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Bienen, Wespen und Ameisen: Wir preisen ihren Nutzen als Insektenvertilger, Obstbaumbestäuber und Waldpolizei. Und doch haben wir vor ihnen und ihrem schmerzhaften Stich Angst. Der Stachel ist die wichtigste Erfindung dieser Insektengruppe und Grundlage für die enorme Vielfalt an Arten und Lebensstrategien. Dieses mit einzigartigen Makroaufnahmen üppig bebilderte Buch lässt sich auf die widersprüchlichen Seiten von Wespen, Bienen und Ameisen ein. Es erzählt, wie und warum der Stachel eingesetzt wird, welche Rolle der Schmerz für die Evolution dieser Insekten spielt, und was wir Menschen aus dem Verhalten der sozial lebenden Hautflügler lernen können.
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Seitenzahl: 433
Michael Ohl
Stachel und Staat
Eine leidenschaftliche Naturgeschichte von Bienen, Wespen und Ameisen
Mit Makrofotografien von Bernhard Schurian
Knaur e-books
Bienen, Wespen und Ameisen: Wir preisen ihren Nutzen als Insektenvertilger, Obstbaumbestäuber und Waldpolizei. Und doch haben wir vor ihnen und ihrem schmerzhaften Stich Angst. Der Stachel ist die wichtigste Erfindung dieser Insektengruppe und Grundlage für die enorme Vielfalt an Arten und Lebensstrategien.
Dieses mit einzigartigen Makroaufnahmen und üppig bebilderte Buch lässt sich auf die widersprüchlichen Seiten von Wespen, Bienen und Ameisen ein. Es erzählt, wie und warum der Stachel eingesetzt wird, welche Rolle der Schmerz für die Evolution dieser Insekten spielt, und was wir Menschen aus dem Verhalten der sozial lebenden Hautflügler lernen können.
Für meine Schwester Frauke
Leidenschaft
»Ich liebe dich, heiße, zornige, viel verleumdete wilde Wespe.
Denn ich weiß, dass nur wer so groß und heiß lebt, auch froh zu sterben vermag. … Die Biene opfert das Leben dem Werk; die Wespe opfert alles Werk dem Leben.«
Theodor Lessing, 1925 (2005)[1]
Wespen, Bienen, Ameisen – sie sind die heimlichen Herrscher der Erde. Die rund 153 000 schon bekannten und viele weitere unentdeckte Arten bevölkern beinahe jeden Lebensraum des Festlands. Geht man an einem Sommertag selbst in einer Stadt nur ein kurzes Stück spazieren und achtet auf die zufällig den Weg kreuzenden Insekten, ist es wahrscheinlich, innerhalb von Minuten mindestens eine Wespe, Biene oder Ameise zu entdecken. In den Tropen machen die sozialen Wespen und Ameisen einen Großteil der tierischen Biomasse aus, und überall auf der Welt sind die Honigbiene und die Zigtausenden Wildbienenarten für einen erheblichen Teil der Blütenbestäubung verantwortlich. Wenn auch die einzelne Ameise im Verhältnis zu einem Menschen verschwindend klein ist, wiegen die geschätzten zehntausend Billionen Ameisen, die die Erde bewohnen, in etwa so viel wie alle Menschen zusammen.[2]
Stechende Insekten gibt es seit beinahe 150 Millionen Jahren, während die Frühevolution des Menschen gerade einmal vor zwei bis drei Millionen Jahren ihren Anfang nahm. Nachdem der Urahn aller Wespen, Bienen und Ameisen in der Jura-Zeit, als die riesigen Dinosaurier die Erde bevölkerten, den Stachel entwickelt hatte, erwies sich dies als Schlüsselereignis für eine evolutive Erfolgsgeschichte. Kaum eine andere Insektengruppe ist heute so vielfältig und artenreich wie die stechenden Wespen, Bienen und Ameisen. Und ihre Geschichte entwickelte sich zwischen Stachel und Staat.
Ein Großteil dieser faszinierenden Vielfalt existiert im Verborgenen. Das liegt zum einen daran, dass man sich die wehrhaften Tiere lieber aus der Ferne ansieht. Zum anderen sind die meisten Arten klein und unauffällig und leben in weit entfernten Wüsten und Regenwäldern. Schaut man aber genau hin, öffnet sich eine enorme Vielfalt an Farben, Formen und Strukturen. Erst hochauflösende Makrofotografien offenbaren Details der Insekten, die sich dem bloßen Auge nicht erschließen. Der chitinöse Panzer der Insekten ist Träger unterschiedlicher Farben, die sich zu einem arteigenen Farbmuster ergänzen. Selbst die schwarzen Bereiche unterscheiden sich, von einem häufigen dunklen Braunschwarz bis zu einem beinahe alles Licht verschluckenden samtigen Tiefschwarz. Ergänzt wird das Schwarz oft durch ein kontrastierendes Gelb oder Rot, das in Bändern oder Flecken über den Körper verteilt ist. Auch die Oberflächentextur des Panzers unterscheidet sich von Art zu Art. Manche Tiere besitzen einen beinahe künstlich wirkenden Glanz, während die Oberfläche anderer Arten durch Riffeln, Grate und Punktierungen in verschiedener Weise strukturiert ist. Behaart sind sie alle, aber doch jede in ihrer eigenen Weise, mal mehr, mal weniger, mal samtig, mal borstig. Haken und zahnartige Vorsprünge an verschiedenen Körperstellen, Komplexaugen in verschiedenen Formen, lange Beine, dünne Beine, Flügel oder keine machen jede Art zu einem einzigartigen Kunstwerk. Je länger man hinschaut, desto mehr Details offenbaren sich. Und doch ist dies immer nur eine kleine Auswahl der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Wespen, Bienen und Ameisen, die es auf der Erde gibt. Von dieser Vielgestaltigkeit, die bezaubert und fasziniert, soll hier berichtet werden.
Wespen, Bienen, Ameisen – drei vertraute Insektengruppen, von denen jeder etwas weiß und zu denen jeder eine eigene Geschichte zu erzählen hat. Die meisten Menschen haben bereits als Kinder das erste Mal den brennenden Schmerz eines Wespen- oder Bienenstiches erfahren. Das Zusammentreffen findet dabei meist ungeplant und überraschend statt, wenn der unvorsichtige Mensch auf eine nichts ahnende Biene tritt, die gerade auf der Wiese auf einem Klee sitzt. Die Reaktion kommt sofort und unmittelbar, und der Schmerz ist direkt und unausweichlich. War es eine Honigbiene, steckt meist noch der Stachel mit der Giftblase im eigenen Fleisch, und wenn man trotz des pulsierenden Schmerzes in der Lage ist, sich den Ausgangspunkt des Übels anzuschauen, sieht man die Giftblase unbarmherzig Gift in ihr Opfer pumpen. Dass die Biene dabei ihr Leben lässt, was im Übrigen nur bei wenigen der Zehntausenden von Bienen- und Wespenarten der Fall ist, ist nur ein schwacher Trost. Der Lerneffekt durch die Folgen dieses Zusammentreffens beschränkt sich auf den überlebenden Konfliktpartner, den Menschen, aber dieser Lerneffekt währt meist lange.
Die allermeisten Kontakte von Menschen besonders mit Wespen und Bienen gehen auf das Konto nur sehr weniger Arten, die allesamt große Staaten bilden, in unserer Kulturlandschaft häufig sind und in riesigen Individuenzahlen nahezu überall vorkommen. In Mitteleuropa und womöglich selbst im globalen Vergleich sind dies in erster Linie die Honigbiene Apis mellifera und zwei soziale Wespenarten, die Deutsche Wespe Paravespula germanica und die Gemeine Wespe Paravespula vulgaris.
