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Sieben alltägliche Dinge, hinter denen das Unbegreifliche lauert. Ein silberner Anhänger in den Fluten eines Sees. Der Blick einer Statue. Ein Spielzeugritter aus unbekanntem Material. Ein Schreibfehler auf einem Autobahnschild. Insektenspray mit unerwarteter Wirkung. Eine Stumpenkerze, die sich nicht durch herkömmliche Streichhölzer entzünden lässt. Eine Schlangenskulptur. Sieben Frauen, die Tore zu Welten öffnen, in denen nichts ist, wie es scheint. Sieben Geschichten jenseits der Realität. Wagen Sie den Schritt über die Grenze - ins Dunkle, Magische, Unbekannte.
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Seitenzahl: 170
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Über die Autorin:
Anke Höhl-Kayser, geboren 1962 in Wuppertal, schreibt seit 2009 in vielen Genres, mit Vorliebe aber Fantasy für Jugendliche und Erwachsene. Hauptberuflich ist sie als Lektorin tätig.
Der vorliegende Band mit sieben Dark-Fantasy-Kurzgeschichten ist ihre dreizehnte eigenständige Veröffentlichung.
EIN PAAR SÄTZE ZU BEGINN
KÖNIGSSEE
IM HERZEN
DAS CROMWELL-HAUS
DIE WELT RETTEN
SPINNENSINN
DIE FEUERKÖNIGIN
APOPHIS
EIN PAAR SÄTZE ZUM SCHLUSS
DANKSAGUNG
Wenn Sie das lesen, haben Sie die Grenze zwischen Realität und Unbekanntem bereits überschritten und sind gewillt, sich mit mir in mysteriöse Welten zu begeben. Nehmen Sie eine starke Taschenlampe mit und bleiben Sie auf dem Weg, denn man weiß nie, was einen in der Dunkelheit erwartet.
Alle in diesem Buch gesammelten Geschichten stammen aus Kurzgeschichtenwettbewerben der Jahre 2014 bis 2018 und platzierten sich dort unter den besten Einsendungen.
Vier der Kurzgeschichten waren Beiträge zum Marburg Award (mehr Informationen über diesen Award auf der Facebook-Seite des Marburg-Con: www.facebook.com/marburgcon) und sind in den Award-Anthologien veröffentlicht.
Die Kurzgeschichte »Königssee« erschien in der sechsten Geisterspiegel-Anthologie »Dark Place« (mehr über das Phantastische Online-Magazin hier: www.geisterspiegel.de).
Die Kurzgeschichten »Die Feuerkönigin« und »Apophis« wurden in den XUN-Magazinen »Drachen, Schwerter, Elfenglanz« bzw. »Götterdämmerung« veröffentlicht. Mehr über die Freie Redaktion XUN hier: www.fantastischegeschichten.de
Berge in Grau und Weiß. Das satte Grün der Bäume, das Türkis der Seen. Wiesen mit Farbtupfen übersät wie eine Malerpalette. Das Berchtesgadener Land ist immer eine Reise wert!‹
Der Werbetext des Tourismusverbandes zog Lena an wie ein Magnet. Sie scrollte zu den Fotos. Dort war das grüne Wimbachtal mit den zerklüfteten Graten des Watzmann und des Hochkalter. Über die Wiesen ergoss sich die verschwenderische Sommerfülle bunter Blumen. Für einen Moment hatte Lena das Gefühl, den warmen Duft der Erde riechen zu können. Kindheitserinnerungen ließen Empfindungen in ihrem Kopf explodieren: die Fülle einer Landschaft, die ihr jetzt um so vieles schöner erschien, weil sie nicht mehr alltäglich war. Sie klickte sich durch die Bilder, hielt inne bei einer Luftaufnahme des Königssees. Dieser seltsame See, so tief und still, hineingepresst in steile Berghänge, faszinierte sie. Sein eigentümliches Türkisgrün zwischen dem Grau der schroffen Felswände erinnerte sie an einen Edelstein. Kristallklar an manchen Stellen, unergründlich an anderen. Sehnsucht durchschnitt sie wie mit einem Messer.
