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Das sprühend-unterhaltsame Roman-Debüt von Katja Kullmann – der ultimative Hochstaplerinnenroman zwischen Astroglamour und Angestelltenödnis
Carla Mittmann, einst hoffnungsfrohe Philosophiestudentin, hat ihr Leben in der Serviceabteilung einer Möbelfirma geparkt. Nebenher betreibt sie eine Horoskop-Website – aus Spaß, als Zuverdienst, Schicksalsglauben liegt ihr fern. Doch dann steht ein Schuhkarton vor ihrer Tür, darin zehntausend Dollar, Absender unbekannt. Sie ergreift die Chance, setzt alles auf eine Karte, steigt in großem Stil ins Astrobusiness ein – und da ist er endlich, der Erfolg. Schnell wird sie zur gefragten Starastrologin und bewegt sich in höchsten gesellschaftlichen Sphären, bis sie sich plötzlich nicht mehr sicher ist: Lenkt sie die Sterne oder lenken die Sterne sie? Ein brillanter, scharfsinniger Roman über die Lust der Verführung und die Sehnsucht nach kosmischer Ordnung in Zeiten der Krise.
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das sprühend-unterhaltsame Roman-Debüt von Katja Kullmann — der ultimative Hochstaplerinnenroman zwischen Astroglamour und AngestelltenödnisCarla Mittmann, einst hoffnungsfrohe Philosophiestudentin, hat ihr Leben in der Serviceabteilung einer Möbelfirma geparkt. Nebenher betreibt sie eine Horoskop-Website — aus Spaß, als Zuverdienst, Schicksalsglauben liegt ihr fern. Doch dann steht ein Schuhkarton vor ihrer Tür, darin zehntausend Dollar, Absender unbekannt. Sie ergreift die Chance, setzt alles auf eine Karte, steigt in großem Stil ins Astrobusiness ein — und da ist er endlich, der Erfolg. Schnell wird sie zur gefragten Starastrologin und bewegt sich in höchsten gesellschaftlichen Sphären, bis sie sich plötzlich nicht mehr sicher ist: Lenkt sie die Sterne oder lenken die Sterne sie? Ein brillanter, scharfsinniger Roman über die Lust der Verführung und die Sehnsucht nach kosmischer Ordnung in Zeiten der Krise.
Katja Kullmann
Stars
Roman
Hanser Berlin
Es gibt Momente, wo Leute anfangen zu beten.
Und es gab einen Moment, wo ich anfing zu rechnen, blind und inbrünstig zu rechnen.
Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne
Gräfin zu Reventlow
An einem Mittwoch ging es los. Ich lag im Bett, als es klirrte. Erst klirrte es, dann polterte es kurz. Ich öffnete die Augen und wandte den Kopf nach links, zum Fenster hin. Blasses Frühmorgenlicht sickerte durch den Vorhang. Auf dem Holzboden sah ich Scherben. Und einen Stein. Einen grauen Quader, ungefähr so groß wie ein Päckchen Butter.
Hätte der Vorhang den Stein nicht abgebremst, hätte er mich am Kopf treffen können, womöglich würde ich bluten — das war, glaube ich, mein erster Gedanke. Das mit der Butter fiel mir als Nächstes ein. Obwohl ich nur selten Butter kaufte.
Angst hatte ich keine.
War es Schläfrigkeit? Oder Trotz? Dass ich nicht aufsprang? Ich weiß noch genau, wie ich über die Trägheit staunte, mit der meine Synapsen sich aufrafften. Ein Stein — eine zerstörte Scheibe — eine Frau — allein — ein Gewaltakt: Was war das noch mal für ein Bild, woran erinnerte mich das?
Ich lag und lauschte.
Kein auffälliges Geräusch drang von draußen ins Zimmer. Keine Schüsse, kein Getrappel, kein Geschrei. Nur das Vorbeisurren von drei, vier Autos und das Reviergezänk der Stadtteilkrähen. Sacht bewegte der Vorhang sich im Luftzug, sanft strich er über die glitzernden Splitter.
Warum ich, fragte ich mich, fragte ich den Stein.
Er bewegte sich nicht, ich bewegte mich nicht.
Zur Szenerie: Man stelle sich eine deutsche Großstadt ohne nennenswerten Liebreiz vor, also jede beliebige, und darin ein Viertel, das, wenn überhaupt, nur für den hohen Anteil heruntergelassener Rollläden in seinen Straßen im Gespräch ist. Unter jenen Straßen: eine Nebenstraße. Zwischen einem Entrümpelungsservice mit unklaren Öffnungszeiten und einem Laden für gebrauchte Mobiltelefone zoome man näher heran, in eine bescheidene, aber halbwegs adrett gestaltete Zweizimmerwohnung hinein. Sie ist leicht wiederzuerkennen, sie existiert Hunderte von Tausenden von Malen: ein wandfüllendes Bücherregal, auf dem zweiten Bord von oben eine Winkekatze aus goldlackiertem Plastik, ein Sechzigerjahresessel, ein Poster von einem Jim-Jarmusch-Film — zweiundfünfzig Quadratmeter, vollgeräumt mit in die Jahre gekommenen Zitaten.
