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Kapitänin Octavia Pye fällt buchstäblich aus allen Wolken, als sie zwei merkwürdig gekleidete blinde Passagiere an Bord ihres Luftschiffs entdeckt. Den Computertechniker Jack Fletcher und seine Schwester hat es in Octavias Welt verschlagen, nachdem eines von Jacks nanomechanischen Experimenten schiefgegangen ist. Octavia will ihre ungebetenen Gäste so schnell wie möglich wieder los werden, obwohl sie für Jack schon bald tiefe Gefühle hegt. Da erfahren sie von einem geplanten Attentat, das einen Krieg auslösen könnte. Nur gemeinsam kann es ihnen gelingen, das Schlimmste zu verhindern ...
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Seitenzahl: 431
Titel
Danksagung
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Glossar
Impressum
Katie MacAlister
Roman
Ins Deutsche übertragen vonMargarethe van Pée
Mein allerherzlichster Dank geht an Aleta Pardalis, Zita Hildebrandt und Kat Robb, die mich immer unterstützen, ganz gleich, wie verrückt die Situation ist. Ich hoffe, euch allen gefällt dieser kleine Vorgeschmack auf etwas Neues und Anderes.
1
Verfluchte Schwestern
»Guten Morgen, Jack. Ist das ein Molekulardetektor in deiner Tasche oder freust du dich nur, mich zu sehen?«
Die Stimme, die ertönte, als ich vorbeiging, war weiblich, sanft und erotisch wie die Sünde. Ich blieb stehen und grinste eine der beiden Frauen an, die hinter dem großen, nierenförmigen Empfangstisch standen, der die Eingangshalle des Nordic-Tech-Gebäudes zierte. »Morgen, Karin. Würde es gegen die Personalrichtlinien verstoßen, wenn ich dir sagen würde, wie gut mir dieses Oberteil gefällt?«
Die rothaarige Empfangsdame kicherte und beugte sich vor, um mir einen besseren Einblick in ihren Ausschnitt zu gewähren. Sie hatte ein Top an, das sie freitags, wenn lässigere Kleidung erlaubt war, gerne trug. »Wahrscheinlich, aber ich verrate es keinem. Du kennst meine Grundsätze, Jack.«
»Was in der Rezeption geschieht, bleibt auch in der Rezeption?«, fragte ich augenzwinkernd.
Sie kicherte wieder. »Ganz schön frech. In Khaki siehst du übrigens zum Anbeißen aus. Ist das das neue Shirt der Airship Pirates?«
»Ja.IchhabesiegesternAbendinderGießereigesehen«,antworteteich.DaswareinLokal,indemGruppenauftraten,diesicheinwenigabseitsdesMainstreamsbewegten.Ichdrehtemich,damitsiedieRückseitedesShirtsbewundernkonnte.
»Oh, und ich hatte gehofft, du würdest mich mitnehmen.« Schmollend verzog sie die Lippen und beugte sich noch ein bisschen weiter vor. Sie ließ einen Finger über meinen Arm gleiten. »Wir hatten so viel Spaß, als wir das letzte Mal zusammen ausgegangen sind. Na ja, jedenfalls, bis mir schlecht wurde und ich nach Hause fahren musste, aber ich bin mir sicher, dass es wieder lustig werden könnte.«
Sie schwieg, anscheinend um mir Gelegenheit zu geben, sie erneut einzuladen, aber die Erinnerung daran, wie sie völlig betrunken hinten in meinem Auto gelegen hatte – ganz zu schweigen davon, dass es mich ein Vermögen gekostet hatte, die Sitze zu reinigen und den Gestank aus dem Auto zu bekommen –, hielt mich davon ab, noch einmal eine Einladung auszusprechen.
Es war jedoch nicht Jack Fletcher, den sie wollte. Es war der falsche Jack, der ihr gefiel, der fiktive Jack, dem irgendwie der Ruf eines wilden Casanovas anhing. Ich tat also, was von mir erwartet wurde, und beugte mich lüstern über ihr Dekolleté. »Du weißt doch, dass ich die Finger nicht von dir lassen könnte, wenn dein Freund nicht wäre.«
»Ach der«, erwiderte sie affektiert und fuhr mit den Fingern über meine Hand. »Jerry ist auf jeden eifersüchtig.«
»Als er mich das letzte Mal gesehen hat, hat er gedroht, mir den Kopf abzureißen und mir in den Hals zu spucken«, vertraute ich ihr in verschwörerischem Flüsterton an. »Ich glaube, das hat er ernst gemeint.«
»Ich glaube dir nicht eine Minute, dass du Angst vor Jerry hast«, sagte sie kokett, blickte mich aber erfreut an. »Du doch nicht. Nicht der berühmte Jack Fletcher. Oh, Jack, das ist übrigens Minerva. Sie vertritt mich, wenn ich zwei Wochen Urlaub in Cancún mache.«
Ein mädchenhaftes Gesicht mit großen, irgendwie leeren Augen schob sich in mein Gesichtsfeld. »Hi, Dr. Fletcher. Karin hat mir schon so viel von Ihnen erzählt.«
»Glauben Sie ihr kein Wort«, warnte ich sie und zwinkerte auch ihr zu. Schließlich hatte ich einen Ruf zu verlieren. »Ich bezweifle, dass irgendwas davon wahr ist.«
»Natürlich ist es wahr«, protestierte Karin. Sie schob sich ein bisschen weiter über die Theke, damit ihre Brust gegen meinen Arm drückte. »Jeder weiß doch, dass du ein Held bist! Du bist nur zu bescheiden, es zuzugeben.«
Vielleicht hatte ich auch nur resigniert, weil die Leute so konsequent die Wahrheit ignorierten und lieber der viel attraktiveren, unterhaltsameren Legende anhingen, die vor ein paar Jahren ihren Anfang genommen hatte.
»Karin sagte, Sie hätten in Kairo einen berüchtigten Ring von Industriespionen aufgespürt«, warf Minerva, atemlos vor Erregung, ein. Sie wollte sich ebenfalls über die Theke beugen, aber ein strenger Blick ihrer Freundin hielt sie davon ab.
»Er hat sie nicht nur aufgespürt – er hat sie zu Brei geschlagen und geheime Pläne für die Regierung gerettet.«
MinervagabbewunderndeLautevonsichundsahmichanwieeinenHelden.DerAufrichtigkeithalberkorrigierteichKarin.»Ichhabesienichtaufgespürt,sondernbinzufälligaufdieLeutegestoßen,dieGeheiminformationenverkaufthaben.Siedachten,ichwäreihnenaufdenFersen,aberinWahrheithatteichmichnurverirrt,alsichzumHotelzurückwollte,ummeineReisegruppewiederzufinden.IchwarnochnichteinmalinGefahrgewesen,weilInterpolsiedieganzeZeitüberwachthatundsichaußerdemdieKairoerPolizeiaufdemBasarversteckthielt.VoneinemgefährlichenAbenteuerkannalsokaumdieRedesein.«
»Und dann noch Alaska«, sagte Karin, die die langweilige Wahrheit ebenso hartnäckig ignorierte wie jeder andere, wenn ich zu erklären versuchte, was wirklich in Kairo passiert war.
»Alaska?«, fragte Minerva. »Was war mit Alaska?«
Karin wandte sich an ihre Freundin. »Das war einfach unglaublich. Es steht auf der Homepage von Greenpeace.«
Innerlich stöhnend bereitete ich mich darauf vor, auch das richtig zu stellen.
»Was ist denn da passiert?«, fragte Minerva fasziniert.
»Ich war im Urlaub, habe geangelt, und das von mir gemietete Boot hatte einen Motorschaden. Ein Schiff mit Tierschützern hat mich an Bord genommen, und sie …«
»Er hat einen Walfänger gekidnappt!«, unterbrach Karin mich triumphierend und strahlte mich an.
»Ooohh!«, hauchte Minverva.
