Stadt ohne Väter - Peter A. Söhngen - E-Book

Stadt ohne Väter E-Book

Peter A. Söhngen

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Beschreibung

„Stadt ohne Väter“ will nichts Geringeres, um als Wegweiser für ein erfolgreiches, menschliches Zusammenleben zu dienen. Den erzählerischen Hintergrund bildet die neuzeitliche Türkei in ihrem Konflikt zwischen gesellschaftlichem Fortschritt und konservativem Traditionalismus. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, die zusammen mit anderen Frauen und ihren Kindern das Heimatdorf verlassen, um der patriarchalischen Unterdrückung zu entkommen. Im ersten Teil erzählt Fatma, wie sie die anderen Frauen um sich schart, wie sie dann später gemeinsam aufbrechen und schließlich in der verlassenen Stadt Kaya ein neues Leben beginnen; Kaya, nun die Stadt ohne Väter. Zeynep erzählt von den Streitigkeiten und Intrigen, die das Leben in Kaya belasten. Ihr Freund Lakschman ist eine Art materialisierter Engel, der Toleranz und Weisheit ausstrahlt. Eingestreut sind neue Märchen und traditionelle aus verschiedenen Kulturkreisen, auch ein Gleichnis Buddhas und eine Passage aus dem Alten Testament. Diese Märchen, Gleichnisse, Parabeln und Fabeln sind die Medien, mit denen sich die Frauen im Konflikt verständigen und Lakschman seine Weisheit für ein harmonisches Miteinander verkündet. Dies ist das eigentliche Zentrum dieses Buches.

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Über den Autor

Peter A. Söhngen 1942 in Stuttgart geboren, bereiste vier Kontinente. Er schaute in sehr viele geistige Disziplinen hinein und sammelte dabei sehr viele Erfahrungen.

Seine Aufgabe versteht er darin, die Welten zu studieren und dann das Studierte anderen zugänglich zu machen, um dadurch Verständnis aufzubauen unter den Menschen, Geschlechtern, Religionen und Kulturen. Dabei liegen ihm unterdrückte oder benachteiligte Minderheiten besonders am Herzen.

Er besitzt das Talent, Wissen so aufzudröseln, dass es jeder verstehen kann. Es ist ihm auch ein schöner Humor zu eigen.

Stadt ohne Väter entstand nach einem vierwöchigen Besuch bei seinem Bruder, der auf einem türkischen Dorf lebte.

Für Nesrin und Wolfgang

INHALTSVERZEICHNIS

Einführung

FATMAS ERZÄHLUNG - Die Flucht -

Das Märchen vom Schuster, der ein Pechvogel war

Der greise Tintenfisch

Die silberne Gürtelschnalle

Die fliehende Karawane

Der Prinz vom Ganges

ZEYNEPS ERZÄHLUNG - Kaya -

Die Ungläubigen

Die drei Blinden und der Elefant

Der Mistkäfer und die Biene

Violetta

Abu Hasan, der listige Fuchs

Die beiden Widder und der weise Rabe

Die Vertreibung aus dem Paradies

Sonne und Wind

Das Testament des Lieblingsjüngers

Der hungrige Wolf

Prinz Elron

Das Geheimnis der Zikaden vom Taj Mahal

Der Kuckuck

Quellennachweis

Einführung

Ein einziges Land der Erde liegt auf zwei Kontinenten und hat seine durch ein Meer voneinander getrennten Landesteile mit zwei gigantischen Hängebrücken verbunden: die Türkei. Der größere, der östliche Teil der Türkei, der in Kleinasien liegt, wird Morgenland, auf türkisch Anatolien, genannt. Anatolien gliedert sich in mehrere Landschaften, die westliche Südküste heißt Lykien. An ihr liegen die Städte Kasch und Fethiye; und die Stadt Kaya schließt an einen mächtigen Felsen an, an dessen Fuß das Lykische Meer brandet.