Ihre Chefin hatte ihr gestern gesagt, dass sie die Agentur schließen würde. Lena hatte die ganze Zeit über gemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Und nun war sie ohne Job.
Wie seltsam, dass sie gerade jetzt diese Bilder entdeckt hatte. Ihre Heimat. Dort, wohin man ging, wenn man keine andere Zuflucht mehr hatte.
Hanny fiel ihr ein. Sie hatte über ein Jahr lang nichts mehr von ihrer Cousine gehört. Die Erinnerung an die gemeinsame Kindheit war so überwältigend, dass sie nach dem Telefon griff. Sie musste die Nummer nicht nachschlagen.
»Halmer.«
Die Stimme klang eindimensional. Lena fragte nach: »Hallo, Hanny, bist du das?«
Die Antwort kam immer noch tonlos: »Ja. Hallo, Leni.«
Ich hätte vielleicht doch besser erst mal eine E-Mail geschrieben, dachte Lena peinlich berührt.
»Alles klar bei dir, Hanny?«
Emotionslos.
»Ja.«
Lena trat die Flucht nach vorn an. »Hanny, ich bin seit gestern arbeitslos. Das platte Land hier geht mir auf den Geist. Ich möchte für eine Weile nach Hause. Ich würde dich gern besuchen kommen.«
Die Pause am anderen Ende der Leitung dauerte zu lange. Hatte Hanny aufgelegt? Was, um alles in der Welt, war mit ihrer Cousine los? Als Kinder waren sie beste Freundinnen gewesen, Lena hatte mehr Zeit bei ihrer Tante Mirl und Hanny verbracht als zuhause.
»Das ist gerade nicht der günstigste Zeitpunkt.«
Lenas Kinnlade klappte herunter. Das gab es doch nicht, dass Hanny Nein sagte!
»Was ist denn bei euch los, Hanny? Stimmt was nicht mit dir? Hast du Probleme mit Bastl?«
Wieder eine endlose Pause. Lena konnte Hanny atmen hören. Es klang fast, als würde sie weinen.
»Bastl ist weg. Ich bin wieder bei Mama eingezogen.«
»Oh verdammt, Hanny, es tut mir leid. Ich war so gedankenlos! Bitte, gib mir eine Chance. Ich komme vorbei und wir sprechen darüber. Okay?«
»Es geht nicht, Leni, hörst du. Servus.«
Das Klicken war unmissverständlich. Lena starrte den Hörer in ihrer Hand an.
Hanny und Bastl hatten sich getrennt. Hanny war wieder bei Lenas Tante Mirl eingezogen. Das bedeutete, dass es ihr richtig schlecht ging. Das verstand Lena nicht, denn Hanny war gar nicht so wild auf Bastl gewesen. Der Typ sah zwar toll aus, aber er war ein Idiot.
Es musste mehr dahinterstecken. Lena hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte nur an sich und ihre Karriere als Lektorin bei der aufstrebenden neuen Literaturagentur in Hamburg gedacht.
Auf einmal war ihr ganz klar, was sie tun musste. Wenn Hanny sie nicht im Haus wohnen haben wollte, dann würde sie halt irgendwo etwas buchen. Aber sie musste heimfahren und Hanny helfen, so gut sie konnte. Wenn sie erst mal da war, würde Hanny sie nicht wegschicken.
Eine halbe Stunde später hatte sie ein Zimmer in einer Pension in Berchtesgaden gemietet. Von dort bis zu Tante Mirls Haus in Unterschönau am Königssee waren es mit dem Auto nur zehn Minuten. Der Dialekt der Pensionswirtin und die warmherzige Freundlichkeit hatten Lena die Tränen in die Augen getrieben. Ja, sie musste nach Hause. Sie begann, zu packen.
