Steckrüben und Kanonen - Ursula Raddatz - E-Book

Steckrüben und Kanonen E-Book

Ursula Raddatz

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 1914. Gerade träumte Wilma noch von einem gemeinsamen Leben mit Carl und ihrem Sohn Alexander, da fallen die Schüsse in Sarajewo und Carl zieht freiwillig in den Krieg. Wilma, die in Berlin schon alle Brücken abgebrochen hat, geht zu ihrer Mutter nach Kappeln. Aus «bis Weihnachten sind wir zurück» werden vier lange, harte Kriegsjahre, an der Front, aber auch in der Heimat. Feldpostbriefe sind das Band, das Wilma und Carl Hoffnung gibt und ihre Liebe am Leben hält. Nichts kann Wilma und Carl erschüttern, nicht einmal ständiger Kanonendonner, heimtückische Giftgasangriffe und endlose Steckrübenwinter. Intensiv und spannend geschrieben ist dieser Balanceakt zwischen Tod und Leben, Krieg, der Hoffnung auf Frieden und der Gewissheit, dass die Liebe über alles siegt...

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Buchbeschreibung:

Im Sommer 1914 fallen in Sarajewo die verhängnisvollen Schüsse auf den Thronfolger von Österreich, Erzherzog Franz Ferdinand und seine schwangere Frau Sophie. Sie lösen einen Flächenbrand aus, dem auch die Träume von Wilma und Carl zum Opfer fallen. Gerade noch sieht sich Wilma im fernen Alexandria an der Seite von Carl als seine Ehefrau, da gesteht er ihr, dass er sich dem Vaterland verpflichtet fühlt und dem Aufruf Kaiser Wilhelms II. folgen will, als Soldat im Krieg zu dienen.

Wilma, die in Berlin schon alle Brücken abgebrochen hat, bleibt nur, sich nach Kappeln, zu ihrer Mutter zu begeben. In dieser Kleinstadt, so hofft Carl, werden Wilma und ihr gemeinsamer Sohn Alexander in Sicherheit sein, solange der Krieg andauert. «Weihnachten bin ich wieder zurück», diesen Optimismus nimmt ihm bald die rasante Entwicklung des grauenvollen Stellungskrieges. Nur eines hält beide aufrecht, Carl in den Schützengräben der rasch stagnierenden Westfront und Wilma, die sich ihrer großen Verantwortung für die kleine Familie bewusst wird. Es sind die Feldpostbriefe, die für beide eine Nabelschnur bilden, wenn auch eine, die vielen Zerreißproben ausgesetzt ist. Werden Wilma und Carl den Krieg überleben? Werden sie sich einander entfremden? Carl im Dauerfeuer von Kanonen, Panzern und Giftgasangriffen? Wilma, die ihrerseits darum kämpft, die Familie vor dem Hungertod zu bewahren, den allgegenwärtigen Steckrüben zum Trotz?

Intensiv und spannend geschrieben, ist dieser Balanceakt zwischen Tod und Leben, Krieg, der ungebrochenen Hoffnung auf Frieden und der Gewissheit, dass die Liebe über alles siegt. Über all diesem aber steht die Frage, was bedeutet uns die Heimat...

Feldpostbriefe 1914/18

Historischer Roman aus der Zeit zwischen 1914 und 1918 Die Schauplätze: Berlin, Kappeln und irgendwo an der Westfront

Personenregister :Fiktive Personen:

Hauptpersonen:

Wilhelmine/ Wilma Schulze, – geb.18.01.1871 in Kappeln

Friederike Schulze , Mutter – geb.28.02.1851 in Berlin

Carl Meurer, Archäologe, Wilmas Lebensgefährte 30.06. 1865 in Potsdam

Alexander, Wilmas Sohn, geb. 17.07.1902 in Berlin

Helene, Wilmas Tochter, geb. 23. 04. 1915 in Kappeln

Leila (Elisabeth) Clementi, Kusine geb. 09.01.1871 in Berlin

Jan Paulsen, Kinder- und Jugendfreund – geb. 01.07.1867 in Kappeln

Meta Paulsen, Jans Mutter und Freundin von Friederike geb. 28.02.1851

Henriette Polzin, genannt "die rote Jette", Freundin von Wilma

Auguste Mehn, Dienstmädchen bei Annemarie, geb. 1876 in Brandenburg

Janne, eigentl. Johanna, Dienstmädchen bei Friederike Schulze

Annchen, Dienstmädchen, Nachfolgerin von Janne

Paul Maroldt, Leiter der Volksschule, ehem. Kommilitone von Jan Paulsen

Dorothea Maroldt, Pauls Ehefrau, Mutter von Töchterchen Elise

Carl Meurer als Leutnant führt einen Zug von ca. 30 Mann:

Jens August Petersen – geb. 15. März 1899 in Kappeln– Küken des Zuges

Feldwebel Ernst Wittbach, 25, Bär von Mann, hat immer alles im Griff

Vizefeldwebel Lutz Müller, 24, Intellektueller, hat Kontakt zu franz. Bevölk.

Gefreiter Reinhold Jäger, 22, sensibel, der vermeintliche Schwachpunkt

Johann Kramer, 36, aus der Eifel, wortkarg aber zuverlässig

Rudolf (Rudi) Bernt, 28, Norddeutscher redet auch nicht viel, packt an

Kalle Wirtz, 18, Berliner Junge, immer vorneweg, nicht nur mit dem Mund,

Peter Hirschauer, 30, aus Bayern, hält sich für was Besonderes.

Major von Selkinnen, Carls Vorgesetzter

Major Rochus von Thalberg, Nachfolger von Major von Selkinnen

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Reale Personen:

In Kappeln

Wilhelm Schreck, von 1905-1917 Bürgermeister in Kappeln

Gustav Spliedt, geb.1877 in Kappeln, verst. 1955, Arzt in Kappeln,

von August 1914 bis Dez. 1917, Stabsarzt in Frankreich und Flandern

Emmanuel Lorentzen, geb.1875, verst. 1960, Holzkaufmann in Kappeln

Richard Albert, geb.22.07.1885, verst.12.04.1978, Lehrer in Mehlby

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Weitere reale Personen:

Kaiser Wilhelm II. Deutscher Kaiser und König von Preußen,

geb. 27.01.1859 in Berlin, verst. 04.06.1941 in Doorn, Niederlande

Oberste Heeresleitung:

Generalstabschef Helmuth von Moltke (geb.1848, verst.1916)

Preußischer Kriegsminister, Erich von Falkenhayn (geb.1861, verst.1922)

Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (geb. 1847, verst.1934)

Generalmajor Erich von Ludendorff, (geb.1865, verst. 1937)

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Karl Liebknecht, (geb. 1871 in Leipzig, verst.15. Januar 1919 in Berlin)

Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Rosa Luxemburg, (geb. 1871 in Zamosc, verst. 15. Januar 1919 in Berlin)

Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands

Helene Lange, (geb. 1848 in Oldenburg, verst. 1930 in Berlin)

deutsche Politikerin (DDP), Pädagogin und Frauenrechtlerin.

Gertrud Bäumer, (geb. 1873, verst. 25. März 1954)

deutsche Frauenrechtlerin und Politikerin.

«Tue recht – und scheue niemand!»

Das war der Wahlspruch meines Schwiegervaters, der mir immer im Gedächtnis und im Herzen bleibt,

und dem ich in diesem Buch mit der Figur des «Fiete Fisch» ein kleines Denkmal setzen möchte.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Steckrüben und Kanonen

Prolog

Berlin...

Anfang August 1914

Wilma löste sich aus ihrer Erstarrung und lehnte ihre Stirn gegen das kühle Glas der Fensterscheibe. Sie schaute Carl nach, der unten auf der Straße zielstrebig davoneilte, dem entgegen, was er seine heilige Pflicht nannte. Würde er sich noch einmal umdrehen und zu ihr hinaufschauen? Sollte sie es als gutes Omen annehmen, wenn er es tat? Wilma hielt den Atem an, sah auf sein blondes Haar, das immer ein wenig verstrubbelt wirkte und in das sich erstes Grau mischte, seine kräftige Gestalt und flehte stumm, er möge sich ihr nur noch ein einziges Mal zuwenden. Doch er entfernte sich schnell, viel zu schnell. Im nächsten Augenblick würde er um die Ecke verschwinden, dann wäre er fort, vielleicht für immer. Wilma schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter, die drohten, ihr die klare Sicht zu rauben. Nur noch ein Schritt, dann...

Im letzten Moment ging ein Ruck durch Carls angespannten Körper, es sah aus, als drehte sich sein Kopf beinahe gegen seinen Willen zur Seite. Er sah nach hinten, nach oben, zu ihr. Nur eine Sekunde, die ihr wie eine kleine Ewigkeit erschien, verharrte Carl so, senkte seinen Blick in den ihren, dann war er fort, die Stelle leer, an der er eben noch innegehalten hatte. Wilma wandte sich um, langsam, noch Carls letzten Blick vor Augen und hob beinahe unbewusst den Wintermantel auf, der immer noch auf dem Boden lag, dort, wo sie ihn vor zwei Tagen hatte fallen lassen, als Carl so unverhofft in der Tür stand.