»Ich habe noch nicht einmal zur Gruppe gehört«, sagte ich rasch. Warum wollte eigentlich nie jemand glauben, dass ich immer nur das Opfer widriger Umstände war? »Mein Motor sprang nicht mehr an, und die Greenpeace-Leute haben mich aufgenommen. Sie wollten gerade einen Walfänger angreifen. Es war reiner Zufall, dass ich zur gleichen Zeit auf dem Schiff war, und dieses Foto von mir, wo ich eine Pistole auf den Kapitän richte, war einfach total irreführend. Sie war ihm aus der Hand gefallen, und ich wollte sie ihm gerade zurückgeben, als ein Fotograf dieses Foto von uns …«
»Du bist dafür ins Gefängnis gegangen, nicht wahr?«, fragte Karin. Sie drückte meinen Arm und blickte mich voller Mitgefühl an.
»Drei Monate«, erwiderte ich resigniert. »So lange hat mein Anwalt gebraucht, um den Richter davon zu überzeugen, dass ich mit dem ganzen Walfang-Fiasko nichts zu tun hatte.«
»Aber das Tollste war Mexiko«, sagte Karin zu Minerva.
»Ich liebe aufregende Geschichten«, gestand Minerva und ergriff meinen anderen Arm. »Was ist da passiert? Das muss ich unbedingt wissen!«
»Ach, du lieber Himmel, nicht Mexiko. Es lohnt sich nicht, darüber auch nur ein Wort zu verlieren …«
»Jack war geschäftlich mit Mr Sawyer in Mexico City, und Mr Sawyer wurde von radikalen mexikanischen Antitechnologie-Fanatikern gekidnappt!«, erklärte Karin mit ernstem Gesicht. »Die Fanatiker wollten Mr Sawyer gerade auf einem Maya-Altar opfern, als Jack ihn gerettet hat! Er hat ihm das Leben gerettet!«
»Mr Sawyer das Leben gerettet!«, keuchte Minerva.
Dass jetzt auch noch ein Maya-Altar zu dem ganzen Blödsinn hinzukam, war mir zu viel. »Es gab keinen Altar«, sagte ich mit fester Stimme.
»Mr Sawyer hat ihm ewige Dankbarkeit geschworen«, sagte Karin und nickte heftig.
»Und eigentlich war es gar keine Gruppe radikaler Fanatiker, sondern zwei Arbeitslose, die Mr Sawyers Limousine mit der des Arbeitsministers verwechselt hatten.«
»Er hat Jack einen Job auf Lebenszeit in seinem Unternehmen zugesichert«, fuhr Karin fort.
»Als ihnen ihr Fehler klargeworden ist, haben sie uns sofort ins Hotel zurückgefahren«, sagte ich verzweifelt. Warum zum Teufel hörte mir nie einer zu?
»Nun, das hätte ich auch gemacht«, erwiderte Minerva. »Ich würde mir ja in die Hose machen vor Angst, wenn ich auf einem Maya-Altar geopfert werden sollte! Das war so mutig von Mr Fletcher!«
»Die ganze Sache geriet erst außer Kontrolle, als bei der Polizei eine Anzeige wegen Entführung einging und sie das Militär eingesetzt haben, um uns zu suchen. Dabei war das lächerlich, weil wir um diese Zeit schon längst wieder heil im Hotel waren, am Pool lagen und Margaritas tranken. Erst am nächsten Tag wurde uns klar, dass sie nach uns suchten«, sagte ich, aber ich wusste bereits, dass ich meinen Atem vergeudete. Ich erlebte schließlich nicht zum ersten Mal, dass die Leute nur das hören, was sie hören wollen.
»Nun, Jack war nämlich beim Militär«, fuhr Karin fort. Ihre Stimme sank zu einer vertraulichen Lautstärke herab, wobei sie anscheinend vergaß, dass ich direkt vor ihr stand. »Geheime militärische Studien.«
»Wow.« Minerva riss die Augen auf. »Was für Studien?«
»Ich weiß nicht, aber es muss etwas ziemlich Heikles gewesen sein, weil Jack nie darüber redet.«
Seufzend ergriff ich meine Aktentasche und die Morgenzeitung und eilte zur Treppe.
»Er ist wie Indiana Jones, nicht?«, hörte ich Minerva sagen, als ich die Treppe zum vierten Stock hinaufging, wo mein Büro lag. »Bis hin zum Hut. Ob er wohl auch so eine lange Peitsche hat, die er sich um die Taille wickeln kann?«
»Er müsste eigentlich eine haben …«
»Hey, Jack.« Ich betrat den ersten einer Reihe von untereinander verbundenen Räumen, die uns als Forschungslabor dienten, und legte Hut, Tasche und Zeitung auf meinen Schreibtisch. Ein großer Mann mit lockigen schwarzen Haaren tauchte aus dem hinteren Raum auf. »Du bist spät dran.«
»Ich hatte eine lange Nacht.« Ich sank auf den Stuhl hinter meinem Schreibtisch und holte meinen Laptop hervor.
»Warst du in der Gießerei?« Brian, ein Student, der bei uns ein Praktikum machte, hockte sich zu mir auf die Schreibtischkante.
»Ja. Die Airship Pirates sind gestern Abend aufgetreten.«
»Airship …« Sein Gesicht hellte sich auf. »Oh, diese Goth Band?«
»Ein Drittel Steampunk, ein Drittel Gothic, ein Drittel Industrial.« Ich runzelte die Stirn, als eine Mail in meinem Postfach ankam. »Da solltest du auch mal hingehen.«
»Habe ich etwa Zeit, in der Gießerei herumzuhängen? Du vielleicht, aber ich muss arbeiten.« Er wies mit dem Kinn auf den Cleanroom hinter sich. »Wenn ich heute diese Punkte nicht erledige, habe ich ein Praktikum gehabt. Ach, apropos, Dr. Elton hat nach dir gefragt. Er sagt, die letzte Version des Quantengatters, die du ihm geschickt hast, lässt sich nicht mehr umwandeln. Ob du es vielleicht bis Mittag reparieren könntest, damit er Sawyer ein funktionierendes Modell präsentieren kann.«
»Das steht schon auf meiner To-do-Liste für heute«, murmelte ich.
»Feeley hat angerufen und gesagt, wenn du ihm bis heute Abend nicht das Budget vorlegst, dünstet er deine Eier in Knoblauch-Wein-Sauce.«
Ich verzog das Gesicht. Ich hasste es, mich um das Jahresbudget kümmern zu müssen.
»Oh, und dann war eine Frau hier, die dich besuchen wollte.«
»Eine Frau?« Überrascht blickte ich auf. »Wer?«
Brian zuckte mit den Schultern und ergriff einen kleinen Kanister mit flüssigem Helium, mit dem wir die Computer herunterkühlten. »Hat sie nicht gesagt. Aber sie hat gemeint, sie käme wieder.«
»Wer das wohl gewesen sein mag?« Ich zermarterte mir das Hirn, welche meiner weiblichen Bekannten wohl bereit wäre, sich unter die Technikfreaks von Nordic Tech zu begeben.
»Jemand, den du gestern Abend kennengelernt hast?«, sagte Brian und begab sich wieder in sein aufgeräumtes Büro.
»Unwahrscheinlich. Ich war mit ein paar Freunden unterwegs.«
Brian blieb in der Tür stehen und zog die Augenbrauen hoch. »Du bist mit Quäkern aus gewesen? Und ihr habt euch eine Goth Band angesehen? Ist das nicht eine Sünde?«
»Wieso das denn?«, erwiderte ich. »Schließlich haben sie ja keine Fledermaus geköpft oder so.«
»Ja, aber Quäker! Auf einem Goth Concert! Das hört sich irgendwie falsch an.«
»Ich wüsste nicht, warum. Ich gehöre schon mein ganzes Leben dieser Kirche an, und ich kann dir versichern, dass in der Bibel nichts darüber steht, dass Goth-Konzerte verboten sind«, antwortete ich. Dabei überflog ich eine Mail vom CEO, Jeff Sawyer.
»Ich weiß zwar, dass du dazugehörst, aber du bist ja auch irgendwie Quäker light, oder? Ich meine, du trinkst Alkohol und kannst besser fluchen als mein alter Herr, und der war bei der Handelsmarine. Du gehst mit Frauen aus. Und du warst in der Army. Ich dachte, das wäre alles Anti-Quäker.«
»Viele von uns gehen ihre eigenen Wege, aber es gelingt uns trotzdem, uns nützlich zu machen, ohne unseren Glauben zu verraten.«
»Das stimmt. Karin am Empfang hat gesagt, du hättest in der Army Untersuchungen angestellt, statt im Mittleren Osten zu kämpfen. High-Tech, was? Spionagetechnologie und so, oder?«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ich könnte dir etwas darüber erzählen, aber dann müsste ich dich töten.«
Ihm blieb der Mund offen stehen.