Fast tausend Kilometer Fahrt lagen vor ihr. Als sie vor zwei Jahren von Schönau ins Norddeutsche aufgebrochen war, war sie überzeugt gewesen, sich dort ein grandioses Leben aufbauen zu können. Sie hatte ein Angebot einer erfolgreichen Jung-Autorin bekommen, die in Hamburg eine Literaturagentur eröffnen wollte und dazu junge, teamfähige Lektorinnen suchte. Lena war Feuer und Flamme. Sie war sicher, dass sie es schaffen würde.
Im Rückblick auf die vergangenen zwei Jahre zog Lena eine ernüchternde Bilanz. Es war gut, dem Ganzen den Rücken zu kehren. Sie fuhr auf die A 7, der übliche Stau durch den Elbtunnel brauchte ihre letzte Geduld auf. Als sich endlich hinter der Röhre der kuppelförmige Himmel über dem Hamburger Hafen vor ihr auftat, gab sie Gas. Sie hatte nur einen Wunsch: zurück in die Geborgenheit, die Enge der Bergtäler.
Ihr Golf war kein Tempowunder, aber ein Ausdauersportler. Brav fraß er Kilometer für Kilometer. In der Gegend um Nürnberg begann sie, sich heimisch zu fühlen.
Auf der A 8 bei München wurde es voll. Es war früher Nachmittag. Sie hielt an einer Raststätte, tankte, trank einen Cappuccino. Graublaue Gewitterwolken ballten sich zusammen und kamen drohend näher wie eine schlechte Nachricht. Sie stieg wieder in den Wagen und fuhr weiter, doch die Unwetterfront verfolgte sie, fraß die Sonne. Das schwarzsilbrige Zwielicht war apokalyptisch. Plötzlich stürzte der Regen wie eine Wand, sie konnte keine zehn Meter weit sehen. Die golfballdicken Tropfen klatschten auf die Fahrbahn und spritzten einen halben Meter wieder hoch. Lena konnte sich nicht erinnern, jemals so einen Wolkenbruch erlebt zu haben. Sie fuhr auf den nächsten Rastplatz, wie viele andere Autofahrer auch, und wartete. Irgendwann zerschnitten weiße Sonnenfinger die Wolkenmasse, zerfaserten die Dämmerung, gossen verweintes Licht über die Landschaft, hoben die Konturen der fernen Berge präzise hervor. Lena fädelte sich aufatmend wieder auf die Autobahn ein.
Da war der Chiemsee im Abendlicht! Sonnenreflexionen funkelten wie Diamanten über der weiten Wasserfläche. Vertraut, berührend. Wie hatte sie diese Schönheit so lange entbehren können? Noch fünfzig Minuten, sagte das Navi. Sie war aufgeregt.
Frau Stoeckl, die Pensionswirtin, begrüßte sie mit der Herzlichkeit der Berchtesgadener. Als sie erfuhr, dass Lena eine Einheimische war, lachte sie. »Na, das hätte ich nicht gedacht. Sie sprechen so Norddeutsch. Das gibt sich aber bald wieder, denk ich.«
Sie bot Lena an, mit ihr eine Tasse Kaffee zu trinken, doch Lena wollte zu Hanny. Sie ging auf ihr Zimmer und packte ihren Koffer aus. Das Mobiliar war schlicht, aber penibel sauber. Über der Tür hing ein Kruzifix.
Vor dem Haus floss die opalblaue Berchtesgadener Ache, ein ferner Gruß vom Königssee, denn sie wurde durch die Königsseer Ache gespeist. Sie führte nach dem Wolkenbruch viel Wasser und schäumte wie ein Wildbach. In der Ferne sah Lena die beinahe schneefreie Spitze des Watzmann. Weiße Adern durchzogen das Gestein, erinnerten sie an Wachstränen auf einer Tropfkerze.
Lena hob den leeren Koffer auf den Schrank und lief nach unten.
