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Bayern, 1704. Höchstädt an der Donau: Die entscheidende Schlacht des Spanischen Erbfolgekriegs steht bevor. Auf der einen Seite die Briten unter John Churchill, Herzog von Marlborough, und die Österreicher unter Prinz Eugen von Savoyen. Auf der anderen das französische Heer unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. Mitten im Pulverdampf: Jack Steel, Grenadier Ihrer Majestät und ein Mann von Ehre. Aus einfachen Verhältnissen stammend, hat er sich zum Lieutenant hochgedient. Doch die adeligen Offiziere akzeptieren ihn nicht als ihresgleichen und tun alles, um ihn als Verräter zu brandmarken ...
Die packende Abenteuer-Serie für alle Leser von Bernard Cornwells Sharpe-Romanen.
Band 2: Steels Duell.
Band 3: Steels Entscheidung.
eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.
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Seitenzahl: 508
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Über das Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Karte
PROLOG
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EPILOG
ZUM HISTORISCHEN HINTERGRUND
Bayern, 1704. Höchstädt an der Donau: Die entscheidende Schlacht des Spanischen Erbfolgekriegs steht bevor. Auf der einen Seite die Briten unter John Churchill, Herzog von Marlborough, und die Österreicher unter Prinz Eugen von Savoyen. Auf der anderen das französische Heer unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. Mitten im Pulverdampf: Jack Steel, Grenadier Ihrer Majestät und ein Mann von Ehre. Aus einfachen Verhältnissen stammend, hat er sich zum Lieutenant hochgedient. Doch die adeligen Offiziere akzeptieren ihn nicht als ihresgleichen und tun alles, um ihn als Verräter zu brandmarken …
Die packende Abenteuer-Serie für alle Leser von Bernard Cornwells Sharpe-Romanen:Band 2: Steels Duell.Band 3: Steels Entscheidung.
Iain Gale hatte immer eine Leidenschaft für Militärgeschichte. Er ist Herausgeber von Scotland in Trust, der Zeitschrift des National Trust for Scotland, und schreibt als Kunstkritiker für Scotland on Sunday. Er wohnt mit seiner Frau und ihren gemeinsamen Kindern außerhalb von Edinburgh.
Iain Gale
STEELSEHRE
Aus dem Englischen vonDr. Holger Hanowell
beBEYOND
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2007 by Iain Gale
Titel der englischen Originalausgabe: »Man of Honour«
Originalverlag: HarperCollins Publishers Ltd.
Originally published in the English language by
HarperCollins Publishers Ltd. under the title
Man of Honour
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2012/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Volker Neuhaus, Oberhausen
Karte: Dr. Helmut Pesch, Köln
Titelillustration: © Larry Rostand
Umschlaggestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung einer Illustration © Larry Rostant
Datenkonvertierung eBook: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5118-7
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
FÜR SARAH
OBERBAYERN, JULI1704
Unvermutet waren sie bis hierher gekommen, um den Krieg tief in den Süden zu tragen. Ein Armee aus vielen Nationen: Engländer und Schotten, Hannoveraner und Preußen, Hessen, Dänen und Niederländer. Sie verfolgten nur ein Ziel: Frankreich und sein Verbündeter Bayern sollten besiegt werden. Den französischen König, Ludwig XIV., hielten sie für einen machthungrigen Wahnsinnigen, der sich selbst als »Sonnenkönig« titulierte. Es war offenkundig, dass er erst dann zufrieden sein würde, wenn er ganz Europa besaß, von Spanien bis Polen. Und so kam es, dass das Schicksal an diesem schwülen Tag Anfang Juli, als der Nachmittag dem frühen Abend wich, Tausende Männer nach Donauwörth führte, in eine kleine bayerische Stadt mit alten Mauern und Verteidigungsanlagen.
Oberhalb des Städtchens, auf der Kuppe eines steilen Hanges, stand eine Festung. Den Hügel hatten die Einheimischen aufgrund seiner charakteristischen Form schon vor langer Zeit »Schellenberg« getauft. Allen Soldaten, die jetzt im Schatten des Schellenbergs standen, war klar, dass erst die Anhöhe und die kleine Festung eingenommen werden mussten, ehe man die Franzosen besiegen und nach Paris zurückdrängen konnte. Nur so ließe sich die Bedrohung durch den Sonnenkönig für immer aus der Welt schaffen.
Ein hochgewachsener junger Offizier stand ein paar Schritte vor der angetretenen Kompanie englischer Soldaten, wegen ihrer Uniformen auch »Rotröcke« genannt, und blickte hinauf zu der Festung auf dem Hügel. Seit zwei Stunden wartete dieser Offizier nun schon auf den Befehl zum Angriff, und mit jeder verstreichenden Minute kam ihm die feindliche Stellung abschreckender vor. Wie fast jeder Offizier in der Armee hegte er die größte Achtung und Bewunderung für seinen Oberbefehlshaber, aber in diesem Augenblick überkam ihn die Furcht, dieses Unternehmen könnte zum Scheitern verurteilt sein. Doch er versuchte, den Gedanken zu verscheuchen und vor den Reihen seiner Männer wenigstens ein Mindestmaß an Kaltblütigkeit zu wahren. In diesem Augenblick schlug die erste Kanonenkugel vor den Reihen der uniformierten Infanteristen auf, federte mit gnadenloser Präzision vom harten Grasboden ab, traf vier Soldaten und zerschmetterte ihre Körper zu einem Brei aus Blut, Fleisch und Knochen.
»Spürt Ihr die Hitze, Mr. Steel?«
Der Lieutenant hob den Blick. Die große Gestalt, die vom Pferderücken aus zu ihm hinunterblickte und eine wallende Perücke trug, zeichnete sich als dunkler Schemen gegen die Sonne ab.
»Ein wenig, Sir James.«
»Ein wenig? Ich dachte, Ihr wärt daran gewöhnt, nachdem Ihr schon so lange Soldat seid. Wie viele Jahre noch gleich?«
»Bald sind es zwölf, Colonel.«
»Aber natürlich, wie konnte ich das vergessen? Ihr habt Euch Eure Sporen in den Nordischen Kriegen verdient, nicht wahr? Ihr habt gegen die Russen gekämpft. Da war es ein bisschen kühler, nehme ich an.«
»Ein bisschen, Sir.«
»Warum seid Ihr überhaupt dorthin gegangen? Narva, Riga … Was waren das für Schlachten?« Es war keine Frage, eher eine abfällige Bemerkung. »Nun, Steel, wie schätzt Ihr heute unsere Chancen ein? Können wir es schaffen?«
»Ich glaube schon, Sir. Aber einfach wird es nicht.«
»Gewiss nicht. Aber wir müssen diese Stadt einnehmen. Sie ist der Schlüssel zur Donau und das Tor nach Bayern. Doch um die Stadt erobern zu können, muss zuerst diese Festung fallen. Wir müssen sie durch einen Frontalangriff nehmen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Sicher, Ihr könntet jetzt einwenden, dass eine Belagerung die beste Lösung sei, und damit hättet Ihr recht. Aber uns fehlen die nötigen Geschütze. Deshalb hat unser Oberbefehlshaber, der Herzog von Marlborough, den Frontalangriff befohlen. Also wird es so gemacht. Wir werden unter feindlichem Beschuss den Hügel hinauf die Festung stürmen.«
Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Wir werden schlimme Verluste erleiden. Um einen solchen Preis sollte man keine Schlacht gewinnen, weiß Gott nicht. Das wird ein ganz anderes Gemetzel als Eure Schlachten aufseiten der Schweden, das kann ich Euch versprechen. Russen. Schweden … Mann Gottes, Steel. Ich weiß wirklich nicht, was ein Kerl wie Ihr daran finden konnte. Nun ja, heute sind es keine Russen. Heute müssen nur die Franzosen und ihre bayerischen Freunde besiegt werden. Eine harte Nuss, wie? Schönen Tag noch.«
Colonel Sir James Farquharson lachte, verabschiedete sich von dem jungen Lieutenant, indem er sich an den Hut tippte, und ritt die Front des Bataillons entlang. Seine Stimme erhob sich über den Geschützdonner, als er den anderen Kompanieführern, die mit ihren Leuten zum Sturm auf die Festung Aufstellung genommen hatten, seine Grüße entbot. »Guten Tag, Charles. Ah, Henry, schönen guten Tag! Wir sehen uns zum Abendessen in Donauwörth.«
Steel schüttelte lächelnd den Kopf. Er wusste, dass ein Mann wie Sir James niemals verstehen würde, weshalb er, Steel, für die Schweden gekämpft hatte. Für Sir James war das Soldatentum Bestandteil eines Lebens als Offizier und Gentleman. Es hatte nichts damit zu tun, dass er sich zum Soldaten berufen fühlte oder auf der Suche nach Kampf und männlicher Bewährung war. Soldat zu sein hatte für den Colonel mit Paraden, Flaggen und Ritterlichkeit zu tun. Aber John Steel hatte in den vergangenen zwölf Jahren eines gelernt: Im Krieg gab es keine Ritterlichkeit.
