Stay True - Hua Hsu - E-Book

Stay True E-Book

Hua Hsu

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Beschreibung

Es ist das Jahr 1995, Hua Hsu ist achtzehn und sucht seinen Platz, seine Leute. »Ich wollte den Eindruck vermitteln, dass ich mich mit meiner Stimme wohl fühlte.« Er ist stolz darauf, gegen den Strom zu schwimmen. Er gibt Zines heraus, durchstöbert die Plattenläden der Bay Area, erstellt Mixtapes, kauft seine Kleider aus zweiter Hand. Als er Ken zum ersten Mal trifft, findet er alles an ihm öde. Ken mag Abercrombie &Fitch, Pearl Jam, ist in einer Studentenverbindung, hat eine »konventionell attraktive« Freundin, geht gerne aus, hat gute Manieren. Alles so fürchterlich Mainstream. Die beiden haben auch ganz unterschiedliche familiäre Hintergründe, obwohl sie beide als Asian-American gelesen werden. Huas Eltern kamen fürs Studium aus Taiwan, während Kens japanisch-amerikanische Familie schon seit Generationen in den USA lebt und sich Ken, aus Huas Sicht, längst nahtlos in die amerikanische Kultur eingegliedert hat.Trotz allem werden Hua und Ken Freunde. Eine Freundschaft, die auf langen Fahrten entlang der kalifornischen Küste und bei nächtlichen Gesprächen auf Raucherbalkonen stetig wächst. »Eine neue Schachtel Zigaretten, noch einmal zwanzig Gespräche.«Und dann ist Ken plötzlich nicht mehr da, wird unerwartet und sinnlos Opfer eines Verbrechens, nicht einmal drei Jahre nach dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal trafen.Entschlossen, die Erinnerungen an einen seiner engsten Freunde zu bewahren, beginnt Hua zu schreiben, denn er weiß nun: »Zu sich selbst zu finden, gelingt nicht in einem Vakuum.«Stay True ist ein bestärkendes Memoir über das Erwachsenwerden, eine Nachruf auf die Jugend, diese Suche nach Sinn und Zugehörigkeit, und ein Zeugnis großzügigster Freundschaft.

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Seitenzahl: 288

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Hua Hsu

Stay True

Ein Memoir über Freundschaft

Aus dem Englischen von Anette Grube

 

Für unsere Eltern

und für meine Freunde

Nur die Zukunft kann den Schlüssel zur Interpretation der Vergangenheit liefern; und nur in diesem Sinn können wir von einer letzten Objektivität in der Geschichte sprechen. Die Vergangenheit wirft Licht auf die Zukunft und die Zukunft wirft Licht auf die Vergangenheit: darin liegt sowohl die Rechtfertigung wie die Erklärung der Geschichte.

 

Edward Hallett Carr, Was ist Geschichte? (1961)

 

 

 

Because you’re empty, and I’m empty

And you can never quarantine the past.

 

Pavement, »Gold Soundz« (1994)

Damals war es unmöglich, zu viel Zeit im Auto zu verbringen. Wir wären überallhin gefahren, solange wir zusammen waren.

Ich stellte immer meinen Volvo zur Verfügung. Erstens wirkte das cool und großzügig. Zweitens mussten dann alle meine Musik hören. Keiner von uns konnte kochen, aber wir drängten uns ständig in meinen Kombi für ambitionierte Fahrten zum Lebensmittelladen in der College Avenue, die Strecke war ungefähr sechs Songs lang. Wir fuhren über die Bay Bridge, nur um Eis zu kaufen, und das rechtfertigte ein ganzes neues Mixtape. An der 880 war ein 24 Stunden am Tag geöffneter Kmart, den wir eines Nachts entdeckten, nachdem wir jemanden zum Flughafen gebracht hatten – die ultimative Geste der Freundschaft. Eine halbe Stunde Fahrt, nur um mitten in der Nacht Notizblöcke oder Unterwäsche zu kaufen, und das war es absolut wert. Gelegentlich erregte eine vereinzelte eingängige Popmelodie jemandes Aufmerksamkeit. Was ist das? Ich hatte diese Songs schon hundertmal gehört. Aber sie mit anderen zusammen zu hören: Darauf hatte ich gewartet.

Meine Passagiere hatten unterschiedliche Persönlichkeiten. Manche bestanden mit neurotischer Intensität auf den Beifahrersitz, als würde ihr gesamtes Selbstwertgefühl davon abhängen, vorn zu sitzen. Sammi schnippte ständig mit ihrem Feuerzeug bis zu dem Nachmittag, als das Handschuhfach Feuer fing. Paraag warf immer meine Kassetten aus und wollte unbedingt Radio hören. Anthony starrte unentwegt aus dem Fenster. Man stellt vielleicht nie so leicht Körperkontakt zu einer anderen Person her wie auf einem übervollen Rücksitz, auf dem sich zwei einen Sicherheitsgurt teilen müssen.

Ich hatte mir die Angst meiner Eltern vor toten Winkeln zu Herzen genommen und drehte den Kopf ständig von einer Seite zur anderen, ich blickte in alle Spiegel, achtete auf Autos auf der Nebenspur und schaute mich verstohlen um, um zu sehen, ob jemand bemerkte, dass Pavement Pearl Jam bei Weitem überlegen war. Ich war für die Sicherheit meiner Freunde verantwortlich und auch für ihre Bildung.