Zu Beginn des zweiten Viertels des 14. Jahrhunderts gründete der türkische Sultan Osman ein Reich, das nach ihm benannt wurde. Es dehnte sich im Laufe der Zeit vom Marmarameer nach Osten weit über Kleinasien, im Süden weit über das Heilige Land und nach Westen fast über den ganzen Balkan aus. Dieses Reich dauerte fast sechshundert Jahre, und als es zerbröckelte, verlor es auch seine Herrschaft über den Balkan samt den Griechen.

Mit der Schicksalswende, dem Zerfall des Reiches, beuteten nun die vormals von den Türken geknebelten Griechen in Kleinasien ihre einstigen Unterjocher aus. Mustafa Kemal Pascha befreite wiederum 1922 die geknechteten Türken Lykiens vom Joch der griechischen Blutsauger, und im nächsten Jahr wurde er der erste türkische Staatspräsident. Er setzte umwälzende Reformen durch und schleuderte die Türkei damit aus dem orientalischen mittelalterlichen Absolutismus in die Neuzeit, ja, er katapultierte gleichsam die Türkei in einen Staat moderner westlicher Prägung. Seit 1934 wird Mustafa Kemal Pascha "Vater der Türken", in seiner Muttersprache Atatürk, genannt.

Seit Atatürks Befreiung sind die Störche wohl hundertmal über den Bosporus geflogen, mal vom Norden, mal vom Süden kommend. Trotz dieser lange verflossenen Zeit gibt es immer noch Knechtschaft in der Türkei. Dieser Druck kommt nicht vom Norden, Süden, Westen oder Osten, sondern aus der Vergangenheit. Entgegen Atatürks geltenden Gesetzen werden große Teile der Bevölkerung entrechtet, weil verbissen an überalterten Einstellungen festgehalten wird. Zu den Entrechteten gehörten auch Fatma und ihre Schicksalsgefährtinnen.

Fatma erzählt, wie sie unterdrückt wurde und wie sie mit ihren Kindern und den anderen Mutigen, die das gleiche Los zu tragen hatten, aus der Unterdrückung freikam.

Wie im Orient üblich, benutzen auch Fatma und ihre Umwelt Märchen, Fabeln und Parabeln, um Probleme zu klären. Diese zeitlosen und ortsunabhängigen Lösungsansätze finden sich in ihren Erzählungen wieder.

Am Ende läßt Fatma schließlich die Katze aus dem Sack, warum sie, das gebildete und fortschrittliche Großstadtmädchen, auf das ewiggestrige Dorf verheiratet wurde.

Zeyneps Erzählung zeigt die Schwierigkeiten in der neuen Heimat und den Wunsch, wieder mit einem Mann zusammenzusein.

Entgegen der Märchensammlung "Tausendundeine Nacht" werden hier nicht Märchen erzählt, um ein Problem zu verdrängen, sondern um dessen Lösung zu finden.

"Stadt ohne Väter" unterhält und kann gleichzeitig als eine Hilfe benutzt werden, um im Leben weniger Amboß sein zu müssen und öfter der Hammer sein zu können.

Ein Urlauber stand in einer Flughafenhalle mitten in der Menge der Touristen. Sein Urlaub war fast zu Ende. Er hatte alle Postkarten, die er versenden mußte, verschickt, die lykischen Felsengräber und die Tomben, in denen die Lykier begraben wurden, gesehen. Er hatte einen zweitägigen Ausflug zum Baumwollschlößchen unternommen, oder wie die Türken sagen, nach Pamukale. Von unten nach oben betrachtet, sieht es aus wie ein monumentales Gebäude, dessen Gemäuer über und über von vom Wind angewehten, aufgesprungenen, riesigen Baumwollblüten übersät ist. Von oben gesehen ist es der größte und schönste Naturbrunnen der Welt. Von unzähligen größeren oder kleineren weißen Halbschalen, die über-, unter- und nebeneinander hängen, plätschert, tropft oder rieselt das Wasser von einer Schale zur nächsten herab. Er hatte einen schicken Ledermantel günstig erworben, und ein seidenschimmernder Gebetsteppich mit einem Lebensbaummotiv wartete - klein zusammengeschnürt - in seinem Handgepäck darauf, zu Hause ein Blickfang zu werden. Er hatte mit dem Jeep eine abenteuerliche Geländefahrt an Steilhängen und durch glitschige Schluchten überstanden. Mit all dem konnte er sehr zufrieden sein, aber das am meisten Erhoffte, hatte sich nicht erfüllt. Er war in einem Familienhotel gelandet, und die wenigen Singles waren nicht knackig, knusprig, eher krachend, vertrocknet. Was sollte auch die dauernde Jagd nach der richtigen Frau? Vielleicht sollte er alles noch einmal reiflich überdenken und nicht gewaltsam versuchen, eine Frau zu finden.