«Ist das wirklich erst zwei Tage her? Mir kommt es so vor», dachte sie voller Sehnsucht, «als wären es nur zwei kurze Stunden gewesen oder sind vielleicht inzwischen schon zwei Jahre vergangen? Warum hätten diese verwunschenen Tage nicht bis zum Ende unseres Lebens andauern können, so als wären sie und damit auch wir beide, aus der Zeit gefallen?»

«Gib auf dich acht, liebster Carl», flüsterte Wilma und streichelte dabei gedankenverloren den Pelzkragen des Mantels, als wären es die Haare ihres Geliebten. Sie fühlte ihn immer noch in ihren Armen, in ihrem Herzen.

«Jetzt muss ich den warmen Mantel doch mitnehmen», dachte sie, «der Winter an der Schlei kann hart sein, ganz anders als im heißen Alexandria.»

Sie seufzte. Wie schnell sich ihr Leben wieder einmal komplett auf den Kopf gestellt hatte. War vor noch zwei Tagen ihr Ziel die ägyptische Stadt Alexandria gewesen, wo Carl, ihr Geliebter, auf sie und ihren gemeinsamen Sohn Alexander warten würde, so packte sie jetzt erneut die Koffer, um zu ihrer Mutter nach Kappeln zu reisen. Dort, in ihrer Heimatstadt, oben im Norden des Deutschen Kaiserreiches in der Nähe der Ostsee, sollten sie in Sicherheit sein vor diesem Krieg, der ganz Europa zu überschwemmen drohte.

Wieder sah Wilma, schwankend zwischen Hoffnung und Besorgnis, Carl vor sich stehen, als er vor zwei Tagen unerwartet die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Sein unbewegtes Gesicht und seine Haltung strahlten eiserne Entschlossenheit aus. Mit knappen Worten teilte er ihr mit, dass er nicht anders könne, als dem Ruf des Vaterlandes zu folgen, sich der Armee anzuschließen und seine Pflicht als Soldat auf dem Feld der Ehre zu übernehmen.

Wilma, nachdem sie den ersten Schrecken und die erste Freude überwunden hatte, empfand es ein wenig zu dick aufgetragen, so, als wäre er selbst nicht sicher, dass er das Richtige tat. Sie schluckte die harten Worte hinunter, mit denen sie ihn von seinem, wie sie glaubte, unüberlegtem Vorhaben abbringen wollte. Nie würde sie verstehen, was ihn dazu trieb, sein Leben für ein Vaterland zu geben, in dem er doch nur wenige Jahre seines Erwachsenenlebens verbracht hatte. Sie versuchte es mit Vernunftgründen.

«Warum Carl, warum? Aus welchem Grund willst du dich diesem Krieg in den Rachen werfen? Du bist Archäologe, hast jahrelang für Deutschlands Ruhm im Wüstensand gegraben, dich mit wilden Räuberhorden und unnachgiebigen Ausgrabungsleitern herumgeschlagen. Glaubst du nicht, dass du genug zu Glanz und Gloria des Kaiserreiches beigetragen hast? Bitte, bleib bei deinem Plan und lass uns im fernen Ägypten endlich wie ein richtiges Ehepaar zusammenleben. Da fragt uns niemand nach einem Trauschein und dort bist du wohl auch vor den raffgierigen Händen deiner Noch-Ehefrau sicher.»

Einen kurzen Moment blieb Carl stumm, schien zu überlegen und Wilma hoffte mit klopfendem Herzen, er würde sich einsichtig zeigen. Doch dann ging ein Ruck durch den Mann und er trat einen Schritt zurück.

«Es tut mir leid, Wilma, ich kann nicht anders handeln. Auch wenn du es vielleicht nicht verstehst, ich muss tun, was mir meine Ehre als Mann und als Deutscher in dieser Zeit vorschreibt. Verzeih mir bitte, wenn du kannst.»

Wilma drehte sich um, starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Die Tränen der Enttäuschung liefen ihr die Wangen herunter, sie wischte sie nicht fort. Was würde jetzt noch alles Reden nützen? Carl wäre nicht mehr umzustimmen, so gut kannte sie ihn. Langsam wandte sie sich ihm wieder zu.

«Sag mir bitte nur eines, musst du sofort gehen oder bleibt uns noch etwas Zeit füreinander? Ich möchte wenigstens richtig Abschied nehmen dürfen von dir. Du ziehst in den Krieg und wer weiß, wann und ob wir uns wiedersehen.»

«Liebste Wilma», Carl hielt einen Schlüssel hoch, «schau, was ich hier habe.»

Er lachte, ein wenig Verlegenheit schwang darin mit. Wilma schaute fragend auf den Schlüssel.

«Es ist der Schlüssel zu einer Gartenlaube, die mir ein Freund zur Verfügung stellt. Geliebte, dort dürfen wir die Tage bis zu meiner endgültigen Einberufung ungestört verbringen, nur du und ich. Bitte, schlag mir diesen Wunsch nicht ab, komm mit und lasse diese kurze Zeit für uns der Halt und die Freude sein, an die wir uns erinnern können, solange wir getrennt sind.»

In Wilmas Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Ahnte Carl, was er mit seiner Bitte anrichtete? Sie schwankte zwischen harter Ablehnung und seliger Vorfreude. Wollte sie nicht genau wie er, jede gemeinsame Minute, die ihnen noch blieb, bis zur Neige auskosten? Endlich nickte sie stumm, er riss sie in seine Arme und wollte schon mit ihr aus dem Zimmer stürmen, da hielt sie ihn zurück.

«Warte bitte! Lass mir wenigstens noch das bisschen Zeit, um für Auguste und Alexander rasch aufzuschreiben, wo ich bin und wann ich zurückkomme. Die kriegen es fertig und laufen zur Polizei, wenn sie mich nicht finden. Und außerdem muss ich noch ein paar Sachen einpacken für...sag, wie viele Tage entführst du mich eigentlich?»

Carl musste über seine plötzlich so geschäftig wirkende Wilma lachen. Wo war jetzt die Furie von vorhin?

«Zwei Tage, leider nur zwei Tage hat man mir genehmigt, dann muss ich mich bei meiner Einheit melden. Doch diese beiden Tage und Nächte, werde ich dich, meine Allerliebste, nicht den klitzekleinsten Moment aus meinen Armen lassen, das verspreche ich dir hoch und heilig!»

Wilma warf ihm nur schnell eine Kusshand zu, während sie in fliegender Eile wahllos ein paar Kleidungsstücke in eine Reisetasche warf und einen Zettel für Auguste, ihre Mitbewohnerin schrieb, auf dem sie ihr mitteilte, dass sie ganz eilig verreisen musste, aber übermorgen wieder zurück sei und dass Auguste bitte auf Alexander achten solle. Eine genaue Erklärung gäbe sie dann natürlich auch noch ab.

Vor der Haustür wartete ein Automobil auf sie, etwas klapprig aber noch fahrtüchtig. Carl hielt ihr die Beifahrertür auf und steuerte den Wagen gekonnt durch Berlin, in Richtung Wannsee. Dort, in Ufernähe, stand unter alten Bäumen die Gartenlaube, mit allem ausgestattet, was zwei Liebende benötigen.

Stunden später saßen sie auf dem Bootssteg am Ufer, ließen ihre Füße ins Wasser baumeln und sahen dem Sonnenuntergang zu, der den Himmel über ihnen in flammendes Rot tauchte. Die Stille zwischen ihnen sagte mehr, als Worte es vermögen. Sie waren beisammen und das allein zählte. Für die beiden Liebenden stand die Welt still, egal was dort draußen vor sich gehen mochte.

Und wie wild es weiterging in der übrigen Welt. Der Konflikt, der mit den tödlichen Schüssen in Sarajewo begonnen hatte, schaukelte sich hoch. Das Deutsche Reich glich einem Dampfkessel, der vor Kraft vibrierte. Lange, in vielen heroischen Augen zu lange, gab es schon Frieden. Jetzt wollte das Reich seine Muskeln spielen lassen. Deutschlands Bevölkerung wuchs in atemberaubendem Tempo, die Wirtschaft sonnte sich in stetigem industriellem Wachstum. Das Einstige, als Herabsetzung erdachte «made in Germany», entwickelte sich zu einer Marke, die jetzt Qualität und reelle Preise versprach. Wen wunderte es da noch, dass die Nachbarstaaten ängstlich auf das zu stark gewordene deutsche Kaiserreich starrten und glaubten, nur in einem Zusammenschluss gegen die Deutschen die nötige Sicherheit zu erhalten. Wie konnte das Reich sich dies gefallen lassen? Die Schüsse in Sarajewo auf den Erzherzog und seine Gattin waren nur die Spitze des Eisberges. Sie setzten einen Flächenbrand in Gang, den niemand wollte, aber auch keiner aufhielt. Wohin das alles führen würde, das konnte sich kein Mensch in seinen schlimmsten Träumen ausmalen.

So ganz aus der Welt gefallen waren Carl und Wilma in ihrer Gartenlaube dann doch nicht. Er bat sie, ihm von der Rede des Kaisers zu berichten, die sie am 31. Juli eher ungewollt mitangesehen und gehört hatte. Wilma sah ihrem Liebsten zweifelnd in die Augen.

«Willst du das wirklich hören?» Nur ungern erinnerte sie sich an den Tumult vor dem Berliner Schloss, vor dem die Leute auf eine Stellungnahme des Kaisers warteten.