Ich habe ein Foto von Ken und Suzy, die Schulter an Schulter hinten sitzen, kurz bevor wir zu einer Autofahrt aufbrechen. Sie kauen Kaugummi und lächeln. Ich erinnere mich nicht an den Ausflug, nur an die Aufregung, an einen anderen Ort zu fahren. Die Abschlussprüfungen waren vorbei, und bevor wir im Sommer unsere eigenen Wege gingen, verbrachten ein paar von uns die Nacht in einem Haus ein paar Stunden entfernt von Berkeley. Der Spaß, die geringfügige Gefahr als Karawane zu fahren, als wären wir in einer geheimen Mission unterwegs, sich durch den Verkehr zu schlängeln, gewissenhaft in den Rückspiegel zu schauen, ob alle noch da waren. Von einer Spur auf die andere zu wechseln oder, wenn wir allein auf der Straße waren, dicht aufzufahren. Ich verbrachte wahrscheinlich mehr Zeit damit, das Mixtape aufzunehmen als für die Fahrt zum Haus und wieder zurück. Wir wären nicht einmal 24 Stunden weg. Doch alles war neu: die Schlafsäcke, keine Hausaufgaben, morgens das Aufwachen an einem unbekannten, neuen Ort, und das war genug.

Für gewöhnlich saß Ken nicht auf dem Rücksitz. Wir verbrachten den Abend oft damit, durch Berkeley zu fahren, er stützte das Bein an die Beifahrertür, richtete den Blick auf den Horizont, hielt Ausschau nach noch nicht endeckten Coffee Shops, einer entlegenen Kellerbar, die zu unserer Stammkneipe würde, sobald wir 21wären. Er war immer overdressed – ein Hemd mit Kragen, eine Polojacke, Dinge, die ich nie tragen würde –, aber vielleicht war er einfach nur bereit für Abenteuer. Meistens fuhren wir nur einen Song weit zum 7-Eleven, um Zigaretten zu kaufen.

In diesem Alter vergeht die Zeit langsam. Man wünscht sich inbrünstig, dass etwas passieren würde, verbringt Zeit auf Parkplätzen, die Hände tief in den Taschen vergraben, und überlegt, wohin als Nächstes. Das Leben findet woanders statt, man braucht nur eine Straßenkarte, die dorthin führt. Oder vielleicht vergeht in diesem Alter die Zeit auch schnell; man wünscht sich so verzweifelt Action, dass man die Dinge vergisst, noch während sie geschehen. Ein Tag kommt einem vor wie eine Ewigkeit, ein Jahr ist eine geologische Epoche. Der Sprung vom zweiten ins dritte Jahr am College verlieh ein nie dagewesenes Niveau an Selbstsicherheit und Reife. Damals war man entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt, außer man langweilte sich, und niemand in der Geschichte der Menschheit hatte sich je so gelangweilt. Wir lachten so heftig, dass wir glaubten, wir würden sterben. Wir tranken so viel, dass wir von etwas namens Alkoholvergiftung erfuhren. Ich hatte immer Angst, eine Alkoholvergiftung zu haben. Wir blieben so lange auf, besessen in unserem Delirium, dass uns eine Theorie zu allem einfiel, nur vergaßen wir, sie aufzuschreiben. Wir durchlebten Zyklen legendärer Verliebtheit, die uns mit Sicherheit für den Rest unseres Lebens zeichnen würden.

Eine Weile lang war ich überzeugt, dass ich eines Tages die traurigste Geschichte aller Zeiten schreiben würde.

 

Ich erinnere mich, dass wir die Fugees hörten. Ich erinnere mich an die kühle Luft. Ich erinnere mich an den Morgen danach, als alle aus ihrer Ecke des Hauses hervorkrochen und Ken auf die Veranda hinausging, einen Becher mit Kaffee in der Hand. Woher weiß er, wie man Kaffee kocht?, fragte ich mich. Ich sollte das auch können. Ich habe noch ein Foto von ihm, wie er in den Morgen hinausschaut, Wolken spiegeln sich in seiner Brille. Er trug nur gelegentlich eine Brille, auf eine Weise, die ihn ernst, erwachsen wirken ließ – nie wie ein Nerd.

Nach dem Frühstück – was hatten wir wohl gegessen? – gingen wir zu dem weißen Sandstrand, obwohl das Wetter nicht gut war. Ich hatte ein gepunktetes, geknöpftes Hemd mit ausgefranstem Kragen aus einem Secondhand-Laden, eine braune Strickjacke und eine gelb-schwarz gestreifte Mütze an. Nur meine graubraunen Vans waren zu unseren Lebzeiten hergestellt worden. Es gibt ein Foto von mir, wie ich wie ein Catcher in der Hocke bin und nachdenklich nach Muscheln suche. Ken steht hinter mir, neigt sich über mich und winkt fröhlich in die Kamera. Er trägt eine mit Flanell gefütterte marineblaue Jacke, geschmackvolle weite Jeans und braune Stiefel. Auf einem anderen Bild sitzt er cool auf einem großen Felsblock. »Mach eins von mir und Huascene«, bittet er Anthony. Er wirkt lässig elegant, während ich doof lächelnd neben ihm stehe.

Damals vergingen Jahre, ohne dass man für ein Foto posierte. Man dachte überhaupt nicht daran, Fotos zu machen. Kameras störten das alltägliche Leben. Es war komisch, mit einer Kamera herumzulaufen, außer man arbeitete für die Studentenzeitung, dann wirkte das Fotografieren etwas weniger creepy. Wenn man einen Fotoapparat besaß, benutzte man ihn vielleicht während der letzten Tage des Semesters, bei Partys oder wenn Leute zusammenpackten, die Logik des Büffelns in letzter Minute galt auch fürs Dokumentieren von Erinnerungen. Wenn dich jemand fotografieren wollte, auch wenn es albern oder spontan aussehen sollte, machte man immer ein Theater und posierte, denn es hatte etwas Endgültiges, ein oder zwei Schnappschüsse höchstens, mehr wäre obsessiv gewesen. Ein Augenblick vergeht, unbeachtet, bis man Monate später die Fotos entwickeln lässt, die man bei einem Konzert oder einem Geburtstagsfest, einem aufzeichnungswürdigen Ereignis aufgenommen hat, und man entdeckt ein paar Bilder von Freunden, die sich vorbereiten, um auszugehen, oder sonst irgendein unbemerkt fotografiertes Stück Leben, mit dem man den Film vollmachen wollte. Man hatte es vergessen. Später, als das Fotografieren allgegenwärtig wurde, waren Bilder der Beweis, dass man überhaupt existierte, tagein, tagaus. Sie zeichneten ein Muster auf. Im Rückblick begann man an der Abfolge der Ereignisse zu zweifeln. Da Beweise fehlten, kamen Zweifel auf, ob etwas überhaupt passiert war.