Sie rief Frau Stoeckl einen Abschiedsgruß zu. Sie war müde und ihr Rücken schmerzte, aber die Freude auf das Wiedersehen trieb sie vorwärts. Es dämmerte bereits. Sie startete den Motor und schaltete die Scheinwerfer an.
Die Straße führte durch dichte Tannenwälder, die Sicht war nicht mehr die beste. Wenn sie nach vorn schaute, schien das graue Asphaltband immer schmaler und schließlich von den Bäumen vereinnahmt zu werden. Zwei Parallelen, die sich nicht erst in der Unendlichkeit, sondern vor ihr kreuzten. Lena rieb sich die Augen. Die Lider kratzten wie Sandpapier. Sie vermisste die üppige Hamburger Straßenbeleuchtung. Es wäre klüger gewesen, bei Frau Stoeckl eine Tasse Kaffee zu trinken.
Als links neben der Straße die Königsseer Ache im Scheinwerferlicht glitzerte, wurde Lena wieder etwas munterer. Erneut ein Gruß von ihrem See!
Lena bog in die Holzgruberstraße ein. Das typisch bayrische Haus ihrer Tante mit dem dunkelbraunen Dach, der weißgetünchten Fassade, der Holzverkleidung und der großen Veranda schien auf den ersten Blick unverändert. Aber dann sah Lena, dass die Blumenkästen nicht bepflanzt waren. Verrottende Blumenstängel reckten sich wie Skeletthände anklagend ins Zwielicht. Die Fensterscheiben waren schmutzig, die Gardinen dahinter gelb. Lena spürte auf einmal ein Kribbeln in der Magengrube, eine innere Stimme mahnte, sie solle den Wagen wenden und nach Hause fahren.
Sie ignorierte sie, schaltete den Motor ab und stieg aus.
Auf der untersten Stufe der Steintreppe, die zur Haustür führte, saß eine grau getigerte Katze. Ein Auge war milchig blind, das andere leuchtete im Licht der Scheinwerfer blutrot auf. Sie wandte Lena den Kopf zu, als die Fahrertür ins Schloss fiel. Aus dem linken Kiefer wucherte ein gigantischer Tumor. Lena schauderte, als die Katze langsam auf sie zukam und begann, sich an ihren Beinen zu reiben. Sie schob sie zur Seite, ging die Treppe hinauf und klopfte. Nichts geschah. Kein Licht hinter den Fenstern – war niemand zuhause?
»Wer ist da?«
Hannys Stimme.
»Mensch, Hanny, mach auf, ich bin’s!«
Stille. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt. Ein ausgemergeltes Gesicht unter einem Schwall ungekämmter, fettiger Haare sah Lena entgegen.
Lena holte tief Luft. Aus dem Haus wehte sie Gestank nach verdorbenen Lebensmitteln an.
»Um Himmels willen, Hanny, lass mich rein und erzähl mir, was los ist!«
Ihre Cousine zögerte. Dann öffnete sie die Tür. Die Katze sprang mit einem kehligen Maunzen ins Innere des Hauses.
Lena sah ihr nach.
»Hat das arme Tier Krebs? Kann man es nicht operieren?«
Hanny antwortete nicht. Lena trat an ihr vorbei in die Diele. Hanny ging hinter ihr her Richtung Wohnzimmer. Lena starrte in die Finsternis. Nirgendwo brannte eine Lampe. Von draußen fiel nur noch ein schwacher Lichtschimmer durch die verschmutzten Fenster. Trotzdem erkannte sie, dass es im Zimmer völlig verwahrlost aussah. Alle freien Flächen waren mit schmutzigem Geschirr und Abfall belegt. Überall leere Bierflaschen. Was war hier los? Hanny hatte niemals getrunken.
Lena überlegte, sich einen der Stühle freizuräumen, aber der Gestank widerte sie an. Sie blieb stehen.
»Hanny, all das wegen Bastl?«
Wieder Stille. Zum ersten Mal hatte Lena das Gefühl, dass ihre Cousine sie wirklich wahrnahm. Die rauchgrauen Augen, die früher den Buben im Dorf reihenweise den Kopf verdreht hatten, musterten sie, und ein Blitzen wurde darin sichtbar.