«Ja, es muss sein, damit wir beide wissen, warum ich mich nicht feige mit dir in Alexandria verstecken kann, während Deutschlands tapfere Söhne in den Krieg ziehen», in Carls Augen lag tiefer Ernst.

«Also gut, ich berichte es dir, so gut ich kann. Es war der letzte Nachmittag im Juli und ich kam gerade von unserem Kindergarten, in dem ich arbeite, als ich in die Menge geriet, die sich vor dem Berliner Schloss versammelt hatte. Es müssen viele, viele tausend Menschen gewesen sein. Eingekeilt stand ich dort und hörte, wie unsere Nationalhymne angestimmt wurde. Dann öffneten sich die Balkontüren des Schlosses und unser Kaiser, die Kaiserin und Prinz Adalbert traten auf die Balustrade. Ein ohrenbetäubendes Hurrageschrei brandete aus der wartenden Menge empor. Mit unbewegtem Gesicht stand der Kaiser einen Moment ganz still, dann hob er den Arm und es trat atemlose Stille ein. Mit erstaunlich klarer Stimme sprach Seine Majestät:

«Eine schwere Stunde ist heute über Deutschland hereingebrochen. Neider zwingen uns zu gerechter Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand. Jetzt geht in die Knie, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer.»

Wilma schwieg und wollte Carl das Gehörte auf sich wirken lassen, ehe sie davon berichtete, wie nach dieser Rede eine gewaltige Welle des Patriotismus über Berlin und bald auch über ganz Deutschland hinwegfegte. Dabei spürte sie selbst noch einmal die Erregung der Menge, in der sie eingekeilt stand und sich wohl oder übel das Hurragebrüll anhören musste.

«Immer noch war ich inmitten der gewaltigen Menschenmasse gefangen und konnte mich kaum rühren», sprach Wilma nach einer kurzen Atempause weiter, «eine unbeschreibliche Euphorie erfasste alle um mich herum. Spontan stimmte man diese vaterländischen Lieder an, die mir einen Schauer über den Rücken jagten. «Es braust ein Ruf wie Donnerhall» war zu hören und schließlich «Lieb Vaterland magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein». Glaub mir, Carl, mir wurde angst und bange vor dem, was diese erregte Menge in ihrem hehren Patriotismus anstellen könnte. Wie ich nach Hause kam, das weiß ich nicht mehr, nur dass es schon beinahe dunkel wurde und der Kaiser zuvor noch einmal auf den Balkon trat und unter dem erneut aufbrandenden Jubel der Berliner verkündete: «Wenn es zum Kampfe kommt, hört jede Partei auf. Wir sind alle deutsche Brüder!» Und alle sangen wieder, nicht nur in Berlin, sondern bestimmt auch in ganz Deutschland. Am Tag darauf, dem 1. August verkündeten rote Plakate an den Litfaßsäulen, dass seine Majestät der Kaiser die Mobilmachung des gesamten deutschen Heeres und der kaiserlichen Marine befohlen hatte. Ach Carl, ich fürchte mich so. Ich habe schreckliche Angst vor dem, was uns die Zukunft alles bringen wird.»

Carl umfasste Wilmas Schultern noch ein wenig fester, als wolle er zeigen, dass er immer für sie da sein würde. Da fiel ihm ein, dass er dieses Versprechen nicht würde einhalten können.

«Liebes, ich möchte dir erklären, warum ich überhaupt hier bin. Es ist einzig und allein deinetwegen so gekommen. Als ich in Alexandria weilte, überkam mich eine so große Sehnsucht nach dir und Alexander, dass ich nicht auf dich warten, sondern euch in Hamburg abholen wollte. Wie sehr freute ich mich darauf, mit den beiden liebsten Menschen an meiner Seite, zurück in unsere neue Heimat zu fahren, um mit euch dort endlich so leben zu dürfen, wie wir es uns schon seit vielen Jahren erträumten. Dann hörte ich, als ich bereits an Bord war, von den Schüssen auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo und ahnte, das wäre nur der Anfang von etwas, das wir noch nicht überschauen könnten. Kurz vor Hamburg erreichte uns die Mitteilung des Kaisers, von der Mobilmachung und ich wusste sofort, dass ich mich nicht ausschließen durfte. Es schien wie ein Wink des Schicksals, dass ich in dieser Zeit nach Deutschland zurückkehrte, in das Land, zu dessen Verteidigung ich jetzt bald aufbreche. Kannst du versuchen, mich ein klein wenig zu verstehen?»

Wilma schwieg lange. Wie sollte sie Carl ins Gesicht sagen können, was sie von seinem Patriotismus hielt. Er war ein Mann, sie eine Frau. Neues Leben zu schenken und zu behüten schien ihr wichtiger und richtiger, als für irgendeine abstrakte Idee in den Krieg zu ziehen. Warum, so fragte sie sich immer wieder, warum war sie nicht schon vor Wochen auf die Reise nach Alexandria gegangen und könnte dort jetzt mit Carl und ihrem Sohn in Sicherheit und Frieden leben?

Auch Carl schwieg. Er versuchte, für sich zu ergründen, worauf sich nicht nur bei ihm dieser tiefe Glaube an das heilige Vaterland stützte. Über vierzig Jahre Frieden lag hinter den Deutschen, sie waren stolz auf ihre Nation, dass in einem neuen Zeitalter, der Ära der Industrialisierung erblühte. Es gab jetzt viele Autos, Flugzeuge und Luftschiffe, die Zeitungen berichteten täglich von den neuesten sensationellen Erfindungen.

Das «liebe Vaterland» konnte ruhig sein, nichts schien es zu bedrohen. Aber jetzt, hier und heute, war Deutschland auf einmal in Gefahr. Davon wurde jeder erfasst, jeder musste sich entscheiden. Alle waren aufgerufen, für die Sicherheit der Nation zu sorgen. Davor konnte er sich doch unmöglich drücken. Es war seine Pflicht als Mann und Vater. Wie sollte er das Wilma nur deutlich machen? Sie war ein Frau, wie könnte sie das begreifen?

Über dem dunklen See ging der Mond auf, eine schmale Sichel, die kaum Helligkeit spendete. Wilma stand auf, streckte Carl ihre Hand hin und zog ihn mit sich, zu der Laube, wo sie ihre letzte gemeinsame Nacht verbringen würden.

«Lass uns diese Stunden zusammen verbringen, ohne Angst vor der Zukunft. Es zählt jetzt jede Minute, die wir einander haben, nur das und sonst nichts.»

Als Antwort verschloss Carl ihre Lippen mit einem langen innigen Kuss.

Viel zu schnell für die beiden Liebenden dämmerte der neue Morgen herauf und damit kam auch der Abschied. Sie fuhren zurück in Wilmas Wohnung. Carl hatte sich ausbedungen, dass Wilma ihn nicht zum Bahnhof begleiten solle. Er wolle sie so in Erinnerung behalten, wie er sie in diesen Tagen am See erlebt hatte. Ein letztes Mal nahm er sie in seine Arme.

«Es ist nicht wichtig, mein Herz, ob wir im Krieg siegen oder verlieren, denn unsere Liebe siegt über alles, sie ist das Einzige, das zählt. Bitte, tu dir und mir den Gefallen und fahre mit Alexander zu deiner Mutter nach Kappeln. Dort seid ihr sicherer als in Berlin und dorthin werde ich dir schreiben, so oft es mir irgendwie möglich sein wird. Bestimmt werde ich bald wieder bei euch sein. Das verspreche ich dir. Leb wohl, meine Liebste!»

«Warte bitte noch einen Moment, Carl. Ich schreibe dir nur rasch die Adresse auf, unter der du mir nach Kappeln schreiben kannst.»

Wilma griff nach Papier und Stift und kritzelte schnell etwas hin. Carl, der hinter ihr stand, beugte sich vor, las, was sie ihm aufgeschrieben hatte, und ein verschmitztes Lächeln flog über sein Gesicht.

«Ich verstehe», mehr sagte er nicht, steckte den Zettel ein, drückte Wilma noch einen Kuss auf die Wange und schritt so schnell davon, dass man glauben konnte, er wäre bei ihr geblieben, wenn er nur noch einen einzigen Moment zögern würde.

Wilma stand allein in ihrem Zimmer. Langsam beugte sie sich vor und lehnte ihre Stirn gegen das kühle Glas der Fensterscheibe. Sie schaute Carl nach, der unten auf der Straße zielstrebig davoneilte, dem entgegen, was er seine heilige Pflicht nannte. Verstehen konnte sie ihn immer noch nicht, aber sie akzeptierte seinen Entschluss, was blieb ihr auch anderes übrig. Wie oft, in der langen Zeit, die sie einander kannten und liebten, hatte sie von Carl Abschied genommen, weil er wieder einmal dem Reiz einer Ausgrabung in einem fernen Land nicht widerstehen konnte.

«Ich bin mit Leib und Seele Archäologe», hatte er ihr zu erklären versucht.

«Wenn du mich wirklich liebst, musst du lernen, mich mit alten Knochen und zerstörten Tempeln zu teilen.»

Wie schwer das war, hatte Wilma sich nicht vorstellen können und war doch bereit dazu. Dass es ihr das Herz zerreißen würde, Carl in diesen Krieg ziehen zu lassen, das ahnte sie nicht. Würde sie ihn bald unversehrt wieder in die Arme schließen können? Wäre er wirklich an Weihnachten wieder zu Hause, so wie der Kaiser es versprochen hatte...?