Im Bett: eine Frau, nicht mehr jung, noch nicht alt, am kompakten Ende der Kategorie »schlank« zu verorten. Schulterlanges Haar, stumpfes Hellbraun, »Karamell«, meinte einmal ein Friseur, »nur halt nicht glossy«. Eine Nase, in die man sich aus dem Stand verlieben kann — auch das hat einmal jemand zu mir gesagt. Manchmal, wenn ich mich länger im Spiegel betrachtete als nötig, dachte ich daran zurück und hielt meine Nase erst von dieser, dann von jener Seite ins Licht und erinnerte mich daran, wie dieses Urteil über meine Nase mir einerseits gefallen und mich andererseits abgestoßen hatte. Ich war umworben worden, von allen möglichen Leuten, aus unterschiedlichsten Gründen. Doch da war stets dieser Instinkt gewesen bei mir: eine Witterung für die Garstigkeit unter den freundlichen Verpackungen, ein Gespür für die Fiesheit als ständige Möglichkeit. »Du bist zu klug, um das Frausein zu genießen«: noch so eine Behauptung, sie traf mich, als ich gerade zwei- oder dreiundzwanzig war, du meine Güte, und dann trug ich das all die Jahre wie eine versteckte Signatur mit mir herum, wie ein groteskes Furunkel in der Achselhöhle, wie eine pochende Warze hinterm Ohr. Ich machte mir das Leben »künstlich schwer«: So hat es einmal ein René in die Welt gesetzt, ein unsäglich penetranter Mensch, der später wegen seriellen Versicherungsbetrugs vor Gericht stand, so gingen jedenfalls die Gerüchte, so gingen sie tagein, tagaus, über alles und jeden, ganz sicher auch über mich, und vor allem deshalb hatte ich mich mit der Zeit zurückgezogen, eigentlich aus allem. Mittlerweile ist es wieder anders. Ich bin einen Riesenschritt weiter inzwischen. Ich muss hier jetzt nur alles in eine Ordnung bringen, dann wird es sich zeigen.
Du dummer Stein, war, immer noch im Liegen, mein nächster Gedanke. Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Jemand hatte jemanden erschrecken wollen und sich in der Hausnummer vertan. Eifersucht. Gangfight. Schutzgelderpressung. Auch Crystal oder allgemein üblichen Vandalismus zog ich in Betracht, die Brutalität, die man von zertrümmerten Bushaltestellen und abgefackelten Mülleimern kennt, anonyme Schreie nach Liebe oder wenigstens Aufmerksamkeit, die im Nirgendwo verhallen, weil die Leute bekanntlich alle ihre eigenen Sorgen haben.
Sinnlos, dachte ich. Komplett bescheuert. Arschloch.
Da es ein so heller Morgen war und meine Vernunft so zuverlässig, befand ich, dass dieser Vorfall nichts mit mir zu tun hatte. Bloß das Aufräumen würde an mir hängenbleiben. Widerwillig schälte ich mich aus dem Bettzeug, stakste über die Scherben, schob den Vorhang zur Seite und betrachtete die Scheibe, die obere Hälfte war intakt, die untere nur noch ein gezackter Rest. Dann fiel mein Blick auf den Bürgersteig. Dort, ein Stockwerk unter mir, stand etwas geschrieben, in großen blauen Kreidebuchstaben. Ich las: FREIHEIT FÜR MITTMANN!
*
Carla Mittmann ist mein Name, so steht er in meinen Papieren, auf all meinen Zeugnissen und Verträgen. Dass er nun dort prangte, auf dem Asphalt, in aller Öffentlichkeit und doch direkt an mich gerichtet, war selbstverständlich beunruhigend. Die Aufdringlichkeit, die war das Schlimmste daran. Wer? Warum? Was bedeutet das? Über diese Fragen sollte ich mir den Kopf zerbrechen, das war die Macht, die der oder die Steinewerferin sich über mich verschafft hatte, auf geschmacklose, um nicht zu sagen abgeschmackte, allerbilligste Art. In meinem Geist hörte ich ein hämisches Keckern. Ich sah Speichel von jemandes Unterlippe tropfen. Vielleicht wurde ich beobachtet, in diesem Moment, wie ich auf die Kreidebuchstaben starrte. Vielleicht lauerte der oder die Unbekannte darauf, dass ich mich weit aus dem Fenster lehnte und meinen Kopf hektisch hin und her drehte, bebend vor Empörung, wimmernd vor Furcht. Ich wich vom Fenster zurück, tat einen großen, wahrscheinlich stolzen Schritt über die Splitter und ging, nein, stolzierte in die Küche, wo sich die nützlichen Dinge befanden, zog einen Handfeger und eine Plastikschippe unter der Spüle hervor und die Rolle mit den grauen Mülltüten, griff, als ob ich genau gewusst hätte, was zu tun war, aus einer Schublade das Kreppklebeband, stolzierte zurück ins Schlafzimmer, kehrte die Splitter zusammen, legte auch den Stein auf die Schippe, fetzte eine Tüte von der Rolle, kippte den Stein und die Scherben hinein, fetzte eine weitere Tüte ab, fetzte sie auseinander, fetzte mit den Zähnen einige Streifen Klebeband von der anderen Rolle und pappte die Tüte in geschickter Schnelligkeit, wie x-mal geübt, als blickdichte Folie über die zerstörte Scheibe. Und zog den Vorhang wieder zu. Und stand dann da, für eine halbe Minute oder eine ganze, schwitzend, keuchend, als ob ich mehrere hundert Meter gerannt wäre.
Ein paar verwischte Minuten später, unter der Dusche, erwog ich, die Hausverwaltung anzurufen, überschlug aber gleich, dass ich womöglich günstiger wegkäme, wenn ich die Scheibe auf eigene Rechnung ersetzen ließ. Ich wusste gar nicht, wer das war, die Hausverwaltung. Ringsum grassierten angeblich die Mieterhöhungen, bei mir war seit Jahren keine mehr angekommen. Besser nicht dran rühren. Besser die Grobheit dieses Morgens mit einem der besonders raren Parfümeriepröbchen behandeln, Joie de Vivre, Les Nécessaires de Chanel, einseifen, einschäumen, Skincare. Kurz überlegte ich, ob ich gegen einen Fall wie diesen versichert war, doch die Vorstellung, in einem Aktenordner voller unverständlicher Policen nach meiner Kundennummer zu suchen und ein surreales Hotlinetelefonat mit einer künstlichen Intelligenz zu führen, verleidete mir diesen Gedanken. Auf die Idee, die Polizei zu verständigen, kam ich nicht. Stattdessen dachte ich, ganz wie bestellt, ganz wie erzwungen, darüber nach: Jemand, der mich kannte, der zumindest wusste, wo ich wohnte, hatte sich zu einer enorm peinlichen Aktion hinreißen lassen. Psychoterror. Im Schnelldurchlauf blätterte ich durch Namen und Gesichter. Leute, von denen ich seit einem Jahrzehnt nichts mehr gehört hatte, oder länger, fielen mir wieder ein, aber niemand, zu dem ein derart pathetischer Akt gepasst hätte.