Als mein Vater nach Taiwan zog, kaufte meine Familie zwei Faxgeräte. Theoretisch damit er mir bei den Mathe-Hausaufgaben helfen konnte. Ich hatte gerade mit der Highschool angefangen, wo alles, von dem Instrument, das ich spielte, bis zur Ausgewogenheit meines Zeugnisses, plötzlich folgenreich schien. Ein paar Jahre früher, in der siebten Klasse, hatte ich gerade gut genug abgeschnitten, um zwei Jahre Mathe-Unterricht zu überspringen, und dafür musste ich jetzt büßen. Ich war zu früh zu gut gewesen. Und jetzt war ich sehr schlecht in Mathe. Wie viele Immigranten, die großen Wert auf Bildung legten, setzten meine Eltern ihr Vertrauen in die Meisterung von Fächern wie Naturwissenschaften, wo die Antworten keiner Interpretation unterlagen. Eine richtige Lösung konnte nicht diskriminiert werden. Doch ich verbrachte meine Zeit lieber damit, Dinge zu interpretieren.

Faxen war billiger als Ferngespräche und bedeutete viel weniger Druck. Es gab kein unsicheres Schweigen, das Geld kostete. Man wählte einfach die Nummer des Empfängers und schob ein Blatt Papier in die Maschine, und auf der anderen Seite der Welt wurde ein Faksimile ausgedruckt. Der Zeitunterschied zwischen Cupertino und Hsinchu machte es möglich, dass ich meinem Vater abends eine Frage faxen und am nächsten Morgen, wenn ich aufstand, die Antwort erwarten konnte. Meine Fragen waren stets als dringend gekennzeichnet.

Am Rand erklärte er gewissenhaft die Prinzipien der Geometrie, entschuldigte sich, falls etwas verkürzt oder unklar war, weil er damit beschäftigt war, sich in seinem neuen Job zu etablieren. Ich überflog die Erklärungen und schrieb die Gleichungen und Beweise ab. Hin und wieder fügte ich als Dank für seine rasche akkurate Aufmerksamkeit zwischen die nächsten Mathefragen eine kurze Übersicht amerikanischer Neuigkeiten ein: Ich berichtete ihm davon, dass Magic Johnson öffentlich gemacht hatte, dass er HIV-positiv war, ich schilderte die Ereignisse, die zu den Aufständen in Los Angeles geführt hatten, ich hielt ihn über das Schicksal der Giants auf dem Laufenden. Ich erzählte ihm von meinen Geländeläufen, versprach aufrichtig, mich in der Schule mehr anzustrengen. Ich listete die neuen Songs auf, die ich mochte, und er suchte danach an Taipehs Kassettenständen und schrieb mir, welche auch ihm gefielen.

Ich mag Song November Rain von Guns N’ Roses. Metallica ist auch großartig. Red Hot Chili Peppers und Pearl Jam haben mir nicht gefallen. Die alten Songs neu interpretiert von Mariah Carey (I’ll Be There) und Michael Bolton (To Love Somebody) sind wunderbar. MTV »unplugged« ist eine tolle Idee!

Als Teenager hatte ich letztlich natürlich Besseres zu tun, als mit meinem Dad zu faxen. Er griff alles auf, was ich erwähnte, und bombardierte mich mit Fragen. Ich beschrieb eins meiner Fächer als langweilig, und er befragte mich zu meinem Gebrauch des Wortes und schrieb »viele ›Herausforderungen‹ sind emotional ›langweilig‹, aber durchaus ›nützlich‹«. Ich erwähnte, dass wir in Geschichte die sechziger Jahre durchnahmen, und er fragte: »Bist du überzeugt, dass Oswald JFK allein umbrachte?«

Er fragte mich immer nach meinen Ansichten zu bestimmten Dingen. Vielleicht war es sein Versuch, unser Hin-und-Her zu verlängern. Er sprach Sport an, etwas, wofür er sich, wie ich glaubte, überhaupt nicht interessierte. Wir waren wie zwei Typen, die im Baumarkt Small Talk führten.

Redskin ist zu viel für Bill!?

 

Wie machen sich die Nicks? [Knicks]

 

Jetzt heißt es Jordan gegen Buckley! [Barkley]

 

Diese World Series war spektakulär.

Wann immer ich eine Woche schulfrei hatte, flogen meine Mutter und ich nach Taiwan, um ihn zu besuchen. Manchmal tat ich so, als hätte ich zu viele Hausaufgaben, damit es sinnvoller erschien, wenn er uns in der Bay Area besuchte, als dass wir zu ihm müssten. Es funktionierte nie. Wir verbrachten die Sommer und Winter in Hsinchu; Wochen vergingen, und die einzigen Menschen, mit denen ich sprach, waren meine Eltern und ihre Freunde mittleren Alters.

Mir graute vor diesen Reisen. Ich verstand nicht, warum meine Eltern an einen Ort zurückkehren wollten, den zu verlassen sie sich entschlossen hatten.