Er blickte zu seinen Leuten hinüber, wo die Sergeants und Corporals wieder Ordnung in die Reihen brachten und die blutigen Lücken mit frischen Männern aus den hinteren Reihen schlossen. Die verstümmelten Leichen wurden fortgeschafft.
»Der Colonel scheint bester Laune zu sein, Sir. Meint Ihr, er glaubt an unseren Sieg?«, fragte eine tiefe, angenehme Stimme, die Jacob Slaughter gehörte, Steels Sergeant. Der eins neunzig große Nordengländer mit dem lückenhaften Gebiss und den kräftigen Gliedmaßen war der einzige Mann in der Kompanie, der noch größer und breitschultriger war als Steel. Slaughter hatte sich in die Armee geflüchtet, um nicht in den Kohleminen im County Durham schuften zu müssen. Der Hüne litt unter Platzangst, fürchtete sich vor der Dunkelheit und war in jeder Hinsicht bejammernswert unbeholfen. Doch auf dem Schlachtfeld verwandelte er sich in einen so gnadenlosen, kaltblütigen Kämpfer, wie Steel es noch bei keinem anderen Mann erlebt hatte. Slaughter war ein Soldat, wie man ihn sich an seiner Seite wünschte, wenn die Welt sich in eine kochende Brühe aus Blut und Tod verwandelte.
Steel begrüßte den Sergeant mit einem Lächeln. »Was ist das für eine Frage, Jacob? Der Colonel glaubt nicht an unseren Sieg, er weiß, dass wir siegen. Er hat dieses Regiment aufgestellt – ein Regiment, das seinen Namen trägt und das er aus eigener Tasche bezahlt hat. Er will, dass wir die beste Einheit der ganzen Armee werden. Bei dem Angriff, der uns bevorsteht, wird nicht nur unser Leben auf dem Spiel stehen, sondern auch das Geld und der Stolz des Colonels. Er braucht die ehrenvolle Erwähnung seines Regiments in der Schlacht. Und es liegt an uns, dass er sie bekommt.«
»Wird es denn noch lange dauern, bis der Angriff losgeht, Sir? Ich könnte jetzt schon einen kräftigen Schluck gebrauchen.«
»Bei Gott, Jacob, Euer Durst nimmt wirklich keine Rücksicht auf Ort und Zeit. Wir stehen kurz vor dem gefährlichsten und wahrscheinlich letzten Einsatz unseres Lebens, und Ihr erzählt mir, dass Ihr einen zur Brust nehmen wollt. Glaubt mir, Sergeant, wir werden mehr als genug Bier und Wein bekommen, wenn wir die verdammte Stadt eingenommen haben. Macht Euch keine Sorgen. Ich werde Euch höchstpersönlich ein Fässchen vom besten Moselwein kredenzen.«
»Ihr seid ein wahrer Gentleman, Mr. Steel, und ich nehme Euch beim Wort. Aber ich hätte lieber ein Fass deutsches Bier als irgendeinen verdammten Wein, wenn’s recht ist.«
Er verstummte, als er eine plötzliche Bewegung neben den Reihen der angetretenen Soldaten bemerkte.
»Sieht so aus, als wenn’s gleich losgeht.«
Als Steel dem Blick seines Sergeanten folgte, sah er einen Reiter. Ein junger Fähnrich der Kavallerie preschte auf einer hübschen schwarzen Stute die Linien entlang. Brachte er die Einsatzbefehle? Es wäre höchste Zeit. Seit drei Uhr morgens waren Steel und seine Männer marschiert, bis sie den Befehl erhalten hatten, hier am Hügel Stellung zu beziehen. Inzwischen war es sechs Uhr am späten Nachmittag. Die Männer wurden allmählich unruhig. Eine weitere Verzögerung konnte verhängnisvoll sein. Wenn sie noch länger warten mussten, würden sie den Mut verlieren.
Steel ließ den Blick schweifen. Weit unterhalb des Hügelhangs sah er die geballte Masse der Hauptarmee, Regimenter, Bataillone und Schwadronen, darunter die zehn anderen Kompanien, die zu seinem eigenen Regiment gehörten.
Flaggen und Banner flatterten an Lanzenspitzen hoch über den dicht stehenden Reihen der Männer in Rot, Blau, Grau, Braun und Grün, als die Befehlshaber der alliierten Truppen – der Großen Allianz – ihre Einheiten zusammenzogen, um in die Lücke vorzustoßen, die Steels Männer und die anderen Angriffstruppen reißen sollten.
Wieder einmal musste Steel darüber staunen, was für eine bunt zusammengewürfelte Truppe sie waren: Engländer, Schotten, Iren und eine beinahe widernatürliche Union von Holländern und Hessen, Preußen und Dänen. Kein Wunder, dass ein babylonisches Sprachgewirr herrschte. Ging man durch das Lager, so konnte man beobachten, wie die Männer sich mittels Zeichensprache verständigten. Manche sprachen Patois, das Französisch des gemeinen Volkes. Steel hatte die Feststellung gemacht, dass man sich in diesem bunt gemischten Heer ironischerweise am besten auf Französisch verständigen konnte – also ausgerechnet in der Sprache des Feindes. Er fragte sich nur, wie stark der Zusammenhalt unter den Verbündeten sein mochte, sobald sie unter Feindbeschuss gerieten. Dass der Herzog von Marlborough die englischen Truppen im Griff hatte, stand außer Zweifel. Aber würden sich auch die ausländischen Verbündeten von einem Engländer befehligen lassen? Dennoch kam Steel nicht umhin, den Anblick des Heeres zu bewundern.
»Ein großartiges Bild, Jack, nicht wahr?«
Steels Offizierskamerad, Lieutenant Henry Hansam, trat neben ihn und hielt ihm eine silberne Dose mit Schnupftabak hin.
»Möchtest du?«
Steel winkte ab. Hansam schnupfte eine kräftige Prise, ehe er fortfuhr: »Aber das wird uns nichts nützen. Da oben auf dem Hügel sind wir allein. Man erwartet ein Wunder von uns, Jack, nichts weniger.«
Er nieste laut, zog ein seidenes Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich die Nase ab.
»Was glaubst du, Henry?«, fragte Steel. »Können wir es schaffen? Können wir dieses Wunder vollbringen?«
»Man hat uns jedenfalls nicht umsonst ausgewählt. Wenn wir die Festung nicht einnehmen können, dann schafft es auch kein anderer. Wir sind die Elite, mein Freund. Fünfundvierzig mal einhundertdreißig Mann, ausgewählt aus jedem englischen und schottischen Bataillon, das an diesem Feldzug teilnimmt. Der Herzog selbst hat bei der Auswahl ein Wort mitgesprochen. Sir James schickt natürlich nur seine Grenadiere ins Feld, und warum auch nicht? Schließlich wurden die Grenadiere für genau solche Einsätze geschaffen. Wir sind die Soldaten der Stoßtruppen. Wir haben die Körpergröße, die Beweglichkeit und die Kraft. Und bei Gott, Jack, wir haben den Mumm, diese Aufgabe zu bewältigen.«
Steel blickte zu den Grenadieren hinüber. Sie waren hünenhafte Männer, einer wie der andere. Keiner von ihnen war kleiner als eins achtundsiebzig. Auch sie waren ausgewählt worden – wegen ihrer Erfahrung, ihrer Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen, ihrer Schnelligkeit und ihrer Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln.
Sie alle gemeinsam bildeten die beste Infanterietruppe in der Armee von Queen Anne. Bald würde er, Steel, diese Männer den Hügel hinauf zum Angriff führen und hinein in die Festung. Vielleicht in den Tod, vielleicht zum Ruhm und zu der Aussicht auf eine hübsche Prämie. Als Steel erneut zur dunklen Masse der Festung hinaufblickte, lief ihm vor Anspannung ein eisiger Schauer über den Rücken. Rasch wandte er den Blick ab und tat so, als würde er seine Schärpe straffen. Hansam nahm eine weitere Prise Schnupftabak, nieste erneut und rieb sich die Nase mit dem schmutzigen Seidentuch ab.
Wie Steel bekleidete auch Hansam den Rang eines »Second Company Lieutenant«, den es nur bei den Grenadieren gab. Da Colonel Farquharson den zusätzlichen Sold für den nominellen Befehl über Steels Kompanie in die eigene Tasche steckte, blieben Steel und Hansam der Rang und die Besoldung eines Captains verwehrt. Außerdem hatten sie keine untergeordneten Offiziere. Ihr letzter Fähnrich, ein schwächlicher Knabe von fünfzehn Jahren, hatte sie in Koblenz verlassen; er war aufgrund einer chronischen Ruhr wegen Dienstuntauglichkeit aus der Armee entlassen worden. Bis jetzt hatten sie noch keinen Ersatz bekommen.
Steel sagte leise: »Immerhin gibt es die Prämie.«
Hansam hob die Augenbrauen.