Er hatte das türkische Bad genossen und sich fast täglich massieren lassen. Er hatte sich entspannt. Der Urlaub schien am Ende, aber tatsächlich öffnete sich in den letzten Urlaubsstunden ein weiteres Tor in die Welt des Orients.

Die Lautsprecher in der Abfertigungshalle plärrten. Er konnte die schrillen Töne vor allem wegen des Widerhalls nicht richtig verstehen. Nur daß es sich um seinen Flug handelte, bekam er mit.

Neben ihm standen zwei Frauen, die er wegen ihrer Kopftücher als Türkinnen ausmachte. Sie sprachen sehr erregt miteinander, wohl wegen der Mitteilung, die durch den Lautsprecher gekommen war. Er wandte sich ihnen zu, tippte mit seinem rechten Zeigefinger zweimal auf seine Armbanduhr, zeigte dann mit der rechten Hand gen Himmel und sagte: "Deutschland, Deutschland."

Die eine der beiden lachte ihn an: "Mit uns können Sie deutsch sprechen, wir fliegen zurück nach Deutschland."

"Was wurde denn gerade über den Lautsprecher bekannt gegeben?"

"Sie haben gesagt, daß es eine Verzögerung gebe, die Passagiere nach Deutschland auf die Bordkarte ein Getränk erhalten würden und auf weitere Durchsagen achten sollten."

"Nehmen Sie auch ein Getränk?" fragte er.

Die zwei Frauen schauten einander an, und die zweite sagte: "Cay", das bedeutet Tee.

"Wir werden einen Tee trinken, bis es weitergeht", sagte die erste.

Von den Türken hatte er während seines Badeurlaubs nicht sehr viel mitbekommen. Türkisch war für ihn eine sehr fremde Sprache. Jetzt konnte er vielleicht doch noch etwas mehr über Land und Leute erfahren, so hoffte er und fragte deshalb: "Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mit Ihnen Tee trinke?"

Die zwei Frauen schauten sich wieder an und verhandelten auf türkisch miteinander, dann sagte die erste: "Ich bin verheiratet, und in Deutschland erwartet mein Mann mich am Flughafen, dasselbe trifft für meine Freundin zu. Wenn Sie trotzdem mit uns Tee trinken wollen, haben wir nichts dagegen."

Alle drei bestellten auf ihre Bordkarten Tee.

"Sie haben hier bestimmt Ihre Familie besucht", sagte er interessiert. Die zwei schauten sich vielsagend an und lächelten. Er entnahm ihrem Lächeln, daß es kein normaler Familienbesuch gewesen war, aber so gut, wie sie aufgelegt waren, konnte es auch kein Besuch wegen eines Todesfalles gewesen sein.

"Wir haben schon unsere Familie besucht, aber nicht unsere richtige Familie", sagte die erste.

Das ist ja noch besser, dachte er, jetzt kann ich etwas über das Verhältnis von türkischen Schwiegertöchtern zu ihren türkischen Schwiegereltern erfahren, und er deutete diesen Gedanken an: "Sie waren bestimmt bei Ihren Schwiegereltern."

"Nein, wir waren bei unserer früheren Familie."

"Bei Ihren Eltern?"

"Nein, unsere Eltern sind ja unsere richtige Familie."

"Ja, was ist denn dann Ihre falsche Familie?"

"Oh, das ist eine ganz andere Geschichte. Die ist schon lange her."