Freiheit für Mittmann!
Freiheit wovon?
Freiheit wozu?
Verwirrend war beides, die Aggression, mit der dieser Appell mir präsentiert wurde, und die Fürsorglichkeit, die darin mitzuschwingen schien.
Ob ich mir dann noch einen Kaffee aufbrühte, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch, dass ich, als ich die Wohnungstür öffnete, mit meiner Umhängetasche quer über der Brust und dem Schlüssel in der Hand, beinahe stolperte — über einen Karton, der auf dem Fußabtreter stand. Schwarze Pappe, mit hellbrauner Kordel verschnürt.
Sie waren bis zu meiner Tür vorgedrungen. Es waren nun mehrere, in meiner Vorstellung. Kurz dachte ich da doch an die Polizei. Paketbombe, Sprengstoffentschärfung. Sondereinsatzkommando.
Auf dem Kartondeckel klebte ein Foto. Ein schlechter Computerausdruck, eine streifige Aufnahme von Pluto, dem umstrittenen Zwergplaneten. Ich erkannte ihn auf Anhieb, weil sein herzförmiger Krater deutlich zu erkennen war. Eine NASA-Sonde hatte das Herz auf Plutos Oberfläche entdeckt, die Nachrichtensender hatten ihre Wetterberichte damit garniert.
Das musste nun auch schon wieder vier, fünf Jahre her sein, mindestens. Auf dem Foto hatte jemand das Kraterherz mit rotem Filzstift umrandet.
Ich ging in die Hocke, hielt mein Ohr an den Deckel, es tickte nichts, richtete mich auf und betrachtete den Karton wieder von oben. Er roch modrig, an der einen Seite wellte sich seine Pappe. Er musste länger in einem feuchten Keller gelegen haben. Im Schmodder. In der Gosse. Was für eine Drecksschachtel, dachte ich. Und der hässliche Stein. Und das Kreidegekritzel. Insgesamt wirkte es äußerst lieblos improvisiert. Eine Regung, die Enttäuschung ähnelte, durchfuhr mich. Es war, als ob mein Unbewusstes oder Unterbewusstes (den Unterschied habe ich, ehrlich gesagt, nie begriffen) die ganze Zeit auf etwas gewartet hatte, schon eine sehr lange Weile — und nun war es da — und nun war es so was.
Mit der Fußspitze tippte ich den Karton an und schob ihn ein Stück vor. Er war schwerer, als ich erwartet hatte. Als ich hörte, wie weiter oben jemand seine Tür abschloss und die Treppe nach unten, in meine Richtung, betrat, zog ich den Karton mit dem Fuß in meinen Flur und schloss so leise wie möglich die Tür.
Eine tote Ratte. Das schien mir mehr als wahrscheinlich, wie das Päckchen dann so dalag, schäbig, frech, zwischen dem Schuhschrank und der Schwelle zur Küche. Ich musste zur Arbeit, ich musste wirklich hin, aber da der Steinschlag mich vor der üblichen Zeit geweckt hatte, hatte ich noch ein wenig Luft. Ich legte Tasche und Schlüssel ab, nahm einen Schal von der Garderobe, wickelte ihn mir um Hals und Mund, setzte eine Mütze auf und eine Sonnenbrille und kramte auch nach Handschuhen und zog sie an, um mich wenigstens ein bisschen zu schützen, für den Fall, dass es doch eine Bombe war. Vorsichtig hob ich den Karton an, schüttelte ihn leicht und spürte etwas Träges in ihm hin und her rutschen.
Ich stellte ihn auf den Küchentisch. Mit der Haushaltsschere schnitt ich die Kordel auf. Sehr langsam hob ich den Deckel ab. Und sah: gräuliche Zettel mit schwarzem Aufdruck. Spielgeld, im Design von Dollarnoten. Nicht Eindollar-, sondern Zehndollarscheine. Sie waren in fünf Bündeln nebeneinandergeschichtet, von dünnen Gummis zusammengehalten, roten, grünen, hautfarbenen.
Als ich eines der Bündel herausnahm, sah ich, dass es unter der oberen Lage eine zweite gab, zehn Bündel insgesamt, alle schienen gleich dick zu sein. Wie viele Monopolyschachteln musste man dafür plündern, wer suchte so etwas im Internet heraus und hatte die Geduld, all die Papierchen korrekt formatiert auszudrucken?
Es war allerdings ziemlich gut gemacht, stellte ich fest, nachdem ich meine Vermummung wieder abgelegt hatte und eines der Bündel in meinen Händen aufflattern ließ wie ein Daumenkino. Das Papier fasste sich speckig an, schmuddelig und klamm wie echtes Geld. Eine Grußkarte, ein Erpresserschreiben, eine Liste mit Anweisungen fand sich nicht im Karton.
Ich setzte mich an den Tisch, nahm das eine, schon durchgeblätterte Bündel erneut in die Hand, löste das Gummi und begann, die Scheine zu zählen. Zweimal musste ich neu ansetzen, weil es so viele waren, und kam schließlich auf einhundert Stück.