»Natürlich, Jack. Die Männer kämpfen nicht nur aus Liebe zur Königin und zum Vaterland. Nicht einmal aus Liebe zum Herzog, da dürfen wir uns nichts vormachen. Sorg dafür, dass die Männer zufrieden sind, und sie werden kämpfen. Oh ja. Sie werden kämpfen. Für die Prämie.«
»Ich hatte eigentlich unseren eigenen Anteil gemeint, Henry.«
»Oh.« Hansam stockte; dann grinste er. »Natürlich, mein Freund. Auch wir werden Kasse machen. Weißt du, ich habe nie richtig begriffen, weshalb ein Mann wie du, der so wenig Geld hat und so genügsam ist, bei den Foot Guards angefangen hat. Obwohl ich jetzt verstehen kann, weshalb du aus diesem illustren Regiment ausgeschieden bist und dich lieber unserem fröhlichen Haufen angeschlossen hast.«
Steel nickte. Hansam, der noch immer lächelte, fuhr fort: »Sag mal, Jack, kann ich dich dazu überreden, mich zu einem guten Schneider in London zu begleiten, falls wir überleben? Du müsstest dich mal sehen, alter Junge. Du meine Güte, allein schon dein Hut …«
Steel blickte auf seinen Hut hinunter, den er in Händen hielt. Im Unterschied zu vielen Grenadieroffizieren trug er keine Grenadiersmütze, sondern zog seinen zerbeulten schwarzen Dreispitz mit dem goldenen Besatz. Meist kämpfte er sogar barhäuptig. Außerdem hätte ihn, den mit eins fünfundachtzig zweitgrößten Mann der Kompanie, ein Grenadierhut eher komisch als Furcht einflößend aussehen lassen. Und seine zwölf Jahre als Soldat hatten ihn gelehrt, dass man als Offizier bessere Überlebenschancen hatte, wenn man sich dem Feind nicht zu offensichtlich als Ziel zu erkennen gab. Allerdings musste man zugleich ausreichend kenntlich für die eigenen Leute sein, sodass man nicht von den eigenen Kameraden ins Jenseits befördert wurde.
»Hast schon recht, Henry. Aber der Hut sorgt immerhin dafür, dass die eigenen Leute mich erkennen.«
Hansam lachte. Beide Männer wussten, dass die eigenen Kameraden Steel schwerlich verwechseln konnten, ob mit oder ohne Hut, denn er trug keine Perücke, wie es Mode war, sondern ließ seine Haare wachsen und schnürte sie im Nacken mit einem schwarzen Band zusammen. Das war auf dem Schlachtfeld praktischer, wie er aus Erfahrung wusste.
»Donnerwetter.« Hansam zeigte auf die angetretenen Soldaten. »Offenbar stehen wir unter Befehl.«
Steel sah, dass der Reiter nun die höheren Offiziere der Stoßtruppen erreicht hatte. Sie waren von ihren Pferden gestiegen, um den Angriff zu Fuß anzuführen, wie es üblich war. Steel konnte Major-General Henry Withers und Brigadier-General James Ferguson erkennen, die Kommandeure der englischen beziehungsweise schottischen Truppen des Angriffsheeres. Neben ihnen stand die entschlossene Gestalt von John Goors, ein Offizier mittleren Alters, der die holländischen Pioniere befehligte und von dem man wusste, dass er ein Gegner des Markgrafen von Baden war, dem Oberbefehlshaber der Angriffstruppen.
Die Offiziere hatten sich in der Nähe des »verlorenen Haufens« versammelt, einem Trupp von ungefähr achtzig Mann, allesamt Freiwillige aus Steels altem Regiment, den First Foot Guards. Die undankbare Aufgabe dieser Männer bestand darin, wie der Name bereits andeutete, als Erste bis an die Verteidigungsanlagen des Feindes vorzudringen, um festzustellen, wo der Feind am stärksten war – eine Mission, die meist mit dem Leben bezahlt wurde. Kurz und knapp: Diese Männer zogen das feindliche Feuer auf sich. Die meisten von ihnen würden sterben. Die Überlebenden jedoch würden Ruhm ernten und reichlich belohnt werden. Sie wurden sogar zu Unsterblichen. An der Spitze dieser Truppe sah Steel den hochgewachsenen, gut aussehenden Lord John Mordaunt, der eine Zeit lang zusammen mit Steel gedient hatte. Steel wusste, dass Mordaunt im Jahr zuvor vergeblich um die Hand von Marlboroughs Tochter angehalten hatte. Vielleicht war die Ehre, die »Verlorenen« zu führen, eine selbst auferlegte Strafe für diesen amourösen Fehlschlag, oder Mordaunt sah darin die letzte Chance, die Bewunderung jenes Mannes zu erlangen, den er gerne zum Schwiegervater gehabt hätte.
Von rechts näherte sich eine Schwadron englischer Dragoner den Stoßtruppen. Steel sah, dass jeder Reiter zwei dicke Packen vor sich auf dem Sattel trug: Reisigbündel, die mit Stricken zusammengebunden waren, sogenannte Faschinen. Die Dragoner schwärmten aus, ritten zwischen den Reihen der Grenadiere hindurch und reichten jedem Mann eine der Faschinen, auch den Offizieren. Als auch Steel eine Faschine bekam, stellte er fest, wie unhandlich sie war. Aber Faschinen waren die wichtigsten Hilfsmittel, um den breiten Verteidigungsgraben zu überwinden, der ihnen den Weg zur Hügelkuppe verwehrte. Dicht hinter dem Graben befanden sich die feindlichen Brustwehren.
Mehrere Donnerschläge ließen Steel herumfahren. Auf einer Anhöhe hinter den eigenen Truppen standen zehn Kanonen, die soeben gefeuert hatten, sodass Flammenzungen aus den Mündungen leckten. Die Kanonen bildeten die alliierte Artillerie, die unweit eines Dorfes Stellung bezogen hatte, das die Franzosen niedergebrannt hatten, um den Transport der Geschütze zu erschweren. Zehn Kanonen, dachte Steel. Mehr hatten sie nicht, um die Verteidigungsanlagen zu schwächen, die ihnen den Weg zur Festung verwehrten. Die Kanonenkugeln zischten über die Köpfe der Männer hinweg und verschwanden hoch oben in der feindlichen Stellung. Wenigstens schien irgendjemand im Oberkommando zu versuchen, den Angriffstruppen den Durchbruch zu erleichtern.
Am Fuße des Schellenbergs, in der Sicherheit des gegenüberliegenden Flussufers, nahmen die Soldaten der Hauptarmee Aufstellung: Engländer, Schotten, Holländer und die Männer aus Hessen und Preußen, die sich ihnen in Koblenz angeschlossen hatten. Steel beobachtete die Truppenbewegungen, während die Abendsonne die grünen Hügelhänge und die braune Linie der aus Weiden geflochtenen Schanzkörbe beleuchtete. Schon bald, das wusste Steel, würde diese idyllische Wiese sich in einen blutigen Totenacker verwandeln.
Instinktiv, mit dem Auge des Veteranen, schätzte Steel ab, wie weit sie vorrücken mussten, um bis an die feindlichen Verteidigungsanlagen zu gelangen. Knapp vierhundert Meter, schätzte er.
Hansam lächelte ihn an. »Das wär’s dann. Ich glaube, wir sollten jetzt unsere Stellungen beziehen. Schließlich wollen wir den feindlichen Schützen kein allzu leichtes Ziel bieten. Wir sehen uns später, Jack, auf der Hügelkuppe.«
»Ja, Henry. Wir sehen uns auf dem Schellenberg.«
Noch ehe Steel bemerkte, wie hohl seine Worte klangen, spürte er die beruhigende Nähe von Sergeant Slaughter.
»Bereit, Sir? Die Männer können es kaum noch erwarten.«
Steel spürte die vertraute Leere im Magen, wie jedes Mal, wenn der Ausbruch einer Schlacht unmittelbar bevorstand. Er versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen.
»Sehr gut, Sergeant. Die Männer sollen sich fertig machen.«
Slaughter wandte sich den Soldaten zu. »Also los, Männer. In Sechserreihe Aufstellung nehmen! Los, los! Macht euch bereit!«
Bald darauf standen die Männer sechs Glieder tief, statt der üblichen vier. Auf diese Weise sollte die schiere Angriffswucht ihrer Formation gesteigert werden, um so tief wie möglich in die Festung und die feindlichen Linien vorzustoßen. Andererseits boten die sechs Angriffsreihen den feindlichen Kanonen ein besseres Ziel: Waren die Kugeln gut platziert, würden sie vor dem jeweils vorderen Mann aufprallen und fünf, zehn, sogar zwanzig Soldaten in Stücke reißen.
»Grenadiere!«, rief Slaughter. »Die Bajonette …« Er hielt inne und wartete, während die Männer der Kompanie die neumodischen Klingen aus den Scheiden zogen.