»Das war ironisch gemeint, falls du es nicht gemerkt haben solltest.« Ich musste unwillkürlich lächeln.
»Na ja, ich finde es eher ironisch, mich töten zu wollen, wenn ich der einzige Praktikant bin, den du hast«, antwortete er und zog sich sicherheitshalber einen Schritt zurück.
»So gern ich dir auch etwas darüber erzählen würde, aber wir haben beide zu tun. Wenn du diese Quantenpunkte vor heute Nachmittag fertig kriegen willst, werden wir die Diskussion über mein persönliches Weltbild auf ein anderes Mal verschieben müssen.«
Er blickte auf die Uhr, stieß einen Fluch aus und stürzte zum Umkleidebereich des Cleanroom, wo wir unseren Quantencomputer bauten.
Als ich eine halbe Stunde später gerade über eine winzige Schalttafel gebeugt war, ging die Tür auf.
»Guten Morgen, Indiana. Was für Abenteuer haben wir denn heute früh erlebt? Eine Jungfrau aus Bedrängnis gerettet? Ein kostbares Amulett davor bewahrt, von Schurken gestohlen zu werden? Unschuldige Baby-Robben aus einem Pelzhandel geschmuggelt?«
»Halleluja«, sagte ich und winkte ihr mit einem kleinen Lötkolben zu. Ein winziges Stück Lötzinn flog in ihre Richtung. »Was machst du denn hier?«
»Ich hüte mich vor inneren Verletzungen«, antwortete sie und trat einen Schritt zur Seite. »Und nenn mich nicht so. Du weißt, wie sehr ich das hasse.«
»Nicht so sehr, wie ich es hasse, Indiana genannt zu werden.«
»Wer den Hut trägt, soll auch bei seinem Namen genannt werden«, erklärte sie, nahm sich einen Hocker und trug ihn zu meinem Arbeitstisch. »Na, wenigstens hast du keine Bullenpeitsche. Noch nicht.«
»Du hast mit Karin gesprochen.«
»Phh«, erwiderte meine Schwester abschätzig. »Ich hoffe, du hast keine ernsthaften Absichten, was sie anbelangt, sie ist nämlich absolut der falsche Typ für dich.«
»Ich habe überhaupt keine ernsthaften Absichten, nicht dass es dich etwas anginge«, sagte ich und blickte durch das Mikroskop,um entscheiden zu können, wo ein winziges Teilchen hinmusste.
»Ah, es geht mich sehr wohl etwas an, großer Bruder. Ich bin nämlich hier, um dich mit einer absolut großartigen Frau zu verbandeln.«
Ich legte den Lötkolben beiseite. »Doch nicht schon wieder ein Blind Date, Hal? Du hast mir versprochen, mich diesen höllischen Experimenten nicht mehr auszusetzen.«
SieergriffeinTeilderSchalttafelundspieltedamit,währendichdurchdasLaborging,ummirDrahtzuholen.»Vertraumir,Lindawirddirgefallen.Sieistanders.Siemagalles,wasdumagst.«
»Und was zum Beispiel?« Ich nahm ihr das Stück Schalttafel ab. Geistesabwesend ergriff sie eine Pinzette, mit der man Kleinteile einsetzte, und pickte damit nach meinen Notizen.
»Sie hat einen Laptop, den sie überallhin mitschleppt, also ist sie beinahe so ein Computerfreak wie du. Und sie liest gerne, und du hast doch auch ständig die Nase in irgendeinem Comic stecken.«
»Graphic Novel. Das nennt man Graphic Novel.«
»Wie auch immer.« Sie ergriff mit der Pinzette ein Stück Muffin, das von meinem Frühstück übriggeblieben war, und steckte es sich in den Mund. »Sie mag so was auf jeden Fall – sie hat eine Geschichte gelesen, die wohl ein Jules-Verne-Buch nacherzählt, und es klang genauso wie das, was du immer liest, mit diesen viktorianischen Raumschiffen zum Mond und Leuten, die mit Strahlenpistolen und Schutzbrillen herumlaufen.«
»Es freut mich, dass du eine Freundin hast, die Steampunk und Computer mag, aber ich verstehe leider nicht, warum du sie unbedingt mit mir verkuppeln willst. Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben.«
Sie glitt vom Hocker und ging im Labor herum, ordnete Papiere, stellte Schachteln mit Computerteilen anders hin und tat das, was sie immer als »Aufräumen« bezeichnet. »Es ist … na ja … weißt du …«
»Spuckesschonaus,Hallie«,sagteichundblinzeltedurchmeinMikroskop,umeinenDrahtumeinenHalbleiterzuwickeln.
Sie holte tief Luft, dann sagte sie ganz schnell: »Ich habe dich Linda versprochen.«
Ich blickte auf. »Was hast du?«
»Ich habe dich Linda versprochen. Das heißt, ich habe dich an sie verkauft.« Sie nahm einen kleinen Kanister mit Helium in die Hand und drehte abwesend am Deckel, während sie mich mit besorgter Miene beobachtete.
»Du hast mich verkauft? Wie einen Sklaven oder so?«, fragte ich verwirrt. »Was soll das heißen, du hast mich verkauft?«
»Nein, nicht wie einen Sklaven, sei nicht albern«, erwiderte sie und biss sich auf die Lippe. »Es war eine Auktion. Eine Wohltätigkeitsauktion.«
Ich schloss einen Moment lang die Augen, dann schüttelte ich den Kopf. »Was für eine Wohltätigkeitsauktion?«
»NichtindiesemTon«,sagtesiedefensivundschwenktedabeidenKanisterinmeineRichtung.»Ichweiß,wasduvonmeinenWohltätigkeitsveranstaltungenhältst,aberdiesehieristfabelhaft,Jack,einfachfabelhaft.EsgehtumPflegeundRehabilitationfreigelassenerSittiche.«
Ich war so verblüfft, dass ich vergaß, mir Sorgen um den Deckel des Heliumkanisters zu machen. »Freigelassener was?«
»Sittiche! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele Sittiche jedes Jahr ihr Heim verlassen und draußen alleine zurechtkommen müssen? Hunderte, Jack! Tausende armer, unschuldiger kleiner Vögel, die einfach aus dem Fenster geworfen werden und nicht wissen, wie sie sich Futter beschaffen oder wo sie leben sollen. Es ist eine einzige Tragödie, und wir bei ›Menschen für humane Behandlung von Sittichen‹ tun, was wir können, um diese Tiere zu retten und ihnen wieder ein Zuhause zu geben bei guten Menschen, die für sie sorgen.«
Hallie trat immer für irgendeine gute Sache ein. Das hatte sie schon als kleines Mädchen getan, und als sie älter wurde, stürzte sie sich jedes Mal aufs Neue aus ganzem Herzen auf irgendeine wohltätige Aufgabe, die ihr gerade gefiel.
»Was ist denn aus der Gruppe geworden, in der ihr Pullover für haarlose Hunde im Tierheim gestrickt habt?«
»Oh, die hat sich schon vor Monaten aufgelöst«, sagte sie und drehte erneut am Deckel des Behälters. »Wir konnten uns nicht entscheiden, ob wir Mohair oder lieber Acrylwolle nehmen sollten. Aber diese Gruppe ist ausgesprochen solide, Jack. Und du magst doch Tiere.«
»Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich ihretwegen in die Sklaverei verkauft werden will. Für was hast du mich überhaupt verkauft?«
»Fünfhundert Dollar! Kannst du das glauben? Kein anderer Ehemann oder Bruder ist für so viel weggegangen. Es war schade, dass du nicht persönlich anwesend warst, um dich vorzustellen, aber ich habe das Foto von dir genommen, als du mit Jeff Sawyer in Mexiko warst und ihn davor bewahrt hast, von durchgedrehten Mayas entleibt zu werden.«
Ich seufzte leise. Es war schon traurig, wenn nicht mal meine eigene Schwester mir richtig zuhörte.