Hundert mal zehn gleich tausend.
Zur Kontrolle nahm ich ein zweites Bündel. Wieder hundert Zehnerscheine.
Beim dritten auch.
Wenn alle Bündel gleich sind und wenn es sich hierbei um echtes Geld handeln würde, lägen jetzt zehntausend US-Dollar vor mir, bar, in schmierigen Scheinen, dachte ich. Ich sitze hier vor einem Pott voll Gold, wie Harvey Keitel in einem dieser diesigen Filme, wie eine Ghettobraut mit harter Schale, aber weichem Kern, deren große Stunde gekommen ist.
Amüsant war das schon, das musste ich einräumen.
*
Erkundigte sich in jenen Tagen jemand nach meinem Beruf, schlug ich eine Fliege von meiner Schulter, auch wenn da keine saß, ließ etwas fallen, einen Kugelschreiber, ein Feuerzeug, simulierte ein Niesen oder ein Husten und fabulierte fahrig um die Faktenlage herum. »Büro, Büro«, sagte ich zum Beispiel und rollte in standardisierter Angestelltentheatralik meine Augen gen Himmel.
Ich war im Großkundenservice eines Möbelherstellers beschäftigt. Spezialbereich Behördenausstattung. Schultische, Amtsregale, Warteraumsessel, Abteilung Reklamationen und Nachbestellungen, zwanzig Stunden die Woche, zwölf Tage Urlaub im Jahr. Mehr als dass sie meinen Unterhalt so eben finanzierte, mehr als dass sie mich montags bis freitags daran erinnerte, dass ich meine kostbare Lebenszeit weit unter meinen Möglichkeiten verbrachte, ohne dass ich mir selbst oder jemand anderem stichhaltig hätte erklären können, wie es dazu gekommen war und warum es so blieb, war über jene Tätigkeit nicht zu sagen. Eine Übergangslösung hatte es einmal sein sollen, ein temporäres Notfallarrangement, und — nun ja: Neun Jahre später hing ich immer noch dort, Frau Mittmann aus dem dritten Stock im Glasanbau, zweite Tür links vom Lift, Durchwahl -347.
Eine Daueraushilfskraft mit vielversprechender Vergangenheit war ich, und gelegentlich streckte jene Vergangenheit noch immer ihre klebrigen Finger nach mir aus. »Mahlzeit!«, rief ich zur Auflockerung in die Flure, wenn das Kollegium sich in seine Mittagspausen begab, »Muss ja!«, riefen sie zurück und zwinkerten mir so vergnügt zu, dass ich auch nach all den Jahren nicht sicher war, ob sie die altproletarische Anspielung erkannten, ob sie sich an meinem Besserwisserinnenhumor ebenso erfreuten wie ich oder ob sie tatsächlich so dachten und sprachen, ob sie, sozusagen, daran glaubten, an »Mahlzeit!« und »Muss ja!«, »Brückentage« und »Bonustage«, »Meetings«, »Motivation« und »Magendarm«.
»Magendarm« war ein Wort, das auch ich rasch in mein Vokabular integriert hatte. Es war die Zauberformel, mit der ich mir, dem Beispiel der anderen folgend, zehn bis zwölf zusätzliche freie Tage aus dem Kalenderjahr herausschnitt. »Magendarm« ist auf den ersten Blick banal, auf den zweiten jedoch hochinteressant, ein lohnendes Sujet für eine erwerbsweltphänomenologische oder sogar moralphilosophische Erörterung: Solche Sachen flüsterte meine Vergangenheit mir anfangs noch unablässig ein. Gegen Ende des ersten Bürojahrs muss es gewesen sein, dass ich begann, mir Notizen zu machen, auf meinem Laptop, nach Feierabend. »Magendarm« ist kein Grund für ein schlechtes Gewissen — notierte ich. »Magendarm« ist weder Betrug noch Revolution. »Magendarm« ist Reststolz und Rache, ein klitzekleiner Mehrwert, den jeder abhängig beschäftigte Vernunftmensch sich ab und an gönnt. Transzendenz muss man sich leisten können — und »Magendarm« kann dabei hilfreich sein. Ein Dutzend Seiten kamen zusammen, in einem Dokument, das ich Employment Epiphanien nannte. Fast jeden Tag tippte ich einige Beobachtungen hinein, ungeordnet, roh, gleichwohl unter dem Eindruck, etwas Wichtiges, etwas nie zuvor von irgendwem grundlegend Durchdachtes festzuhalten. Doch nach ein paar Wochen hörte ich wieder damit auf. Ich wusste nicht, wohin ich meine Überlegungen hätte schicken sollen. Längst hatte ich mich schon zu weit entfernt von den Räumen, den Umfeldern — vielleicht sollte ich Sphären sagen —, in denen solche Geistesetüden auf Gegenliebe oder wenigstens höfliche Kenntnisnahme gestoßen wären. Korrekter formuliert: Nicht ich hatte mich aus den Sphären entfernt, die Sphären hatten mich aus ihren Sphären verbannt. Getilgt hatten sie mich wie einen lästigen Programmierfehler. So waren die Employment Epiphanien der Frau Mittmann aus dem dritten Stock nichts als das Kratzen an einer alten, gelegentlich noch immer nässenden Wunde, und ich begann, mich nach und nach zu fügen. Jeden Morgen quälte ich mich in den voll besetzten Erwerbstätigenbus und betete es mir fünfzehn Haltestellen lang vor: Ich besaß ein von Arbeitgeberseite zu sechzig Prozent mitfinanziertes Flatrateticket für den öffentlichen Personennahverkehr und bekam einen nach ergonomischen Gesichtspunkten gestalteten Bürostuhl mit pneumatischer Sitzschalensenk- und Hebefunktion zur Verfügung gestellt — das war weit mehr, als viele andere von sich behaupten konnten. So gib endlich Ruhe, predigte ich mir, sieh es einfach ein und gib Ruhe, und die Jahre taten derweil das Ihrige, liefen weiter und weiter und immer weiter, so langsam oder schnell, dass ich es ab einem gewissen Zeitpunkt dann kaum noch mitbekam.