»Aufgesetzt!«, beendete Slaughter den Befehl.
Metallisches Klirren ertönte, als die Männer die Bajonette in den Halterungen an den Läufen ihrer Musketen befestigten.
Aus einiger Entfernung erklang nun die heisere Stimme von General Goors. Langsam und betont rief er den angetretenen Einheiten zu: »Stoßtruppen, fertig machen zum Angriff!«
Die nun einsetzende Pause schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann brüllte Goors den Befehl: »Vorrücken!«
Die Reihen der Soldaten entlang wurde der Befehl von hundert Sergeanten und Lieutenants weitergegeben. Hinter jedem Regiment begannen zwei Pfeifer eine Melodie, die beim fünften Takt von den Trommlern aufgenommen wurde. Rasselnd und dröhnend erklang der »Grenadiers March«.
Kurz darauf, begleitet von lautem Jubel, setzten die Linien sich in Bewegung. Steel ging gemessenen Schrittes, nicht mit der Präzision der Preußen oder Holländer, sondern mit den langsamen Schritten der britischen Infanterie, die – wie es im Regelbuch hieß – dafür sorgen sollte, dass man nicht außer Atem war, wenn es zur ersten Feindberührung kam. Es war zweifellos ein angenehmes Schritttempo, konnte aber tödlich sein. Besonders bei Kanonenbeschuss war Langsamkeit keine allzu kluge Taktik.
Jetzt, beim Vormarsch, als der feindliche Beschuss erst richtig begann, spürte Steel, wie seine Stiefel in den weichen Boden sanken. Der Untergrund und das Gewicht der Reisigbündel bewirkten, dass die Männer bald keine Geschwindigkeit mehr aufnehmen konnten. Vierhundert Meter, dachte Steel. Großer Gott. Es kam ihm eher wie eine Meile vor, als er den Hang hinaufblickte, der ihm jetzt steil wie die Flanke eines Berges erschien. Vom Gipfel regnete ein wütender tödlicher Hagel herab, als die französische Artillerie nun mit aller Macht den Beschuss aufnahm. Grelle Flammenzungen stoben aus den Mündungen der Geschütze. Zehn, zwanzig Kanonenkugeln gleichzeitig zischten den Hügel hinunter und rissen blutige Schneisen in die Reihen der Stoßtruppen. Steel hörte die Schreie in seinem Rücken, als auch seine eigenen Leute unter Beschuss gerieten. Nicht nach hinten sehen!, beschwor er sich. Immer nur nach vorne blicken. Lass dich nicht ablenken. Und schaue um Himmels willen nicht zurück!
Steel hörte, wie Slaughter, der dicht hinter ihm marschierte, den Männern über den Lärm der Geschütze und der Schreie hinweg zurief: »Die Reihen schließen! Bleibt zusammen, Männer! Corporal Jenkins, immer schön weitermarschieren!«
Weitermarschieren. Das war Wahnsinn in diesem Hagel aus Kanonenkugeln und Granaten. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Eine Kanonenkugel zischte so nahe an Steels linkem Ellbogen vorbei, dass er die Druckwelle spürte. Eine weitere Kugel schlug vor ihm auf, verfehlte ihn um Haaresbreite und riss einem Mann schräg hinter ihm den Kopf ab, bevor sie den Hang hinunterpolterte. Links von Steel bewegte Henry Hansam sich in ähnlich kräftesparendem Tempo den Hügel hinauf. Mit ihrem dumpfen Rhythmus trieben die Trommeln die Männer voran. Für einen Moment vergaß Steel seinen Vorsatz, nicht nach hinten zu blicken. Er sah Slaughter, neben dem ein junger Bursche marschierte. Sein Gesicht war schlammverkrustet, sein Uniformrock mit dem Blut und Hirn jenes Mannes bedeckt, den die Kanonenkugel getötet hatte. Trotz seiner Furcht lächelte der Bursche, der zu den jüngsten in der Kompanie gehörte, ein Junge von knapp sechzehn Jahren. Steel glaubte sich erinnern zu können, dass der Junge ein Farmhelfer aus Yorkshire war. Wahrscheinlich war er ein Ausreißer. Über den Lärm hinweg rief Steel ihm zu: »Truman, nicht wahr? Alles in Ordnung, Junge?«
Der junge Bursche lächelte noch breiter. Ein gutes Zeichen.
»Keine Angst. Du machst dich gut. Nicht schlecht für deine erste Schlacht.«
Als Steel wieder nach vorn schaute, sah er nur Rauch und Mündungsfeuer. Der Lärm war unbeschreiblich. Ein altbekanntes Entsetzen erfasste Steel. Es war wie die plötzliche, unerklärliche Panik, die einen überkommt, wenn man am Rand eines Abgrunds steht. Ruhe bewahren, ermahnte sich Steel. Die Männer dürfen nicht sehen, dass du Angst hast. Kälte breitete sich in seiner Magengrube aus. Seine Beine wurden schwer wie Blei. Du hast keine Angst!, beschwor er sich und biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Gut. Er lebte noch. Und er würde auch das hier überstehen. Er musste nur einen Fuß vor den anderen setzen und weitergehen, immer weiter.
Langsam bewegte Steel sich voran und verfiel in einen steten Rhythmus. Er hob seinen Degen. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, sich an seine Leute zu wenden.
»Grenadiere!«, rief er. »Folgt mir!«
Wieder kämpften sie sich den Hang hinauf. Mit jedem Schritt fielen weitere Männer, als neue tödliche schwarze Kugeln auf sie hinuntergeschleudert wurden. Noch zweihundert Meter, schätzte Steel. Sie mussten einfach nur durchhalten, und sie würden ihr Ziel erreichen. Immer schön weitermarschieren.
Plötzlich nahm Steel eine Veränderung im Schussrhythmus der Verteidiger wahr. Augenblicke später wurde der Grund dafür ersichtlich, als eine Kartätsche – dreißig Eisenkugeln in einem Leinenbeutel – auf die Angreifer abgefeuert wurde. Der Kugelhagel riss eine Bresche in die Männer links von Steel und zerfetzte ein Dutzend Körper in roten englischen Uniformjacken. Sekunden später ließ eine krachende Musketensalve erkennen, dass die französische Infanterie die richtige Schussdistanz gefunden hatte. Wieder fielen Männer. Irgendwo in den dichten Rauchschwaden links von Steel rief ein Offizier: »Angriff! Angriff, Jungs! Gott schütze die Königin!«
Steel sah den Mann getroffen zu Boden stürzen, doch sein Ruf wurde entlang der Angriffsreihen aufgenommen. Die Soldaten fielen in Laufschritt, während Steel losrannte. Sein Atem ging keuchend, wobei ihm der stechende Geruch der Schießpulverschwaden in der Nase brannte. Die Männer stürmten durch ein Nebelfeld aus wogendem weißem Rauch. Als sie auf der anderen Seite der Wolke hervorkamen, erschien direkt vor ihnen, wie aus dem Nichts, ein schlammiger Graben. Steel rief den Männern hinter ihm zu, stehen zu bleiben, als er den Rand der Senke erreichte, die vielleicht anderthalb Meter tief war. Hinter Steel blieben seine Leute stehen. Links und rechts konnte er die hektischen Rufe der Corporals und Sergeants vernehmen. Ein Corporal links von ihm erteilte den Befehl: »In Ordnung, Männer, da wären wir. Runter mit den Faschinen. Wir gehen da rüber.«
Als die Männer ihre Reisigbündel zu Boden warfen, keimten Zweifel in Steel auf. Irgendwas stimmte hier nicht. Das konnte nicht der Graben sein. Das wäre viel zu schnell gegangen. Nein, das war kein Verteidigungsgraben, das war bloß ein tief eingesunkener Schlammpfad. Steel rief dem Corporal zu: »Nein, nein! Lasst die Faschinen wieder aufheben. Hier sind wir nicht richtig. Folgt mir, Männer.«
Der Mann sah überrascht aus, aber es war bereits zu spät. Denn die Männer in den vordersten Reihen hatten schon ihre kostbaren Bündel aus Ruten und Reisig in die Senke geworfen. Die Ersten versuchten, darüberzulaufen, merkten aber, dass die Vertiefung zu breit war, und rutschten in den Schlamm. Gleichzeitig wühlten sich Kanonenkugeln in die Reihen. Die französischen Kanoniere hatten sich eingeschossen und zielten direkt auf den schmalen Streifen des Pfades. Einige Männer gerieten in Panik; sie wussten nicht recht, ob sie stehen bleiben, die Faschinen auswerfen oder besser ohne die Bündel in dem tief ausgetretenen Pfad zu Boden gehen sollten. Die zäheren Burschen überwanden den behelfsmäßigen Weg aus Holz und Reisig, stellten aber fest, dass sie sich dadurch dem Hagel aus Geschossen nur noch stärker aussetzten. Steel sprang in die Vertiefung, suchte die Böschung als Schutz und kletterte halb an der anderen Seite hinauf. Slaughters volltönende Stimme dröhnte über die Köpfe der Männer hinweg.