»Auf jeden Fall fanden sie das Bild alle toll, und viele Damen haben auf dich geboten, aber Linda hat gewonnen, und das ist deshalb so perfekt, weil sie die Frau ist, die ich für dich ausgesucht habe. Sie ist klug, und sie mag die gleichen Dinge wie du, und sie hat fünfhundert Dollar bezahlt, nur um Zeit mit dir zu verbringen.«
»Ichhabenichtgefragt,wievielsiegebotenhat,sondern welcheDienstevonmirsieerworbenhat«,sagteichmisstrauisch.
»Oh, na ja, das liegt an Linda«, erwiderte meine Schwester und schwenkte den Kanister in meine Richtung.
»Hör auf, so damit herumzuwedeln!« Ich sprang auf, um ihr den Kanister abzunehmen, bevor sie uns in die Luft jagte.
»Ich weiß, dass du sauer bist, weil ich dich verkauft habe, ohne dich zu fragen, aber es ist wirklich für einen guten Zweck …« Hallie umrundete den Labortisch, damit ich sie nicht zu fassen kriegte.
Besorgt um ihre Sicherheit, unterbrach ich sie. »Nein, du Idiot! Der Deckel ist abgegangen, und du schüttelst den Behälter. Das Zeug ist äußerst flüchtig!«
»Das?« Sie blickte auf den Behälter. »Das ist doch nur eine Thermoskanne mit Kaffee. Wieso soll Kaffee flüchtig sein?«
»Das ist kein Kaffee – das ist flüssiges Helium.«
»Helium?« Sie hielt den Kanister hoch, als könnte sie durch die Edelstahlwände hindurchblicken. »Was um alles in der Welt machst du mit Helium?«
»Wir verwenden es, um den Kern des Chips zu kühlen, wenn er getestet wird. Und jetzt stell es ganz vorsichtig wieder hin.«
»Oh, wie Druckluftspray? Das benutze ich bei meiner Stereoanlage zu Hause auch immer. Wenn du das eine Zeitlang machst, wird die Flasche ganz frostig. Du bist also nicht böse mit mir wegen der Auktion, oder?«, sagte sie und ergriff den Deckel, um ihn wieder auf das Gefäß zu schrauben. Sie schien sich überhaupt nicht im Klaren darüber zu sein, was sie da in der Hand hielt.
»Meine Emotionen in diesem Augenblick sind ziemlich schwer zu beschreiben«, sagte ich und trat auf sie zu, um ihr den Kanister abzunehmen.
»DasblödeDingwillnichtzugehen«,grummeltesieundversuchte, den Verschluss mit Gewalt daraufzusetzen, aber das innere Ventil hatte sich anscheinend verschoben, und man konnte den Deckel nicht mehr richtig zuschrauben.
»Stell es einfach hin, Hallie, ich kümmere mich schon darum.«
»Vielleicht hat sich eine Luftblase gebildet oder so etwas, und deshalb geht es nicht richtig zu.« Sie warf den Deckel beiseite, direkt auf die Schaltfläche, die ich gerade fertiggemacht hatte. Einige winzige LED-Lichter glühten auf, ein Zeichen dafür, dass der Computer Strom bekam.
»Nein!«, schrie ich und griff nach ihr. Gerade als sich meine Hand um die ihre schloss, kippte sie das Ventil und flüssiges Helium ergoss sich auf die Schalttafel. Hallie griff nach dem kostbaren Gegenstand, damit ihm nichts passierte, aber es war zu spät. Ein strahlendes silbernes Licht erfüllte meinen Kopf, als sie die Schalttafel ergriff. In der Ferne hörte ich Stimmen, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Das Licht breitete sich aus, bis es den gesamten Raum zu erfüllen schien. Ich wurde ganz ruhig.
Hallie schrie, als das Licht um mich herum, durch mich hindurch und in mir erstrahlte.
2
Logbuch der HIMATesla
Montag, 15. Februar
Vormittagswache: Vier Glasen
»Cap’n Pye! Cap’n Pye!«
»Es heißt ›Captain‹, Dooley. Wir sind weder Piraten, noch sind wir Bauern, die sich nicht die Mühe machen, Wörter korrekt auszusprechen, und dem ständigen Geschnatter nach zu urteilen, das ich von Ihnen in der Messe höre, haben Sie sehr wohl die stimmlichen Fähigkeiten dazu. Ja, ich sehe es jetzt, Mr Mowen. Das Ventil links vom Eingangszylinder, nicht wahr? Glauben Sie, es ist kaputt?«
»Aye, Captain.«
Ich hockte mich auf die Hacken, als ich das Ventil untersucht hatte. Kaputt, mein dreibeiniger Onkel. Es war nicht kaputter als ich.
»Captain Pye, Mr Piper sagt, Sie sollen sofort in den vorderen Frachtraum kommen!« Der junge Dooley hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere, aber das war nichts Neues. Dooley war ein quecksilbriger Junge, der ständig in Bewegung war oder redete und nicht einen einzigen Moment lang stillsitzen konnte. In gewisser Weise erinnerte er mich an einen Kolibri, den ich einmal im Vogelhaus des Kaisers gesehen hatte, denn Dooley flitzte und huschte auf dem Schiff herum wie einst der Kolibri in der hohen Kuppel des Aviariums.
»Können Sie das Ventil reparieren, Mr Mowen?«, fragte ich den Ersten Ingenieur. Dabei vertraute ich voll auf eine positive Antwort. »Oder müssen wir in Lyon landen?«
»Eine nicht autorisierte Landung?« Der Gedanke schien Mr Mowen zu erschrecken. »Dann könnten wir unseren Terminplan nicht einhalten, Mädchen. Äh … Captain.«
»Captain Pye …« Dooley zupfte am Ärmel meiner neuen scharlachroten Aerocorps-Jacke.
Ich unterband das Zupfen und das aufgeregte Hüpfen mit einem Blick, den ich schon seit einer Dekade an niedrigeren Mannschaftsmitgliedern geübt hatte. »Ich bin gleich für Sie da, Dooley. Jetzt gilt meine Aufmerksamkeit Mr Mowen.«
»Aber Mr Piper hat gesagt, Sie müssten schnell …«
»Mr Piper würde nie zulassen, dass Sie eine wichtige Diskussion über die Flugfähigkeit der Tesla unterbrechen, Dooley. Sie haben Ihre Botschaft überbracht und können jetzt zu Ihren Pflichtenzurückkehren.«MeinTonfallwar,wieichhoffte,streng, aber freundlich zugleich. Ich wollte von der Mannschaft nicht als Ungeheuer wahrgenommen werden, nicht bei meiner ersten Fahrt. Und doch mussten die sieben anderen Individuen an Bord sich meinem Kommando unterwerfen, sonst würde es ein böses Ende nehmen. Mit fester Hand, aber gemäßigt im Tonfall, das war der Schlüssel.
»Aber, Cap’n …« Mr Mowen beobachtete mich mit interessiertem, leicht amüsiertem Blick. Er war vermutlich gespannt, wie ich mit dem übernervösen jungen Bootmannsmaat fertigwurde. Wahrscheinlich wartete er neugierig darauf, ob ich mich von ihm aus dem Konzept bringen ließ. Ach, wenn er wüsste, dass ich diese Fähigkeit schon lange verloren hatte …
»Sie haben doch Pflichten, Dooley, oder nicht?«
»Aye, Miss. Cap’n. Captain. Ich soll die Kombüse putzen und mich dann um die Kessel kümmern, wie Mr Mowen mir aufgetragen hat.«
»Sie sind entschuldigt, um Ihren Pflichten nachgehen zu können.«
Dooley reagierte auf die Stimme der Autorität. Zögernd zupfte er an seinem schwarzen Käppi und verließ den Maschinenraum im Achterdeck. »Aye, aye, Captain.«
»Na, das war doch jetzt gar nicht schlimm, oder?«, sagte Mowen und schmunzelte unter seinem Pfeffer-und-Salz-Seehund-Schnauzbart.
»Nein, überhaupt nicht. Wie kommen Sie darauf?«, fragte ich, ein wenig überrascht über die Scharfsichtigkeit des älteren Mannes. »Ist es so offensichtlich, dass ich mit einem solchen Test gerechnet habe?« Wahrscheinlich einer von zahlreichen Tests, die man für mich vorbereitet hatte.