 

Mein Vater kam 1965 mit 21 von Taiwan in die Vereinigten Staaten, und er war fast doppelt so alt, als er wieder zurückkehrte. In jenen Tagen verließ man das Land, wenn man konnte, vor allem wenn man ein vielversprechender Student war. Ein Dutzend anderer Physiker schlossen gleichzeitig mit ihm das Studium an der Tunghai Universität ab, und zehn von ihnen gingen ins Ausland. Mein Vater flog von Taipeh nach Tokio nach Seattle nach Boston. Er hielt in der Menge Ausschau nach dem Freund, der den ganzen Weg von Providence gekommen war, um ihn vom Flughafen abzuholen und nach Amherst zu fahren.

Aber sein Freund konnte nicht Auto fahren, deswegen versprach er seinerseits einem anderen Freund, einem Mann, den mein Vater nicht kannte, ein Mittagessen, für die Fahrt zum Flughafen von Boston und dann nach Amherst und schließlich zurück nach Providence. Die zwei jungen Männer begrüßten meinen Vater am Gate, schlugen einander auf den Rücken, brachten ihn zum Wagen und verstauten seinen irdischen Besitz – vor allem Lehrbücher und Pullover – im Kofferraum. Dann machten sie sich auf den Weg nach Bostons Chinatown, ein Portal zurück in die Welt, die sie verlassen hatten. Kameradschaft und Wohlwollen waren Grund genug für eine stundenlange Fahrt, um jemanden vom Flughafen abzuholen; ebenso wichtig war die Nähe des Flughafens zu Essen, das man in kleinen College-Städten im Nordosten nicht bekommen konnte.

In den folgenden Jahren erwarb mein Vater, ein williger Exilant weit weg von zu Hause, diverse Eigenschaften, die ihn als Amerikaner gekennzeichnet hätten. Er lebte in New York, war Zeuge von und Teilnehmer an Studentenprotesten und hatte – dafür gibt es fotografische Beweise – lange Haare und trug entfernt modische Hosen. Er kam als Fan klassischer Musik an, doch nach ein paar Jahren war »House of the Rising Sun« von den Animals sein Lieblingssong. Er abonnierte für kurze Zeit den New Yorker, bevor ihm klar wurde, dass er nicht für Neuankömmlinge wie ihn bestimmt war, und er Rückerstattung forderte. Er entdeckte den Reiz von Pizza und Rum-Rosinen-Eis. Wann immer neue Doktoranden aus Taiwan ankamen, setzten sich er und seine Freunde in den nächsten verfügbaren Wagen, um sie abzuholen. Es war ein Ritual, und es war eine Art Freiheit – unterwegs zu sein und wahrscheinlich gut zu essen –, die sie sich nicht entgehen ließen.

Wenn Amerikaner damals etwas über Taiwan wussten, dann dass es eine obskure Insel in der Nähe von China und Japan war, auf der billige Plastiksachen für den Export produziert wurden. Als meine Mutter ein Kind war, stellte ihr Vater eine Tafel in der Küche auf, auf die er jeden Tag ein neues englisches Wort schrieb. Im Zweiten Weltkrieg hatte mein Großvater das Medizinstudium abgebrochen, später arbeitete er im öffentlichen Dienst. Für seine Kinder wollte er ein bisschen mehr. Meine Großeltern ließen meine Mutter und ihre Geschwister amerikanische Namen wie Henry oder Carol wählen. Die Kinder lernten die Grundlagen des Englischen, dieser bizarren neuen Sprache, mit der sie sich eine neue Zukunft aufbauen könnten. Vom Rest der englischsprechenden Welt erfuhren sie dank eines Abonnements der Zeitschrift Life, in der meine Mom zum ersten Mal über etwas namens Chinatown in Amerika las.

Als sie 1971 in den Vereinigten Staaten ankam (Taipeh – Tokio – San Francisco) hatte die Familie, die sie abholte, den Anstand, einen Tag zu warten, sodass sie sich von der langen Reise erholen konnte, bevor sie mit ihr chinesisch essen ging. Sie war auf dem Weg zur Michigan State, um öffentliches Gesundheitswesen zu studieren. Kurz nachdem sie in East Lansing angekommen war, einen Mietvertrag unterschrieben, sich für ihre Kurse angemeldet und einen Stapel Lehrbücher gekauft hatte, erhielt sie eine Nachricht von ihrem Vater. Während sie unterwegs nach Michigan gewesen war, hatte ihre Familie in Taipeh ein Schreiben erhalten, dass sie an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign, ihre erste Wahl, angenommen worden war. Meine Mutter holte zurück, was an Studiengebühren von der Michigan State zurückzuholen war, und brach nach Illinois auf.

In den Sechzigern bildeten die Studierenden aus der chinesischsprechenden Welt in diesen kleinen, relativ entlegenen College-Städten Gemeinschaften. Die meisten gewöhnten sich an die jahreszeitlichen Veränderungen, die anderen Register höflicher Floskeln, die hügeligen Felder und die endlosen Highways. Das College verankerte meine Mutter im Mittleren Westen, doch sie kam herum: ein Job im Gemeindezentrum von Kankakee, wo sie die einzige nicht-Schwarze Person war – ihr erster Blick aus nächster Nähe auf Amerikas Kluft zwischen den Ethnien; ein Sommer als Kellnerin, als sie jeden Tag Eis zu Mittag aß. Doch manche ihrer Kommilitonen und Kommilitoninnen kamen mit diesem radikal neuen Kontext nicht zurecht oder vielleicht fehlte ihnen ein solcher. Sie erinnert sich noch an ein Mädchen, das überhaupt nicht mehr zum Unterricht ging und nur noch über den Campus wanderte. Sogar im Hochsommer trug sie ihren dicksten Wintermantel. Alle anderen Studierenden aus Taiwan mieden sie.