Insekten, die »hinten stechen«, bilden eine artenreiche und in ihrem Körperbau und Verhalten enorm vielfältige Gruppe. Vor vielen Millionen Jahren ist bei dem gemeinsamen Vorfahren der Wespen, Bienen und Ameisen eine wichtige evolutive Neuerung entstanden: ein Stachel als Injektionsapparat für ein wirkungsvolles Verteidigungs- und Lähmungsgift. Bienen, Wespen und Ameisen, so unterschiedlich sie auch auf den ersten Blick erscheinen mögen, sind daher eng miteinander verwandt. Zusammen nennt man sie in der Wissenschaft Aculeata, von dem lateinischen Wort aculeus für Stachel. Die Aculeata gehören wiederum zu den Hautflüglern, wissenschaftlich Hymenoptera, eine der neben den Schmetterlingen, Fliegen und Mücken sowie den Käfern »mega-diversen« Insektenordnungen, die einen überproportional großen Anteil an der weltweiten Insektenvielfalt besitzen. Rund 153 000 Hautflüglerarten sind heute bereits weltweit bekannt, und davon besitzt knapp die Hälfte einen Stachel.
Erst mit dem Besitz des Stachels und der Entwicklung hochspezialisierter Gifte für unterschiedliche Einsatzgebiete konnte sich die heutige Vielfalt an stechenden Hautflüglern entwickeln. Auch für die Entwicklung komplexer Sozialsysteme, wie sie bei Wespen, Bienen und Ameisen häufig auftreten, war der Stachel eine wichtige Voraussetzung. Große Nester voller schmackhafter, eiweißreicher Larven und großer Mengen an süßem, zu Honig fermentierten Nektars sind eine attraktive Beute für hungrige Wirbeltiere aller Art. Wespen, Bienen und Ameisen haben deshalb Verteidigungssysteme gegen Angreifer entwickelt, die derart effektive Angriffswaffen sind, dass es selbst einer einzelnen Arbeiterin gelingen kann, einen um ein Vielfaches größeren Feind in die Flucht zu schlagen.
Viele Arten stechender Insekten führen allerdings keine soziale Lebensweise. Bei diesen solitären Arten baut jedes Weibchen allein auf sich gestellt ein Nest, das sie mit Larvennahrung füllt und auf die sie ihre Eier legt. Keine übermäßige Brutfürsorge, keine Arbeiterinnen. Diese solitären Wespen und Bienen beherrschen das Spiel mit dem Schmerz allerdings ebenso, aber hier kommen Funktionen des Giftcocktails hinzu, die die sozialen Arten nicht benötigen. Die meisten solitären Wespenarten versorgen ihren Nachwuchs mit Insektenbeute, die sie mit dem Stich ihres Stachels in dauerhafte Lähmung versetzen. Die Jungwespen ernähren sich dann von den paralysierten Insekten. Das injizierte Gift muss dabei so beschaffen sein, dass die Beute dauerhaft gelähmt bleibt, ohne frühzeitig zu sterben und so zu verderben. Die Wirksamkeit des Giftcocktails muss genauestens auf die spezifischen Rahmenbedingungen wie die Größe und Art der Beute und der Entwicklungszeit der Wespenlarven abgestimmt sein. Einige Wespen gehen sogar so weit, dass sie durch gezielte Stiche in einen Nervenknoten ihrer Insektenbeute den »Willen« des Insekts zu Fluchtbewegungen ausschalten, die motorische Steuerung der Beinbewegungen aber erhalten bleibt. So kann die Wespenmutter die oft viel größere Beute an den Fühlern wie ein Zombie in ihren Unterschlupf lenken. Solche spezifisch auf das Nervensystem der Opfer wirkenden Substanzen sind in der medizinischen Forschung von großem Interesse.
Das berühmte »Vogelspinnenblatt« aus Maria Sibylla Merians »Metamorphosis Insectorum Surinamensium« von 1705. Wahrscheinlich hat Carl von Linné dieser Vogelspinnenart den Namen Aranea avicularia aufgrund dieses Blattes gegeben. Entgegen Merians Beschreibung im Text ihres Buches handelt es sich bei den Ameisen wohl nicht um vegetarische Blattschneiderameisen, sondern um räuberische Treiberameisen der Gattung Eciton.[3]© Merian, M. S. 1705. Metamorphosis Insectorum Surinamensium. Amsterdam, Eigenverlag M. S. Merian. Tafel XVIII. Bibliothek Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut Müncheberg, Signatur F9a
Was aber sind Wespen, Bienen und Ameisen? So vertraut diese Begriffe scheinen, so schwierig ist ihre Verwendung im allgemeinen Sprachgebrauch. Bei der »Ameise« ist es noch unproblematisch, und die Rote Waldameise Formica rufa mit ihren imposanten Ameisenhügeln kann als Paradebeispiel für eine hochsoziale Ameisenart gelten. Auch wenn die mehr als 12 000 bekannten Ameisenarten in einer Form- und Verhaltensfülle auftreten, die verblüffend vielfältig und weitgehend unbekannt ist.
Bei der »Biene« wird es schon schwieriger. Rund 20 000 Bienenarten sind weltweit bekannt, aber der Großteil unseres Wissens über Bienen geht auf das Konto einer einzigen Art, der Honigbiene. Trotz dieser großen Bienenvielfalt, von denen nur wenige sozial wie die Honigbiene leben, sind Bienen biologisch gesehen im Grunde recht einfach zu charakterisieren. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie alle Blütenbesucher und sammeln Nektar und Pollen für ihre Larven. Im Detail allerdings offenbaren sich hier artspezifische Besonderheiten und vielfältige Anpassungen, die verblüffend sind, sodass man sich hüten sollte, in der so populären Honigbiene einen repräsentativen Vertreter der Bienenvielfalt zu sehen.
»Wespe« schließlich ist der wohl am wenigsten klar umrissene Begriff. Im Grunde können alle Hautflügler ohne die Ameisen und Bienen als Wespen bezeichnet werden. Das Spektrum reicht von den sogenannten Blatt- und Holzwespen, die weder eine Wespentaille noch einen Stachel besitzen, über die große Gruppe der Schlupfwespen und anderer parasitischer Gruppen, die mithilfe eines stachelartigen Eilegeapparates ihre Eier in ihre Wirte injizieren, bis eben zu der vielfältigen Gruppe der stechenden Hautflügler. Aber auch unter den stechenden Hautflüglern ist die Vielfalt dessen, was als Wespe gelten kann, sehr groß. Wegwespen, Dolchwespen, Rollwespen, Goldwespen und Grabwespen sind nur einige der vielen unterschiedlichen Gruppen von Wespen, die auch bei uns in Mitteleuropa vorkommen. Sie führen alle ein verstecktes Leben und sind oft von geringer Körpergröße, sodass man sie häufig übersieht. Und was besonders wichtig ist: Sie leben einzeln und kommen daher in weitaus geringeren Individuenzahlen vor als die sozialen Wespen, die im Spätsommer unsere Biergärten und Bäckereien überfluten und Anlass für das weitverbreitete schlechte Image »der Wespe« sind.
Die Illustration der Grabwespe Philanthus hortorum Panzer, 1799 als Teil der Originalbeschreibung dieser Art, die heute Cerceris rybyensis (Linnaeus, 1771) heißt. Die Abbildung ist eine von 2640 Tafeln mit Einzelillustrationen von Insekten aus der »Faunae Insectorum Germanicae initia«, einem bedeutenden ikonografischen Werk von Georg Wolfgang Franz Panzer, das er ab 1792 herausgab. © Panzer, G. W. F. 1792–1813. Faunae Insectorum Germanicae initia oder Deutschlands Insecten, Felseckersche Buchhandlung, Nürnberg. Bibliothek des Museums für Naturkunde Berlin
Es ist nur allzu verständlich, dass die sozialen Arten wie die Honigbiene, die Deutsche und Gemeine Wespe so viel Aufmerksamkeit erregen. Sie kommen nahezu überall vor, und ihre umfangreichen Staaten und die damit verbundenen komplexen Interaktionen sind hoch spannend. Ganz zu schweigen davon, dass wir dazu neigen, die Insektenstaaten mit den menschlichen Gesellschaften zu vergleichen und es nur allzu verführerisch ist, aus den Ähnlichkeiten Schlüsse für unser eigenes soziales Dasein und unsere eigene evolutive Geschichte zu ziehen.