»Ich fliege schon eine Ewigkeit zwischen Rom und London hin und her und habe viele Kapitäne kommen und gehen sehen«, antwortete er. Seine Augen funkelten amüsiert. »Der erste Flug ist immer unterhaltsam. Die Mannschaft beobachtet aufmerksam, welchen Mann uns das Unternehmen dieses Mal geschickt hat.«
Ich warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Ich kann gar nicht glauben, dass niemand vom Aerocorps Ihnen etwas über mich erzählt hat. Ich habe ein Dossier über die Mannschaft erhalten; dann haben Sie doch bestimmt auch etwas über mich bekommen?«
»Es war kein Dossier, nur eine Notiz, in der stand, dass Sie das Kommando über das Schiffs übernehmen.«
Ichwartete;dawürdedochbestimmtnochetwaskommen.
Ichwurdenichtenttäuscht.»MrFranciscohateinenKumpelimBürovonAerocorps,underhatunseinbisschenmehrvonIhnenerzählt.Ersagte,SiewäreneineFrau,waswirunswegenIhresNamensschongedachthatten,hättenroteHaareundbrauneAugen–wobeidasnatürlichkeineRollespielt,aberMrFranciscohateineSchwächefürrothaarigeDamen,wieSievielleichtschonbemerkthaben,deshalbhatersichgeradeüberdieseInformationsehrgefreut–,wärenmitsechzehndemCorpsbeigetretenundschonvieleJahredabeiundhätteneinflussreiche Freunde.«
Ich zog die Augenbrauen ein wenig hoch. »Das steht in den Akten des Aerocorps?«
»Äh, nun …« Mr Mowen warf mir einen Blick von der Seite zu. »Das habe ich vielleicht nur spekuliert.«
»In der Tat«, erwiderte ich in neutralem Tonfall. »Im Großen und Ganzen ist die Zusammenfassung korrekt. Ich hoffe, die Mannschaft ist nicht von mir enttäuscht.«
»Das wird sich zeigen«, sagte er und rieb sich einen Ölfleck vom Ärmelaufschlag. »Gut oder schlecht, wir können sowieso nichts daran ändern.«
»Oh, ich könnte mir vorstellen, dass eine Mannschaft eine ganze Menge tun kann, damit ein unwillkommener Kapitän sich auch als solcher fühlt«, antwortete ich leichthin. »Absolut ungenießbares Essen im Vergleich zu den Mahlzeiten der Mannschaft, unangenehme Überraschungen aus dem Insekten- und Nagetier-Bereich in der Schlafstätte des Kapitäns, wiederholtes Wecken während der Nachtstunden, um eine merkwürdigerweise schlecht funktionierende Apparatur zu überprüfen, die es vor ein paar Stunden noch getan hat … Ja, ich habe solche Geschichten schon gehört und könnte mir vorstellen, dass es einer gewitzten Crew nicht schwerfallen dürfte, einem unbeliebten Kapitän das Leben schwer zu machen.«
Mr Mowen warf mir einen langen Blick zu. Ich lächelte leise, woraufhin er sich sichtlich entspannte. »Das ist wohl wahr, Captain, wohl wahr.«
»Ich gehe davon aus, dass dieses Ventil, das seltsamerweise zur Seite gebogen wurde und wohl nicht kaputt ist, sondern eher nicht mehr an der richtigen Stelle sitzt, unverzüglich wieder gerichtet wird, Mr Mowen.« Kurz leuchtete Respekt in seinen Augen auf. Ich wehrte seine Hilfe ab, als ich mich aufrichtete und meinen langen, marineblauen Wollrock und die Kanten meines knielangen Jacketts glattstrich. »Und ich erwarte, dass es keine weiteren Tests mehr gibt, um festzustellen, ob ich mit der Dampfmaschine und den Kesseln eines Luftschiffs vertraut bin. Ich kann Ihnen versichern, dass dies der Fall ist.«
Der Ingenieur salutierte. »Ich bin froh, das zu hören, Ma’am. Es wurde auch höchste Zeit, dass die Tesla einen Captain hat, der sie versteht.«
»Auch wenn er eine Frau ist, Mr Mowen?« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, als wir den schmalen Metallsteg entlanggingen.
Nach einem Augenblick des Schweigens erwiderte er: »Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass wir, von Mr Francisco einmal abgesehen, keine Bedenken gegen eine Frau als Kapitän gehabt hätten.«
Wir hatten die Gangway erreicht. Ich warf dem Ingenieur einen nachdenklichen Blick zu. Natürlich hatte ich ein wenig Widerstand erwartet, aber in diesen aufgeklärten Zeiten konnte eigentlich niemand etwas dagegen haben, dass ich eine Frau war. »Es gibt im Southampton Aerocorps einige weibliche Kapitäne, Mr Mowen. Das ist nichts Ungewöhnliches.«
»Aye, aber diese Kapitäne beschränken sich auf Inlandsflüge. Sie sind die Erste, die das Kommando auf einer internationalen Route übernommen hat.«
»Sicher ein Versehen des Aerocorps. Ich habe einige Jahre unter Captain Robert Anstruther gedient, und wie Sie vielleicht wissen, hat er das Kommando über das größte Passagierluftschiff im ganzen Empire gehabt. Ich bin sowohl mit den Routen als auch mit den Pflichten eines Kapitäns vertraut, selbst mit denen eines kleinen Frachttransporters wie der Tesla.«
»Captain Anstruther wird uns sehr fehlen«, sagte Mowen mit düsterer Miene. »Diese verdammten Revolutionäre der Schwarzen Hand werden sich dafür verantworten müssen, dass sie den besten Kapitän, der je den Himmel beflogen hat, getötet haben.«
»Ja, in der Tat«, antwortete ich und straffte die Schultern. Wenn ich an Robert Anstruthers letzte Stunden dachte, stieg unweigerlich der Schmerz in mir auf.
»Sie kannten ihn gut, nicht wahr?«, fragte Mowen, der mich aufmerksam beobachtete.
Ich versuchte vergeblich, eine gleichmütige Miene aufzusetzen. »Ja. Er war mein Mentor und ein großartiger Mann. Ich betrachte ihn als meinen Vater.«
Der Ingenieur zog die Augenbrauen über den Rand seiner Nickelbrille hinaus hoch. »Dann möchte ich Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen, Captain.«
Ich dankte ihm für sein Mitgefühl. Der Schmerz bei dem Gedanken über den erlittenen Verlust stellte sich wie immer ganz von selbst ein. »Ich wurde schon früh in seine Obhut gegeben, und er und seine Frau haben mich behandelt wie ihr eigenes Kind. Sie fehlen mir sehr.«
»Die Gattin des Captains – ist sie bei der Explosion des Luftschiffs ebenfalls ums Leben gekommen?«
Ich schloss einen Moment lang die Augen. Vor meinem geistigen Auge sah ich erneut das brennende Aerodrom. Die Gestalt von Robert Anstruther hob sich scharf gegen die Flammen ab, die zum schwarzen Himmel hinaufschlugen.
»Es gibt keinen anderen Weg, Octavia«, hatte er gesagt, und ich fühlte wieder den Schmerz in seiner Stimme. »Der Kaiser wird sich dieses Mal nicht zufriedengeben. Wenn es nur um mich selbst ginge, könnte ich die Konsequenzen ertragen. Ich bin alt, und meine Zeit ist beinahe abgelaufen. Aber ich muss an Jane und dich denken. Ich werde nicht zulassen, dass meine Schande euer Leben zerstört.«
»Ich will mit dir gehen«, hatte ich damals gebettelt. »Lass mich mit dir und Jane gehen. Ich kann euch helfen, ich weiß es.«
Er hatte nur traurig gelächelt und mir die Wange gestreichelt. »Ich segne den Tag, als der alte Kaiser dich zu mir gebracht hat. Kannst du dich noch daran erinnern, Octavia? Du warst noch ein kleines Mädchen, verloren und durcheinander, hast von wirren, unwirklichen Dingen erzählt und dich krampfhaft bemüht, nicht zu weinen. Jane hat dich immer unser kleines Wunder genannt, weil du so kurz nach dem Tod unseres Sohnes zu uns gekommen bist.«
Mir wurde die Kehle eng, und ich kämpfte vergeblich gegen die Tränen. Robert betrachtete mich einen langen Augenblick und ignorierte die Tränen, die mir übers Gesicht liefen und auf seine Hände tropften. »Du hast eine vielversprechende Zukunft vor dir, mein Schatz. Wenn wir im Feuer untergehen, wird diese Zukunft durch nichts befleckt.«
»Werde ich euch denn nie wiedersehen?«, fragte ich mit erstickter Stimme.