Es gab gemeinsame Essen mit Freunden, für die meine Mutter Fleischbällchen aus Schweinefleisch machte, Ausflüge zu berühmten Sehenswürdigkeiten oder zu Lebensmittelläden, die Pak Choy führten, die Betriebsamkeit des Lebens in einem Wohnheim. Studierende aus Taiwan erkannte man an ihrem Tatung-Reiskocher. Meine Mutter begann zu malen, meist abstrakt und surreal, Farbmuster, die auf keine eindeutige Stimmung schließen ließen. Als ich sie später fragte, ob sie Drogen genommen hatte, wenn sie malte, versicherte sie mir, dass sie damals nie Marihuana geraucht habe, doch sie könne sich noch an den Geruch erinnern.

Nach zwei Jahren an der University of Massachusetts Amherst wechselte mein Vater an die Columbia University. Von dort folgte er seinem wissenschaftlichen Betreuer an die University of Illinois, und dort lernten sich meine Eltern kennen. Sie heirateten in einem Studentenzentrum auf dem Campus; hätten sie näher als drei Stunden Fahrt an der nächsten Chinatown gelebt, hätten sie in einem Restaurant ein Bankett veranstalten können. Der Bruder meiner Mutter, der Taiwan mit der Handelsmarine verlassen und in Virginia gelandet war, war die einzige Person aus beiden Familien, die zur Hochzeit kommen konnte. Zumindest waren ihre Freunde dabei. Einer war Künstler und zeichnete Snoopy und Woodstock auf ein Stück Pappe und stellte es im Gras vor dem Studentenzentrum auf. Alle brachten ihr Lieblingsgericht mit.

 

Migration wird oft mit dem Konzept einer Push-and-Pull-Dynamik erklärt: Etwas stößt dich von zu Hause weg; etwas anderes zieht dich weit fort. Möglichkeiten versiegen an einem Ort und ergeben sich an einem anderen, und man folgt dem Versprechen einer scheinbar besseren Zukunft. Versionen dieser Wanderungsbewegungen in alle möglichen Richtungen reichen Jahrhunderte zurück.

Im 19. Jahrhundert waren England und China einvernehmliche Handelspartner, die Briten tauschten Silber gegen chinesischen Tee, Seide und Porzellan. Doch die Briten suchten ihren Vorteil. Sie begannen in Indien Opium anzubauen und brachten es nach China, wo es von Schmugglern im ganzen Land verteilt wurde. Die Chinesen versuchten schließlich, sich von der Droge zu entwöhnen und drohten, die chinesischen Häfen eines Tages für britische Schiffe zu schließen. Die folgenden Opium-Kriege verwüsteten den Südosten Chinas zu einer Zeit, als im Westen Amerikas billige Arbeitskräfte gebraucht wurden. In den 1840er und 1850er Jahren verließen Schiffsladungen voller chinesischer Männer die kriegsgebeutelte Provinz Guangdong Richtung Amerika, angelockt von dem Versprechen, dort Arbeit zu finden. Sie verlegten Eisenbahngleise, schürften Gold und gingen überhallhin, wo sie gebraucht wurden. Doch das war auch schon die Grenze ihrer Mobilität. Aufgrund komplizierter gesetzlicher Vorgaben und sozialem Druck eingepfercht in den heruntergekommensten Vierteln der Städte – und ohne die Mittel (und manchmal ohne den Wunsch), nach Hause zurückzukehren –, begannen sie selbsttragende Chinatowns zu bauen, um sich gegenseitig mit Essen zu versorgen, zu beschützen und aufeinander aufzupassen. Ab 1880 brauchte die amerikanische Wirtschaft keine billigen ausländischen Arbeitskräfte mehr, und das hatte eine strikte Politik zur Folge, die Einwanderung aus China jahrzehntelang begrenzte.

Diese Push-and-Pull-Dynamik war noch am Werk, als der Immigration Act von 1965 die restriktive Einwanderungspolitik für Personen aus Asien lockerte, zumindest für die, die etwas Konkretes zur amerikanischen Gesellschaft beizutragen hatten. Die amerikanische Politik glaubte, dass Amerika den Kalten Krieg um Wissenschaft und Innovation verlieren würde, weswegen das Land Studierende wie meine Eltern willkommen hieß. Und wer wusste schon, wie die Zukunft in Taiwan aussehen würde? In der Neuen Welt schien alles kontinuierlich aufwärts zu gehen. Meine Eltern zog es nicht aufgrund eines konkreten Traums in die Vereinigten Staaten, sondern nur wegen der Chance auf etwas anderes. Schon damals begriffen sie, dass das Leben in Amerika grenzenlose Versprechen und Heuchelei, Glauben und Gier, neue Facetten von Freude und Selbstzweifel bedeutete, Freiheit dank Sklaverei. Und all das zur gleichen Zeit.

 

Meine Eltern machten in ihren Flitterwochen eine lange Autofahrt von Illinois an die Ostküste und fotografierten unterwegs. Sie erinnern sich nur in Bruchstücken an diese Reise, da alle nicht entwickelten Filmrollen in Manhattan gestohlen wurden, als jemand bei helllichtem Tag in ihr Auto einbrach.

Ich wurde 1977 in Urbana-Champaign geboren. Mein Dad hatte Professor werden wollen. Doch als er keine akademische Stelle fand, zogen wir nach Texas, wo er als Ingenieur arbeitete. In den Vororten von Dallas gab es jede Menge Platz. Man konnte sich in dieser Weite verlaufen. Vor ein paar Jahren fand ich einen kleinen, bröseligen, vergilbten Zeitungsausschnitt aus den frühen achtziger Jahren – eine Anzeige, die meine Mutter in der Lokalzeitung aufgegeben hatte:

CHINESISCHEKÜCHE – lernen Sie, exotische Gerichte zu kochen mit Zutaten und Utensilien, die einfach zu finden sind. $ 12 pro Stunde. Für weitere Informationen rufen sie Mrs. Hsu an unter: 867–0712.