Nach Feierabend und an den Wochenenden war ich Cosmic Charly. Nicht an jedem Abend, nicht jeden Samstag und Sonntag, aber doch vier, fünf Mal in der Woche, häufig genug, dass meine Kundschaft mir vertraute. Ihre Irrtümer, Eitelkeiten und Verzweiflungen wurden erhört. Sie bestellten, kurz gefasst, Horoskope bei mir. Jede E-Mail-Anfrage quittierte ich mit einer Eingangsbestätigung und der Auskunft, dass es aufgrund der hohen Nachfrage fünf bis sieben Werktage dauern würde, bis die gewünschte Deutung — »kein computergenerierter Standardtext!« — als PDF bei ihnen einginge. Ihren Zuschriften zufolge hielten sie Cosmic Charly für einen Mann. Wenn ich mir vorzustellen versuchte, was sie sich vorzustellen versuchten, sah ich einen leicht angeknitterten Typ von Ende vierzig, Anfang fünfzig vor mir, schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarzsilbern meliertes Haar. Von Weitem ähnelte er Joaquin Phoenix.
»Angenommen, Sie wollen segeln gehen oder planen eine Gartenparty: Ist ein Regenschutz nötig oder Sonnencreme? Wäre eine Wetterprognose nicht hilfreich, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein?«, war auf der Startseite von cosmic-charly.com zu lesen. Und weiter: »Nützlich ist es, auf stürmische Zeiten und nährende Phasen vorbereitet zu sein, um deren Potenziale mit Bewusstheit auszuschöpfen. Dabei stehen wir Ihnen mit unseren aus langjähriger Erfahrung gespeisten astrologischen Beratungen zur Seite. | Persönlichkeitsanalyse | Partnerschaftshoroskop (Beziehungs- oder Flirtprognose) | Verborgene Talente | Karma-Report | Asteroiden-Deutung | Arabische Punkte | Sabische Symbole | Placidus-System (auf Wunsch auch Koch oder Regiomontanus möglich) | Individuelle Einzelberatung und Paketpreise auf Anfrage«. In violetten Javascriptlettern flackerte folgender Spruch über den Schirm:
Die Sterne sind nur der Vater deines Schicksals.
Die Mutter ist deine eigene Seele.
Johannes Kepler (1571—1630)
Zwischen zwei- und fünfhundert Euro brachte mein kosmisches Kunsthandwerk mir ein, Monat für Monat, brutto wie netto, PayPal sei Dank. Ich leistete mir kleine Extras dafür, einen regelmäßig nachgefärbten Haaransatz zum Beispiel.
Technisch war es kein großer Aufwand. Einst verrenkten die Ägypter und Chaldäer, Griechen und Römer ihre Hälse, die Seefahrer, Landwirte und frühen Physiker, Ptolemäus, Hipparch, Tycho Brahe und wie sie alle hießen. Sie starrten nach oben, zeichneten Himmelskarten per Hand und legten komplizierte Tabellen an. Heute ermittelt Software, schon ab dreißig Euro zu haben, die Ephemeriden, die »Aspekte« und »Konstellationen«, wie es im horoskopischen Jargon heißt. Astroworld nannte sich das Programm, auf das ich mich verließ. Neben Tabellen und Grafiken spuckte es auch Deutungssatzbausteine aus, die ich umformulierte, kürzte oder ergänzte, wie ich es Fall für Fall für richtig hielt.
An die dreißig Leute hatten sich über die Jahre als Stammkundengemeinde um Cosmic Charly geschart. Manche meldeten sich alle vier Wochen, bei anderen konnte auch mal ein Dreivierteljahr vergehen, und dann schickten sie gleich mehrere Fragen auf einmal, etwa die Geburtsdaten von drei verschiedenen Frauen, mit der Bitte um Einschätzung, welche sich am ehesten als dauerhafte Lebensgefährtin bewähren würde. Erkundigte sich jemand nach Chiron, dem zwiegesichtigen Kometen des Schmerzes und der Heilung, war wieder einmal »ein Herz gebrochen« worden, oder es hatte sich ein Bandscheibenvorfall zugetragen, oder es war wieder jemand in die Schlaflosigkeit getaumelt (alle konnten sie auf einmal nicht mehr schlafen). Kam jemand mit Unterleibssachen oder Krebs, riet Charly sehr klar, sehr scharf zu unbedingtem Ärztevertrauen. »Schulmedizin ist ein Himmelsgeschenk«, schrieb er und: »Der Kosmos rät: Wenden Sie sich umgehend an einen Experten. Wir wünschen gute Besserung!«
Die einen erwogen, eine Immobilie zu erwerben oder ein Franchise-Café zu eröffnen, zweifelten aber, ob das Risiko nicht zu hoch wäre. Andere wünschten bloß ein astrologisches Porträt ihres Wellensittichs, um besser mit ihm kommunizieren zu können. Wieder andere sorgten sich ausschließlich um ihre persönliche Einzigartigkeit, wollten immer wieder aufs Neue attestiert bekommen, welch unverwechselbare Charakterwunder sie waren, konnten gar nicht genug bekommen von vagen Schmeicheleien wie dieser: »Venus im ersten Haus in Opposition zu Saturn im siebten macht Sie zu einer attraktiven, wenngleich äußerst vielschichtigen Persönlichkeit, die von anderen oft missverstanden wird, dabei aber stets einen bleibenden Eindruck hinterlässt.« Manche waren noch keine dreißig, andere über siebzig und wie unterschiedlich ihre Tonfälle und Anfragen auch ausfielen, eines hatten Charlys Kunden gemeinsam: Allesamt verzehrten sie sich danach, dass jemand sie erkannte. Auf sie aufpasste. Sich um sie kümmerte.