»Nein, wir können nicht nach England zurückkehren. Dazu sind wir zu bekannt. Aber in unseren Herzen wirst du immer bei uns sein.«
Voller Trauer senkte ich den Kopf. Am liebsten hätte ich alles hinter mir gelassen und wäre mit den beiden Menschen geflohen, die ich am meisten auf der ganzen Welt liebte.
»Kämpfe für die gerechte Sache, kleine Octavia. Tu, was Jane und ich nicht tun können.«
Das waren seine letzten Worte. Mehr war nicht nötig gewesen – ich blieb zurück, um meine Pflicht zu tun, während Robert Anstruther, dreimal vom Kaiser persönlich ausgezeichnet und im ganzen Empire ein Held, auf das brennende Aerodrom zuging und in den Annalen verschwand.
»Es tut mir leid, Captain, ich wollte Ihnen keinen Kummer bereiten.«
Die Stimme war leise, aber sie holte mich aus meinen finsteren Erinnerungen wieder zurück in die Gegenwart. Robert und Jane waren jetzt schon seit fast einem Jahr weg. Es war alles so gekommen, wie er es vorausgesagt hatte – die Untersuchungen waren im Sande verlaufen, und eine ganze Nation trauerte um ihren verlorenen Helden.
Ich straffte meine Schultern und nickte dem Ingenieur zu. »Danke, Mr Mowen. Falls irgendwelche Probleme auftauchen, finden Sie mich im vorderen Frachtraum. Ich will einmal nachsehen, warum Dooley es so eilig hatte.«
Er salutierte, und ich ging die schmale Gangway entlang, vorbei an zwei Kesseln, die die Steuermaschinen antrieben. Das dumpfe Stampfen der Maschinen, die die Propeller zum Drehen brachten, entsprach im Rhythmus der pochenden Bewegung im Metallgestänge, das Länge, Breite und Höhe des Schiffes umgab. Es war eine vertraute Empfindung, und ich achtete gar nicht darauf. Es fiel mir immer erst auf, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, und dann fehlte es mir. Die Geräusche des Luftschiffs gehörten zu mir wie mein Atem, und ich wusste sofort – wie jeder Mann an Bord der Tesla –, wenn etwas mit den Maschinen nicht stimmte. Eine leichte Veränderung in der Vibrationsgeschwindigkeit oder ein höherer Ton erregten sofort Besorgnis.
»Du hast aber keine Probleme, nicht wahr?«, fragte ich das Schiff leise, als ich über eine kleine Metallleiter zur unteren Gangway kletterte. »Du weißt, wie wichtig diese Reise ist. Du weißt, wie wertvoll unsere Fracht ist. Und du weißt, was passiert, wenn wir versagen.«
Das Schiff antwortete nicht, aber ich fühlte mich ihm seltsam verbunden. Der Ingenieur mochte es bemerkenswert finden, dass ich eine internationale Route bekommen hatte, aber ich wusste es besser – es war der Lohn für geleistete Dienste, nichts weiter. Mein Schweigen war erkauft worden mit der unbedeutendsten, kleinsten Frachtroute von allen beim Aerocorps. Die Tesla war ein Nichts, verglichen mit den neuen Luftschiffen, die die Himmel durchpflügten, ein überholtes Modell, das deutliche Alterserscheinungen zeigte, von der schmutzigen Stoffhülle bis hin zu den vierzig Jahre alten Maschinen, die den hocheffizienten Geräten, mit denen die größeren, längeren, schlankeren Luftschiffe betrieben wurden, nicht das Wasser reichen konnten.
Das alles wusste ich, und doch war ich stolz auf die Tesla, stolz darauf, sie zu kommandieren. Hoffentlich ging alles gut. Wenn es auch nur die kleinste Verzögerung oder ein Problem gab, das uns davon abhielt, mit dem Schiff in dem kleinen Aerodrom außerhalb von Rom zu landen, wäre alles verloren. Ich hatte mit Etienne gestritten, weil ein so knapper Terminplan die Katastrophe geradezu herausforderte, aber er ignorierte wie immer meine Warnungen und Bitten. »Der Mann mag ja der Anführer der Schwarzen Hand sein«, murmelte ich jetzt, als ich den Gang zum Frachtraum entlangging, »aber er ist auch ein eingebildeter, sturer Ignorant, wenn es darum geht, mir einmal zuzuhören.«
Ich verdrängte die Sorge darüber, was passieren würde, wenn irgendetwas schiefging, und konzentrierte mich stattdessen darauf, für einen ordnungsgemäßen Ablauf zu sorgen. »Das schließt unerwünschte Probleme ein«, brummelte ich, als ich am Frachtraum ankam, einem von vier Laderäumen im mittleren Bereich der Gondel.
»Captain Pye.« Ein älterer, grauhaariger Mann mit einem Gang, der dem einer Krabbe nicht unähnlich war, kam mir entgegen. Ich wusste aus der Lektüre der Mannschaftsakten, dass er seine seltsame Fortbewegungsart den Verletzungen zu verdanken hatte, die er erlitten hatte, als er sich aus einem brennenden Luftschiff gestürzt hatte. »Ich hatte gehofft, dass Sie bald kommen würden. Wir haben ein mächtig großes Problem.«
»Das tut mir leid, Mr Piper. Das Problem muss tatsächlich mächtig groß sein, wenn Mr Christian es nicht alleine lösen kann.« Ich warf ihm einen milden Blick zu, obwohl ich am liebsten gelacht hätte. Das konnte durchaus schon wieder ein Test für mich sein oder zumindest ein Versuch, mich aus der Fassung zu bringen.
AlserseinenNamenhörte,zucktedergroße,hagere,rothaarigeMann,meinErsterOffizier,zusammen.ErrissseinehellblauenAugenweitaufundstammelteeineEntschuldigung.MeineErheiterungließnach,alsichihnanschaute.Ichkonntenichtleugnen,dassicheinwenigenttäuschtvonmeinerrechtenHandwar–bisjetzthatteersichalswenigeffizientundvölligungeeignetfürdenJoberwiesen–,aberichriefmirinsGedächtnis,dassjedereineChanceverdienthatte,sichzubeweisen,undvielleichtwuchs er ja mit seinen Aufgaben. Das hoffte ich jedenfalls.
»… ich bin erst kurz vor Ihnen hier eingetroffen, Captain. Nicht wahr, Piper? Ich bin gerade erst gekommen. Vor ein paar Sekunden. Ich kann also unmöglich wissen, was hier los ist, wenn ich auch gerade erst hierhergekommen bin.«
»Ja, das stimmt, mit dem Arsch zuerst und schlotternd vor Angst.«
Aldous Christian schien außer sich vor Panik zu sein, und ich beruhigte ihn rasch, damit er nicht noch einen Schlaganfall bekam. »Ich entschuldige mich für meine falsche Annahme. Da wir jetzt aber beide hier sind, können wir vielleicht erfahren, was los ist?«
»Aber ich weiß es doch nicht!«, heulte er auf. Sein Gesicht wurde knallrot.
»Ich habe diese Frage an Mr Piper gerichtet«, sagte ich beruhigend und drückte ihm leicht den Arm. Seine Röte ließ nach, aber er sah immer noch so nervös aus wie ein Rennpferd vor dem Start. »Fahren Sie fort, Mr Piper.«
»Es sind Körper, Captain«, antwortete der Bootsmann knapp.
»Körper?«
»Oh Allmächtiger«, sagte Mr Christian und sah einen Moment lang so aus, als wolle er in Ohnmacht fallen. Er hielt sich an einem Stapel Kisten fest und schwankte leicht.
»Was für Körper?«, fragte ich, wobei ich den Ersten Offizier scharf im Auge behielt, falls er plötzlich auf mich zutaumeln sollte.
»Ziemlich große Körper«, antwortete Mr Piper und kratzte sich geistesabwesend am Schritt. »Sie sind mir im Weg.«
»Wogenausindsie?«,fragteich.Mittlerweilewarichmirziemlich sicher, dass ich schon wieder auf die Probe gestellt wurde.