"Sie brauchen nicht darüber zu reden, wenn Sie nicht wollen. Bitte, fühlen Sie sich nicht gezwungen, Ihre persönlichen Geheimnisse auszuplaudern."

"Wir lassen uns nicht zwingen, auch nicht von einem Mann." Sie lachten und schauten sich wieder vielsagend an. "Aber ein Geheimnis-zwar nicht für unsere Männer-, ein Geheimnis ist es schon."

"Jetzt haben Sie meine Neugierde aber sehr geweckt." Die zweite lenkte vom Thema ab: "Wie hat Ihnen die Türkei gefallen?"

"Gut, sehr gut, die Menschen sind sehr liebenswürdig und hilfsbereit, davon könnte sich mancher Deutsche eine Scheibe abschneiden."

Die beiden Frauen sprachen wieder türkisch miteinander, dann sagte die erste: "Solange wir hier festsitzen, können wir, um die Zeit herumzubringen und weil es Sie so brennend interessiert, von unserer falschen Familie erzählen."

"Das ist nett von Ihnen, aber darf ich mich Ihnen erst einmal vorstellen, mein Name ist Peter."

"Das ist meine Freundin Fatma, sie ist die eigentliche Mutter unserer falschen Familie."

"Das ist Zeynep, meine beste Freundin, wir sind, wenn Sie so wollen, die Gründerinnen unserer falschen Familie."

"Ja, wie fing das denn nun an?" fragte er erwartungsvoll, und nun erzählte Fatma die Geschichte, die ihr Leben von Grund auf veränderte.

FATMAS ERZÄHLUNG - Die Flucht -

Eines Tages kam ich dazu, wie Hasret, mein Sohn, und dessen älterer Freund im Stall waren und sein Freund sich mit herabgelassener Hose hinter einer Ziege hermachen wollte. Ich schrie den Freund an: "Hau ab, und laß dich hier nie mehr sehen!"

Daraufhin griff mich Hasret an: "Sei du still, das ist mein Freund, und der kommt, wann ich will, und du hast ihm gar nichts zu verbieten!" Der Freund zog die Hose hoch und suchte das Weite. Hasret, um ein zweifelhaftes Erlebnis gebracht, schlug nach mir und beschuldigte mich: "Du hast meinen besten Freund vertrieben!" Als er nicht aufhören wollte, mich zu schlagen, habe ich ihm eine gewischt, damit er wieder zu sich kommt. Beleidigt schlich er sich hinter den Stall und schoß mit einer Schleuder nach den Hühnern. Glücklicherweise hat er keines getroffen.

Als Özcan, sein Vater, nach Hause kam, erzählte Hasret ihm, daß ich ihn geschlagen hätte. Özcan gab mir keine Gelegenheit zu erklären, warum ich Hasret mit ein paar Hieben zur Vernunft hatte bringen müssen. Wie ein wildgewordener Bulle raste er auf mich zu und verprügelte mich. Zum Schluß schlug er mich noch mit der Peitsche. Es wunderte mich, daß er nicht gleich darauf mit mir wieder ins Heu wollte, sondern ins Teehaus ging.

Daß Hasret mich geschlagen hat, war nicht so schlimm - Kinder machen Dummheiten. Aber was sollte ich ändern, damit mein Mann mich nicht mehr schlägt? Der Schmerz war nicht einmal das Schlimmste, das Schlimmste war die Demütigung.

Was wurde mir vor meiner Hochzeit über meinen zukünftigen Mann erzählt? Daß ich einen geschulten Liebhaber bekäme, daß mein Vater geschulte Liebhaberinnen dieser Liebesschule kennengelernt habe und daß die Liebesschule auf eine alte babylonische Tradition zurückginge und er der brillanteste Liebhaber wäre, den ich bekommen könnte. - Und als was hat er sich entpuppt?

Dies war ja nicht das erste Mal, daß ich von meinem eigenen Mann verprügelt wurde. Jetzt, sagte ich mir, ist Schluß, ich will mich von ihm nicht mehr wie eine Sklavin behandeln lassen.