Niemand rief an. Als ich anfing, mit Südstaatenakzent zu sprechen und mir Cowboystiefel und einen amerikanischen Namen wünschte, und nachdem ihnen gesagt worden war, dass das örtliche Steakhouse nicht »für ihresgleichen« sei, beschlossen sie, ihr Glück woanders zu versuchen.

Die früheren Adressen meiner Eltern sind eine Geschichte von Freundschaften und Bekanntschaften: ein Zimmer auf jemandes Dachboden, Besuche bei Freunden der Familie, von denen sie nur gehört, die sie jedoch noch nie getroffen hatten, ein Sommerjob in einer ein paar Stunden entfernten Kleinstadt, eine Arbeitsstelle in einem unbekannten aufstrebenden Bereich. Sie träumten nicht so sehr von einer Großstadt, als dass sie vielmehr die Nähe zu Freunden, chinesischem Essen, einer guten Schule, einem Altersheim mitbedachten. Nach Texas hieß es entweder Delaware oder Kalifornien, und sie entschieden sich für Kalifornien.

Als wir 1986 ankamen, begann sich Cupertino gerade zu verändern. Es gab eine riesige Fabrik, Farmen und ein paar Apple-Gebäude, die wie ein Witz wirkten. Niemand hatte damals einen Computer von Apple.

Bei Vororten geht es um die gemächliche Eroberung von Raum, eine Alternative zur unbehaglichen Gedrängtheit in den Innenstädten. Sie scheinen nichts mit Geschichte zu tun zu haben, bieten das Gefühl, dass hier zuvor nichts existierte. Doch die Illusion der Beschaulichkeit franst an den Rändern aus: die Neurose, die erforderlich ist, um den Rasen ständig so ordentlich zu pflegen, die sauberen Gehwege, auf denen nie jemand geht, die heiligen Kriege, die geführt werden, damit die nächste Gemeinde nicht in diese einsickert. Vororte beanspruchen Stabilität und Konformität, sind jedoch selten der Tradition verpflichtet. Vielmehr sind sie Tafeln, die sauber gewischt werden können, um neue Sehnsüchte aufzunehmen.

Als das Silicon Valley in den später Achtzigern und frühen Neunzigern florierte, siedelten sich immer mehr Menschen aus Asien in Cupertino an. Alle meine Großeltern zogen von Taiwan in die South Bay, und die meisten der Brüder und Schwestern meiner Eltern ebenfalls. Taiwan war nur noch eine ferne und unwirkliche frühere Heimat. Die Orte im Silicon Valley waren offen für eine mäandrierende, allmähliche Transformation; schlecht laufende Geschäfte wurden von Wellen immer neuer Immigranten übernommen, Einkaufszentren verwandelten sich Laden nach Laden in übervolle Inseln mit chinesischem Essen und dem neuesten asymmetrischen Haarschnitt. Es entstanden Bubble-Tea-Cafés und miteinander konkurrierende chinesische Buchhandlungen, auf den Parkplätzen ein Labyrinth getunter Hondas und Mütter, die Gesichtsschutzschirme und armlange Handschuhe trugen in der Hoffnung, ihre blasse Haut zu bewahren.

Spuren vergangener Zeiten blieben, Zyklen von Gebrauch und Wiederverwendung: Cherry Tree Lane, wo einst tatsächlich ein Obstgarten die bestmögliche Nutzung einer leeren Fläche gewesen war; das spitze Dach eines früheren Sizzler-Steakhouse, jetzt ein Dim-Sum-Laden; der kitschige Eisenbahnwagen-Diner umgewandelt in einen Nudel-Shop. Köche aus Hongkong und Taiwan gesellten sich zu den Wellen an Ingenieuren, die nach Kalifornien kamen. Der Druck, auch nicht-chinesische Kundschaft und Gäste anzusprechen, löste sich auf. Das Konzept des »Mainstream« war Vergangenheit. Nackenknochen vom Schwein, Hühnerfüße und unterschiedliche gallertartige Dinge, synchronisierte VHS-Kassetten der letzten taiwanesischen Dramen, chinesischsprachige Zeitungen und Bücher: All das bezahlte die Rechnungen und mehr als das.

Mir wurde klar, vor wie langer Zeit meine Eltern Taiwan verlassen hatten, als meine Mutter begann, sich über die neu aus China eingewanderten Leute zu beschweren – dass sie die Einkaufswagen auf dem Parkplatz des asiatischen Lebensmittelladens verstreut stehen ließen. Die Unterschiede zwischen einem Immigranten aus Taiwan in den Siebzigern und jemandem, der in den Neunzigern aus China kam, waren für jemanden außerhalb der chinesischsprechenden Diaspora wahrscheinlich nicht wahrnehmbar. Sie sahen mehr oder weniger gleich aus, und wahrscheinlich sprachen beide mit Akzent. Doch sie hatten unterschiedliche Beziehungen zur amerikanischen Kultur und der Frage, wo ihr Platz darin war. Diese neuen Immigranten mit dem schlechten Benehmen wussten wahrscheinlich nicht einmal, dass es in der ganzen Gegend einst nur einen einzigen chinesischen Supermarkt gegeben hatte, der nicht einmal besonders gut gewesen war und zu dem man eine halbe Stunde mit dem Auto hatte fahren müssen.

 

Unter den Dingen, die die frühen frugalen Jahre meiner Eltern überlebten, sind zerfledderte Taschenbuchausgaben der Bestseller Der Zukunftsschock und Die Pentagon-Papiere. Eine Broschur von Theodore Allens »Class Struggle and the Origin of Racial Slavery: The Invention of the White Race«, auf deren Umschlag quer C. HSU geschrieben war. Ein Buch über Nixons Besuch in China, ein anderes über afroamerikanische Geschichte.