»Die Reihen schließen! Nicht zurückweichen!«
Denn inzwischen hatte sich die Formation weitgehend aufgelöst. Und für den Sergeant bedeuteten die ungeordneten Reihen Mangel an Disziplin. Das Selbstvertrauen der Männer litt. Die Nerven lagen blank. Auch Steel war klar, dass der ganze Angriff fehlschlagen würde, wenn die Männer schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Nerven verlören. Aber er sah auch, dass jetzt nicht die Zeit für Kasernendrill war, ganz gleich, was Slaughter beabsichtigte. Schnell rief er dem hünenhaften Sergeant zu: »Jacob! Vergesst die verdammten Reihen. Bringt die Männer hier runter. Sie sollen sich bei mir formieren.«
Slaughter hielt inne und trieb die Männer zu dem schützenden Graben. Rasch kletterte die halbe Kompanie der Grenadiere in die Senke. Die Männer taten es Steel gleich und drängten sich an die Böschung auf der anderen Seite. Steel nahm den Hut ab und spähte geschickt über den Rand hinauf zur Festung. Jetzt konnte er den Feind schon besser sehen. Gestalten in weißen Uniformen auf den Wehrgängen. Französische Infanterie. Sie verhielt sich ruhig; harrte schweigend aus, wie bei einer Parade. Es war ein unheimlicher, beunruhigender Gegensatz zu den eigenen, wild durcheinanderrufenden Männern, die sich in Steels Nähe tummelten und sich gegen die matschige Böschung des eingesunkenen Pfades pressten.
Steel hörte, dass die Offiziere oben in der Festung Befehle riefen, sah, wie die erste Reihe der Franzosen einen Schritt vortrat. Sie griffen hinter sich und schnallten einen schwarzen Beutel vom Bandelier. Grenadiere. Steel wusste genau, was jetzt käme. Schnell wandte er sich an seine Männer.
»Dicht an der Böschung bleiben! Um Gottes willen, Jungs, bleibt hier und zieht die Köpfe ein. Dann passiert euch nichts.«
Zwei glatte schwarze Kugeln, kleiner als Kanonenkugeln und feuerspeiend, hüpften in Richtung des notdürftigen Grabens. Steel reckte den Hals, weil er wissen wollte, wo die Kugeln gelandet waren, und versuchte sich in Sicherheit zu bringen.
Die Männer rückten in dem schlammigen Graben enger zusammen und versuchten vergeblich, tiefer am Boden Schutz zu suchen. An einer der schwarzen Bomben erstarb die Zündschnur mit einem Zischeln. Die zweite Sprengbombe jedoch, die auf der anderen Seite vor der Böschung liegen geblieben war, explodierte in einem Hagel aus glühend heißen Eisenstücken, tötete drei Grenadiere auf der Stelle und blendete einen Kameraden, der sich schreiend im Schlamm wälzte, die Finger in das blutige, zerfetzte Gesicht gekrallt. Steel hörte die Schmerzensschreie anderer Männer, die weiter hinten mit der zweiten Angriffswelle den Hang des Hügels hinunterliefen: Auch andere Sprenggranaten hatten ihr Ziel erreicht. Steels Truppe konnte nur noch eins tun. Er wandte sich an Slaughter.
»Wir müssen raus aus dieser tödlichen Falle. Jetzt sofort. Folgt mir!«
Noch einmal spähte Steel über den Rand der Böschung, auf der Suche nach einem Ausweg. Zu seiner Linken drängte sich die Masse des Sturmangriffs, doch die Männer wussten in dem Geschosshagel nicht, ob sie stehen bleiben oder vorrücken sollten. Steel sah, wie Infanteristen nach vorn in den Graben stolperten. Überall herrschte Verwirrung. In all dem Durcheinander glaubte Steel, auch Goors sei zu Boden gegangen. Zu seiner Rechten hingegen war niemand zu sehen. Er und die Grenadiere bildeten das Ende der Linie, den äußersten rechten Flügel.
Plötzlich durchzuckte ihn eine kühne Idee. Wenn die Franzosen sahen, dass der Hauptangriff von ihnen aus rechts geführt wurde, hatten sie ihre Leute dann nicht im Wesentlichen auf diesen Angriff ausgerichtet? Das würde bedeuten, dass sie ihre linke Flanke vernachlässigt hatten – eben jene Flanke, die nun unter Steels Befehl stand.
Er blinzelte in dem Rauch und versuchte zu erkennen, was sich in der Festung tat. Deutlich sah er, wo die Wehrgänge endeten: in den massigen Bauten der alten Zitadelle. Außerdem entdeckte er die Kanone, hoch oben auf dem Wall, die inzwischen auf die Flanke der Angreifer zielte. Aber weiter rechts von der Festung konnte Steel nur hastig aufgeschüttete Erdarbeiten sehen. Sicher befanden sich auch dort Truppen, noch mehr Infanterie in weißen Uniformen. Aber es konnte sich nur um eine Rumpfmannschaft handeln, wenn er nicht ganz falschlag. Ein Plan reifte in seinem Kopf. Vielleicht …
Schnell schaute er sich nach Slaughter um. »Jacob, sagt den Männern, sie sollen mir nach. Sie sollen die Mützen abnehmen, die Köpfe einziehen und mir einzeln hintereinander folgen. Wir stoßen nicht weiter vor, wir halten uns seitlich. Zuerst folgen wir dem Verlauf dieser Senke. Hier können sie uns nicht so leicht sehen. Aber ich weiß, wo sie stecken. Wir werden den Franzosen eine kleine Überraschung bereiten.«
Sein Sergeant grinste. Er hatte sofort erkannt, was Steel beabsichtigte, und gab den Befehl weiter. Derweil winkte Steel Truman zu sich.
»Geht und sucht Mr. Hansam. Sagt ihm, wir bleiben hier im Graben. Wir werden die Franzmänner an der Flanke nehmen. Er wird schon wissen, was ich meine. Beeilung! Und sagt ihm, er soll den Kopf einziehen. Auch seine Männer sollen die Mützen abnehmen.«
Langsam, den Kopf immer schön unten haltend, folgte Steel dem Verlauf des Grabens. Als er sich umdrehte, sah er, dass die Grenadiere ihm dicht auf den Fersen waren. Nach etwa zwanzig Metern knickte der Graben scharf ab, den Hügel hinab, in Richtung Armee der Großen Allianz. Steel durchzuckte es heiß. Und wenn er sich nun geirrt hatte? Was, wenn dieser Graben gar nicht parallel zu den Befestigungen verlief, wie er vermutet hatte, sondern von den Franzosen und der Schlacht wegführte? Was dann? Würde er der Desertion bezichtigt? Vor ein Kriegsgericht gestellt? Ihm brach der Schweiß aus. Aber er durfte jetzt nicht verharren; er musste seinen Plan verfolgen, ganz gleich, wie die Folgen wären. Er würde alle Schuld auf sich nehmen und Hansam entlasten. Den schrecklichen Vorwurf der Desertion im Angesicht des Feindes würde er allein verantworten müssen.
Auf dem rutschigen Untergrund verlor Steel den Halt und fluchte. Bei dem gebückten Laufen taten ihm schon die Oberschenkel und der Rücken weh. Für die verhältnismäßig kurze Distanz schienen sie eine halbe Ewigkeit zu brauchen. Endlich, nach ungefähr achtzig Metern, kamen sie an eine weitere Kreuzung. Steel erkannte, dass der Graben nach links verlief, die Anhöhe hinauf zu den französischen Linien. Halblaut dankte er dem Allmächtigen und hörte ein gerauntes »Gott sei Dank« von Slaughter, der dicht hinter ihm war.
Sie folgten dem neuen Graben und spürten die Steigung des Geländes. Nach weiteren fünfzig Metern endete der Graben abrupt. Damit hatte es sich dann. Steel drehte sich um, immer noch in gebückter Haltung, und bedeutete den Männern, unten zu bleiben. Hier war es ein wenig leiser, etwas abseits der Kanonade, die nach wie vor am linken Flügel der Angreifer einen hohen Tribut forderte. Steel bedeutete den Männern mit einem Handzeichen, die Musketen auf den Rücken zu schnallen, die Taschen aufzumachen und zwei oder drei Granaten herauszuholen. Durch Zeichensprache vermittelte er seinen Leuten, dass sie die Zündschnur mit der langsam abbrennenden Lunte, die jeder Mann am Bandelier trug, in Brand setzen sollten, sobald sie in Wurfweite des Feindes wären. Steel kroch zur südlichen Böschung des Grabens und spähte über den Rand. Wie nicht anders erwartet entdeckte er keine zweihundert Meter den Hügel hinunter die Federbüsche und Pferde der alliierten Befehlshaber, die sich ihrerseits in einer ähnlichen Senke verbargen.
Steel winkte einem der Grenadiere, einem Mann namens Pearson. Er war der schnellste Läufer der Kompanie.