Will man aber verstehen, wie und unter welchen Bedingungen die sozialen Arten als Äste im »Baum des Lebens« der übrigen stechenden Insekten entstanden sind, bleibt das Bild lückenhaft, beschränkt man sich auf die sozialen Arten. Die weitaus größte Zahl der stechenden Hautflügler lebt einzeln, und bei diesen Einzelgängern kümmert sich ein Weibchen alleine um seinen Nachwuchs, entweder als Parasit, indem es seine Eier an oder in einen Wirt oder ein Wirtsnest legt oder indem es ein einzelnes kleines Nest mit einigen wenigen Kammern für seine Larven baut, die es mit Nahrung versorgt. Das Verhalten der solitären Wespen und Bienen – in diesem Zusammenhang dürfen die Ameisen ohne Weiteres ignoriert werden, da es keine einzeln lebenden Ameisen gibt – ist dabei enorm vielfältig und wie bei der »Zombie-Wespe« nicht selten so gruselig wie ein Horrorfilm.
Die gestochen scharfen Insektenfotos dieses Buches sind keine Lebendaufnahmen. Sie haben es sicherlich schon gemerkt. Die Tiere befinden sich als genadelte Präparate in der Hautflüglersammlung des Museums für Naturkunde in Berlin (mithilfe einer Software wurde die Nadel wegretuschiert).
Ich befasse mich beruflich ausschließlich mit präparierten Wespen, denn ich erforsche, welche Wespenarten es weltweit gibt, woran man sie unterscheiden kann und wie sie in der Evolution entstanden sind. Dafür ist es nötig, sich die äußere und innere Gestalt der Wespen sehr genau anzuschauen und genetische Daten zu erheben. Diese Untersuchungen wiederum sind nur möglich, wenn man eine umfangreiche Vergleichssammlung hat, mit deren Hilfe man Individuen von bereits bekannten Arten mit neu gefundenen Tieren vergleichen kann. Solche Sammlungen gibt es in den großen Forschungsmuseen der Welt, und auch dort werden nur tote Individuen für jetzige und zukünftige Forschungsfragen konserviert. Es scheint widersinnig zu sein, als Biologe das Leben anhand von toten Tieren erforschen zu wollen. Und auch wenn es eine eher grundsätzliche Frage ist, ob ein Biologe wirklich das Leben selbst erforscht, ist es doch naheliegend, sich zu dieser Frage Gedanken zu machen.
Ein erheblicher, wenn nicht sogar der größte Teil der schon bekannten Wespendiversität ist nur durch einzelne Museumstiere bekannt. Was auf der anderen Seite bedeutet, dass man über die allermeisten Arten außer ihrem Körperbau und dem Fundort im Grunde kaum etwas weiß. Schon überhaupt nichts über ihr Verhalten. Will man also die globale Vielfalt einer bestimmten Tier- oder Pflanzengruppe erforschen, hat man keine andere Wahl, als sich sehr detailliert mit dem zu beschäftigen, was verlässlich und dauerhaft nach dem Tod eines Tieres erhalten bleibt. Und genau das tue ich.
Das Wissenschaftsgebiet, das sich auf diese Weise mit der Entdeckung, Beschreibung und Benennung von Arten beschäftigt, heißt Taxonomie und ist ein Teilgebiet der biologischen Systematik, der Wissenschaft von der Ordnung in der belebten Natur. Taxonomie, oder Biodiversitätsentdeckung, wie heute manchmal gesagt wird, ist ohne Sammlungen von präparierten Tieren oder Pflanzen nicht denkbar. Bei bestimmten Tiergruppen mit wenigen Arten und durchweg recht gutem Überblick über die Weltfauna, wie bei manchen Säugetieren, können Sammlungen eine untergeordnete Rolle spielen. Bei Insekten ist das anders. Auch wenn man bereits rund 153 000 Arten von Hautflüglern kennt,[4] warten sicherlich noch mehrere Hunderttausend auf ihre Entdeckung. Ohne ein Archiv der materiellen Basis all dieser Artbeschreibungen, ohne eine Referenz- und Vergleichssammlung wäre es nicht möglich, hier den Überblick zu behalten und bei all den Neuentdeckungen zu entscheiden, ob es sich um eine bereits bekannte oder eine neue Art handelt.
Verhaltensbiologen dagegen, die mit lebendigen Organismen arbeiten, stellen vollkommen andere Fragen an die Natur, als Systematiker es tun. Wichtige Fragen und sinnvolle Fragen, deren Antworten dazu beitragen, zu verstehen, wie Tiere leben und in ihrer Umgebung agieren. Das Verhalten eines Organismus ist häufig der Schlüssel zum Verständnis evolutiver Prozesse, die zu bestimmten Änderungen auch der körperlichen Eigenschaften führen. Ohne die Lebensweise eines Organismus zu kennen, ist es schwer, etwas über die Funktion seiner strukturellen Merkmale zu sagen. Aber selbst ohne dass wir verstehen, wozu bestimmte Strukturen eines Tieres letztlich dienen, können wir diese Strukturen am toten Körper sehen, sie aufzeichnen und miteinander vergleichen.
Ich hege eine maßlose Bewunderung für enthusiastische Verhaltensforscher wie Jean-Henri Fabre (1823–1915), den südfranzösischen Entomologen, der so viele Verhaltensbeobachtungen an Wespen in wunderbaren Worten beschrieben hat, und sein amerikanisches Pendant, Howard E. Evans (1919–2002), der ein halbes Jahrhundert später akribisch das Verhalten von amerikanischen Wüstenwespen dokumentierte. Verhaltensforscher brauchen Geduld und sind dazu verurteilt, sich gewissenhaft und detailliert auf wenige Arten zu beschränken. Der Erfolg von Verhaltensstudien an Wespen ist von vielerlei Faktoren abhängig, auf die der Beobachter keinen Einfluss hat. So lässt nur der schönste Sonnenschein die meisten Arten tun, was sie üblicherweise zu tun pflegen. Schlechtwetterperioden können eine ganze Beobachtungssaison ruinieren. Und schließlich braucht man als Forscher die Bereitschaft, sich in der glühend heißen Wüstensonne wie versteinert neben ein Nest zu setzen und die Beobachtungen über Stunden zu dokumentieren. Und das systematisch und planvoll mit einer klaren Vorstellung der wissenschaftlich richtigen Methode und der sich anschließenden statistischen Analyseverfahren. Eine vollkommen andere Welt als die eines Taxonomen, der sich mit großer Akribie mit den präparierten Tieren auseinandersetzt, die er zwar oft selbst in mühevollen Expeditionen erbeutet hat, die aber erst im Lichte eines Mikroskops die Details ihrer Vielgestaltigkeit offenbaren. Und so die Geschichte ihrer eigenen Evolution erzählen.
Naturkundliche Sammlungen sind das Rückgrat der taxonomischen Erforschung der Artenvielfalt. Sammlungen dienen dabei besonders als Heimstatt von Referenzobjekten. Gute Wissenschaft muss reproduzierbar sein. In den experimentellen Naturwissenschaften bedeutet das, dass eine Versuchsanordnung so gewählt werden muss, dass sie jederzeit wiederholbar ist und zu denselben Ergebnissen führt. In der Taxonomie und Systematik dagegen, die nicht in gleicher Weise experimentell sind, macht man üblicherweise beschreibende Aussagen über den speziellen Aufbau und die Evolution von Organismen. Diese morphologischen oder auch genetischen Aussagen und ihre evolutive Interpretation werden in jeder Veröffentlichung möglichst ausführlich dokumentiert, und immer wird dezidiert angegeben, an welchen Individuen die Ergebnisse gewonnen wurden und in welcher Sammlung sich diese Individuen befinden. So können die Aussagen jederzeit überprüft werden.
Verschiedene Grab- und Dolchwespenarten. Henri de Saussure, 1854. © Saussure, H. de 1854. Mélanges Hyménoptérologiques. 1er Fascicule. Mémoires de la Société de Physique et d’Histoire Naturelle de Genève 14:1–76
Weil naturkundliche Sammlungen über einen langen Zeitraum angelegt werden, sind sie zugleich auch ein »Biodiversitätsarchiv«. Objekte, die vor Jahren oder Jahrzehnten, vielleicht sogar schon vor Jahrhunderten gesammelt wurden, geben Aufschluss über die Zusammensetzung von Lebensgemeinschaften in historischen Zeiten und über die seitdem stattgefundenen Veränderungen. Da man häufig auch Informationen über die Lebensbedingungen von Arten kennt, ist es auch möglich, von den Änderungen in der Artenzusammensetzung auf Änderungen der Vegetation oder des Klimas zu schließen. Sammlungen sind also auch »Klimaarchive«. Vor diesem Hintergrund lassen sich Sammlungsdaten über die sich ändernde Zusammensetzung der Biodiversität nutzen, um mit komplexen mathematischen Verfahren Vorhersagen über künftige Prozesse unter bestimmten Annahmen klimatischer Veränderungen abzuleiten.