»Da drüben, hinter den Fässern mit dem Pökelfleisch.« Piper nickte zum anderen Ende des Frachtraums, wo drei Dutzend Fässer mit gesalzenem Wild, Schwein, Rind und Fisch standen, die für die Truppen des Kaisers im Süden Italiens bestimmt waren. »Neptuns salziger Kabeljau, Mann, lassen Sie meinen Arm los. Sie haben meine Uniform zerknittert.«
»Tot oder lebendig?«, fragte ich.
»Lebendig, glauben wir«, erwiderte Mr Piper und schob Mr Christians Hand von seinem Arm. »Es sind auf jeden Fall keine großen Blutlachen oder so etwas zu sehen.«
»Urrghh!« Mr Christian würgte.
»Und wir konnten auch nirgendwo kaputte Gliedmaßen oder Gedärme sehen.«
»Gedärme«, flüsterte Mr Christian. Seine Stimme war rau vor Entsetzen, und er tastete sich blindlings an den Weinfässern entlang. »Gedärme wären mein Ende.«
»Aye, und es ist auch eine ganz schöne Schweinerei, sie aufzuwischen«, bestätigte Mr Piper und zog die Luft durch eine Zahnlücke, bevor er fortfuhr: »Um danach richtig sauberzumachen, muss man Sägemehl darüberstreuen. Eine Riesenladung Sägemehl. Und Natron, und davon haben wir nicht viel an Bord.«
»Dann ist es ja gut, dass wir es nicht brauchen«, sagte ich. Meine Mundwinkel zuckten bereits.
»Ja, da haben Sie recht«, stimmte er mir zu. »Es ist schwer zu sagen, ob sie tot oder lebendig sind, Captain. Am besten überzeugen Sie sich selbst einmal.«
»Ein ausgezeichneter Vorschlag. Mr Christian, Sie kommen bitte mit mir.«
Ich tat drei Schritte, blieb jedoch stehen, als der Erste Offizier einen Schreckenslaut von sich gab und ohnmächtig zu Boden sank.
Das würde eine sehr lange Reise werden.
»Der Hurensohn«, fluchte Mr Piper und betrachtete interessiert den ausgestreckten Körper des Ersten Offiziers. »Er ist nicht besonders hart im Nehmen, Captain. Sie hätten ihn sehen müssen, als Auld John – er war vor zwei Jahren, bevor Mr Ho zu uns gekommen ist, Koch hier –, als Auld John drei Zehen abfielen.«
Ich hielt erneut inne und drehte mich zu ihm um. »Ihm sind drei Zehen abgefallen?«
»Aye.« Er saugte geräuschvoll durch seine Zähne. »Wir waren in Marseilles, und Sie wissen ja, wie es da so sein kann – man macht sich eine schöne Zeit und lässt sich mit ein oder zwei Püppchen ein, und dann fallen einem die Zehen ab.«
Ich starrte ihn entsetzt an. »Ich habe noch nie gehört, dass jemand wegen promiskuitiver Aktivitäten Zehen verloren hat, auch nicht, wenn es so rau zugeht wie in Marseilles. Das ist bisher noch niemandem, mit dem ich gefahren bin, passiert.«
»Ja, nun ja«, sagte er achselzuckend und stieß Mr Christians leblose Gestalt mit seiner auf Hochglanz polierten Stiefelspitze an. »Es könnten auch die Pocken gewesen sein. Die hatte er auch. Einmal hat er auch geglaubt, sein Schwanz würde abfallen, aber er hat ihn bloß zu heftig eingesetzt.«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber eigentlich gab es darauf nichts zu sagen, also wies ich stattdessen auf den bewusstlosen Offizier und bat Piper: »Würden Sie sich bitte um ihn kümmern, während ich mir Ihre Körper anschaue?«
»Das sind nicht meine Körper«, sagte er und schlurfte zur Tür. »Als ob ich sie im Frachtraum liegen gelassen hätte. Ich bin seit vierzig Jahren auf Luftschiffen und hatte noch nie einen Körper im Frachtraum, wo jeder darüber stolpern kann. Dooley, wo bist du, du nutzloser Trottel? Mr Christian hat schon wieder einen seiner Anfälle gehabt.«
Der alte Mann brüllte nach seinem Maat, während ich mir vorsichtig einen Weg um die Kisten mit wissenschaftlicher Ausrüstung herum bahnte. Was um alles in der Welt taten Körper auf meinem Luftschiff? Wenn sie tot waren, hatte ich den Männern des Kaisers in Rom einiges zu erklären. Wenn nicht … Ich knirschte mit den Zähnen. Blinde Passagiere bedeuteten immer Probleme. Entweder hatte Etienne jemanden geschickt, der mich beobachten sollte, oder es war ein Spion des Kaisers. Mit Ersterem kam ich wohl klar, aber mit Letzterem? Ich wagte nicht einmal, daran zu denken.
Ein Fuß kam in Sicht, als ich meinen Rock raffte und über eine lange Packkiste kletterte. Die Kiste hatte sich seit gestern leicht verschoben und war jetzt einen guten Meter von der Wand entfernt. Der Fuß war deutlich zu sehen, während der Rest des Körpers vermutlich zwischen Kiste und Wand eingeklemmt war.
Ich trug für gewöhnlich keine Feuerwaffen bei mir, sondern zog das Messer vor, das in dem Spazierstock versteckt war, den Robert Anstruther mir zu meinem dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Aber er befand sich leider in der winzigen Kapitänskajüte, wohingegen der Disruptor, der im Empire zur Standardausrüstung für alle Kapitäne gehörte, an meiner Hüfte hing. Ich zog die kleine Waffe heraus und drehte an einem Schalter, der die galvanische Ladung beim Feuern auslöste.
»Ich bin bewaffnet«, erklärte ich dem Fuß mit ruhiger Stimme. »Sollten Sie vorhaben, mich anzugreifen, so seien Sie sich bitte der Tatsache bewusst, dass ich mich verteidigen werde.«
Der Fuß bewegte sich nicht, und sein Besitzer antwortete auch nicht. Vorsichtig trat ich näher, um den Fuß in Augenschein zu nehmen. Er war mit einer seltsamen Art von Halbschuh bekleidet, der nur die Vorderseite des Fußes bedeckte. Der Rest war unbedeckt, ebenso wie der Knöchel. Ich ging um die Kiste herum und beugte mich darüber, die Hand fest um den Disruptor geschlossen. »Sind Sie verletzt?«
Es war ein Mann. Er lag da, halb an die Wand gelehnt, halb über einer anderen Person, einer Frau. Beide schienen zu schlafen – oder sie waren tot, obwohl man weder Blut noch irgendwelche Anzeichen von Verletzungen erkennen konnte.
»Ist Mr Christian wieder bei Bewusstsein?«, rief ich über die Schulter und richtete mich auf.
»Aye, aber er sieht so blass aus wie wässerige Pisse.«
Ich zählte bis zehn, dann sagte ich: »Sagen Sie ihm, es sei kein Blut und auch sonst nichts zu sehen, und er soll sofort zu mir kommen.«
Beide, der Erste Offizier und Dooley, tauchten auf, wobei Ersterer so aussah, als wolle er sich gleich übergeben.
»Sind sie … tot?«, fragte er mit erstickter Stimme, und ich fragte mich, ob er wohl gleich wieder umkippen würde.
»Nein. Sie atmen, und es gibt keine Anzeichen für Verletzungen. Ich glaube, sie sind nur bewusstlos.«
Seine Augen weiteten sich, und er blickte wild um sich.
»Mr Christian, bitte denken Sie daran, dass Sie Offizier im Southampton Aerocorps sind«, sagte ich vorsorglich. »Offiziere geraten nicht in Panik, wenn sie mit bewusstlosen blinden Passagieren konfrontiert werden. Sie fallen auch nicht ständig in Ohnmacht oder übergeben sich nach Belieben.« Letzteres erwähnte ich, weil er auf einmal so grün im Gesicht wurde.