»Lauft zu Marlborough. Er ist dort unten, seht Ihr? Sagt ihm, wir haben eine Lücke in der Verteidigungslinie gefunden. Sagt ihm weiter, dass ich angreifen werde und der Weg frei ist. Habt Ihr verstanden? Der Weg ist frei.«
Der junge Mann nickte, kletterte aus dem Graben und lief kurz darauf zu den alliierten Linien. Steel kroch wieder zur anderen Böschung des Grabens. Dann holte er tief Luft, stand auf, zog sich auf die Böschung, setzte einen Fuß auf die Grasnarbe, sprang aus dem Graben und richtete sich zu voller Größe auf. Keine zehn Meter trennten ihn noch vom Verlauf der grob geflochtenen Schanzkörbe jenseits eines flachen Grabens – eine kritische Distanz. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass sie so dicht an den feindlichen Linien herauskommen würden. Viel schlimmer war indes noch, dass Steel sich einem französischen Wachtposten gegenübersah, der ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarrte. Einen Moment lang standen beide Männer stocksteif da, dann griffen sie zu den Waffen.
Der Franzose fingerte am Schloss seiner Muskete herum. Steel, der den Degen im Graben wieder in die Scheide geschoben hatte, zog an dem breiten Schulterriemen und umfasste den Schaft der kurzläufigen Muskete, die jeder Offizier der Grenadiere bei sich trug.
Die Waffe unterschied sich jedoch von der Muskete des Franzosen, denn ursprünglich war es eine Jagdflinte gewesen, deren Erfinder es gelungen war, eine so leichte Waffe zu konstruieren, dass man sie den ganzen Tag bei der Jagd tragen konnte. Sie konnte eine Schrotladung, aber auch eine einzelne Kugel abfeuern und war ganz auf Steel zugeschnitten. So kam es, dass die Waffe sich stets sofort an seine Wange schmiegte, als wäre sie sein verlängerter Arm – ob er nun einen Franzosen oder Rebhühner auf der Jagd vor dem Lauf hatte. Die Waffe anzulegen war eine Sache von Sekunden. Und Steel wusste, dass sie geladen war.
Er fühlte seinen Herzschlag unter dem Rippenbogen, als er den Hahn mit dem rechten Daumen spannte. Fühlte den kalten Lauf in der linken Hand und presste die Wange dicht an den Schaft. Im selben Moment legte auch der Franzose an. Steel hörte den Knall der gegnerischen Muskete, sah das Aufblitzen an der Mündung. Er spürte, wie die Kugel an seiner Wange vorbeisirrte, und drückte seinerseits ab – der Rückstoß rammte die Waffe gegen Steels Schulter. Der Franzose sank tot zusammen. Die Kugel hatte ihn mitten in die Stirn getroffen.
Doch die beiden Schüsse hatten die anderen Wachen alarmiert. Jetzt kam Bewegung in die Verteidigungsanlagen gegenüber von Steel. Männer in weißen Uniformjacken eilten herbei. Verblüfft blickten sie zuerst auf ihren gefallenen Kameraden, dann auf den offenbar lebensmüden britischen Offizier, der ganz allein auf der anderen Seite der Schanzkörbe stand. Steel hingegen hängte sich die Waffe gleichmütig über die Schulter, zog seinen Degen und wandte sich halb zu den Rotröcken unten im Graben um.
»Grenadiere. Zu mir. Tötet diese Bastarde!«
Er wandte sich wieder den Franzosen zu, hob seinen Degen über den Kopf und richtete die Spitze auf die Gegner.
»Farquharsons Foot Guards, mir nach. Für Marlborough und Queen Anne.«
Plötzlich war Slaughter an seiner Seite. Auch ein Corporal schloss sich ihnen an, gefolgt von den anderen Männern. Augenblicke später stürmten sie alle mit Schlachtrufen auf den Lippen zu den französischen Verteidigungsanlagen. Aus den Augenwinkeln gewahrte Steel, dass Hansam in diesem Moment mit der Hälfte seiner Kompanie losstürmte. Weiter hinter ihm, auf dem linken Flügel der Angreifer, verriet die verharrende Masse der Rotröcke, dass der Hauptangriff offenbar ins Stocken geraten war. Die weiß uniformierten Infanteristen, völlig überrascht von der Flut von Rotröcken, die aus dem Boden geschossen kamen, luden inzwischen die Musketen. Ein paar Männer warfen ihre Waffen fort und suchten das Weite. Ein feindlicher Offizier schwenkte seinen Säbel und deutete in Richtung der französischen Grenadiere.
Nur noch zehn Meter, ging es Steel durch den Kopf. Fünf Meter. Als die Briten nur noch zwei Meter entfernt waren, eröffneten die Franzosen ungleichmäßig das Feuer. Drei Grenadiere gingen zu Boden. Die Übrigen drängten weiter vor, erreichten die Erdarbeiten und warfen ihre zischelnden Granaten weit in die Vereidigungsanlagen. Auf den Hagel aus mörderischen Metallsplittern folgten Schreie von Männern, die nicht zu sehen waren. Steel erklomm eine der Gabionen der Schanzkörbe.
»Weiter! Folgt mir! Auf sie!«
Es gelang ihm, die Brustwehr zu überwinden. Ihm folgten Slaughter und ein Dutzend Grenadiere. Blind hieb Steel mit seinem Degen nach unten. Die große Waffe war, abgesehen von der Muskete, der einzige Gegenstand, den er aus dem Haus seines Vaters mitgenommen hatte. Gleich mit dem ersten Streich verstümmelte Steel einen Gegner am Unterarm; der Infanterist sackte mit einem Schrei in den Schlamm.
Zu seiner Linken nahm Steel das Aufblitzen einer Klinge wahr, als ein Franzose versuchte, Steel das Bajonett in die Seite zu rammen. Doch im selben Moment wehrte ein Corporal der Grenadiere diesen Stoß ab und trieb dem Mann das Dillenbajonett tief in den Bauch. Ein anderer Franzose, ein riesiger Pionier, schwang ein Beil und zielte auf Steels Beine, doch Steel konnte dem Schlag ausweichen und hieb mit dem Degen auf den Kopf des Gegners ein. Der Schädel zerfiel in zwei Hälften wie eine gespaltene Melone.
Vorsichtig abwartend näherte sich ihm ein französischer Offizier. Er mochte ungefähr so groß wie Steel sein und hatte die fein ziselierten Züge eines Aristokraten. Einen Moment lang glaubte Steel, der Offizier sei im Begriff, ihn zum Zweikampf herauszufordern. Doch dann sah der Mann Steels langen Degen und hielt inne. Rasch nickte er, führte die schmale Klinge seines Degens in einer fließenden Bewegung erst vors Gesicht und richtete die Spitze dann seitlich in einem Halbbogen auf den Boden. Nach einer angedeuteten Verbeugung wich er zurück. Gleichzeitig, den durchdringenden Blick nach wie vor auf Steel geheftet, rief er seinen Männern zu, sich zurückzuziehen. Augenblicke später waren die Verteidigungsanlagen unbemannt.
Steel blickte von rechts nach links und sah in den Rauchschwaden nichts als weiß uniformierte Körper am Boden. Einen der Gefallenen drehte er mit dem Fuß um: Der Kragen und die Manschetten waren weiß, die Taschen nach oben geschnitten. Steel kramte in seinem Gedächtnis. Drei Regimenter kamen infrage: d’Espagny, Bandeville oder Nettancourt. Allesamt bewährte Regimenter der Linieninfanterie. Was hatten die hier zu suchen? Man hatte Steel gesagt, die Stellung sei von unerfahrenen Bayern besetzt.
Steel schaute sich im Kreis seiner Männer um. Einige Briten lagen im Dreck. Drei hatten mit Sicherheit ihr Leben verloren. Einer hockte am Boden und hielt sich eine blutende Bauchwunde, ein anderer hatte ein Auge eingebüßt. Aber das Wichtigste war, dass sie Gott sei Dank niemanden mehr vor sich hatten, jedenfalls soweit Steel es beurteilen konnte. Er betete, dass Pearson es bis zu Marlborough geschafft hatte. Die Verstärkung wäre in Kürze bei ihnen.
Er wandte sich an Slaughter. »Die Männer sollen sich formieren, Sergeant. Und lasst die Verwundeten versorgen. Wir werden diese Stellung halten, bis Verstärkung kommt.«
Dann tauchte Hansam auf, bedeckt von Ruß und Schlamm. Die Tresse hatte sich an der Uniformjacke gelöst. »Bei Gott, Jack, das war hart. Ein kluger Einfall von dir. Aber was jetzt?«
»Ein Läufer ist unterwegs und holt Verstärkung. Wir können nicht mehr tun, als abzuwarten.«
Beide schauten hinüber zum linken Flügel im Zentrum der Schlacht. Durch die wabernden Rauchschwaden hindurch erhaschten sie einen Blick auf das Kampfgeschehen. Die Männer waren in den Nahkampf übergegangen und schlugen mit den Kolben der Musketen aufeinander ein. Als die Sicht immer klarer wurde, entdeckten sie ein Kontingent rot uniformierter Infanteristen, die offenbar in Steels Richtung kamen. Hansam ergriff das Wort.