1. Kapitel

Berlin...

Mitte August 1914

Ein letztes Mal schaute Wilma sich in dem hellen freundlichen Zimmer um, das sie so lange Jahre in einer Wohngemeinschaft mit Auguste und Jette bewohnt hatte. Neben dem Bett stapelten sich Taschen und Koffer und sie fragte sich, wie sie das alles in den Zug bekommen sollten, der sie schon bald nach Norden, in ihre Heimat Kappeln brachte.

«He Mutsch», Alexander stürmte ins Zimmer und in ihre Gedanken mit der ganzen Wucht seiner zwölf Jahre. Ein lang aufgeschossener Junge war er, mit dem blonden, ständig verstrubbelten Lockenschopf und den blaugrauen Augen seinem Vater Carl sehr ähnlich. Prustend ließ er sich auf das leere Bett fallen und schmollte.

«Mensch Mama, warum können wir nicht hierbleiben. Ich will bei meinen Freunden sein. In dem blöden Kappeln kenne ich doch niemanden. Und in eine neue Schule gehen, das will ich auch nicht. Lass mich einfach hier. Mit Jette komme ich schon klar, die lässt mich bestimmt hier wohnen, da wäre ich auch nicht allein. Außerdem bin ich schon fast erwachsen, die paar Jahre, die mir dazu noch fehlen, pah! Bitte, sag ja, ich packe auch gleich alles wieder aus. Meine Badehose brauche ich jetzt unbedingt sofort, die Jungs warten auf mich, die wollen gleich zum Wannsee radeln. Darf ich mit?»

Wilma seufzte. Seit Tagen ging das so. Alexander wehrte sich mit Kräften dagegen, Berlin zu verlassen. Ständig kam er mit neuen Ideen und Ausreden. Sie konnte ihren Sohn aber doch nicht allein hier zurücklassen.

«Junger Mann, was soll dieses Theater? Nach Alexandria wärst du auch ohne großes Gejammer mitgefahren. Was ist anders an unserer Reise nach Kappeln? Hierbleiben können wir nicht, das weißt du genau. Es ist Krieg und da sind wir in Kappeln sicherer und besser aufgehoben. Also, pack endlich deinen Koffer, wir müssen bald los, unser Zug wartet nicht.»

Stur blieb Alexander sitzen, zog ein grimmiges Gesicht und dachte gar nicht daran, der Bitte seiner Mutter Folge zu leisten. Erst als Auguste das Zimmer betrat, anfing, wortlos zwei Taschen zu packen und damit die Treppe hinunter eilte, bequemte er sich, hinterherzugehen, betont langsam und mit hängenden Schultern, das personifizierte Elend.

«Alexchen», lachte Jette, Wilmas Freundin, langjährige Vermieterin und von Grund auf überzeugte Sozialistin, «lass dir nochmal umarmen Jungchen, ehe du auf und davon bist!»

Alexander entwand sich der Frau, die für ihn immer der Fels in der Brandung gewesen war und von der er sich jetzt im Stich gelassen fühlte. Schamhaft, wie zwölfjährige Jungs nun mal sind, war ihm die Umarmung peinlich. Dass er sich aber nach so einer liebevollen Geste gesehnt hatte, würde er nie zugeben.

Jette wandte sich jetzt Wilma zu, die vergebens die Tränen zu unterdrücken versuchte. Stumm nahm sie die Freundin in die Arme und dachte wehmütig daran, wie viele Jahre sie miteinander verbracht hatten, seit Wilma auf der Suche nach einer Bleibe, bei ihr gelandet war. Damals ahnte Henriette Polzin, wie Jette mit richtigem Namen hieß, dass diese junge Frau, die hier in Berlin gestrandet war, gut in ihre kleine Wohngemeinschaft hineinpassen würde. Über die Jahre war daraus eine tiefe Vertrautheit, eine unverbrüchliche Freundschaft geworden. Nur ungern ließ die rote Jette, die zwar einst schwarzes, inzwischen graumeliertes Haar, aber eine tiefrote Gesinnung besaß, Wilma und ihren Sohn ziehen. Es würde viel zu leer und zu ruhig um sie werden, das wusste sie, auch wenn ihre Arbeit für die sozialistische Partei, früher für Clara Zetkin und jetzt für Rosa Luxemburg, ihr kaum Freizeit ließ. Wehmütig dachte sie an Rosa, die eine vierzehn Monate dauernde Haftstrafe abzubüßen hatte und sie selbst sich vor Arbeit kaum retten konnte. Doch der Abschied von Wilma war Jette wichtiger als ihre Tätigkeit beim «Vorwärts», der SPD-Zeitung. Sie wischte sich heimlich über die Augen, wollte sich und der Freundin den Abschied nicht noch schwerer machen, als er ohnehin schon war. Mit ihrer flapsigen Art ging sie darüber weg.

«Ach Wilmachen, du bist doch nicht aus der Welt. Nach Kappeln werde ich wohl mal fahren können, Alexandria läge mir viel zu fern. So haben wir noch mal Glück gehabt, dass du und dein Alex im Kaiserreich bleiben könnt.»

Zögernd lösten sich die Freundinnen voneinander und stiegen gemeinsam die Treppe hinunter. Wilma drehte sich auf dem letzten Absatz noch einmal um und dachte an die vergangenen Tage, die ihr mehr an Mut abverlangt hatten, als sie vorher geglaubt hatte. Sie sah noch einmal Augustes entgeistertes Gesicht vor sich, als sie ihr vor ein paar Tagen, als sie mit Carl zurückkam, sagen musste, dass aus Alexandria nichts würde.

«Oh mein Gott, Wilma», das ehemalige Dienstmädchen von Wilmas Tante ließ um ein Haar das heiße Bügeleisen fallen, mit dem es gerade ein Bettlaken traktieren wollte. Geistesgegenwärtig griff Wilma danach und stellte es zurück auf die warme Herdplatte.

«Was mach ich denn jetzt, wo soll ich denn nun hin? Bitte nimm mich mit, ich fahre mit dir und Alexchen überall hin. Nur lass mich nicht hier allein zurück, bitte Wilma. Bitte!»

Auguste, von allen nur Juste genannt, ließ sich auf den Küchenstuhl fallen, achtete nicht auf den Stapel frisch gebügelter Bettwäsche, auf dem sie landete und schluchzte. Wilma legte ihr beruhigend die Hand auf die magere Schulter. Seit sie Juste als Vierzehnjährige im Hause ihrer Tante in der Friedrichstraße angetroffen hatte, war sie immer dünn geblieben. Aus dem verschüchterten Mädchen von damals, war im Laufe der Jahre eine resolute Frau mittleren Alters geworden, deren strohige Haare nicht mehr so blond waren, wie früher, aber sich immer noch kaum in eine kleidsame Frisur verwandeln ließen. Die vielen Sommersprossen verblassten allmählich, nur die hellblauen Augen verrieten den wachen Geist hinter dem biederen Aussehen. Auguste liebte Alexander seit dem Tag seiner Geburt. Das war Wilma bewusst. Wie sollte sie ihr nur erklären, dass sie selbst nach Kappeln ginge und dass es bei ihrer Mutter nicht genügend Platz gäbe für noch eine Person und sei es auch eine so tüchtige Frau wie Juste.

Wilma überlegte fieberhaft. Da fiel ihr siedendheiß ein, dass ihre Mutter noch gar nichts von ihrem Entschluss, nach Kappeln zu ihr zu ziehen, wusste.

«Bitte Juste, entschuldige mich für den Moment, ich muss erst etwas klären. Meine Mutter sollte doch wissen, dass sie nicht nach Hamburg fahren muss.»

Rasch eilte sie in den Flur, wo der Telefonapparat an der Wand hing. Schnell drehte sie an der Kurbel, um eine Verbindung zur Vermittlung herzustellen. Die freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, die sie nach ihren Wünschen fragte, erinnerte Wilma an die Zeit, als sie selbst ein «Fräulein vom Amt» gewesen war. Während die Verbindung nach Kappeln aufgebaut wurde, dachte sie an die lange zurückliegende Zeit, als sie wegen ihrer klaren Stimme bei der Telefonvermittlung angestellt wurde. Dann meldete sich ihre Mutter.

«Wilma, was ist geschehen? Ich war schon beinahe unterwegs zum Bahnhof. Was gibt es denn, was wir nicht in Hamburg besprechen könnten?»

«Mutter, bitte, hör zu. Der Krieg hat alles geändert. Carl hat sich zur Armee gemeldet, er meint, es sei seine Pflicht. Alexandria fällt aus diesem Grund leider aus. Ohne Carl und solange der Krieg dauert, können wir nicht dorthin. Ich habe hier aber schon meine Stellung im Kindergarten und auch mein Zimmer bei Jette gekündigt. Nun bleibt mir nichts anderes übrig, als dich zu fragen, ob Alexander und ich zu dir nach Kappeln kommen dürfen, vorübergehend, bis der Krieg zu Ende ist? Ich weiß sonst nicht, wohin wir gehen sollten. Ich weiß, es kommt alles zu schnell, zu überraschend für dich, doch du bist unsere einzige Rettung.»