Er schluckte schwer, und sein ausgeprägter Adamsapfel hüpfte auf und ab, aber schließlich straffte er die Schultern und nickte mir zu. »Aye, Captain. Ich bin bereit.«
Oh,ichhattesomeineZweifel,oberwirklichfürdieMühenundAnstrengungenaufeinemLuftschiffdesCorpsbereitwar,aberdarumwürdeichmichspäterkümmern.ImMomentmussteichmirüberlegen,werdieblindenPassagierewohlseinmochten,undwasdasfürmichbedeutete.Etiennewürdemichumbringen,wennirgendetwasdiePlänederSchwarzenHandzunichtemachte.»HelfenSiemir,siehinterderKistehervorzuziehen.Vielleichtsind sie aufgrund von Sauerstoffmangel bewusstlos geworden.«
So brillant war die Theorie nicht, aber damit hielt ich mich nicht auf, als wir zuerst den Mann und dann die Frau herauszogen. Wir legten beide auf zwei lange Kisten neben der Tür, die Piper uns als geeignet zuwies.
»Wo sind ihre Velocipedes?«, fragte Mr Christian, als wir die beiden leblosen Gestalten betrachteten.
Ich starrte meinen Ersten Offizier an. »Ihre Velocipedes?«
»Aye.« Er wies auf die Frau. »Sie trägt Bloomers, also muss sie ja wohl Velociped gefahren sein.«
Ich blickte auf die Frau. »Das sind Hosen, Mr Christian, keine Bloomers zum Radeln.«
»Aber … sie ist eine Dame.« Er runzelte verwirrt die Stirn.
»Eine Dame muss mehr aufweisen als nur zwei Titten«, erklärte Mr Piper.
»Mr Piper«, sagte ich mit tadelndem Unterton.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich sage ja nur, dass eine Frau nicht zwangsläufig auch eine Dame sein muss.«
»Darin widerspreche ich Ihnen gar nicht, ich habe nur etwas gegen ihre Art, es auszudrücken.« Ich ging um ihn herum, um den Mann auf der Kiste zu betrachten.
»Ichhabegehört,dassmancheDamenHosentragen«,warfDooleyein.»InAmerika.VordemKriegzumindest.Ichweißzwarnicht,obsieesjetztnochtun,aberichhabeBildervonDameninHosengesehen,dieineinerParademitmarschiertsind.«
»Du bist gar nicht alt genug, um dich an die Zeit vor dem Krieg zu erinnern«, wies Mr Christian ihn zurecht. »Er ist ja erst seit vier Jahren vorbei, und davor hat er achtzehn Jahre gedauert.«
»Ich habe Bilder gesehen«, beharrte Dooley eigensinnig, und mir war klar, dass die beiden sich gleich mal wieder wegen irgendeiner Bagatelle in die Haare kriegen würden.
»Dooley, bitte holen Sie Mr Ho. Vielleicht kann sie sich vergewissern, ob die beiden blinden Passagiere verletzt sind.«
»Glauben Sie wirklich, das sind blinde Passagiere?«, fragte Mr Christian erschrocken und fasziniert zugleich. »Müssen wir sie in den Kerker werfen?«
»Das könnte etwas schwierig sein, da wir an Bord der Tesla gar keinen Kerker haben. Lassen Sie uns erst einmal herausfinden, wer sie sind und was sie im Frachtraum zu suchen hatten. Vielleicht hatten sie ja eine Art Anfall, als der Frachtraum beladen wurde, und sind nur irrtümlich hier.«
Ich glaubte nicht eine Minute daran, aber ich mochte mir auch nicht die Konsequenzen ausmalen, falls die beiden tatsächlich Spione waren.
Mr Piper warf mir einen langen Blick zu, sagte aber nichts. Er lehnte sich gegen ein Fass und beobachtete schweigend, wie ich die beiden einer flüchtigen Durchsuchung unterzog.
»Nun, sie scheinen keine Waffen bei sich zu haben«, stellte ich fest, als ich ihre Taschen durchsucht hatte. Der Mann trug ein Unterhemd und eine dunkelgraue Hose, die Frau eine lange blaue Tunika aus Seide und eine dazu passende Hose. Es war ein wundervoller Stoff, und ich konnte nicht widerstehen und berührte sehnsüchtig den Saum der Tunika. Rasch holte mich jedoch die Realität wieder ein, und ich fuhr verstohlen über die schwere Wolle meiner Uniform, bevor ich mich zum Bootsmann umdrehte. »Ich frage mich, warum der Mann nur ein Unterhemd trägt?«
»Und dazu noch ein schwarzes«, sagte Mr Piper blinzelnd. »So schwarz wie die Teufelsrochen. Ich habe noch nie ein Unterhemd in dieser Farbe gesehen.«
»Vielleicht ist er ja ein Thuggee«, warf Mr Christian ein.
Ich blickte ihn überrascht an. »Ein Thuggee? Sie meinen doch die indischen Thuggees, oder?«
»Aye.« Er nickte ernst. »Meine Mum hat mir immer Geschichten von den Thuggees erzählt. Bevor der Großmogul die Macht übernommen hat, wurde ganz Indien von diesen Thuggees beherrscht. Es waren gefährliche Männer, todbringend und mordlustig. Meine Mum sagte, sie liefen ständig nur in Unterwäsche herum, weil man sie dann angeblich nicht hören konnte.«
Wir alle blickten auf den Mann auf der Kiste. »Natürlich kann man ihn jetzt nicht hören«, erklärte ich. »Aber er sieht eigentlich nicht besonders indisch aus.«
»Das gehört wahrscheinlich zu seinem cleveren Plan«, erwiderte Mr Christian und nickte verständig. »Er will doch bestimmt nicht aussehen wie ein Thuggee, oder? Dann wären Sie ja gewarnt und würden sich vor ihm in Acht nehmen. Die sind gerissen, diese Thuggees. Meine Mum hat immer gesagt, sie wären so gerissen wie eine Katze.«
»Was hat ein Thuggee denn im Frachtraum meines Schiffes verloren?«, fragte ich und durchsuchte den Mann erneut nach Waffen. Ich fand keine.
»Nun«, erwiderte Mr Christian und machte es sich auf einem Weinfass bequem. »Vielleicht ist er ja der Meister-Thuggee und wollte einfach nach Rom, um jemand Wichtigen zu töten, sagen wir mal, einen der Vertreter des Kaisers? Viele von ihnen sind ja jetzt da wegen der Hochzeit und so.«
»Das stimmt«, sagte ich gedehnt. Etienne hatte schließlich mein Schiff als Versteck für seine Fracht gewählt, um einen Schlag gegen die zahlreichen kaiserlichen Repräsentanten, die sich in Rom aufhielten, führen zu können. »Ich habe gehört, in Rom hält sich eine große Delegation auf, um den Vertrag mit dem König von Italien auszuarbeiten.«
»Deshalb muss der Thuggee auch dorthin, aber da alle Passagierschiffe unter genauer Beobachtung stehen, kann er nicht einfach mitfahren.« Mr Christian erwärmte sich sichtlich für das Thema. »Also versteckt er sich auf einem unbedeutenden Frachtschiff, wo er die Mannschaft – uns alle – nachts in ihren Betten töten wird. So kann er in Rom landen, ohne dass überhaupt jemand erfährt, dass er da war. Sein Plan ist zweifellos, unbemerkt zu entkommen, sobald er an Land ist, und seine niederträchtigen Pläne auszuführen.«
»Allmächtiger!«, sagte Mr Piper und betrachtete ehrfürchtig den immer noch bewusstlosen Mann. »Der Kerker ist noch zu gut für ihn. Lassen Sie uns den Sohn einer schäbigen Hure über Bord werfen, Captain.«
»Das Southampton Aerocorps hat berechtigte Einwände dagegen, dass Menschen aus Luftschiffen geworfen werden«, verwies ich ihn milde und fügte hinzu: »Und selbst wenn nicht, würde ich dem nicht zustimmen. Ihre Argumentation hat deutliche Schwachpunkte, Mr Christian.«
»Ach ja? Welche denn, Captain?«
»Erstens«, sagte ich und zählte die Punkte an meinen Fingern auf, »haben Sie die Frau gar nicht in Betracht gezogen. Wenn dieser Thuggee geschickt wurde, um Männer des Kaisers zu töten, warum ist dann diese Frau bei ihm?«
Der junge Mann beäugte ratlos die Frau. »Nun ja … vielleicht ist sie seine Komplizin?«
»Unwahrscheinlich«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Da ich keine Mörder – oder Thuggees –