»Wegen Bastl?«
Lena begriff erst nach einer Weile, dass das krächzende Geräusch, das Hanny ausstieß, ein Lachen war. Sie konnte das Schaudern nicht mehr unterdrücken.
Hanny lachte und lachte, bis das Krächzen in einen Hustenanfall überging.
»Wegen Bastl!«, keuchte sie. »Du bist göttlich, Leni. Wegen Bastl!«
Lena wollte sie an den Armen nehmen und schütteln, aber sie ekelte sich vor Hanny. Sie mochte sie nicht berühren.
»Dann sag mir doch bitte, was los ist«, flüsterte sie.
»Ich glaub nicht«, antwortete Hanny, noch immer kichernd. Sie wandte sich zur Treppe ins Obergeschoss. »Mutter. Wir haben Besuch!«
Lena bekam Gänsehaut. Sie verstand sich selbst nicht, warum sie hergekommen war. Hanny hatte ihr doch gesagt, sie sei nicht erwünscht! Aber wie hätte sie das hier ahnen können!
Eine Tür quietschte. Als schleppende Schritte auf der Treppe laut wurden, siegte Lenas Fluchtinstinkt über ihre Loyalität.
»Ich komm morgen wieder«, stammelte sie und wandte sich zur Tür. Etwas geriet ihr zwischen die Füße, sie hörte einen maunzenden Schrei – die Katze. Sie schlug längelang hin und prallte mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Das Sirren der Ohnmacht war schon in ihren Ohren, als grobe Hände sie auf den Rücken drehten. Sie starrte in ein gelbweißes Mondgesicht und hörte eine dumpfe Frauenstimme mit schleppender Artikulation singen: »Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein, es ruhn Schäfchen und Vögelein …«
Dann fing die Dunkelheit sie ein.
Sie erwachte mit pulsierenden Kopfschmerzen, die ihre Schläfen zu sprengen drohten. Sie wusste nicht, wo sie war, bis sie den Modergeruch des Bettzeugs wahrnahm. Mit einem erstickten Schrei richtete sie sich auf, Schmerz explodierte hinter ihren Augen. Es war stockdunkel. Als sie Leder roch und an ihrer Wange etwas Festes fühlte, hätte sie vor Erleichterung fast geweint. Ihr Cityrucksack. Sie zog ihn an sich heran, kramte darin und spürte das kalte Metallgehäuse ihrer Taschenlampe an den Fingern.
Der blauweiße Lichtstrahl flammte auf, und sofort wusste sie, wo sie war.
Das frühere Elternschlafzimmer. Man hatte sie angezogen auf das Bett gelegt. Die Vorhänge waren geschlossen.
Lena griff nach dem Schalter der Nachttischlampe und drückte. Eine Staubfontäne wirbelte auf, sonst geschah nichts. Kein Strom. Der Lichtkegel der kleinen Taschenlampe wurde schwächer. Sie hätte längst die Batterie erneuern müssen.
Lena betastete die Beule an ihrer Stirn, dann stand sie auf. Die hämmernden Kopfschmerzen verursachten ihr Übelkeit, sie kämpfte gegen den Brechreiz. Sie taumelte zum Fenster und öffnete die Vorhänge. Draußen war schwarze Nacht, über den Himmel flogen Wolkenberge, durch die der Mond spähte. Der Wind rappelte an den Fensterläden.
Lena durchwühlte ihren Rucksack, fand eine Kopfschmerztablette und würgte sie trocken herunter. Sie musste hier raus. Hoffentlich hielt die Taschenlampe durch, bis sie die Treppe hinter sich hatte. Sie öffnete ganz langsam die Zimmertür. Das Quietschen gellte wie eine Alarmsirene. Sie schluchzte auf und betete, dass die beiden sie nicht hörten. Im Haus schien sich nichts zu regen. Sie trat in die Diele. Die Tür zu Hannys ehemaligem Zimmer stand einen Spalt offen. Lena wartete wieder. Nichts geschah. Der Schlag ihres Herzens drohte, ihren Brustkorb zu sprengen.