Sammlungen aber sind noch mehr. In den biologischen Sammlungen der Welt schlummert ein ungehobener Schatz. Wir sind als Menschen mit einer ganzen Reihe von Problemen konfrontiert, die von weltweiter Bedeutung sind, und die Natur hat das Potenzial, manche von ihnen zu lösen. Beispielsweise werden Naturstoffe mit spezifischen Wirkungen gesucht, die in der Medizin zur Therapie von Krankheiten eingesetzt werden können. Viele natürliche Wirkstoffe werden bereits verwendet, aber es kann gar keinen Zweifel geben, dass es viele noch unbekannte Substanzen mit noch unbekannten Wirkungen in der Natur gibt. Die naturkundlichen Sammlungen sind prädestiniert dafür, die Suche nach neuen Stoffen zu unterstützen. Aus aller Welt sind hier Organismen aus zwei Jahrhunderten versammelt, die leicht zugänglich sind und die man systematisch auf geeignete Substanzen untersuchen kann. Ein anderes bedeutendes Problem ist die Welternährung. Welche Pflanzen oder Tiere eignen sich für eine nachhaltige und produktive Landwirtschaft? Wie haben sich die Fischvorkommen in den Weltmeeren im Lauf der letzten Jahrzehnte verändert, und was können wir daraus für eine nachhaltige Nutzung lernen? Diese und viele andere Fragen benötigen das Wissen, das in den naturkundlichen Sammlungen der Welt schlummert, und dieses archivierte Wissen allein, ob schon bekannt oder noch verborgen, macht Sammlungen so wertvoll und aktuell.
Sammlungen dienen zudem als Anschauungsmaterial für die Bildung. Studenten biologischer Fachdisziplinen verwenden Sammlungen, um die relevanten Merkmale der Tiere und Pflanzen kennenzulernen. Es gibt wahrscheinlich keine bessere Möglichkeit, die Vielgestaltigkeit der Arten zu untersuchen, als eine Museumssammlung.
Das Sammeln ist ein wichtiger Teil eines Forschungsgebiets, das viel zu erzählen hat über die Organismen um uns herum. Ohne die Sammlungen wüssten wir heute viel weniger über die Geheimnisse der Natur, und ohne die Sammlungen würden wir auch in Zukunft die Lebewelt, mit der wir die Erde teilen, nur ungenügend erforschen können. Zudem beruht ein ganz erheblicher Teil meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit und der meiner Kolleginnen und Kollegen auf Museumssammlungen, und wir tragen dazu bei, die Sammlungen zu vergrößern und zu bearbeiten. Ich möchte gar nicht verhehlen, dass ich dies mit Begeisterung und Leidenschaft mache. Eine große Wespensammlung, die Vertreter aus aller Herren Länder umfasst, erfüllt mich mit Freude, die über die Freude an ihrem wissenschaftlichen Gehalt hinausgeht. Die atemberaubende Fülle an Formen und Farben in ihrer Gesamtheit vor mir ausgebreitet zu sehen, ist ein außerordentlich ästhetischer Genuss. Und zu jeder Wespe fällt mir sofort eine Geschichte ein.
Zugegeben, dem Sammeln hängt der Ruch des Vergangenen an, und der Vergleich mit Briefmarkensammlungen und der Verdacht des Sammelns um des Sammelns wegen steht nur allzu oft im Raum. Das Sammeln ist eine tief in uns und unserer Kultur verankerte menschliche Tätigkeit. Wir alle sammeln. Mit unterschiedlichen Zielen und in unterschiedlichem Ausmaß, aber wir sammeln. Seien es Bücher, Kronkorken oder Postkarten, das Sammeln von Objekten unserer Leidenschaft gehört untrennbar zu unserer Kultur. Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Vedder spricht von einer »Poetik des Sammelns« und meint damit »Praktiken des Hervorbringens und Weiterverarbeitens von Sinn, durch den Individuen und Gesellschaften ihre Lebenswelt strukturieren, gestalten und artikulieren«[5].
Es ist das Sinngebende einer naturkundlichen Sammlung, das das Sammeln rechtfertigt und damit auch das Sterben all dieser Tiere. Würde ich die Wespen lebendig lassen, könnte ich die zentralen Fragen meines Forschungsgebietes nicht beantworten. Und wir würden nicht erfahren, mit wem wir eigentlich unsere Erde teilen, wir wüssten nicht, wie der »Baum des Lebens« beschaffen ist, die komplexe historische Verbindung alles Lebendigen in seinem evolutiven Entstehungsprozess.
Wenn im Untertitel dieses Buches von einer leidenschaftlichen Naturgeschichte die Rede ist, so ist damit zweierlei gemeint. Einerseits ist eine Naturgeschichte immer auch eine Kulturgeschichte und damit auf das Engste verwoben mit unserem persönlichen und sich im Lauf unserer kulturellen Entwicklung wandelnden Blick auf die Natur. Die Mehrheit der Informationen in diesem Buch stammt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts dazu beigetragen haben, die natürlichen Zusammenhänge besser zu verstehen. Viele sind schon lange tot, manche sind aktuelle Zeitgenossen. Für die meisten von ihnen ist die Erforschung der Natur, ihrer Eigenschaften und ihrer Entstehung eine Frage von Leidenschaft und Lebensinhalt. Die Naturgeschichte ist daher für mich immer auch eine Geschichte ihrer Entdeckung und ihrer Entdecker. Zu denen ich mich auch zählen kann, so klein mein eigener Beitrag vor dem Hintergrund der langen Entdeckungsgeschichte auch ist. Indem ich in diesem Buch neben den vielen biologischen Informationen auch von den Menschen berichte, die mit Leidenschaft und persönlichem Einsatz das stechende Insektenvolk und seine Vielfalt erforscht haben, wird hoffentlich deutlich, wie eng die Entdeckungen mit der persönlichen Perspektive ihrer Entdecker verwoben ist.
Wie Sie bereits bei dem kurzen Absatz über die passende beziehungsweise fehlende populäre Bezeichnung für Wespen, Bienen und Ameisen erahnt haben dürften, kommt man nicht ganz ohne Fachbegriffe aus, wenn man über diese Insektengruppen spricht. Ich habe mich bemüht, weitestgehend auf Fachterminologie zu verzichten, was aber schnell an Grenzen stößt. So tragen nur manche der Wespengruppen eigene deutsche Bezeichnungen, sie alle aber haben wissenschaftliche, lateinisch-griechische Namen. Mir ist bewusst, dass diese wissenschaftlichen Namen auf den ersten Blick nicht einladend wirken, aber ich kann nur empfehlen, sich von ihnen nicht abschrecken zu lassen. Nicht nur sind sie gar nicht so schwer zu behalten, sie sind bei weiterer Recherche womöglich noch im englischen oder anderssprachigen Kontext eindeutiger als die nur regional verständlichen Namen der Umgangssprachen. Um Ihnen den Weg in diese fremde Welt der wissenschaftlichen Namen zu erleichtern, verwende ich in der Regel beide Namen wie zum Beispiel »der Bienenwolf Philanthus triangulum«. Versuchen Sie es einmal, Philanthus triangulum. Auf Fachbegriffe aus der Insektenmorphologie oder der Evolutionstheorie habe ich überwiegend verzichtet oder sie im laufenden Text erläutert.