Am anderen Ende der Leitung blieb es sekundenlang still, nur das Atmen von Friederike war zu vernehmen. Wilma hörte überlaut ihr eigenes Herz klopfen. Wie würde die Mutter sich entscheiden? Je länger die Stille andauerte, desto tiefer sank ihre Hoffnung. Dann vernahm Wilma plötzlich einen Laut, der sowohl Weinen als auch Lachen bedeuten konnte.

«Kind, Wilma», die Stimme der Mutter überschlug sich fast, «natürlich kommt ihr zu mir, daran darfst du doch nicht zweifeln. Beinahe bin ich deinem Carl dankbar, dass ich nicht, wie ich geglaubt habe, für immer von euch Abschied nehmen muss, sondern mit euch zusammenleben darf. Kommt zu mir, Wilma, mein Mädchen, kommt, so schnell ihr könnt.»

«Mutter, warte», unterbrach Wilma die Hochstimmung Friederikes, «ich habe noch eine weitere Bitte an dich. Ich möchte Auguste mitbringen, wenn das möglich ist. Auch sie weiß nicht wohin!»

«Auguste? Ach ja, Juste, Annemaries Mädchen, ich erinnere mich. Natürlich kann sie mitkommen. Auch für sie finden wir noch einen Platz. Ich bespreche es gleich mit Meta, das verstehst du sicher. Oh Kind, ich freue mich so sehr.»

Ehe Wilma antworten konnte, hatte die Mutter bereits aufgelegt. Lächelnd hängte auch sie das Sprachrohr auf die Apparatur. Oh ja, sie konnte sich genau vorstellen, wie ihre Mutter Friederike zu Meta, ihrer Nachbarin hinüberlief, die ihr seit ihrer Ankunft in Kappeln vor über vierundvierzig Jahren zur besten Freundin geworden war.

«Jetzt hocken die zwei bestimmt unter der großen Kastanie im Garten zusammen und beratschlagen, wie sie mich, Alexander und jetzt auch noch Juste unterbringen können», dachte Wilma. Eilig lief sie in die Küche zurück und verkündete die frohe Botschaft. Juste riss ungläubig die Augen auf und ließ vor lauter Freude beinahe wieder das Bügeleisen fallen.

«Ich darf wirklich mit? Ist das wahr? Deine Mutter nimmt mich auch auf? Ach, ich kann es kaum fassen. Ich darf mit nach Kappeln. Wo ist das eigentlich? Ich war doch noch nie von Berlin weg. Ich bin ja so aufgeregt!»

Juste ließ das Bügeln sein und tanzte herum, bis ihr einfiel, dass sie noch umpacken musste. Auch Wilma wollte noch den Rest ihrer Habe, die sie nicht mitnehmen konnte, in Kartons verstauen und bei Jette deponieren.

«Oh du lieber Himmel», dachte sie, «ob Jette mir hilft, das Zeug oben auf dem Dachboden zu verstauen? Bei meiner Mutter ist nicht so viel Platz in ihrem Häuschen, dass ich auch noch den halben Hausstand, den ich in Alexandria mit Sicherheit benötigt hätte, mitschleppen könnte.»

Mit bebenden Schultern stand sie in ihrem Zimmer und nahm erneut jedes einzelne Teil in die Hand. Das Bündel mit Carls Briefen, die er ihr in den letzten Jahren von den entlegensten Ausgrabungsstätten geschrieben hatte, drückte sie an sich. Die musste sie mitnehmen, unbedingt, denn in ihnen schlummerte ein Teil von Carls Seele. Sie würden ihr ein Trost sein, für die Zeit, in der sie wieder einmal getrennt waren.

Entschlossen legte sie die Briefe in ihre Tasche.

«Schluss mit den Sentimentalitäten», schalt sie sich selbst, «es erledigt sich nichts von allein. Tränen kann ich später noch vergießen um das, was hätte sein können. Schließlich muss ich mich ja auch noch um Alexanders Siebensachen kümmern. Es wird schwer genug, den Jungen zum Bahnhof zu schleifen. Wenn wir erst in Kappeln sind, wird er sich schon eingewöhnen. Mutter und Meta, so fürchte ich, werden ihn nach Strich und Faden verwöhnen.»

Wilma sah zum Fenster, glaubte für einen kurzen Augenblick, dass sie Carl erkennen würde, wie er zum Haus zurückkam. Ihr Herz schlug schneller, sie beugte sich vor und sah enttäuscht, dass es nur ein Mann mit einem ähnlichen Mantel gewesen war, wie Carl ihn trug.

«Mach dir nichts vor», schalt sie sich selbst und schob rasch die traurigen Gedanken fort, «Sieh nach vorn, denke an Kappeln und wie sehr Mutter und Meta sich freuen. Du weißt doch genau, dass Carl sich nicht anders entscheiden wird, als er es bereits getan hat, auch nicht aus Liebe.»

Seufzend wandte sie dem Fenster den Rücken zu und faltete ihre Wäsche zusammen. Dann bückte sie sich, hob den warmen Wintermantel auf und packte ihn obenauf in den immer noch auf dem Bett liegenden Koffer...

2. Kapitel

Unterwegs nach Kappeln ...

August 1914

«Endlich», dachte Wilma, «endlich sind wir unterwegs. Ich glaubte schon, dass der Zug ohne uns fahren würde.»

Sie lehnte sich in die Polster des Eisenbahnwaggons zweiter Klasse zurück und atmete tief durch. Obwohl sie alle rechtzeitig aufgebrochen waren, hatten sie nicht damit gerechnet, dass ihr Weg zum nahen Bahnhof Friedrichstraße noch immer von unentwegt spielenden Musikkapellen, wehenden Fahnen und enthusiastisch winkenden Menschen blockiert sein könnte. Soldaten, auf dem Weg zu ihrer Einheit, wurden begeistert gefeiert. Mädchen verschenkten ihre Blumensträuße an die enthusiastisch singenden jungen Männer und zahlreiche Liebespaare lagen sich zum Abschied in den Armen. Ein unbeschreibliches Durcheinander begleitete Wilma und ihren kleinen Tross bis zum Bahnsteig. Es bedurfte etlicher harter Ellenbogenstöße, um die Tür zu ihrem Abteil frei zu bekommen. Selbst als der Zug bereits anrollte, hörte das laute Jubeln nicht auf.

«Machts gut, ihr alle! Bis die Herbstblätter fallen, sind wir wieder daheim! Ja, das hat unser Kaiser versprochen», tönte es großspurig aus vielen jungen Männerkehlen.

«Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, wer soll uns aufhalten!»

Taschentücher flatterten, Mädchen liefen neben dem Zug her, ihre Hand in der ihres Liebsten, bis die Geschwindigkeit sie auseinanderriss, wie ein Omen auf kommende Ereignisse. Wilma lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie dem Zug hinterherschaute, der nach Westen, in Richtung Frankreich fuhr. Wo befand Carl sich gerade und wie mochte es ihm ergehen?

Dann, als sie schon glaubte, ihr Zug würde im Bahnhof stehen bleiben, gab es einen Ruck und ihre Lokomotive setzte sich in Bewegung. Sie fuhren nach Norden, nach Norden, dorthin, wo die Mutter sie erwartete und wo sie in Ruhe das Ende dieses unseligen Krieges abwarten wollten. Sie war beinahe leer, diese Eisenbahn, denn wer wollte sich schon nordwärts feige davonstehlen, wenn es galt, das Vaterland zu verteidigen.

Wilma sah sich um, sie hatten ihr Abteil für sich allein. Alexander eroberte sich natürlich einen Fensterplatz, sah sehnsüchtig dem Zug mit den Soldaten nach, von denen mancher kaum älter als er selbst zu sein schien.

«Mann, wenn ich doch nur schon achtzehn wäre, dann säße ich jetzt auch dort drüben in dem Zug nach Paris. Stattdessen muss ich mit euch fahren. Wir landen ja bloß in dem langweiligen Kappeln.»

«Sei froh, dass du dorthin kannst», meldete sich Juste zu Wort, «wer weiß schon, wie viele von den Jungs, die jetzt jubelnd in die Schlacht fahren, heil und gesund wiederkommen. Ein Krieg ist kein Kinderspiel!»

«Woher willst du das denn wissen», Alexanders Stimme klang trotzig, «du hast doch auch noch keinen erlebt!»

«Alex, so redest du nicht mit Juste und auch nicht mit mir. Ist das klar?»

Wilma ärgerte sich über das aufsässige Verhalten ihres Sohnes. Wo war nur der immer freundliche, leicht zu lenkende Junge hin, den sie geboren hatte. Ob er jetzt schon in das berüchtigte schwierige Alter kam? Wie würde es werden, wenn er sich in Kappeln auch so bockig anstellen sollte? Ach, ihr altes vertrautes Städtchen Kappeln, irgendwie freute sie sich darauf und hatte gleichzeitig Angst vor dem, was die Zukunft ihr dort bringen würde. Juste kramte derweil in einer ihrer unerschöpflichen Taschen nach einem Kartenspiel und lenkte Alexander damit ab. Es wurde ruhig im Abteil und Wilma sah aus dem Zugfenster. Statt der Landschaft schaute ihr das eigene Spiegelbild entgegen und sie erschrak ein wenig. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war verblüffend, das fiel ihr jetzt auf. Wilmas schulterlanges, nun aber aufgestecktes Haar war heller als Friederikes kastanienbraune Frisur und ihre Augen leuchteten bernsteinfarben, statt samtig dunkelbraun. Gemeinsam hatten sie die zierliche Figur und das feingeschnittene Gesicht, in dem sich bei Wilma zum Glück noch keine Falten abzeichneten.