Vielleicht war es das, was es bedeutete, in Amerika zu leben. Man konnte herumziehen. Man hatte Möglichkeiten, die zu Hause nicht verfügbar waren. Man konnte sich neu definieren als Kirchgänger, Pizza-Fan, Liebhaber von klassischer Musik oder Bob Dylan, Anhänger der Dallas Cowboys, weil alle anderen in der Nachbarschaft es zu sein schienen. Für kurze Zeit spielte mein Vater mit der Idee, seinen Namen zu anglisieren, und wollte Eric genannt werden, doch schnell wurde ihm klar, dass Assimilation in dieser Größenordnung nicht zu ihm passte. Man konnte seine Kinder nach Präsidenten der USA nennen. Oder man konnte ihnen einen nicht auszusprechenden Namen geben, weil sie sowieso nie Präsident werden würden.

Von Amherst nach Manhattan nach Urbana-Champaign nach Plano nach Richardson nach Mission Viejo nach Cupertino: Dabei waren immer die Schallplatten, ein alter Plattenspieler, den mein Vater selbst zusammengelötet hatte, ein Paar Dynatone-Lautsprecher. Er fing mit seiner Musiksammlung sofort nach seiner Ankunft in Amerika an. Zuerst bei einem Postversand-LP-Club, bei dem man für ein paar Platten zu viel bezahlte und dann ein Dutzend für einen Penny bekam. Damals war es überwiegend klassische Musik. Doch irgendwann in den Sechzigern gewöhnte er sich an Bob Dylans angestrengtes heiseres Krächzen in der Wohnung eines Nachbarn. Er fing an, Dylan-Platten zu kaufen, lernte seine dünne, seltsame Stimme schätzen, liebte sie vielleicht sogar mehr, als er je die Texte verstand.

Seine Platten blieben, wenn möglich, immer in der originalen Schutzfolie, um zu vermeiden, dass die Hülle aus Pappe abgenutzt wurde. Er zog ein Stück der Folie zurück, um seinen Namen auf die Hülle zu stempeln – Hsu Chung-Shih. Manche der Platten verschenkte er im Lauf der Jahre, aber der Kern blieb bestehen: Dylan, die Beatles und die Stones, Neil Young, Aretha Franklin, Ray Charles. Ein paar von The Who, Jimi Hendrix, Pink Floyd, ein paar Motown-Samplers. Viel klassische Musik. Blind Faith, weil ein älteres Mitglied der Fakultät von den Westindischen Inseln, als meine Eltern noch studierten, während einer Dinnerparty seine Geige herausholte und das Solo von »Sea of Joy« spielte. Soloalben von John Lennon und George Harrison, doch keins von Paul McCartney, weswegen ich annahm, dass seine Karriere nach der Auflösung der Beatles schrecklich gewesen sein musste. Keine Beach Boys hieß, dass sie wahrscheinlich auch schrecklich waren. Kein Jazz außer einem einzigen Album von Sonny und Linda Sharrock, das noch eingeschweißt war. Sie spielten Thriller so oft, dass ich vermutete, Michael Jackson sei ein Freund der Familie.

Die Plattensammlung meines Vaters bewirkte lediglich, dass mir Musik uncool erschien. Es war etwas, das Erwachsene ernst nahmen. Er hörte Guns N’ Roses, während ich Baseballspiele im Radio hörte. Er nahm stundenlang MTV auf Videokassetten auf und machte auf einem anderen Recorder aus seinen Fundstücken ein Greatest-Hits-Tape. Er war es, der ständig zu Tower Records ging, durch die Gänge schlenderte und seine alten Lieblingssongs in dem neuen Format, das gerade verfügbar war, kaufte. Er kaufte Magazine wie Rolling Stone und Spin und schrieb gewissenhaft ihre Listen der besten Alben des Jahres oder des Jahrzehnts ab und suchte dann nach denen, von denen er glaubte, dass sie ihm gefallen würden.

Zu Beginn der Mittelschule stellte ich fest, dass die Plattenkäufe meines Vaters mich für die sozialen Hierarchien in der Pause vorbereitet hatten. Ich fing an, MTV zu sehen und Musik im Radio zu hören, erfuhr früh genug von Dingen, um nicht als Poser zu erscheinen, was ich mehr als alles andere fürchtete. Ich erwarb das Hitparaden-Know-how, das die verlässlichste Ware des Teenagers ist, indem ich die Zeitschriften meines Dads las, mir die Namen von Bands, Querverbindungen und vermischte Trivialitäten einprägte. Und jetzt begleitete ich ihn auch bei seinen Ausflügen zum Plattenladen nach dem Abendessen. Wir schienen dort Stunden getrennt zu verbringen und trafen uns gelegentlich an einer unwahrscheinlichen Stelle. Alles schien eine Möglichkeit, ein Schlüssel, eine Einladung, neue, nie dagewesene emotionale Welten zu erleben. Wir begeisterten uns für dieselbe Musik, doch sie zeigte uns unterschiedliche Dinge. Ich hörte Slashs großartiges forschendes Gitarrensolo in »November Rain« und hörte Befreiung, die Andeutung, dass eine verrückte, leidenschaftliche Vision einen davontragen konnte, irgendwo anders hin. Für meine Eltern war Slashs Größe der Beweis für virtuoses Geschick, das Ergebnis tausender Stunden des Lernens und Übens.