Doch über derlei Erkenntnissen brütete ich allein. Das Büro gingen meine Privatinteressen nichts an, Frau Mittmann aus dem Glasanbau entzog sich erfolgreich sämtlichen Teambuildingmaßnahmen, dem jährlichen Bowlingbefehl, dem vorweihnachtlichen Gänsekeulen-Get-together, indem sie rechtzeitig Urlaub einreichte oder, um einmal eine Abwechslung in den Hilfsangestelltenalltag zu bringen, an Migräne statt an Magendarm litt.
Auch die anderen Leute, die mich kannten, wussten nichts von Cosmic Charly. So viele gab es ohnehin nicht (Leute, die mich kannten), und es wäre mir viel zu kompliziert erschienen, ihnen zu erklären, was mich an dem Astromumpitz faszinierte: Ich hing daran, weil ich gerade nicht daran glaubte. Wohl glaubte ich aber, dass der Mumpitz ein Indiz war, ein Beleg für etwas, das sich nur schwer in Worte fassen ließ: ein anschaulicher Gradmesser für den alarmierenden Gemütszustand der Welt.
De facto herrschte keinerlei Sandelholzromantik bei mir. Keine Klangschalen-CDs im Player, keine Engelfiguren auf der Fensterbank und auch kein »drittes Auge«, weder auf meinen Körper tätowiert noch als Batikmotiv auf einem pseudoindischen Schlabbertuch an die Wohnzimmerwand gepinnt. Schon allein das Wort »Spiritualität« löste einen linden Brechreiz bei mir aus, und wenn ich irgendwo etwas von »Achtsamkeit« zu lesen oder zu hören bekam, auf einer Nudelpackung, in der Shampoowerbung, bei einer Quartalsbilanzsitzung in der Firma, zog ich eine verächtliche Grimasse.
Eine Zynikerin war ich aber nicht. Ich mochte die Leute, die sich an Cosmic Charly wandten. Manche mehr, manche weniger, so ist es ja immer und überall. Nach und nach lernte ich ihre Dramen und Empfindlichkeiten kennen, auch ihren Humor, ihre annähernd deckungsgleichen Ängste (es gibt nur drei Grobsorten von Angst, würde ich seit cosmic-charly.com sagen) und ihre nur selten megalomanen, vielmehr sehr kleinen Hoffnungen und Wünsche.
Machte es mir Spaß? So hätte ich es nicht ausgedrückt.
Langweilte es mich? Auch das nicht.
War ich auf das bisschen Zusatzgeld angewiesen? Nein, überlebenswichtig war es nicht.
Hätte ich meine bürofreien Stunden besser darauf verwendet, mir eine andere Anstellung zu suchen, eine Erwerbstätigkeit, die, wenn sie schon keinen großen Widerhall in der Welt evozierte, zumindest mehr Geld auf mein Konto spülte? Aber ja, ohne jeglichen Zweifel.
Blieb ich, wenn ich mich wieder einmal mit der Absicht einloggte, Charlys Postfach nun aber wirklich zum letzten Mal zu überfliegen, bevor ich die Gesamtdeletetaste drücken würde, weil es sich nicht gehörte, an anderer Leute Seelen herumzufummeln, blieb ich dann doch wieder an der je aktuellen Herzensverwirrung von Kerstin79 hängen, am Hilferuf von [email protected], an der Karma-Bilanz von [email protected]? Was soll ich sagen — ja.
Ihre Anfragen und Anliegen ließ ich mir meist ein paar Tage durch den Kopf gehen, beim Einkaufen, beim Nägelschneiden, während ich die Tintenkartusche im Bürodrucker austauschte oder den Papierstau behob, Sitzbankmodule für saarländische Gemeindeverwaltungen auf den Weg brachte, Garderobenleisten für thüringische Kitas klarmachte, den Bus verpasste, auf den nächsten wartete. Hatte ich schließlich ein Bild in meinem Kopf entwickelt, war ich mir über die jeweilige Kundenlage klar geworden, übersetzte ich meine Überlegungen in die Planetenpoesie, die sie bei mir bestellt hatten, und drückte auf send.
Ich kannte mich in den Leben von zwei Dutzend Menschen recht gut aus. Meines hingegen erschien mir schleierhaft. Das war, alles in allem, mein Zustand, als das Schicksal es nicht mehr länger mitansehen konnte und eingriff, mit einem ordinären Pflasterstein, brutal wie ein misanthroper Schulabbrecher.
*
An Kaffee, ja oder nein, kann ich mich, wie gesagt, nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch sehr gut, wie elektrisch ich mich fühlte, an besagtem Mittwochmorgen: hin- und hergerissen, von Anfang an. Eine Unverschämtheit, dieses Attentat! Und wie bedrohlich die Vorstellung, dass ich offenbar unter jemandes Beobachtung stand. Zugleich aber diese sublime Zärtlichkeit: Jemand dachte an mich — und ließ es mich mehr als deutlich wissen. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mir diese Aufmerksamkeit nicht auch gefiel. Wie die Aufforderung zu einem abartigen Spiel kam es mir vor. Einen Punktsieg konnte ich am ehesten dadurch erlangen, dass ich den oder die Täter auflaufen ließ — so legte ich es mir auf die Schnelle zurecht. Wer auch immer mich herausfordern wollte, er, sie, es würde vergeblich darauf hoffen, dass ich wegen ein paar Scherben und einer Schachtel Altpapier in Deckung ging. Gleich würden sie sehen, dass ich mich wie an jedem anderen Werktag zum Bus bewegte, nahm ich mir vor, gänzlich unbekümmert würde ich an den Kameras vorbeispazieren, die sie in Bäumen, Straßenlaternen, wer weiß wo installiert haben mochten, um die Reaktionen ihres Opfers (Opfers!) in einen kranken Winkel des Internets zu übertragen. Ohne mich! — dachte ich.