»Ich will doch hoffen, dass wir nicht zu lange warten müssen.«
Steel sah, was er meinte.
»O Gott, Dragoner.« Er wirbelte herum. »Sergeant Slaughter.«
Denn auch die Franzosen hatten erkannt, dass die britischen Verbände an der offenen Flanke verwundbar waren, und jetzt marschierten mehrere Einheiten ihrer ebenfalls rot uniformierten Dragoner – zwar ohne Pferde, aber deswegen nicht weniger tödlich – ruhig und zielstrebig in Steels Richtung, um den Sporn zurückzuerobern. Aber noch waren sie nicht da.
Steel brüllte Befehle: »Grenadiere! In Reihen Aufstellung nehmen!«
Rasch und geübt stellten Steels Männer sich drei Glieder tief auf. Auch Hansam brachte seinen Zug in geordnete Reihen. Während die Männer sich formierten, schob Steel den Degen zurück in die Scheide und griff zu seiner Muskete. Er stellte sich rechts von der Einheit auf und rief einen weiteren Befehl.
»Fertig machen!«
Die in zweiter Reihe stehenden Grenadiere jedes Zuges spannten ihre Musketen, während sich die Männer in der vordersten Reihe hinknieten und den Kolben ihrer Waffen auf dem Boden abstellten. Dabei gab jeder Acht, die Finger am Hahn und am Abzug zu lassen. Einem der Männer, einem jungen Rekruten, glitt die Waffe aus der Hand; verlegen hob er sie wieder auf. Sergeant Slaughter schnaubte.
Die letzte Reihe formierte sich hinter der zweiten, und die Männer stellten ihre Füße, wie es Vorschrift war, ganz dicht hinter die Füße ihrer Vordermänner. Steel schätzte die Entfernung zu den Dragonern und rief: »Anlegen!«
In einer fließenden Bewegung nahmen achtzig Mann die Daumen vom Hahn der Musketen und machten mit dem rechten Fuß einen Halbschritt zurück, wobei das Knie steif blieb, ehe sie sich den Kolben der Waffe in die Höhlung zwischen Brust und Schulter drückten. Die Dragoner waren inzwischen gefährlich nah herangekommen. Steel konnte die Gesichter der Männer erkennen: gebräunt, mit dichten Schnurrbärten unter roten Mützen mit Pelzbesatz.
Steel wartete noch. Nur noch dreißig Schritte. Zwanzig.
»Feuer!«
Die mittlere Reihe der Grenadiere eröffnete das Feuer. Während sie dann nachluden, standen die in der vordersten Reihe knienden Schützen auf und gaben ihre tödliche Salve ab, ehe sie sich über den linken Fuß umdrehten und sich hinter die zweite Reihe begaben. Inzwischen legten die Männer in der dritten Reihe an und feuerten durch die Lücken der Kameraden hindurch. Das war die neue Vorgehensweise. Die angemessene Art, die neuen Musketen zu bedienen. Deshalb hatte »Corporal John«, wie die Männer ihren Oberbefehlshaber Marlborough nannten, sie alle so sorgfältig instruiert. Das war in Steels Augen eine regelrechte Kunst. Es war die moderne Art der Kriegsführung.
Sekunden später bekam er den Beweis, dass er recht hatte, denn als die Rauchfäden sich auflösten, fiel sein Blick auf die am Boden liegenden rot uniformierten Feinde. Die französischen Dragoner in der zweiten Reihe, die den Musketenbeschuss überlebt hatten, blieben stehen und blickten hinüber zu ihren Feinden, unschlüssig, was sie tun sollten. Die Corporals in den britischen Reihen riefen Befehle: »Nachladen … neu formieren!«
Steel schaute über den dezimierten Haufen Dragoner hinweg und entdeckte weitere Infanteristen in roten Uniformen, die auf die britischen Grenadiere zuhielten. Eine zweite Einheit mit neuen Offizieren.
Zu Slaughter gewandt rief er: »Da, schaut, noch mehr von diesen Schweinehunden! Zurück zu den Gabionen. Wir müssen sie aufhalten, Jacob.«
Er ließ den Blick über die Linien der Alliierten unten in der Talsohle schweifen. »Wo bleibt die Verstärkung, zum Teufel?«
Schnell wichen die beiden Züge britischer Grenadiere zurück zur Brustwehr und den Schanzkörben.
Steel hielt Ausschau nach Hansam. Mit einem Lächeln auf den Lippen rief er ihm zu: »Schaffst du das, Henry? Können wir sie aufhalten?«
»Ich würde ihnen anbieten, sich zu ergeben, Jack, aber ich fürchte, sie haben andere Pläne.«
Steel ließ ein grimmiges Lachen folgen und wandte sich Slaughter zu. »Also gut, Jacob. Wie Ihr wollt. Zeigen wir ihnen, wie man es macht.«
Erneut formierten die Grenadiere sich drei Glieder tief, und wieder kamen die rot uniformierten Dragoner heran. Verzweifelt blickte Steel hinüber zu den Linien der Alliierten. Pearson hatte versagt. Niemand kam ihnen zu Hilfe. Kein Entsatz im letzten Moment. So viel zu seinem brillanten Plan. Als einziger Ausweg bliebe nun, so viele Franzosen wie möglich mit in die Hölle zu reißen. Hoffnungsvoll blinzelte Steel in die Ferne, doch was er sah, versetzte ihn nur noch mehr in Schrecken.
»Großer Gott!«
Durch den Rauch konnte Steel große, weiß uniformierte Gestalten ausmachen, die in dicht geschlossenen Reihen die Anhöhe hinaufmarschierten und geradewegs auf Steels Stellung zuhielten. Französische Infanterie. Ein Bataillon. Nein, eine ganze Brigade. Inzwischen hatte auch Slaughter die Männer entdeckt.
»Gütiger Himmel! Wie zum Teufel ist das möglich, Sir? Die sind uns in den Rücken gefallen.«
Steel lehnte an der Brustwehr und schloss die Augen.
»Tut mir leid, Jacob. Das sollte nicht sein.«
»Im Krieg ist nichts so, wie man will, Mr. Steel. Das ist nicht zu ändern.«
Steel ließ die Männer kehrtmachen. Wenn eine Reihe sich nun umdrehte, hätten sie vielleicht noch eine Chance, die Franzosen aus beiden Richtungen abzuwehren. Zumindest eine Weile.
Aber da ahnte er schon, dass es zu spät war. Die weiß uniformierte Infanterie war bereits zu nah herangekommen. Steel warf seine Schusswaffe zu Boden und zog seinen Degen. Während er sich auf das Schlimmste gefasst machte, wehte eine einsame, fremd klingende Stimme aus den Reihen der weißen Soldaten zu ihm herauf.
»Heda, in den Verteidigungen! Seid ihr Engländer?«
Steel knirschte mit den Zähnen. Das war der Gipfel der Beleidigungen. Musste er es sich gefallen lassen, auf diese Weise zur Aufgabe gezwungen zu werden? Eins stand für ihn fest: Kapitulieren würde er nicht.
»Wir sind Schotten!«, rief er hinunter. »Jedenfalls die meisten von uns. Und wir halten die Stellung im Namen von Queen Anne.«
»Dann danken wir Gott, mein Freund. Wir sind gekommen, um euch zu retten.«
Steel vermochte den Akzent nicht zuzuordnen, aber als der Sprecher aus einer der Rauchschwaden vortrat, erkannte Steel auf Anhieb, dass sie keine Franzosen vor sich hatten. Es handelte sich vielmehr um die Kaiserliche Infanterie und Grenadiere.
Er musste lachen. »Bei Gott, bin ich froh, Euch zu sehen. Wir dachten schon, Ihr wärt Franzosen.«
Der österreichische Offizier wirkte erschrocken.
»Nein, mein Freund. Wir sind keine Franzosen. Wir hassen diese Kerle. Aber entschuldigt … Ich bin Hauptmann Wendt, Regiment von Diesbach.«
Die Kaiserliche Infanterie hatte die Brustwehr inzwischen erreicht. Während die Soldaten die Gabionen überwanden, klopften Steels Leute den Männern auf die Schulter. Doch die Franzosen rückten immer noch vor.
»Auf Position!«
Slaughter hatte die Gefahr kommen sehen. Wieder formierten sich die Reihen, inzwischen unterstützt durch die lange Linie von Wendts Männern. Die Franzosen, schockiert angesichts des plötzlichen Auftauchens so vieler Feinde, machten abrupt Halt. Diesmal, das wusste Steel, würden sie die Salven gar nicht erst abwarten.
