aufkleber herum, aber das half überhaupt nichts.

»Na ja, egal«, seufzte sie schließlich, »vielleicht finden wir ja innen drin einen Hinweis, von wem das Paket ist. Du meine Güte, ist das sperrig! Hast du das die Treppen raufgeschleppt? Zum Glück ist es nicht so schwer, nur unhandlich. Komm, hilf mir mal.«

Sie trugen das Paket in die Wohnung und öffneten es. Zunächst kam jede Menge Knallblasenfolie zum Vorschein, die Johannes sofort an sich nahm. Neben Knallblasenfolie verblasste der Inhalt eines jeden Paketes doch sowieso. Er freute sich schon darauf, eine Plopporgie in seinem Zimmer abhalten zu können. Dann förderte seine Mutter eine riesige Styroporverpackung zu Tage, und darin war eine antike, ziemlich ramponiert aussehende Kaminuhr aus Kirschbaum. Der Holzkorpus und das Sichtglas waren verschmiert und mit Fingerabdrücken übersät. Die Zeiger standen seltsamerweise unbeweglich auf der Zwölf, obwohl die Uhr zu laufen schien. Johannes hörte das Ticken genau. Es kam ihm vertraut vor.

»Vermutlich ein Geschenk zum Einzug!« Seine Mutter forschte in den Verpackungsresten vergeblich nach einer Karte. »Wird sich schon noch herausstellen, wer uns so großzügig bedacht hat. Nur poliert und saubergemacht hat sie der Spender leider nicht.«

»Aber woher bekommen wir jetzt einen Kamin?«, feixte Johannes.

Seine Mutter lachte.

»Ich finde, wir können sie hier auf die Esszimmeranrichte stellen, da sieht man sie gut. Und sie ist weit genug von den Schlafzimmern weg, ich hasse dieses laute Ticken. Ich befürchte das Schlimmste, wenn ich an deren Stundenschlag denke. Das probieren wir nachher mal aus, dann finden wir vielleicht auch heraus, wie wir die Uhrzeit korrekt einstellen. Erst brauche ich einen Kaffee. Ich habe beim Bäcker Teilchen geholt, magst du welche?«

Sie saßen zusammen am Esszimmertisch, sie trank Cappuccino, er aß eine Rosinenschnecke, und seine Mutter ging ihm ziemlich auf den Zeiger. Sein Verhalten beim Einsteigen hatte ihr natürlich zu denken gegeben, und die Befragung nahm inquisitorische Züge