Die Dielenbretter ächzten unter Lenas Füßen. Sie erreichte die Treppe, umfasste das Geländer. Die Taschenlampe flackerte. Nein! Bitte jetzt nicht ausgehen, nur noch ein Stück!
Als der Schrei erklang, knickten Lenas Beine unter ihr weg. Sie konnte sich nicht halten, rutschte ein Stück die Treppe hinunter. Es war ein an- und abschwellendes Heulen wie von einem gequälten Tier. Unten im Wohnzimmer flimmerte ein grünlicher Lichtschein. Etwas bewegte sich. Erneut Schreie. Nicht menschlich. Und doch verstand sie Wörter: »Nein! Nein! Nicht! Bitte nicht!«
Lena presste beide Hände vor den Mund. Der Lichtschein breitete sich aus. Ein kreideweißes Gesicht, flehend erhobene Arme, etwas Schwarzes wehte darüber.
»Hier! Nimm sie! Lass mich! Bitte! Bitte!«
Lena war paralysiert vor Furcht.
Nach und nach ebbten die grässlichen Töne ab. Auf einmal war das Licht verschwunden. Von unten drangen schluchzende Laute an Lenas Ohren. Ein unkontrollierbares Zittern ergriff von ihrem Körper Besitz. Sie stand auf, so leise sie konnte, und taumelte zurück in das große Zimmer. Sie stolperte und fiel auf das Bett, lauschte und lauschte, bis es draußen vollkommen still war.
Als endlich die Schwärze gewichen war und der Himmel im Osten die Berge in zartrosa Licht hüllte, lag Lena auf dem Rücken, das Shirt schweißnass. Sie starrte seit Stunden an die Decke, nun wagte sie erstmals, den Kopf zur Tür zu drehen. Sie hatte sie in der Nacht nicht verschlossen, aus Angst, jemanden auf sich aufmerksam zu machen.
Unten war es totenstill. Lena nahm ihren Rucksack und schlich sich nach draußen zur Treppe. Das Dämmerlicht des neuen Tages fiel durch die beiden großen Wohnzimmerfenster. Sie sah keine Bewegung.
Die Treppenstufen knirschten und quietschten, aber Lena war es egal. Nur noch raus hier.
Sie hatte das Wohnzimmer halb durchquert, als sie eine Stimme hörte.
»Ja, ich hab mir schon gedacht, dass du gehst.«
Lena fuhr herum. Hanny lag auf der Couch wie zusammengebrochen, ein Bein war heruntergerutscht, das andere hing über der Lehne. Die grauen Augen leuchteten unheimlich in dem kreidebleichen Gesicht.
»Du hast es doch gehört letzte Nacht, oder? Und jetzt willst du weg. Das kann ich verstehen. Wenn ich könnte, würde ich auch weglaufen, so schnell mich meine Beine tragen. Aber ich kann nicht.«
Lena unterdrückte den Impuls, einfach zur Tür zu rennen.
Sie kippte einen der Stühle nach vorn, sodass sich der darauf liegende Dreck auf den Boden ergoss, und setzte sich so weit von Hanny entfernt, wie sie konnte.
»Klartext«, sagte sie. »Ich habe die Höllennacht meines Lebens in diesem Haus verbracht. Entweder redest du jetzt, oder ich gehe.«
Ein Funke blitzte in Hannys Augen auf. »Okay«, antwortete sie. Sie atmete tief durch und setzte sich aufrecht hin.