Die Papierbündel stapelte ich im Karton in ihre alte Ordnung zurück, den Deckel legte ich wieder drauf. Und blickte noch einmal auf das Plutofoto. Das Filzstiftherz. Rot wie ein Alarm. Rot wie die sagenumwobene Liebe. Rot wie ein allergischer Hautausschlag. Rot wie der Schädel eines Hysterikers kurz vorm Ausrasten.
Der Gedanke an cosmic-charly.com lag selbstverständlich nah. Vielleicht hatte ich jemanden aus der Horoskopkundschaft versehentlich provoziert, mit einer zu harschen Formulierung, mit einer Prognose, die ihm oder ihr nicht passte, und nun wollte das Nervenbündel sich rächen. Oder: bedanken?
Allerdings verfügte die Seite nicht mal über ein Fake-Impressum, mein Name tauchte da nirgends auf, Rückschlüsse auf meine Adresse waren ausgeschlossen. Außerdem war Pluto auch jenseits der Astrologie immer mal wieder ein Thema, in den Wissenschaftsnews, in der Raumfahrtindustrie, unter Science-Fiction-Fans. Und den Walt-Disney-Hund gleichen Namens gab es auch noch.
Zum zweiten Mal an jenem Morgen hängte ich mir dann die Tasche um und hielt an der Wohnungstür inne — die Scheine ließen mir doch keine Ruhe. Ich ging zum Küchentisch zurück, öffnete den Karton, zupfte von den oberen fünf Bündeln den jeweils obersten Schein, steckte die dubiosen Zettelchen ins hintere Fach meines Portemonnaies und deckte den Karton wieder zu. Kaum lag meine Hand zum dritten Mal auf dem Türgriff, stockte ich erneut. Diesmal wegen des Garderobenspiegels. Im Vorbeieilen hatte ich etwas gesehen, aus den Augenwinkeln. Ich drehte mich um, da war nichts, trat ein paar Schritte in den Flur zurück und erblickte im Spiegel ein Leuchten, das mir annähernd fremd vorkam. »Rosig« war gar kein Ausdruck für das Glühen meiner Wangen, »saftig« ein zu schwaches Wort für meine leicht, wie fragend geöffneten Lippen, »irisierend« höchstens ein Behelfsattribut für das Flackern meines Blicks. Das ist Erregung — befand ich. Und fand, dass es mir außerordentlich gut stand. Worauf ich die Wohnungstür extralaut ins Schloss knallen ließ und die Treppen so federleicht hinabsprang, dass meine am Vorvortag gewaschenen Haare wie frisch geföhnt, wie schwerelos um mein Kinn wippten.
Auf dem Weg zum Bus drehte ich mich mehrmals um und rügte mich innerlich dafür, weil es so auffällig war. Insbesondere die acht, neun Hofeinfahrten bis zur Haltestelle hatte ich im Blick, in Erwartung der Möglichkeit, den Schatten eines Schattens zu erhaschen, eine menschliche Silhouette, die just in der Sekunde, in der ich sie entdeckte, ins Dunkel verschwand. Doch es fiel mir nichts Derartiges auf. Unheimlich war allein das Wetter, die fast schon zuckrige Milde, die Mailuft im Februar. »Weltuntergangswetter« nannten sie es im Büro.
Im Bus setzte ich mich nach ganz hinten, so dass ich alle Passagiere im Blick hatte. Niemand machte ein verschwörerisches Gesicht, niemand raunte jemand anderem etwas zu, zumindest nicht mit verstohlenem Blick zu mir, die meisten beugten, wie immer und überall, ihre Köpfe über ihre Telefone, jeder für sich.
Auch im Büro war ich ganz auf Dechiffrierung gepolt. Wir saßen zu viert in Raum G3.e, und ich sah genau hin, wie das Kollegium seine Jacken auszog und an die Haken hängte, wie sie ihre Rechner hochfuhren und ihre Utensilien aus ihren Taschen holten, ihre Ladegeräte, Kopfschmerztabletten und Energy-Naschereien auf ihren Desks platzierten, achtete auf Modulationen und Mehrdeutigkeiten in der Begrüßung, auf Verlegenheiten in der Kaffeeküche, stellte jedoch keinerlei Unregelmäßigkeiten fest. Schließlich loggte auch ich mich in den Dienstbrowser ein, öffnete meine Mail-Konten, dienstlich und privat, inklusive der Spam-Ordner, und konnte auch dort nichts Auffälliges verzeichnen.