Als das Silicon Valley in den frühen neunziger Jahren boomte, boomte auch Taiwans Halbleiter-Industrie. Bald begannen die Freunde meiner Eltern nach Jahrzehnten im Ausland zurückzuziehen, behielten Wohnsitze in beiden Ländern bei, damit ihre Kinder die Highschool abschließen und in den USA aufs College gehen konnten. Gegen Ende der Achtziger war mein Vater in Amerika ins mittlere Management aufgestiegen. Doch er hatte die Aufstiegsleiter satt, auf der willkürliche Faktoren wie Hautfarbe oder Stimmlage das Erreichen der obersten Sprossen zu beeinflussen schienen. Meine Eltern entschieden schließlich, dass auch er nach Taiwan zurückkehren würde. Eine Stelle als Führungskraft erwartete ihn. Er würde sich nie wieder die Haare färben oder seine Golfschläger anfassen müssen. Wir kauften zwei Faxgeräte.

Manchmal traf ich am Flughafen Mitschüler und realisierte, dass wir alle dort waren, um unsere Väter zu verabschieden, die zur Arbeit flogen. Wir lebten in einer der wenigen Städte in Amerika, wo dieses Arrangement nicht schwer zu erklären war. Es war ein bisschen wie »Der goldene Berg«, ein chinesisches Märchen über die Chancen in Amerika, das sich seit dem Goldrausch hielt. Nur dass damals die Männer den Pazifik auf der Suche nach Arbeit in Amerika überquert hatten und nicht umgekehrt.

 

Die erste Generation denkt ans Überleben; die folgenden Generationen erzählen die Geschichten. Ich versuche oft, die Einzelheiten und kleinen Einflussnahmen im Leben meiner Eltern zu einem Narrativ zusammenzufassen. Wie erwarben sie einen Sinn für Geschmack oder entschieden, welche Filme sie sehen wollten? Erkannten sie sich in Der Zukunftsschock wieder? Und wer war der einflussreiche Eric im Leben meines Vaters? Die Dinge um sie herum waren wie das Rohmaterial für neue amerikanische Identitäten, und sie strömten so weit aus, wie das Auto oder die U-Bahn sie brachte. Damals brauchte es ein kleines Vermögen und Monate sorgfältiger Planung, um nach Hause zurückzukehren. Es dauerte Wochen, um ein Auslandsgespräch zu organisieren und sicher zu sein, dass eine ausreichende Zahl Familienmitglieder am anderen Ende der Leitung verfügbar war.

Sie waren gekommen, um an amerikanischen Colleges und Universitäten zu studieren, die ihren chinesischen Entsprechungen weit überlegen waren, doch die Belohnung für ihr verrücktes Streben stand noch aus. Sie hatten sich für gelegentliche Einsamkeit, einen wechselvollen Lebensstil, die Sprachbarriere entschieden. Wofür sie sich nicht entschieden hatten, war die Identifikation als asiatisch-amerikanisch, eine Kategorie, die erst in den späten sechziger Jahren geprägt wurde. Sie hatten wenig gemein mit den in Amerika geborenen chinesischen oder japanischen Studierenden, die auf der anderen Seite des Campus für Redefreiheit und Bürgerrechte eintraten; sie wussten wenig über den Chinese Exclusion Act, Charlie Chan oder warum man zutiefst gekränkt sein sollte wegen einer Verunglimpfung als »orientalisch« oder »Schlitzauge«. Die Generation meiner Eltern hätte nicht bemerkt, dass sie eine »Vorzeige-Minderheit« repräsentierten. Sie hatten nicht geplant, Amerikaner und Amerikanerinnen zu werden. Sie wussten gar nicht, dass es ihnen überhaupt möglich war. Sie fühlten sich der Welt, die sie zurückgelassen hatten, zugehörig.

Wie herzlich und musikalisch diese Telefongespräche gewesen sein müssen. Wie war es für sie, ihre Heimat zu verlassen und den Pazifik zu überqueren mit nur ganz vagen Plänen je zurückzukehren? In Ermangelung verfügbarer Verbindungen hielten sie fest an einem imaginären Taiwan, mehr eine Abstraktion – ein Leuchtfeuer, ein Phantomglied – als eine tatsächliche Insel. Die damals verfügbare Technologie brachte sie nur zu speziellen Gelegenheiten dorthin. Deswegen suchten sie nach Spuren von Zuhause in den Gesichtern ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen; sie hörten sie aus dem Lärm heraus, wenn sie Lebensmittel einkauften.

Jetzt konnten meine Eltern kommen und gehen, wann immer sie wollten. Meine Mutter verbrachte in den Neunzigern viel Zeit in Flugzeugen. Sie lernten Taiwan neu kennen. Wir lebten in Hsinchu, einer kleinen Küstenstadt ungefähr 40 Minuten südlich des Flughafens Taoyuan. Hsinchu war vor allem für seine böigen Winde und Fleischbällchen aus Meeresfrüchten bekannt. Es ging noch langsam und verschlafen zu, nur dass sich jetzt neben der Autobahn ein riesiger Hightech-Campus befand, in dem sich alle Halbleiterfirmen angesiedelt hatten. In der Stadt entstanden gigantische Einkaufszentren.

An den Wochenenden fuhren meine Eltern nach Taipeh, um in alte Teehäuser und Kinos zu gehen, an die sie sich aus den Fünfzigern und Sechzigern erinnerten. Sie brauchten keine Straßenkarten. Ihre Erinnerung, welche Stände die besten Baos servierten, war von den Jahrzehnten im Ausland nicht getrübt. In Taiwan wurden meine Eltern jünger; die Luftfeuchtigkeit und das Essen machten sie zu anderen Menschen. Ich fühlte mich manchmal wie ein Eindringling, wenn wir auf verwitterten Holzhockern saßen und schweigend riesige Schüsseln Nudelsuppe mit Rindfleisch aßen, was in Amerika einen romantischen Monolog über Kindheitserinnerungen zur Folge gehabt hätte.

Ich verbrachte jedes Jahr zwei, drei Monate in Taiwan. Ich bestand immer darauf ICRT zu hören, einen englischsprachigen Radiosender, wegen Casey Kasems American Top 40