War sie wirklich bereits dreiundvierzig Jahre alt? Es erschien ihr, als habe sie in den vergangenen Jahren mehr erlebt, als die meisten Frauen ihrer Generation in ihrem ganzen Leben. Wo war nur die Zeit geblieben? Mit dem gleichmäßigen Rattern der Räder drehten sich Wilmas Gedanken zurück in die Vergangenheit, sie sah das vertraute Kappeln ihrer Kindheit und frühen Jugend vor sich. Sie spürte noch einmal die große Aufgeregtheit in sich, die sie in der Nacht vor ihrem neunzehnten Geburtstag überkam, als sie sich heimlich aus dem Haus ihrer Eltern schlich und mit dem allerersten Zug nach Berlin fuhr. Nicht einen einzigen Tag länger hätte sie es ausgehalten, die brave Tochter zu spielen, die mit der Mutter die viel zu langweiligen Kaffeekränzchen der Pastorin besuchte, nur ungern an ihrer Aussteuer nähte und stickte, dabei sehnsüchtig träumend auf ihren Verlobten wartete.

Jan Paulsen, Nachbarssohn, Spielgefährte ihrer Kindheit und ihre erste große Liebe, wollte nach mehreren Semestern einen neuen Studiengang beginnen und bat sie um Verständnis, dass er die Verlobung noch hinausschieben wolle. Das war des Guten zu viel, Wilma begehrte auf. Sie war des ewigen Wartens auf ihn überdrüssig. Wo blieben denn ihre Wünsche, ihre Träume? Sie fühlte sich nicht dazu berufen, als schlichte Hausfrau und Mutter in einer Kleinstadt oder sonst irgendwo auf dem Land zu versauern. Sie wollte etwas Sinnvolles lernen, einen Teil der Welt sehen, endlich auf eigenen Füßen stehen. In Berlin, so hoffte sie, würde sie all das finden, was ihr vorschwebte. Sie wollte lernen, immer lernen, so viel wie nur irgendwie möglich.

Doch wie schnell hatte die große Stadt sie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ohne ihre Kusine Leila, die eigentlich Elisabeth hieß, den Namen Leila aber für mondäner hielt, wäre Wilma im Großstadttrubel ziemlich verloren gewesen. Leila nahm sie unter ihre Fittiche und tat welterfahren, obwohl sie nur ein paar Tage vor Wilma geboren war. Bei Leilas Mutter Annemarie, der älteren Schwester von Wilmas Vater, wurde sie liebevoll aufgenommen und unterstützt, wo immer sie es benötigte. Wie Blitzlichter tauchten vor Wilmas innerem Auge all die Stationen und Personen auf, die ihrem Leben eine neue Richtung gaben.

Helene Lange, die Verfechterin des Frauenrechtes gab ihr die Chance, mit anderen Frauen ein Seminar zu besuchen, das sie zur Lehrerin befähigen würde. Eine Liebschaft mit dem unzuverlässigen Richard beendete ihre Ausbildung abrupt. Eine ungewollte Schwangerschaft, eine heftige Grippe, während der sie das Kind verlor, warf Wilma in ihren Bemühungen, das Abitur nachzuholen, auf den Anfang zurück. Der Zufall trieb sie in eine Stehbierhalle, deren Besitzer Georg Aschinger, Wilmas Qualitäten erkannte und ihr eine sichere Stellung bot. Die Begegnung mit Martha Liebermann, der Ehefrau des berühmten Malers Max Liebermann, ebnete ihr den Weg, als Assistentin von Wilhelm Bode am Bau und der Einrichtung des Kaiser-Friedrich-Museums (das heutige Bode-Museum) teilzuhaben. Es war eine aufregende Zeit, die sie nicht würde missen wollen. Bei der feierlichen Einweihung des Museums stand sie, mit aufgeregt klopfendem Herzen, seiner Majestät, dem Kaiser gegenüber. In diesem Museum begegnete ihr etwas später Carl Meurer, der bald zu ihrer großen Liebe und zum Vater ihres Sohnes Alexander wurde. Mit Carl verband Wilma eine tiefe Liebe, die oft auf die Probe gestellt wurde, vor allem durch die langen Trennungen, bedingt durch Carls Beruf und Berufung als Archäologe. So war es auch jetzt wieder. Carl zog in den Krieg und Wilma vertraute fest darauf, dass er zu ihr zurückkäme. Er hatte allerdings recht, als er ihr vorschlug, dass sie und Alexander in Kappeln besser aufgehoben sein würden, als in Berlin. In Kappeln da,... siedendheiß fiel ihr etwas ein, dass sie aus ihren Träumen riss.

In Kappeln musste sie unbedingt als Wilma Meurer auftreten und Alexander sollte diesen Namen ebenfalls tragen. Das musste sie ihm dringend einschärfen. Nicht, dass er sich verplapperte. Wilma richtete sich auf und schaute zu Juste und Alexander hin. Beide waren in ein Kartenspiel vertieft, das der Junge soeben mit einem triumphierenden Lachen zu gewinnen schien.

«Siehst du Mama, Juste kann mir gar nix mehr beibringen, ich hab sie schon wieder geschlagen!»

«Ich weiß, dass du unschlagbar bist, wenn du es darauf anlegst, Alexander» , lachte Wilma. «Bitte lass das Spiel für einen Moment liegen und höre mir zu.»

Der Junge gehorchte und er und Juste sahen, wie Wilmas Miene strenger und härter wurde. Da galt es, besser zuzuhören, es musste wichtig sein.

«Wie du weißt, Alexander, bin ich mit deinem Vater nicht verheiratet. Die Gründe dafür dir jetzt darzulegen, ginge zu weit. Deshalb heiße ich eigentlich immer noch Wilhelmine Schulze und du trägst den Namen Schulze ebenfalls. In Berlin war das bisher kein Problem. Doch in einer Kleinstadt wie Kappeln, wo ich geboren und aufgewachsen bin und wo man mich immer noch kennt, wäre ich als unverheiratete Frau mit einem Kind nicht gesellschaftsfähig. Mit deinem Vater habe ich deshalb abgesprochen, dass ich in Kappeln als seine Frau, eben als Wilma Meurer gelten soll und du als unser Sohn. Weil ich nicht weiß, wie lange dieser Krieg dauern wird, und wann dein Vater zurückkommen wird, werde ich mir in Kappeln Arbeit suchen müssen, damit wir Geld zum Leben haben. Und das würde als ledige Mutter äußerst schwierig. Verstehst du das?»

«Mensch Mama, ich bin doch kein kleines Kind mehr», Alexander lachte, «ist klar, ab sofort bin ich Alexander Meurer. Kannste dich drauf verlassen! Finde ich sowieso besser als Schulze, so heißen doch viele!»

Wilma atmete auf, das war einfacher gewesen, als sie befürchtet hatte. Nur Juste meldete Bedenken an.

«Aber was ist mit den Papieren, Wilma? Wenn du dir eine Arbeit suchst, brauchst du doch Nachweise, wer du bist und was du kannst. Was machst du, wenn dich jemand nach deiner Heiratsurkunde fragt?»

Darüber hatte Wilma sich ebenfalls schon den Kopf zerbrochen und ihre Möglichkeiten von allen Seiten betrachtet. Als sie dann an das dichte Gedränge dachte, dem sie vorhin am Bahnhof Friedrichstraße ausgesetzt waren, kam ihr die rettende Idee. Sie würde einfach behaupten, dass ein Dieb ihre Handtasche gestohlen habe, in der sich die wichtigsten Urkunden befanden. Es sei alles so schnell gegangen, dass sie sich nicht einmal an einen Bahnbeamten wenden konnte, weil die Menge der Reisenden, in der sie eingekeilt waren, sie mit sich riss und in den abfahrtbereiten Zug drängte.

«Seht ihr, damit erkläre ich die fehlenden Unterlagen. Und falls jemand darauf besteht, dass ich in Berlin Ersatzpapiere ausstellen lassen soll, wird das durch den Krieg und die dadurch bedingten Widrigkeiten, so schnell bestimmt nicht möglich sein. Das habe ich alles gut durchdacht. Wichtig ist eigentlich nur, dass wir alle uns nie, niemals, unter keinen Umständen verplappern dürfen. Kann ich mich auf euch verlassen?»

Wilma schaute auffordernd in die Runde. Auguste nickte, auch wenn sie von dieser Lösung nicht ganz überzeugt schien. Alexander grinste, hob seinen Arm und versicherte seiner Mutter, dass er so verschwiegen wie ein Grab wäre.

«Großes Indianerehrenwort! Meine Lippen sind versiegelt!»

Erleichtert sank Wilma auf ihrem Sitz zurück. Das war leichter gegangen, als sie geglaubt hatte. Ob ihre Mutter und Meta, ihre Freundin und Nachbarin sie bei dieser Lüge bereitwillig unterstützen würden, wusste sie nicht, hoffte es aber inständig. Sie ahnte, dass auf die Mutter Verlass wäre, wenn sie ihr die Sachlage vernünftig erklärte.