»Es ist jetzt fast genau ein Jahr her, noch zwei Tage hin«, sagte sie tonlos. »Freitag, der dreizehnte Juni. Mit Bastl war es damals schon nichts mehr. Er hatte eine Neue, und ich hatte Gregor kennengelernt. Er war Bergführer aus Unterau. Sein Hobby waren die Sagen um den See, er war absolut narrisch damit. Du weißt schon: der Geiger vom Königssee, Barbarossa im Untersberg, der König, der wegen seiner Grausamkeit zum Watzmann versteinerte. Er konnte toll erzählen! Auch die Geschichte von der wohlhabenden Witwe, die von einem Heiratsschwindler am dreizehnten Juni 1815 auf den See gelockt und dort ermordet wurde. Sie hat ihm dabei seinen Talisman abgerissen, einen Zahn an einer Silberkette, und mit in den Tod genommen. Ihre letzten Worte sollen ein Schwur gewesen sein: zurückzukehren und Rache zu nehmen. Gregor hat mich überredet, mit ihm bei Vollmond auf den See hinaus zu rudern. Genau zweihundert Jahre nach dem Mord, hat er gesagt. Ich kenne die Stelle, man kann von dort St. Bartholomä im Mondlicht sehen. Mal schauen, ob die Schwarze Frau ihre Drohung wahrmacht. Ich habe mich immer vor dem Königssee gefürchtet, bereits bei Tag, weil er so dunkel ist. Ich hatte als Kind das Gefühl, in der Tiefe verbirgt sich etwas, das nur darauf wartet, hervorzukommen. Und dann sind wir nachts um zwei nach draußen gerudert. Schon als wir an der Christlieger vorbei waren, wusste ich, dass etwas Furchtbares geschehen würde. Ich flehte ihn an, zurückzufahren, aber er hat nur gelacht. Du hättest das Licht sehen müssen, dieses weiße kalte Mondlicht über dem schwarzen See. Es war entsetzlich.«
Lena hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Obwohl die Sonne aufging und das Zimmer in helles Licht tauchte, nahm sie aus den Augenwinkeln Schatten wahr, die sich auflösten, sobald sie genauer hinschaute.
Hanny fiel das fettige dunkelbraune Haar in die Stirn. Sie strich es mit einer mechanischen Geste zurück und sah Lena mit blicklosen Augen an, als sie fortfuhr.
»Es wurde immer kälter und dunkler. Ich habe gebettelt, dass wir umkehren, aber Gregor hörte nicht auf mich. Er hat die ganze Zeit geredet wie im Fieber. Bald sahen wir die Türme der Kirche auftauchen. Als wir auf Höhe von St. Bartholomä waren, kam ein Leuchten aus dem See. Dunkelgrün, von tief unten. Ich habe Gregor angeschrien, aber er war plötzlich ganz still und hat mit glänzenden Augen ins Wasser geschaut. Ich seh sie, hat er gesagt. Dann stiegen Luftbläschen auf, mehr und mehr, als ob ein Taucher am Grund wäre. Gregor hat die Hand ins Wasser gehalten, und auf einmal ist er aus dem Boot gezogen worden und lag drin im See. Er hat gestrampelt und versuchte, zu schreien, aber sein Kopf tauchte immer wieder unter. Ich wollte ihn festhalten, aber sie war stärker. Der Gregor hat gar nichts mehr gesagt, der hat mich nur so flehend angeschaut. Dann hab ich drei Glockenschläge gehört, aus der Tiefe, nicht von St. Bartholomä, und Gregor wurde nach unten gerissen. Ein paar Luftblasen noch, mehr nicht. Plötzlich schoss irgendwas Funkelndes aus der Tiefe hoch. Der Gegenstand hatte so viel Auftrieb, dass es platschte, als er an der Oberfläche auftauchte. Es war eine Silberkette mit einem Zahn dran. Ich war so wahnsinnig vor Angst. Ich hab das Ding genommen, keine Ahnung, warum. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich an die Anlegestelle zurückgekommen bin. Ich erinnere mich erst wieder, als ich am Parkplatz ins Auto stieg und losfuhr. Ich glaube, das war auch der Moment, wo ich aufgehört habe, zu schreien.«