Laut und bestimmt sagte ich: "HIERMIT BESCHLIESSE ICH, DASS ICH NIE MEHR VON IHM VERPRÜGELT WERDE UND DASS DIES DAS LETZTE MAL GEWESEN IST!"

Nachdem Özcan mich geschlagen hatte, hätte ich ihn zu Recht beschuldigen können, daß er mir unrecht getan habe, doch wohin führte das in der Vergangenheit? Zu noch mehr Streit und noch mehr Prügel. Die Haue hätte ich hinnehmen können -als Mädchen bin ich von klein auf an Leiden gewöhnt -, aber ich wollte die Ungerechtigkeit, die den Mädchen und Frauen widerfährt, daß sie als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, nicht mehr länger ertragen. Ich wollte der Angst vor dem, was folgen würde, wenn ich mich gegen diese Behandlung auflehnte, ins Auge sehen. Ich wollte die Angst vor den Folgen der Auflehnung überwinden, auch wenn ich noch nicht wußte, wie, aber schließlich wurde noch nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wurde. Schlechter konnte es mir kaum noch ergehen, ich konnte nur noch gewinnen. Ich wollte mein Vorhaben durchführen, auch wenn es keine Vorbilder gab; dann wollte ich ein Beispiel werden. - Ja, das war es, was den Frauen und Mädchen fehlte, ein erfolgversprechendes Muster. Ich und mein Vorhaben sollten das noch fehlende Vorbild werden.

Bald konnte ich es nicht mehr für mich behalten. Am nächsten Markttag, als ich - wie immer - meinen Weißkäse auf den Markt brachte, wollte ich mit den anderen Frauen, die auch ihren Käse verkauften, besprechen, welche Möglichkeiten sich bieten würden, dem bisherigen Schicksal zu entrinnen.

Der wirkliche Grund, warum ich Prügel bezogen hatte, war nicht, weil ich meinen Jungen verklopft hatte, sondern es waren die veralteten Vorstellungen, von denen die meisten immer noch beherrscht werden. Obwohl Atatürk die Gleichberechtigung der Frau gesetzlich verankert hat, werden Jungen und Männer wie Menschen erster und Frauen und Mädchen wie Menschen zweiter Klasse betrachtet und auch so behandelt. Hätte ich gegen ein Mädchen die Hand erhoben, wäre es in Ordnung gewesen, aber eine Frau darf einen Knaben nicht "handgreiflich" kritisieren.

Als ich das erste Mal schwanger war, gab mir eine Bäuerin viele gute Ratschläge. Ihr hatte ich auf dem Markt erzählt, was mich umtrieb. Sie schaute mich bloß mitleidig an und meinte: "Das ist Kismet-das von Allah so gewollte Schicksal - dem kann man nicht entrinnen. Das muß man ertragen, und ein Erheben gegen das von Allah gewollte Schicksal ist eine Gotteslästerung."

Ich war enttäuscht. Aber hätte ich etwas anderes erwarten können? Nein! Das war die über tausend Jahre alte Antwort auf die Frage, ob man sein Los verändern darf oder nicht.

Ich werde niemandem mehr mein Herz mit dieser brennenden Frage darin öffnen, beschloß ich bei mir.

Wie zerschlagen kam ich zurück. Der Weg erschien mir so lang, daß ich glaubte, ihn nicht zu schaffen. Wie schnell war ich dagegen morgens losgegangen? Der Weg war mir kurz vorgekommen. Süß und lieblich war der Duft vom Harz der Mandelbäume in meine Nase gedrungen, und ich war so übermütig gewesen, daß ich eine Oleanderblüte von einem Zweig abgebrochen und mich damit geschmückt hatte. Und abends hatte ich dann ein schlechtes Gewissen, weil ich mich gegen die Allmacht Allahs erheben wollte.

Ein Gutes aber war gewesen. Ich hatte alle sechs Laib Käse verkauft, und so hatte Özcan keinen Grund, mich zu rügen.