Wieder versetzte sie das gleichmäßige Rattern der Räder des Zuges, der sie nach Norden brachte, in tiefe Nachdenklichkeit. Ob sie bald in Kappeln eine Möglichkeit finden würde, als Kindergärtnerin zu arbeiten, so wie sie es in Berlin seit Jahren tat, ging ihr durch den Sinn. Oder müsste sie wieder einmal etwas Neues erlernen? Dass sie sich vor keiner Arbeit fürchtete, hatte sie oft genug bewiesen. Irgendwie würde das Leben schon weitergehen, wie es bisher immer weitergegangen war. Über all diesen Grübeleien fielen ihr die Augen zu.

«Mama, wach auf, die Ostsee ist zu sehen, Schau mal wie blau das Meer heute aussieht, wie es funkelt und glänzt im Sonnenschein. Es ist so schön hier, darf ich auch an den Strand, wenn wir in Kappeln angekommen sind? Das Meer ist viel besser und viel größer als der Wannsee. Bitte Mama, darf ich?»

Wilma erwachte mit einem seltsamen Gefühl, das zwischen Vorfreude auf die Heimat und Angst vor der Zukunft schwankte. Sie kämpfte sich mühsam in die Wirklichkeit zurück.

«Alexander, du weißt doch genau, dass Kappeln nicht direkt an der Ostsee liegt, sondern an der Schlei.»

«Jaja, ich weiß schon, das ist ein langer, schmaler Arm der Ostsee, der von Schleimünde bis nach Schleswig reicht und, warte mal, ich glaube, 42 Kilometer lang ist.»

«Fein, Alexander, das hast du im Gedächtnis behalten. Lass uns erst einmal ankommen. Die Ostsee und der Strand, die laufen dir schon nicht davon.»

Wilma sah aus dem Fenster ihres Abteils und der Anblick der Ostsee, die in der langsam untergehenden Sonne in rosig-violetten Farben leuchtete, stimmte sie froh.

Bald, sehr bald würde sie wieder in der Heimat ankommen. Aber war es überhaupt noch ihre Heimat...?

3. Kapitel

Ankunft in Kappeln...

August 1914

Mit einem harten Ruck hielt der Zug an der Pontonbrücke, die über die Schlei führte. Hier war die Endstation, hier mussten alle Reisenden aussteigen, denn das fragile Gebilde der zusammengesetzten Boote schwankte zu sehr, um einen ganzen Zug darüber zu führen.

Alexander war natürlich bei den Ersten, die ausstiegen und er verrenkte sich beinahe den Hals, um zu sehen, ob sie abgeholt würden. Während Juste sich um das Gepäck kümmerte und kritisch dabei zusah, wie zwei kräftige Männer den großen Schrankkoffer aus dem Packwaggon ausluden, betrat Wilma mit heftig klopfendem Herzen den Boden, der zu ihrer Heimat gehörte. Zum Atemholen kam sie nicht, denn lautes Lachen, Rufen und Winken mit zierlich bestickten Tüchlein zeigten, wo ihre Mutter und deren Freundin standen.

Man konnte sich kaum einen größeren Unterschied zwischen diesen beiden Frauen vorstellen, die zierliche dunkelhaarige Berlinerin, Großstadtpflanze und Hugenottenabkömmling Friederike Schulze, und die kräftige, hochgewachsene Blondine Meta Paulsen, eine typisch Norddeutsche, kühl aber keineswegs kalt, zupackend und zuverlässig. Dass beide sogar am gleichen Tag geboren waren, überraschte niemanden, der sie kannte. Die temperamentvollere Friederike eilte auf ihre Tochter zu und umarmte sie liebevoll. Meta hielt sich im Hintergrund, sah Juste etwas hilflos neben dem Schrankkoffer stehen und griff ein.

«Jens und auch du, Nils, los packt das Trumm mal auf den Bollerwagen hier.»

Damit schob sie den beiden jungen Männern einen Handwagen entgegen, der bald unter der Last des schweren Koffers ächzte.

«Danke, Jungs, kommt mal vorbei und holt euch einen Schnaps bei mir ab!»

Ein kurzes Tippen an die Schiffermützen, und schon trollten sich die beiden Fischerjungs von dannen. Gemeinsam zogen Juste und Meta den Bollerwagen über die Brücke, Friederike, die sich in der Mitte bei Alexander und Wilma untergehakt hatte, marschierte freudestrahlend vorweg. Den Fährberg hinauf schob man gemeinsam den Handwagen und bog dann in die Mühlenstraße ein. Wilmas Herz klopfte schneller, als sie ihr Elternhaus erblickte, das sich dicht an Metas Haus drängte, als wollten die beiden ebenfalls ihre Freundschaft kundtun. Die einstigen Fachwerkhäuser hatten in den vergangenen Jahren jeweils eine neue, feinverputzte Fassade in zartem Gelb und Rosé erhalten.

«Schön hier, oder?» Friederike lachte, sah entspannt und glücklich aus.

Wilma wunderte sich noch mehr. Was war nur aus ihrer Mutter geworden, so freizügig und dabei so fröhlich, kannte sie die inzwischen 63-Jährige nicht. In Wilmas Kindheit hatte sie die Mutter zwar als liebevoll, aber auch immer etwas zurückhaltend erlebt. So offen zu sein, war ihr früher nicht möglich gewesen.

«So, nun aber herein», unterbrach Friederike die Gedanken ihrer Tochter.

Meta, Juste und Alexander hatten den Schrankkoffer schon ins Haus geholt und bis ins Wohnzimmer gewuchtet.

«Weiter geht es nicht», stöhnte Alexander und hielt sich übertrieben leidend den Rücken. «Diesen Elefantenkoffer bugsiere ich nicht auch noch die Treppen rauf, das müsst ihr hier unten auspacken! Wann gibts was zu Essen, ich habe Hunger wie der berühmte Berliner Bär!»

«Wir alle, mien Jung, wir alle. Dann kommt mal mit!»

Meta machte die Tür zum Garten auf und für Wilma öffnete sich damit auf einmal wieder das Paradies ihrer Kindheit. Unter der schönen großen Kastanie, die mitten in Friederikes Garten stand, war ein Tisch liebevoll gedeckt, mit allem, was hungrige Reisende sich nur wünschen konnten. Alexander stürzte heißhungrig hin, wurde aber von seiner Mutter aufgehalten.

«Warte bitte, nur einen Augenblick. Lasst uns diesen Moment genießen und Auguste in Kappeln willkommen heißen. Sie ist doch zum allerersten Mal hier.»

Mit großen Augen sah die Berlinerin sich um, ließ den Blick auf die Schlei auf sich wirken, die unter dem Vollmond sanfte Wellen glitzern ließ. Ganz dunkel war es noch nicht, der Himmel, der sich weit über ihnen ausdehnte, schien aus blauem Samt zu bestehen, von zahllosen Sternen wie mit Diamanten besetzt. Die flackernden Laternen, die Meta in die Kastanie gehängt hatte, die leise im Wind schaukelten und die Windlichter, die den Tisch erhellten, machten aus dem schlichten Garten ein Märchen aus tausendundeiner Nacht.

«Oh, wie wunderschön!» Juste fehlten die Worte, um zu beschreiben, was sie gerade fühlte. Eine kleine Träne rann ihr die schmalen Wangen hinunter, es war eine Träne des Glücks und der Rührung. Sie drehte sich zu den anderen um.

«Oh, wie sehr danke ich euch allen, dass ich dies hier sehen und hier bei euch bleiben darf. So etwas Schönes habe ich noch nie erlebt.»

«Nun setzt euch schon», Metas Stimme nahm einen Befehlston an, um ihre Rührung zu verbergen, «das Essen ist nicht zur Verzierung da?»

Noch lange saßen sie in dieser lauen Sommernacht unter der Kastanie und ließen viele Begebenheiten von früher noch einmal auferstehen. Alexander grinste bei mancher Anekdote in sich hinein, hörte er doch Dinge von seiner Mutter, die er ihr nie im Leben zugetraut hätte. Irgendwann übermannte sie alle dann doch die Müdigkeit und Wilma bat ihre Mutter darum, sie möge ihnen ihre Schlafplätze zuteilen. Sie hatte schon auf der Fahrt darüber nachgedacht, wie ihre Mutter sie alle in ihrem nicht sonderlich großen Haus unterbringen könnte. Auf die einfachste Lösung aber war sie nicht gekommen. Friederike ging vor ins Haus, während Meta und Juste den Tisch abräumten. Sie stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu Wilmas ehemaligem Zimmer.

«Hier, lieber Alexander, ist dein Reich. Es ist unterm Dach, mit der schönsten Aussicht auf die Schlei. Du kannst beinahe bis Schleimünde sehen, wenn das Wetter es zulässt. Nun, meinst du, du kannst dich hier wohlfühlen?»

Alexander, so müde, wie er war, streifte nur schnell seine Schuhe ab und ließ sich aufs Bett fallen.

«Is superprima», nuschelte er nur noch und war schon eingeschlafen.

Lächelnd deckte Wilma ihren Sohn zu, auch sie spürte die Müdigkeit nach der langen Fahrt. Friederike öffnete die Tür zur ehemaligen Dienstbotenkammer. Wilma staunte schon wieder. Das kleine Zimmer war mit einer freundlichen Tapete ausgestattet worden, luftigen Gardinen, einem Bett, das sehr bequem aussah, dem schöngeschnitzten Kleiderschrank und einer passenden Kommode. Mehr Platz war nicht in dem kleinen Raum, der trotzdem gemütlich wirkte. Wilma wollte schon ihre Tasche auf die Kommode stellen, da hielt die Mutter sie zurück: «Nein mein Kind, dieses Zimmerchen ist für Auguste gedacht. Meinst du, sie wird sich hier wohlfühlen?»