Weniger geeignet ist dieses Buch als Einstieg in die Taxonomie der aculeaten Hymenopteren, und man wird mit ihm die verschiedenen Wespengruppen nicht ohne Weiteres bestimmen können. Die Vielfalt an Wespen, Bienen und Ameisen ist zu groß, um selbst bei noch so großer Ähnlichkeit zwischen einem gefangenen Insekt und einem der Fotos dieses Buches sicher sein zu können, dieselbe Art vor sich zu haben. Dazu bedarf es spezieller Fachliteratur, eines Stereomikroskops und idealerweise auch einer Vergleichssammlung. Ich kann aber jedem, der nach der Lektüre des Buches Lust bekommen hat, herausfinden zu wollen, was im eigenen Garten oder Balkon an Stechendem herumfliegt, nur ermuntern, sich alles Notwendige dafür zu besorgen. Die Hautflügler-Spezialisten entomologischer Vereine und besonders der großen Naturkundemuseen und auch das Internet sind hier behilflich. Hier und in zahlreichen Büchern finden Sie zudem Informationen, was Sie in Ihrem Garten, auf dem Balkon oder der Fensterbank tun können, um den harmlosen Wespen, Bienen und Ameisen Unterschlupf und Nahrung zu bieten.
Ich verspreche Ihnen aber, dass sich Ihr Blick schärfen wird und Sie nach der Lektüre dieses Buches in der Lage sind, im Biergarten beiläufig mit Besserwisserblick auf die Wespe am Schinkenbrot verkünden zu können: »Die ist eine Arbeiterin, die gerade Nahrung für ihre Larven sammelt.« Und Sie werden wissen, dass Grabwespen schon Flugzeuge zum Absturz gebracht haben.
Ich hoffe, mit diesem Buch meine eigene Leidenschaft und die meiner Kolleginnen und Kollegen für die Natur und für die Schönheit ihrer Erscheinungsformen teilen zu können. Wenn es mir gelingt, Sie ebenfalls zu begeistern für die Vielfalt der stechenden Insekten zwischen »Stachel und Staat«, und wenn Sie danach die kleinen schwarzen fliegenden Insekten, die in den Löchern zwischen Ihren Terrassenplatten so schnell verschwinden, wie sie wieder erscheinen, mit anderen Augen sehen, hat mein Buch ein wichtiges Ziel erreicht. Ansonsten hoffe ich, dass Ihnen die Lektüre des Buches ebenso viel Spaß bereitet wie mir das Schreiben.
Annäherung
Im Südosten des US-Bundesstaates Arizona, direkt an der Interstate 10, liegt das Städtchen Willcox. Ursprünglich 1880 als eine Niederlassung mit Namen Maley an der Southern Pacific Railroad gegründet, wurde der Flecken 1889 nach Orlando B. Willcox, einem General der United States Army während des US-Bürgerkriegs, zu Willcox umbenannt.[6] Viel mehr ist über Willcox nicht zu sagen. Willcox ist heute ein verschlafenes Wüstennest mit einigen Supermärkten, Tankstellen und Fast-Food-Restaurants. Der Inbegriff amerikanischer Provinzialität des Südwestens, der als Filmkulisse gleichermaßen vertraut wie fremdartig wirkt.
Für mich ist Willcox einer der aufregendsten Orte der Welt, es ist das Tor in die Welt der Wespen. Südöstlich von Willcox auf der Arizona State Route 186 durchquert man direkt hinter der Ortsgrenze eine unwirtliche Landschaft aus Sanddünen und kargen Büschen, die Willcox-Playa genannt wird, ein fast immer ausgetrockneter See. Kein Baum spendet Schatten, während im Juli die Temperaturen auf über 40 Grad steigen. Dornige Büsche bestimmen die Vegetation, und in weitem Abstand stehen einzelne widerstandsfähige Yucca-Palmen. Der schneeweiße Sand reflektiert die gleißende Sonne, und wann immer ich dort bin, denke ich an die Siedler, die aus dem Osten mit Planwagen und zu Fuß diese extreme Landschaft durchquerten. Tombstone, der berühmte Ort der Schießerei der Earp-Brüder und Doc Holliday, liegt nur wenige Meilen entfernt wie auch der Skeleton Canyon, in dem Geronimo, der Kriegshäuptling der Bedonkohe-Apachen, sich letztlich der Übermacht der ihn verfolgenden US-Army ergab.
Am südlichen Rand der Willcox-Playa befindet sich eine der vielen Geisterstädte des Südwestens der USA, Überbleibsel und Mahnmale der kurzen Boomzeit nach der Entdeckung von reichen Vorkommen von Kupfer, Silber und anderen Bodenschätzen in den unwirtlichen Wüsten. Die Geisterstadt am Südrand der Willcox-Playa heißt Dos Cabezas, zwei Köpfe, nach zwei hügeligen Kuppen, an deren Fuß die Stadt erbaut wurde. Mit dieser Geisterstadt verbindet mich ein Band mit der Vergangenheit, auf das mich ein Kollege hinwies, der nach seiner Pensionierung aus Washington, D.C., in diese Region zog. In Dos Cabezas gab es im späten 19. Jahrhundert einen »General Merchandise«, ein Ladengeschäft mit nahezu allem, was man als Siedler dort benötigte. Und der Inhaber des General Merchandise trug meinen Namen. Michael Ohl. Ein Foto in einem Buch über die Geschichte der Geisterstadt zeigt ihn, wie er auf der Veranda seines hölzernen Geschäftshauses sitzt.[7] Weißes Hemd, dunkle Hose und Weste, Hut. Davor eine Gruppe von Kindern mit einem Esel und der Bildunterschrift, Michael Ohl sei bei den Kindern von Dos Cabezas beliebt gewesen. Viel mehr erfahre ich nicht über meinen Namensvetter, aber es berührt mich, ihn dort sitzen zu sehen, sein Gesicht unkenntlich in der Körnigkeit des historischen Fotos. Begraben in einem anonymen Grab in Dos Cabezas, wie mir das Buch mitteilt.
Bei einem meiner vielen Besuche der Willcox-Playa habe ich einen alten Rancher getroffen, der sich erkundigte, was ich mit meinem Insektennetz bezwecke. Nachdem ich mir einen langen, aber unterhaltsamen Monolog über seine deutschen Wurzeln angehört hatte, fragte er mich nach meinem Familiennamen. Es stellte sich heraus, dass noch sein Vater von der Willcox-Playa nach Dos Cabezas zu reiten pflegte, um bei Michael Ohl einzukaufen und mit ihm einen Drink zu nehmen. Mit einem verschmitzten Lächeln verabschiedete er sich schließlich von mir. Er freue sich darauf, seinen Freunden zu erzählen, er habe Michael Ohl getroffen.
Die Willcox-Playa, Blick Richtung Chiricahua-Mountains. © Michael Ohl
Ich habe die Willcox-Playa vor mehr als 20 Jahren das erste Mal besucht, an einem glühend heißen Tag mitten im Sommer. Seitdem bin ich viele Male hier gewesen, manchmal alleine, manchmal mit Studenten und Kollegen, manchmal mit meiner Frau und zuletzt mit meiner ältesten Tochter. Diese Landschaft berührt mich, jedes Mal. Ich stehe dann gerne auf einer sanft erhobenen sandigen Kuppe und schaue in Richtung der schroffen Chiricahua-Mountains im Südosten. Nur Wüste, Büsche, Yuccas, so weit das Auge reicht, und so wird es auch vor mehr als 100 Jahren gewesen sein, als der andere Michael Ohl hier seinen Alltag lebte. Und ich stelle mir vor, dass er wahrscheinlich etwas ganz anderes dort gesehen hat. Das Leben war hart, ohne den Luxus von Klimaanlagen, Autos und Internet, mit dem ich reise. Und es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass die Bewohner von Dos Cabezas, die Minenarbeiter, die Cowboys und Rancher, die Familien und Händler, die in dieser gleichermaßen wunderschönen wie feindlichen Umgebung zu überleben versuchten, dem Anlass meiner weiten Reise viel Verständnis entgegengebracht hätten. Ich würde gerne wissen, ob mein Namensvetter hier gefunden hat, was er suchte. Bis er schließlich in Dos Cabezas 1922 im Alter von 70 Jahren einer Lungenentzündung erlag.[8]
Ich finde hier immer, was ich suche. Die Wüste vibriert durch ein fortwährendes vielstimmiges Insektengesumme, denn auf jeder Blüte einer noch so kleinen hartlaubigen Wüstenpflanze sitzen sie. Wespen. Mit geschultem Auge sehe ich Wespen, wohin ich auch blicke. Und je genauer ich schaue, umso stärker bekomme ich den Eindruck, die Willcox-Playa sei ganz in der Hand des stechenden Insektenvolks. Fliegen, Käfer, Schmetterlinge, die in unseren gemäßigten Breiten oft vorherrschenden Insektengruppen, treten hier in der flimmernden Hitze der Wüste zurück und überlassen den Wespen das Feld.