Mein Herz fragte unaufhörlich: Ist Allah, der Gnädige, der Barmherzige, so herzlos, daß er Frauen und Mädchen bloß ein zweitklassiges und nur Knaben und Männern ein erstklassiges Leben zugesteht? Mein Kopf sagte "ja", und mein Herz sagte "nein". Lieber wollte ich meinem Herzen folgen, aber das wäre Gotteslästerung.

Die Frage, ob Allah so ungerecht sei, den Frauen ein schlechteres Los als den Männern zu bescheren, wich nicht aus meinem Herzen.

Wieder einmal war Markttag. Ich mußte darüber reden, was mich in meinem Innersten bewegte, und da ich das letzte Mal bei der netten, aber alten Bäuerin so enttäuscht worden war, vertraute ich mich ganz vorsichtig der jüngsten an. Es war, als ob ich eine Sternschnuppe in ihren Augen entdecken würde, die aber-gerade entdeckt - gleich wieder verlosch. Sie sagte: "Wir haben doch ein Stück gemeinsamen Nachhauseweg" und fügte hinzu: "Eine schlechte Begleitung ist mir lieber als gar keine." Das war ein Kompliment. Warum war ich wieder so unvernünftig gewesen und hatte mich dazu hinreißen lassen, meine innersten Gedanken zu erzählen? Um dann eine solche Abfuhr zu erfahren?

Trotzdem hoffte ich, auf dem Nachhauseweg, unter vier Augen, diese Frage wieder aufnehmen zu können.

Nachdem auch sie ihren Käse verkauft hatte, machten wir uns auf den Nachhauseweg. Kaum hatten wir den Markt verlassen, stellte sie sich vor: "Ich heiße Zeynep." Ich stellte mich ebenfalls vor. Sie entschuldigte sich: "Ich wollte mit dieser Bemerkung nur eventuell aufgescheuchte Hunde wieder beruhigen. Ich wollte die anderen Frauen nicht hellhörig machen. Dieses Thema ist tabu, und in aller Öffentlichkeit darf darüber schon gar nicht diskutiert werden."

In der Tat, mit ihrer Bemerkung hatte sie das Thema vom Tisch gefegt, als ob es niemals auf das Tapet gebracht worden wäre.

Ich hatte Angst, daß meine Vorstellung von meiner Begleiterin ebenfalls abgelehnt würde und sie auch der Meinung wäre, daß die zweitklassige Behandlung der Frauen der unabänderliche Beschluß Allahs sei.

Glücklicherweise fand Zeynep den Anfang des von ihr selbst zerrissenen Gesprächsfadens wieder, und das war der Beginn unserer Freundschaft, die bis heute gehalten hat.

"Du denkst, wie ich manchmal denke, Allah kann die Männer nicht den Frauen vorziehen", sagte sie und machte eine Pause. Dann fuhr sie fort: Ich glaube, wenn Allah den Frauen ihr Schicksal in die Hand gibt, erwarten sie, daß er für sie auch denkt und handelt."

Das ist es, dachte ich, Allah gibt den Menschen die Möglichkeit, ihr Schicksal selbst zu gestalten. Ich habe es geahnt. - Muß der Mensch denn dürsten, wenn kein Regen fällt, oder kann er dem Schicksal in den Rachen greifen, indem er Zisternen baut und daraus Wasser schöpft? Hat der Mensch nicht die Wahl, die ganze Ernte zur Nahrung zu nehmen oder auf einen Teil der Ernte zu verzichten und ihn als Saat auszubringen, um eine weitere reiche Ernte einzubringen?

Als ob sie meine Gedanken erraten hätte, fuhr Zeynep fort: ist Allah schuld, wenn lange kein Regen fällt und die Ziegenherde verdurstet, oder ist die Hirtin schuld, wenn sie die Ziegen nicht zur Tränke führt? Allah läßt Baumwolle auf den nassen und Tabak auf den trockenen Feldern wachsen. Wenn du aber umgekehrt auf trockenen Feldern Baumwolle und auf nassen Tabak pflanzst, dann kannst du, wenn du weder Baumwolle noch Tabak erntest, Allah dafür nicht die Verantwortung unterstellen. Allah erwartet von dir, daß du selbst denkst und richtig handelst, daß du dich für deine Unterlassungen verantwortlich fühlst und nicht ihm die Verantwortung zuschiebst."