«Nehmen die Überraschungen heute gar kein Ende? Ich denke, Juste wird begeistert sein. Aber wo soll ich schlafen? So viele Räume hat das Haus nicht.»

«Komm, Wilma, lass uns wieder nach unten gehen. Dort ist das Badezimmer, das ich habe einbauen lassen, nachdem dein Vater verstorben war.»

Die schlichte Tür, hinter der sich nun das Bad befand, verriet nichts von dem, was Friederike aus der einstigen Abstellkammer hatte machen lassen. Neben der Toilette mit Wasserspülung und dem Waschbecken gab es sogar eine kleine Badewanne und einen Badeofen, der beheizt werden konnte und das benötigte Warmwasser zum Baden lieferte.

«Na, was sagst du?» Friederike lächelte. «Wir leben hier auch nicht mehr hinterm Mond. Die zartblauen Fliesen habe ich selbst ausgesucht. Und nun komm, die größte Überraschung folgt jetzt!»

Die Mutter öffnete die Tür zum Elternschlafzimmer und bat Wilma hinein. Da war nichts mehr, das auch nur im entferntesten an das ehemalige Schlafgemach erinnerte. Ein Hauch von Meergrün, wie die Schlei an einem Frühlingstag, war die vorherrschende Farbe, fand sich im Kissenbezug des breiten Bettes, in den Vorhängen und dem dicken Teppich wieder. Das helle, warme Holz der Möbel harmonierte aufs Schönste damit. Mit großen Augen schaute Wilma sich um, dann ahnte sie etwas.

«Mutter, soll dieses Zimmer für mich sein? Es ist einfach umwerfend, ein Traum. Du wusstest noch genau, welche Lieblingsfarbe ich schon als Kind hatte. Aber, sag, wo willst du dann schlafen? Noch ein Schlafzimmer gibt es nicht, soweit ich mich erinnere. Im Erdgeschoss ist doch kein Platz neben Küche und Wohnzimmer, oder?»

«Liebes Kind, richte dich hier so ein, wie du möchtest, und mach dir um mich keine Sorgen. Ich wohne drüben bei Meta, schon seit längerer Zeit. Wie du weißt, ist auch Meta eine Witwe, und so haben wir überlegt, gemeinsam zu leben. Das ist einfacher. Morgen können wir alles in Ruhe bereden, dir fallen doch schon die Augen zu. Schlaf gut und träume von etwas Schönem, in dieser ersten Nacht in deinem Elternhaus, seit langer, seit viel zu langer Zeit....»

4. Kapitel

Feldpostbrief

Auf dem Weg nach Frankreich...

Ende August 1914

Carl saß eingezwängt zwischen all den Männern, die sich nach dem Aufruf des Kaisers zu den Waffen gemeldet hatten, in einem Eisenbahnwaggon auf dem Weg nach Frankreich. Das gleichmäßige, eintönige Rattern der Räder und das dämmrige Licht in dem Viehwaggon, in den man sie alle gepfercht hatte, führte dazu, dass Carl seinen Gedanken freien Lauf ließ.

Seit seinem raschen Entschluss, sich der Pflicht als Untertan des deutschen Kaiserreiches zu stellen, war viel geschehen. Am 1. August erklärte Deutschland Russland den Krieg und am nächsten Tag, dem 2. August, besetzten deutsche Truppen das kleine Land Luxemburg. Einen Tag später erklärte das Deutsche Reich den Franzosen den Krieg und überfielen beinahe im gleichen Atemzug am 3. August, das neutrale Belgien.

Zu dieser Zeit hielt Carl noch seine Wilma in den Armen, in der kleinen Hütte am See. Schnell schob er die bittersüße Erinnerung beiseite. Er wollte in diesem Augenblick lieber nicht an Wilma denken und daran, ob und wann er seine Liebste wiedersehen würde. Als er sich umsah, bemerkte er, dass die meisten seiner neuen Kameraden jung waren, erschreckend jung und einem heroischen Taumel verfallen, den er selbst nicht teilen konnte. Noch lange, nachdem der Zug Berlin verlassen hatte und in Richtung Süden fuhr, ertönten Soldatenlieder aus den jungen Kehlen, bis auch die Entschlossensten dem Schlaf anheimfielen. Carl, dem die Luft zu stickig war und das laute Schnarchen der übermüdeten Helden die Ruhe raubte, machte sich Gedanken über den Schlieffen-Plan, der die Grundlage der deutschen Strategie darstellte. Bis jetzt hatte er funktioniert. Die enorme Schnelligkeit, mit der deutsche Truppen nach Westen befördert wurden, um Überraschungsangriffe auf Frankreich zu starten, hatte für diesen Plan gesprochen. Das bisher neutrale Belgien einfach zu überrennen, fand Carl nicht gerechtfertigt. Aber seine Meinung war hier nicht gefragt. Wenn es in dem Tempo weiterging, hätte man Frankreich schnell in der Tasche, und könnte sich dann auf Russland konzentrieren. Wenn, ja wenn alles nach dem Schlieffen-Plan lief. Was aber die Deutschen wirklich antrieb, das blieb Carl verschlossen. War es die Erinnerung an den schnellen Sieg über Frankreich von 1870/71, der die jungen Soldaten davon träumen ließ, zum Frühstück bereits in Paris zu sein? War es die vermeintliche Vormachtstellung Deutschlands in Europa? Oder ging es ihnen einfach nur viel zu gut? Carl, der als Archäologe in den letzten Jahren die meiste Zeit nicht in Deutschland, sondern auf Ausgrabungen in Ägypten und Libyen war, hatte die Entwicklung von Industrie und Wirtschaft nicht miterlebt, die den Aufschwung der Deutschen himmelhoch beförderte. Dazu kam die lange Friedenszeit, die vielen Menschen allzu lang erschien. Die Deutschen waren mehr als bereit, den anderen Ländern ihre Stärke zu zeigen, allen voran Kaiser Wilhelm II., der auf seine aufgerüstete Marine baute. Das alles war eine äußerst explosive Mischung, die nun in einem europaweiten Krieg ihren Ausbruch fand.

«Ach, was soll diese Grübelei», dachte Carl und versuchte, sich in eine etwas bequemere Position zu bringen. Doch die Enge im überfüllten Waggon ließ kaum eine Bewegung zu. Schlaflos starrte er zur Decke, sah Wilmas Gesicht vor sich, ihr Lächeln und wusste auf einmal nicht mehr, warum er seinen einstigen Plan einfach über den Haufen geworfen hatte, nur um ein Reich zu verteidigen, dass er kaum als seine Heimat betrachtete.

«Heimat», dachte er weiter, «was bedeutet mir dieses Wort und wo bin ich wirklich zu Hause? Habe ich während all der Jahre zwischen Wüstensand und alten Grabstätten das Gefühl dafür verloren, wo ich daheim bin? Hätte ich mir mit Wilma und Alexander in Ägypten eine Heimat aufbauen können? Wäre das richtiger gewesen? Ach, Schluss mit diesen Gedanken, die doch zu nichts führen. Hätte, wäre, könnte, das bringt mich nicht weiter.»

Carl nahm sich vor, beim nächsten Halt zu versuchen, sich einen Platz oben auf dem Waggon zu erobern. Dort bekäme er wenigstens frische Luft und auch die Möglichkeit, die Gegenden des Deutschen Reiches, die er verteidigen sollte, mit eigenen Augen zu sehen. Irgendwann übermannte ihn dann doch der Schlaf, aus dem er abrupt erwachte, vom Lärmen der jungen Soldaten geweckt, die sich auf ein reichhaltiges Frühstück stürzten, das ihnen von der überschwänglichen Bevölkerung am nächsten Halt dargeboten wurde. Carl rappelte sich ächzend hoch, auch er verspürte Hunger. Wie er sich vorgenommen hatte, saß er bald oben auf dem Waggon neben den Maschinengewehren, die mittransportiert wurden. Er sah zum ersten Mal den Rhein und seine mit Weinreben bepflanzten Hänge an sich vorüberziehen, Burgruinen auf steilen Felsen, ein Idyll, das schon von vielen Dichtern romantisch besungen wurde.

«Wenn Wilma das doch auch sehen könnte», dachte er und nahm sich vor, mit ihr eine Reise durch Deutschland zu machen, nach dem Krieg. Sie kannte nur die Hauptstadt Berlin und das Städtchen Kappeln, aus dem sie stammte.

«Wenn ich ehrlich bin, dann kenne ich Ägypten besser als mein Deutschland. Das werde ich ändern, wenn dieser Krieg vorbei ist. Wäre ich nur schon wieder bei Wilma.»

Während des nächsten Haltes kramte Carl aus seinem Rucksack Briefpapier und Bleistift heraus, um den ersten Brief an seine Liebste zu schreiben. Es drängte ihn, ihr mitzuteilen, was er bisher erlebt hatte.

«Feldpostbrief irgendwo auf dem Weg nach Frankreich, den Rhein entlang. An meine geliebte Wilma,