Nun muss ich allerdings zugeben, dass dieser Eindruck der Wespenvorherrschaft auf der Willcox-Playa insbesondere dadurch entsteht, dass ich in der Vielfalt der abenteuerlichen Erscheinungsformen der Insekten Wespen erkenne, die man gemeinhin kaum eine Wespe nennen würde. In Mitteleuropa gibt es Hunderte von Wespenarten, aber unser aller Bild ist vollkommen geprägt von den staatenbildenden und besonders im Spätsommer in großer Zahl unsere Städte bevölkernden Wespen, deren schwarz-gelbe Warnfärbung unverkennbar ist. Auch bei uns kommen viele unscheinbare Wespenarten vor, die leicht übersehen werden, aber keine ist so auffällig und so omnipräsent wie die beiden in Mitteleuropa häufigsten Arten, die Deutsche Wespe, wissenschaftlich Paravespula germanica, und die Gemeine Wespe, Paravespula vulgaris.
In den Wüsten Arizonas allerdings spielen die »Yellow-Jackets« genannten sozialen Wespen nur eine untergeordnete Rolle. Um die ganze Wespenvielfalt dort mit einem Blick überschauen zu können, ist es die beste Strategie, sich einen der zahlreichen blühenden Büsche von Baccharis zu suchen. Diese Pflanzengattung, die zu den Korbblütlern gehört und in den USA »Desert Broom«, Wüstenbesen, genannt wird, kommt vorwiegend in Süd- und Mittelamerika vor, das Verbreitungsgebiet einiger Arten reicht allerdings bis in den Süden der USA. Die Büsche können mehrere Meter Höhe erreichen und besitzen lange, schmale, etwas klebrige Blätter. In der Blütezeit sind Baccharis-Büsche bedeckt mit kleinen weißen Blüten, die wegen ihrer kurzen Blütenkelche die ideale Futterquelle für Wespen darstellen. Baccharis-Büsche haben einen unverwechselbaren Geruch, der lange an Insektennetzen und selbst an meiner Kleidung haftet. Dieser Geruch ist für mich der Geruch der Wüste und der Wespen. Es gibt noch viele andere wespen- und bienengeeignete Pflanzen, zum Beispiel die winzig kleinen Blütenkugeln der Gattung Eriogonum aus der Familie der Knöterichgewächse, aber an Baccharis hängt mein Herz. Vielleicht, weil ich an ihr das erste Mal die Freuden an der Vielfalt der Wüstenwespen erlebt habe.
Ein Baccharis-Busch in bester Blüte und mit zahlreichen Wespen. Portal, Arizona. © Michael Ohl
Ein blühender Busch dieser Pflanze ist ein magischer Anziehungspunkt für die Wespen der Umgebung, insbesondere wenn er alleine steht. Mit der Sonne im Rücken kann ich die Szenerie gut beobachten. Als Erstes fallen die großen schwarzen Wespen der Gattung Pepsis auf, die hier die größten Wespen überhaupt sind. Ihr Körper ist pechschwarz, die Flügel bei einigen Arten ebenso, bei manchen dagegen leuchtend orange oder rot. Sie fliegen recht langsam von Blüte zu Blüte, und unter ihrem Gewicht biegen sich die kleinen Ästchen. Fängt man sie, tut man gut daran, sich nicht stechen zu lassen, was, wie ich aus eigener Anschauung weiß, extrem schmerzhaft ist. Überall sind zudem die kleineren schwarzen, schwarz-roten oder schwarz-gelben Dolchwespen zu sehen, die in geradlinigen Flügen um die Büsche ziehen. Einige soziale Wespen, besonders gelb-rote Feldwespen, hängen nach der Landung auf den Blüten spinnenbeinig herab. Hin und wieder flattert das Männchen einer Mutillide, einer Spinnenameise, mit rotem Körper und schwarzen Flügeln ungelenk vorbei, auf der Suche nach einem paarungsbereiten Weibchen, das flügellos auf dem Wüstenboden herumläuft, um als Parasit sein Ei in die Bodennester anderer stechender Wespen und Bienen zu legen. Hin und wieder sieht man auf dem heißen Sand ein Insekt herumlaufen, dessen komplett weiße Behaarung verwegen hochtoupiert in alle Richtung absteht und das ebenfalls eine Spinnenameise ist und hier in der Region »Thistledown Velvet Ant« heißt.
Die schnellsten Wespen in Arizona sind die Sandwespen der Gattung Bembix und deren Verwandte. Mit ihrer meist hellgelben Zeichnung sind sie in der gleißenden Sonne und vor dem hellen Sand und den weißen Blüten nur schwer auszumachen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit fliegen sie die immer gleichen Landmarken ab, nur um sich hin und wieder zur Mahlzeit auf Blüten niederzulassen. Sandwespen sind für mich mit die schönsten Insekten überhaupt, und sie zu fangen ist eine sportliche Herausforderung an Geschicklichkeit und Schnelligkeit. Sandwespen gehören zu den Grabwespen, die so heißen, weil die meisten Arten ihre Nester im Boden anlegen. Grabwespen sind eine der artenreichsten Wespengruppen in Arizona. Die von dem französischen Entomologen Jean-Henri Fabre so malerisch beschriebenen großen Heuschreckenwespen der Grabwespengattung Sphex fliegen hier auch überall herum, auch wenn es sich um andere Arten als in Südfrankreich handelt. Zwischen den Blüten hasten zahllose kleine schwarze Wespen unruhig von Blütenkelch zu Blütenkelch, und man kann sie in der wimmelnden Vielfalt kaum auseinanderhalten. Viele von ihnen sind Grabwespen, aber die schwarzen Rollwespen der Familie Tiphiidae sind ebenso häufig, wenn sie auch in recht einförmiger Gestalt auftreten.
Das summende Gesamtbild der schwirrenden Wespen wird ergänzt durch zahllose Vertreter der allernächsten Wespenverwandtschaft. Besonders Wildbienen treten hier in vielen Arten und großen Mengen auf, sofern nicht auf einer der nahe gelegenen Farmen größere Mengen an Honigbienenstöcken stehen, die das gesamte Blütenangebot mit sammelnden Arbeiterinnen förmlich überschwemmen.
Daneben eine andere spezialisierte Wespengruppe, die die Lebewelt besonders auf dem Wüstenboden dominiert. Ameisen in ihrer hektischen Betriebsamkeit sind nahezu überall, und zumindest hin und wieder sehe ich geflügelte Geschlechtstiere herumfliegen. Auch mir fällt es nicht leicht, all diese verschiedenen Wespenfamilien immer sofort voneinander zu unterscheiden, und in der Wüstenhitze an einem Baccharis-Busch, dem zentralen Treffpunkt der Wespenvielfalt, weiß ich kaum, wohin ich zuerst schauen soll.
Nun bin ich nicht nach Arizona gekommen, um in der Mittagshitze neben einem Busch zu stehen und mich an dieser überbordenden Vielfalt zu erfreuen. Oder zumindest nicht nur. Ich bin auch nicht hier, um das Verhalten von Wespen zu beobachten, von denen viele ein hochkomplexes, evolutiv außergewöhnlich spannendes Verhalten zeigen. Ich bin hier, weil mich an der Wespendiversität etwas ganz bestimmtes interessiert, nämlich die Diversität selbst. Und zwar besonders die Artendiversität von Grabwespen. Mich interessiert die Frage, welche Arten von Grabwespen es auf der Welt gibt, welche Unterschiede zwischen den Arten die Evolution hervorgebracht hat und wie all diese Arten und all ihre Unterschiede im Lauf von Jahrmillionen entstanden sind.
Der Südwesten der USA ist ein sogenannter »Hotspot« der Biodiversität der Wespen und vieler anderer Tiere und Pflanzen.[9] Hier kommen ganz besonders viele Arten vor, und von den Hautflüglern, der Insektenordnung, zu der die Wespen, Bienen und Ameisen gehören, gibt es in den USA alleine fast 20 000 Arten. Und die meisten von ihnen im warmen Süden.