Zwischen den Arbeitsgängen, hier ein liegengebliebener Kostenvoranschlag, da die Stornierungsweiterleitung einer versehentlich doppelt georderten Broschürenstellwand, gab ich verschiedene Begriffskombinationen in die Suchmaschine ein, »Geld gefunden«, »Geld verschenkt«, »Geldwunder«, »Geld unbekannter Herkunft«, und stieß auf ein paar Polizeimeldungen: In einer Rostocker Fußgängerzone hatte ein Betrunkener Zwanzigeuroscheine an Passanten verteilt, in Lenzkirch hatte eine Demenzpatientin mit Münzen um sich geschmissen und dabei ein Kleinkind am Auge verletzt. Höhere Summen waren nirgends im Spiel, und es fanden sich keinerlei Anzeichen für einen seriellen Zusammenhang. Dutzende Warnungen vor falschen Fünfzigern kursierten. Spektakuläre Kursschwankungen bei Cryptowährungen wurden gemeldet. Geldautomaten flogen landauf, landab in die Luft. Leitartikel argumentierten für oder gegen die Abschaffung des Bargelds, und T-Shirts mit der Aufschrift Geld ist ein Arschloch waren in sechs verschiedenen Farben erhältlich. Ich las von Finderlohn (»Anspruch und Ermessen«) und von »Fundunterschlagung«: kann mit bis zu drei Jahren Haft geahndet werden. Die Gebläse der Rechner wirbelten die Zeit im Kreis. Wir waren ein Standbild, wie wir da saßen, in unserer Lieferkettenkonfektionskleidung, an unseren sepiafarbenen Desks aus eigener Produktion. Dreimal in drei Stunden ging ich aufs Klo, um die zweifelhaften Scheine in meinem Portemonnaie zu betrachten und zu betasten. Das angebliche Geld.
Die letzte Arbeitsstunde, zwischen zwölf und eins, war stets die angenehmste. Als einzige halbe Kraft in G3.e konnte ich weitgehend in Tatenlosigkeit abgleiten, während die anderen nach und nach zu ihren Mittagspausen aufbrachen. Kehrten sie kurz nach eins von ihren Jägerschnitzeln oder Bowls, Streuselkuchen oder Obstsalaten zurück, war ich meist schon verschwunden. Kaum hatte sich an jenem Mittwoch die letzte Kollegin aus G3.e, Schmellenberg, Taskforce Widerrufe und Inkasso, zum Essen aufgemacht, warf ich die Bildersuche an und verglich die Scheine aus dem Attentatskarton mit den Zehndollarnoten auf dem Bildschirm. Die wesentlichen Parameter stimmten überein. Auf der Vorderseite das Konterfei von Alexander Hamilton (erster Finanzminister der USA, spontan hätte ich es nicht gewusst), auf der Rückseite nicht das Weiße Haus, sondern das Finanzministerium in Washington (ohne Kontext hätte ich es nicht erkannt), darüber die Parole In God we trust (dieses Glaubensbekenntnis wiederum war wohl jedem halbwegs weltbewanderten Menschen vertraut). Dollarscheine bestehen zu fünfundzwanzig Prozent aus Leinen und zu fünfundsiebzig Prozent aus Baumwolle, erfuhr ich auf der Webseite des U.S. Currency Education Program, las von roten und blauen »Sicherheitsfasern« im Papier und von einem transparenten Streifen, dessen Beschriftung nur zu entziffern ist, wenn der Schein gegen eine Lichtquelle gehalten wird. Ich schaltete meine Desklampe an, hielt die Scheine davor und sah die Fasern, sah den Streifen.
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Punkt dreizehn Uhr drei loggte ich mich aus. (Es empfiehlt sich, niemals exakt zur vollen Stunde Schluss zu machen, sondern stets ein paar Minuten draufzugeben oder zehn Minuten früher zu gehen, alles, sogar das vorzeitige Schlussmachen, ist besser als die glatte Stunde. Je jünger das Management, je öfter sie von »Teamgeist« säuseln und je gewaltsamer sie einem das Du aufzwingen, desto gnadenloser sitzen sie einem im Nacken. Punktgenaue Pünktlichkeit schürt Misstrauen und führt früher oder später zu einer Einladung zu einem »Gespräch bzgl. Mitarbeitermonitoring«, in dem sie einen auffordern, die persönliche Arbeitsplatzzufriedenheit »ganz offen und angstfrei« auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten, wir in G3.e konnten mehrere Liedchen davon singen.) Statt in den Bus nach Hause zu steigen, nahm ich die U-Bahn zum Hauptbahnhof, wo sich die Wechselstuben ballten. So nervös war ich, so feucht meine Hände, dass mir die Halteschlaufe immer wieder durch die Finger glitt. Beobachtete ich die Leute, oder beobachteten die Leute mich? Lange hatte ich die Stadt nicht mehr verlassen, lange war ich nicht mehr am Bahnhof gewesen, aber das mit den Wechselstuben hatte ich mir gemerkt, diese Schalter hatten mich immer fasziniert, die geduckte, gehetzte Anonymität, mit der dort Geld, das aus wer-weiß-welchen Quellen stammte, hin- und hergeschoben wurde.
Das Menschengewirr in der Haupthalle war beeindruckend, Geschäftsleute, Rucksacktouristen, Ausflugschulklassen, kaum kam ich zur Service-Shopzeile durch. Bei MoneyGram eine lange Schlange. Der Euro-Change-Schalter verrammelt. Bei Western Union war etwas weniger los als bei MoneyGram, und das Wort Western schien mir für meine Zwecke passend, also stellte ich mich dort in die Reihe.
Alle paar Minuten ging es einen halben Meter voran, und je näher ich dem Schalterfenster kam, desto deutlicher entfaltete das im Büro gerade erst gelesene Wort »Fundunterschlagung« seine Wirkung. Hätte ich den Karton irgendwo melden müssen? Nein, er war unmittelbar vor meiner Wohnungstür deponiert gewesen und unmissverständlich an mich adressiert: Freiheit für Mittmann!
Musste man sich ausweisen an einer solchen Bude? Wurde das dann irgendwo registriert?
Was, wenn ich im Bürolampenlicht etwas übersehen hatte und die Dollars sich doch als Fälschung erwiesen? Dafür war ich hier — um das herauszufinden, würde ich sagen.
»Nächster!«, rief die Frau am Schalter.
»Guten Tag, das hier möchte ich bitte in Euro tauschen, cash und in kleinen Scheinen«, sagte ich.