Ich mußte sie umarmen, uns verband mehr als nur der gemeinsame Nachhauseweg.

Vergnügt gingen wir den Rest des Weges. Einmal erzählte sie, einmal ich von großen oder kleinen Augenblicken unseres Lebens, bis sich unsere Wege trennten.

Durch die Aussprache meiner tiefinnersten Gedanken und vor allem, weil Zeynep ebenso dachte wie ich, wurde ich mir viel sicherer, und am nächsten Tag weihte ich meine Schwester Gülcan ein, daß Zeynep und ich uns die Tyrannei der Männer nicht bieten lassen und uns einen Plan überlegen wollten, wie wir es bewerkstelligen könnten, uns aus dieser Tyrannei zu befreien.

Wir drei beschlossen am nächsten Markttag, noch mehr Frauen für unser Vorhaben zu interessieren und für unseren Plan zu gewinnen. Ab jetzt trafen wir uns nicht nur auf dem Markt, sondern auch abends, beim Heimtreiben der Tiere am Brunnen am Waldrand oder im Dorf beim Wasserholen am Wasserreservoir, um uns öfter besprechen zu können.

Am darauffolgenden Markttag ging ich mit meiner alten Freundin Müberra, meiner Schwester Gülcan, deren Freundin Sevinc und meiner damals neuen Freundin Zeynep, die von ihrer Freundin Setta begleitet wurde, vom Markt nach Norden in die Berge, nach Köy in unser Dorf zurück. Wir sechs Frauen erörterten das Für und Wider, unsere Männer zu verlassen. Heiße, emotionsgeladene Diskussionen entbrannten.

Als ich den ausgebrochenen Großbrand der Gefühle wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, meinte Müberra: "Aus der Sklaverei zu entkommen, wäre zu schön, um wahr werden zu können."

Aber ich sah das anders, und deshalb erzählte ich das folgende Märchen, das aus ihrer Heimat kommen soll, wo - für uns schwer verständlich - ohne schlechtes Gewissen Alkohol getrunken wird.

Das Märchen vom Schuster, der ein Pechvogel war

Es war einmal ein Schuster, der war, ohne daß er es bemerkte, ein rechter Pechvogel geworden. Das Unglück hatte sich lautlos an seine Fersen geheftet. Wenn er nach den Nägeln greifen wollte, warf er mit dem Ärmel das Pech um, so daß es unbemerkt auf das Oberleder der Schuhe tropfte. Beim Schneiden des Leders rutschte er mit dem Messer aus und zerschnitt das Leder und seine Finger. Da er an nichts mehr so richtig Freude hatte, war ihm eines Tages alles so leid, daß er wieder auf Wanderschaft ging. Da kam er an ein Wirtshaus, und weil die Sonne erbarmungslos vom Himmel stach, trat er ein und bestellte sich für sein letztes Geld ein Glas Bier. In einem Zug trank er es bis zur Hälfte aus. Dann jammerte er: "Oje, so ein Pech, jetzt habe ich schon die Hälfte meiner ganzen Löhnung vertrunken."

Als er gerade so stöhnte, ritt der Teufel einen anderen Wanderburschen und flüsterte ihm ins Ohr: "Der hat doch gar keinen Grund zu klagen, dem hat doch heute noch keiner in die Suppe gespuckt."

Ein dritter Wandersbursch, von etwas derberer Art, betrachtete dies als eine gute Idee, etwas Stimmung in die Wirtshaus-Gesellschaft zu bringen, und spuckte nach dem Bierglas des Schusters. Er traf aber nicht.

Eine Fee, die sich in eine Katze verwandelt hatte, lag auf der Bank. Sie hatte die ganze Zeit das Gerede und die Gedanken des Schusters verfolgt.

Über die schnöde Absicht des Wanderburschen war der Schuhmacher in Wut entbrannt. Er wollte schnell den Rest des Bieres in sich hineinkippen und dann dem Unverschämten das leere Glas an den Kopf schleudern.