Die USA haben als wirtschafts- und wissenschaftsstarkes Land eine lange Tradition in der Erforschung ihrer eigenen Natur, und so sind viele der in den USA vorkommenden größeren und auffallenderen Tier- und Pflanzenarten bereits entdeckt und benannt. Nicht so allerdings bei den Insekten. Auch auf der Willcox-Playa, die ein Ort ist, zu dem die Wespenforscher seit Jahrzehnten pilgern, sind viele Arten noch unbeschrieben. Und manche davon sind so auffällig, dass man sich fragt, wie sie bislang übersehen werden konnten.
Vor wenigen Jahren habe ich hier eine Grabwespe entdeckt und unter dem Namen Pseudoplisus willcoxi beschrieben; leuchtend zitronengelb mit glänzenden schwarzen Streifen kann man sie mit keiner anderen Wespenart verwechseln.[10] Und doch ist sie erst jetzt entdeckt worden. Und dies ist kein Einzelfall. Sich mit Wespenvielfalt zu beschäftigen heißt auch, noch unerkannte Arten zu entdecken. Und sie dann zu beschreiben und zu benennen.
An dieser Stelle bietet es sich an, etwas zur Wüste sagen. Spricht man von Wüste, denken viele Menschen unweigerlich an die vegetationsfreien Sandwüsten der Sahara oder der Gobi. Geologisch und biologisch aber fasst man unter Wüste eine enorme Vielzahl an recht unterschiedlichen Lebensräumen zusammen, denen der Mangel an Wasser gemeinsam ist. Es gibt eine große Zahl unterschiedlicher Wüstentypen, die sich auf den ersten Blick ähneln, sich aber im Detail sehr unterscheiden. Die jährlichen Niederschlagsmengen, die Bodenbeschaffenheit, die jahreszeitliche Verteilung der Niederschläge, die Temperaturen und andere klimatische, geologische und biologische Faktoren bestimmen den Charakter der Wüsten der Erde teilweise gravierend. Die nahezu vegetationsfreien Sandwüsten sind dabei nur einer von vielen Wüstentypen.
Der Südosten Arizonas ist ein Teil der Chihuahua-Wüste. Sie gilt als die flächenmäßig größte Wüste Nordamerikas und liegt zum überwiegenden Teil auf mexikanischem Gebiet. Ihre nördlichen Ausläufer reichen in den USA bis in den Südosten von Arizona, den Süden von New Mexico sowie den Westen von Texas. Die Chihuahua-Wüste ist außerordentlich vielgestaltig und beherbergt eine enorme Zahl an Tier- und Pflanzenarten, von denen viele in ihrem jeweiligen Verbreitungsgebiet endemisch sind, also nur dort vorkommen. Der im Südosten Arizonas vorherrschende Landschaftstyp wird auch als Chihuahua Desert Scrub bezeichnet und besteht aus einer lockeren, manchmal dichteren Ansammlung von kleineren oder größeren, meist hartlaubigen und oft stacheligen Büschen und Bäumen. Typische, und dank ihrer Größe auffällige Pflanzen sind der Mesquite-Baum, der Ocotillo, Agaven und Yuccas, den Gesamteindruck aber beherrschen die vielen kleinen Polster und Büsche in verschiedenen Blütenfarben und Wuchsformen. Zwischen ihnen sieht man sandige oder steinige Flächen, die manchmal von regelmäßig entlangziehenden Rindern zu Pfaden freigetreten werden. Rinder allerdings erlebt man zumindest in der Hitze des Tages nur selten, was ich keineswegs bedauere.
Wenn Sie schon einmal in Südfrankreich oder in Griechenland am Mittelmeer den Landschaftstyp kennengelernt haben, den man als Macchie bezeichnet, wissen Sie in etwa, wie Sie sich den Südosten Arizonas vorstellen müssen. Die Entstehung dieser Landschaften und der dort vorkommenden Pflanzengemeinschaften ist im Detail sehr unterschiedlich, auch wenn ähnliche klimatische Rahmenbedingungen die Bildung oberflächlich recht ähnlicher Lebensräume bewirkt haben.
Wer sich nun immer noch kein rechtes Bild von dieser Landschaft machen kann, denke an die alten John-Wayne-Western. Karge Landschaften mit dürrer Vegetation, durch die der Held zum nächsten Abenteuer galoppiert. Zahlreiche Westernfilme sind an Originalschauplätzen gedreht worden, die seit der Zeit des Wilden Westens nahezu unverändert geblieben sind. Viele Landschaften des Südwestens allerdings sind auf den ersten Blick oft reizlos und daher ungeeignet als Filmkulisse. So haben die Filmteams häufig Gegenden gewählt, die durch bizarre Felsformationen oder die attraktiven Joshua-Trees, die Josua-Palmlilie, geprägt sind. Joshua-Trees gibt es beileibe nicht überall, und auch die riesigen Säulenkakteen, die man häufig in Western sieht, kommen nur in bestimmten Regionen vor. Kleinere Unstimmigkeiten zwischen der angeblichen und tatsächlichen Lage des Drehortes kann man an diesen charakteristischen Pflanzen erkennen, und sie gehören wohl zur filmischen Freiheit.
Die taxonomische Erforschung der meisten Tierarten kann sinnvoll nur anhand von präparierten Tieren durchgeführt werden. Diese Tiere werden tunlichst in öffentlichen Sammlungen dauerhaft verwahrt, damit sie jeder Interessierte erneut untersuchen und vergleichen kann. Spricht man über Insektensammlungen in Museen als wichtige Grundlage für systematische Untersuchungen, impliziert dies naturgemäß den Tod vieler Tausender und Abertausender Tiere. Museumssammlungen werden auch als »Archive des Lebens« bezeichnet, weil sie materielle Zeugnisse der Natur strukturiert für heutige und künftige Generationen verwahren, ganz wie ein Archiv. Die Erforschung der weltweiten Biodiversität wäre ohne die Bereitschaft, dazu Tiere und Pflanzen der Natur zu entnehmen und sie in einem präparierten Zustand zu untersuchen, gar nicht möglich. Es gibt viele gute Gründe, warum diese Art der Forschung durchgeführt wird und warum es Museumssammlungen gibt. Und der Tod der Untersuchungstiere ist eine ihrer Konsequenzen.
Der erste Schritt vor einer wissenschaftlichen Bearbeitung ist immer das Fangen. Dafür bin ich nach Arizona gereist. Mein Job dort in der Wüste ist verhältnismäßig leicht, trotz der extremen Temperaturen. Ich muss nur neben einem blühenden Busch oder einem geeigneten Nistplatz warten, bis Wespen vorbeikommen, und sie fangen. Die Schwierigkeit dabei ist weniger eine intellektuelle als eine körperliche. Hitzetoleranz ist hilfreich, und Geschicklichkeit im Umgang mit einem Insektennetz ebenso.
Sie lesen richtig, das klassische Insektennetz ist das Werkzeug der Wahl, so wie auch schon vor 250 Jahren zur Zeit von Carl von Linné, dem großen schwedischen Entomologen und Systematiker. Ein Insektennetz, von den Nichteingeweihten despektierlich auch Schmetterlingsnetz genannt, ist für viele Insektengruppen tatsächlich ein sehr effektives Fanggerät. Es eignet sich besonders für tagaktive Insekten von nicht allzu kleiner Körpergröße, die der Sammelnde optisch wahrnehmen kann.
Wespen sind prädestinierte Opfer für ein Insektennetz. Sie fliegen am helllichten Tag, viele von ihnen sind größer als einen Zentimeter (was für die meisten Insekten eine recht ordentliche Körperlänge ist), sie besitzen einen sehr harten Chitinpanzer, sodass man sie im Netz nicht beschädigt, und sie landen gerne auf Blüten, auf denen man sie mit einem eleganten Netzschwung fangen kann.
Insektennetze gibt es in allerlei Größen und Ausfertigungen, ich aber bevorzuge große Netzbeutel für schnell fliegende (und stechende!) Wespen, aus denen die Tiere nicht so leicht entkommen. Mindestens 40 Zentimeter Durchmesser sollte es haben, und dazu einen feinmaschigen Gazebeutel von fast 80 Zentimetern Länge. Das Ganze aufgespannt auf einem stabilen Drahtgestell an einem rund einen Meter langen Aluminiumstiel. Ein solches Netz zu beherrschen bedarf der Übung und einer ausgeklügelten Technik. Man muss sehr schnell sein und mit einem kräftigen Schwung aus dem Unterarm ohne Rücksicht auf pflanzliches Beiwerk zuschlagen. Wer zögert, verliert. Befindet sich die Wespe, oder im Idealfall sogar mehrere, im Netz, folgen zwei Schritte, an denen der unerfahrene Insektenjäger nicht selten scheitert. Als Allererstes müssen die erfolgreich eingesackten Wespen an ihrer Flucht gehindert werden. Dazu kann man den Schwung der gleichermaßen kraftvollen wie eleganten Fangbewegung fließend in einen geschickten Handgelenksschwung übergehen lassen, sodass das untere Ende des Netzbeutels auf den Rest des Netzes umschlägt und so die Insekten einsperrt. Danach lässt sich das Netz über der Umschlagstelle von außen mit einer Hand fest zuhalten. Bei Wespen ist das nicht jedermanns Sache. Hat man große Arten im Netz, sieht man häufig, wie sie ihren erstaunlich dicken Stachel immer wieder nachdrücklich durch die Gaze stecken.
Das Insektennetz voller Wespen. Willcox-Playa, Arizona. © Daniela Linde, privat
Die wahre Herausforderung allerdings, und das ist der Augenblick, an dem so mancher Anfänger aussteigt, ist, die inzwischen schlechtgelaunten Wespen aus dem Netz heraus- und in ein geeignetes Gefäß hineinzubekommen. Da hat jeder Biologe seine Vorlieben, aber in der Regel nutzt man die Neigung der Wespen, im Falle der Gefangenschaft zur hellsten Stelle zu fliegen. Helligkeit verspricht Sonnenlicht, und Sonnenlicht verspricht Freiheit. Das ist auch der Grund, warum Insekten sich in Wohnungen am Fenster versammeln. Sie folgen dem Licht. Um also eine stechbereite Wespe aus dem Netz zu entnehmen, hält man die Spitze des Netzbeutels hoch Richtung Sonne. Und sogleich beginnen alle Insekten, an der Beutelwand nach oben zu kriechen. Danach kann man einigermaßen gelassen ein Fanggefäß durch die sich nun unten befindende Netzöffnung bis nach oben in den Netzbeutel schieben und versuchen, die Wespen dazu zu bringen, sich in das Gefäß zu begeben. Dann nur noch einen Deckel darauf, fertig.
Meine Lieblingstechnik allerdings, die ich noch als Student an der Universität Kiel von Fritz Sick, einem befreundeten Dipterologen, also einem Fliegenforscher, gelernt habe, funktioniert etwas anders und bedarf einigen Mutes. Oder aber der Zuversicht, dass auch eine Furcht einflößende Drei-Zentimeter-Pepsis weiß, dass sie nach Lehrbuchinformationen immer zum Licht fliegt. Nachdem also die Wespen erfolgreich in der Spitze des Netzes versammelt sind, stülpe ich mir das ganze Netz mit elegantem Schwung über den Kopf und versperre so mit Kopf und Schultern den möglichen Fluchtweg. Nicht vergessen sollte man allerdings, dabei weiterhin mit einer Hand den Beutel hochzuhalten und sich Richtung Sonne zu wenden. Selbst die hektischste Wespe fliegt oder krabbelt dann zum Licht und damit in die Enge der Netzspitze und, was besonders wichtig ist, weg von meinem Kopf. Danach stecke ich mit der anderen Hand ein Gläschen in das Netz und kann, dank meines Kopfes im Netz mit dem allerbesten Blick auf die Geschehnisse, in Ruhe die Wespen in das Glas bugsieren. Zugegeben, diese Technik liegt nicht jedem, aber sie ist schnell und effektiv. Daneben mag ich diese Art des Fangens aus einem noch ganz anderen Grund. Da die meisten Insekten von Blüten abgekeschert werden, bleibt es nicht aus, dass dabei als Kollateralschaden Blüten mit abgeschlagen werden. Ihr Duft erfüllt dann das ganze Netz. Bei unvorbereiteten Teilnehmern von Sammelexkursionen löst allerdings meine Kopf-im-Netz-Technik meist eine gewisse Heiterkeit aus.
Insektennetze sind also ein hochgradig geeignetes Werkzeug zum Fang von Wespen. Dennoch ist der Handfang ein mühseliges Geschäft, das nur dann zum Erfolg führt, wenn der engagierte Sammler tatsächlich aktiv ist. Zudem hängt die Effizienz dieser Methode stark von der Geschicklichkeit, Erfahrung, Ausdauer und dem Auge des Sammlers ab. Daher werden schon seit Langem Fallen eingesetzt, um über längere Zeiträume konstant Insekten fangen zu können, ohne dabei sein zu müssen. Beliebt ist die Malaise-Falle, die aus einem Zelt besteht, das zu beiden Seiten offen ist, eine senkrechte Gazewand in der Mitte besitzt und dessen First schräg nach oben verläuft. Am allerhöchsten Punkt des Zeltes befindet sich eine Öffnung, die in ein mit Alkohol gefülltes Gefäß mündet. Fliegen nun Insekten seitlich in das Zelt, krabbeln sie wegen des hellen Sonnenlichts an der Mittelwand nach oben und folgen dem schräg verlaufenden First bis in das Sammelgefäß, in dem unweigerlich der Tod lauert. Solche Malaise-Fallen können mehrere Tage stehen.
Eine für Wespen ebenfalls beliebte Sammelmethode sind Farbschalen. Dabei handelt es sich um gelbe Kunststoffschalen, die, mit Wasser und einem Schuss Spülmittel versehen, in der Landschaft verteilt werden. Durch ihre Farbe funktionieren die Schalen wie überoptimale Blütenattrappen und locken blütenbesuchende Insekten an. Diese fallen ins Wasser und gehen wegen der durch das Spülmittel herabgesetzten Oberflächenspannung unter und ertrinken. Da Insekten im Wasser schnell verwesen, müssen Farbschalen besonders bei großer Hitze häufig ausgeleert und die Insekten in Alkohol überführt werden.
Wie aber tötet man Wespen am besten, ohne sie zu quälen, und so, dass sie sich für wissenschaftliche Untersuchungen eignen? Malaise-Fallen und Farbschalen müssen, je nach Temperaturlage, täglich oder alle paar Tage geleert werden. Beim Fang mit dem Insektennetz geht das etwas anders. Besonders für genetische Untersuchungen benötigen wir die Wespen sowieso möglichst frisch in hochprozentigem Ethanol, also Alkohol, sodass es sinnvoll ist, sie aus dem Handnetz gleich in ein Alkoholgefäß zu schubsen. Für viele andere Untersuchungen und besonders für die Museumssammlungen genadelter Tiere müssen die Wespen aber trocken sein. Dafür ist das Einfrieren eine beliebte Methode – und da bei Reisen in ferne Länder normalerweise kein Gefrierschrank in der Nähe ist, verwendet man eine Substanz namens Essigsäurethylesther. Man gibt einige Tropfen dieses Lösungsmittels in das Glas mit den lebenden Wespen. Sie sterben sehr schnell und werden anschließend auf Wattelagen getrocknet, die in Papierumschlägen in Transportdosen gestapelt werden. Zurück in der heimatlichen Institution werden die trockenen Wespen in einer Feuchtkammer aufgeweicht, die nichts anderes ist als eine verschließbare Kunststoffdose mit einem angefeuchteten Tuch und einem Spritzer Essig gegen Schimmelbildung. In der hohen Luftfeuchtigkeit werden die harten Insekten innerhalb weniger Tage wieder weich und können genadelt und nach Wunsch ausgerichtet werden.
Diese nüchterne Beschreibung möglichst effektiver Methoden, Lebewesen zu fangen, zu töten und herzurichten, ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Das Leben, seine Vielgestaltigkeit und Evolution anhand toter Tiere zu erforschen und die Tiere tot zu verwahren, darin scheint ein innerer Widerspruch zu stecken. Aber eben nur scheinbar. Die Körper von Insekten offenbaren sehr viel mehr über das Leben und seine Entstehung, als man gemeinhin annehmen mag.