»Feuer!«
Dreihundert Musketenschüsse krachten gleichzeitig. Die rot uniformierten Franzosen, die gerade kehrtmachen wollten, fielen reihenweise. Im nächsten Augenblick war Steel aufgesprungen und setzte sich an die Spitze seiner Männer.
»Jetzt, Grenadiere! Stürmt!«
Unter lautem Jubelgeschrei stürmten die britischen Rotröcke los und rannten geradewegs, die Bajonette vorgestreckt, in die flüchtenden Dragoner. Die zweite Einheit schaute dem Blutbad nicht tatenlos zu. Als Steel erkannte, dass sie den Vorteil nutzen mussten, bahnte er sich seinen Weg durch das Getümmel und schwenkte den Degen hoch über dem Kopf.
»Grenadiere, zu mir! Wir haben sie, Jungs. Folgt mir. Aufschließen. Kommt schon. Mir nach!«
Die Rotröcke überließen die verwundeten französischen Dragoner der Gnade der Kaiserlichen Infanterie und rannten rasch zu Steel und Hansam, ehe sie Hals über Kopf auf die Mitte der Festung zuhielten. Zu ihrer Linken überwanden weitere Österreicher ungehindert die Brustwehren. Inzwischen, so schätzte Steel, mochten gut fünfhundert Österreicher auf dem Plateau sein. Doch der Tag war noch nicht vorüber.
Plötzlich ertönte ein markerschütterndes Kreischen, als eine Einheit rot uniformierter Kavallerie an der rechten Flanke von Steels Männern vorbeipreschte, mit klirrenden Säbeln und Harnischen. An der Spitze erkannte Steel Lord John Hay. Marlborough hatte also die schottischen Dragoner ins Feld geschickt. Es hieß mitunter, sie seien die besten Reiter in Europa. Steel beobachtete, wie sie ihre Säbel schwangen und den französischen Infanteristen die Köpfe abschlugen, wie Sensen bei der Ernte. Auch die Grenadiere rückten weiter vor, entlang der Böschung und direkt in die exponierte Flanke der französischen Hauptgarnison. Schließlich brachen die alliierten Linien unter lautem Jubel durch die Brustwehr und Schanzkörbe – die Briten gemeinsam mit den Holländern, die vor kaum zwei Stunden noch unter den Verteidigern gelitten hatten. Dann war es vorüber. Die französischen Linien lösten sich auf.
Steel entdeckte einen höheren französischen Offizier – womöglich ein General –, der in einem Höllentempo an der zerstörten Festung in Richtung Stadt vorbeiritt, gefolgt von fünf Adjutanten. Ihnen jagten mehrere britische Dragoner hinterher. Hier und da ergaben sich die französischen Infanteristen. Einige hatten Glück und wurden verschont, andere fielen den unnachgiebigen Bajonetten der alliierten Infanterie zum Opfer. Steel wandte den Blick von dem Gemetzel ab. Er wusste, was nach einem Angriff geschah. Was das anging, unterschied diese Schlacht sich nicht von anderen. Für Edelmut war kein Platz.
Stattdessen verfolgte Steel gebannt, wie die Kavallerie und die Dragoner der Alliierten den Hügel hinunterritten und auf Donauwörth zuhielten. Sie verfolgten die Franzosen, die alles zurückließen, was ihnen auf der Flucht hinderlich gewesen wäre: Tornister, Musketen, Hüte. Einige Feinde schafften es über die einzige schmale Brücke. Die Glücklosen hingegen wurden in die Fluten der Donau getrieben. Nur wenige konnten sich über Wasser halten. Steel sah Pferde, die Männer in den Matsch trampelten, als die Kavallerie die Säbel niedersausen ließ. Die Rache der Alliierten war höllisch.
Hansam klopfte Steel auf den Rücken. »Nun, Jack? Ich habe dir ja gesagt, dass wir uns oben auf der Anhöhe sehen. Und hier sind wir. Du weißt, dass ich zu meinem Wort stehe.«
Steel nickte. »Das haben wir fein hingekriegt, meinst du nicht auch?«
Hansam lächelte und säuberte seine rußgeschwärzten Fingernägel. »Ich wusste, dass wir es schaffen.«
Und so war es. Trotz aller Widrigkeiten und entgegen allen Regeln der militärischen Logik hatten sie es geschafft. Aber der Blutzoll war hoch. Steel ließ den Blick den Hügel hinunterwandern, zu den Linien der Alliierten, wo der Großteil der Armee sich gerade anschickte, weiter vorzurücken. Nirgends war auch nur ein Flecken Gras zu sehen, denn ein wahrer Teppich aus Gefallenen bedeckte den Boden, zumeist Rotröcke. Dazwischen kauerten immer wieder einzelne Soldaten und versorgten ihre Wunden. Frauen und Geliebte suchten nach ihren Männern.
Hansam nieste und steckte sein Schnupftabakstuch weg. »Ich sollte jetzt wieder zu den Männern, sonst verfolgen sie die Franzosen noch bis nach Paris.«
Während Hansam loslief, um die Gefangenen zusammenzutreiben, ging Steel zu Slaughter, der sich über einen toten Grenadier beugte. Pearson. Die Miene des Burschen wirkte friedlich, obwohl ihn eine Musketenkugel in der Wange getroffen und ihm den Hinterkopf weggerissen hatte.
»Armer Teufel«, sagte der Sergeant leise. »Er hat sich tapfer geschlagen. Hat uns alle gerettet, schätze ich. Das war knapp, Sir, was meint Ihr?«
»Ich habe nie ein blutigeres Gefecht gesehen«, antwortete Steel.
»Ich auch nicht.« Slaughter hielt inne und strich dem toten Burschen das Haar aus der schmutzigen Stirn. »Glaubt Ihr, dass es so weitergehen wird, Mr. Steel? Für den Rest des Feldzugs? Den Rest des Krieges?«
»Ja, Jacob. So beliebt der Herzog, Krieg zu führen. Das ist ein Krieg ohne Grenzen, wie wir beide ihn bislang noch nicht erlebt haben. Einen so harten und blutigen Krieg hat Europa seit gut achtzig Jahren nicht mehr gesehen, seit dieses Bollwerk erbaut wurde.«
Steel trat gegen den Erdwall der zerstörten Festung. »Kultivierten Männern liegt diese Art des Kämpfens nicht. Als der letzte Glaubenskrieg in deutschen Landen zu Ende ging, legten vornehme Herren Statuten für die Kriegsführung fest, damit so etwas nicht wieder geschieht. Nun, Jacob, heute haben wir das Regelwerk dieser Gentlemen mit Füßen getreten. Jetzt liegt es an Männern wie Euch und mir, dafür zu sorgen, dass es noch so etwas wie Ehre auf dem Schlachtfeld gibt.«
»Ihr meint, wir müssen unsere eigenen Regeln aufstellen, Sir?«
»Unsere eigenen Regeln. Ja, genau so ist es.«
Steel blickte auf den zerschmetterten Körper des jungen Grenadiers zu seinen Füßen. »Wenn wir so kämpfen müssen wie hier, Jacob, sollten wir es zumindest ehrenvoll tun. Gott weiß, wie kurz das Leben sein kann. Wir können also genauso gut stolz auf das sein, was wir tun.«
Er bückte sich, hob ein Stück Kragen vom Boden auf, wischte das Blut von der langen Klinge und schob den Degen wieder in die Scheide. »Und jetzt, Sergeant, glaube ich, dass es da noch irgendwo ein Fass Wein gibt.«
»Bier, Sir.«
Steel musste lachen.
»Bier, Jacob. Schaut nach, wer noch übrig ist von dem Zug, und lasst Mr. Hansam wissen, wohin wir gehen. Es ist an der Zeit, dass wir mal nachsehen, was die guten Leute von Donauwörth uns zu bieten haben.«
General Van Styrum war tot. Ein französischer Offizier hatte ihm den Schädel mit einem Säbelstreich gespalten, als der General gerade die Befestigungsanlagen erreichte. Auch Goors lebte nicht mehr; er hatte eine Kugel in den Kopf bekommen. Mit ihm waren noch andere höhere Offiziere gefallen. Sechs Lieutenant-Generals waren tot, fünf weitere verwundet, dazu noch vier Major-Generals und achtundzwanzig Brigadiere und Colonels.
In einem alten Fachwerkhaus ging Steel die Namen der nahezu hundert Lieutenants und Captains durch, von denen einige alte Freunde gewesen waren. Sämtliche Namen standen inzwischen auf einer handgeschriebenen Liste der gefallenen Offiziere, der unwiderlegbare Beweis für den Tod dieser Männer. An diesem Morgen hatte jemand die Liste an einen Balken der Schankstube geheftet, die James Fergusons Brigade von Marlboroughs Armee als Messe diente. Zu Steels Überraschung hatte Mordaunt überlebt – Gott allein wusste, wie das möglich war. Seine Guards waren furchtbar dezimiert worden. Immer wieder waren sie gegen die französischen Brustwehren angerannt, bis die Männer schließlich über die toten oder sterbenden Kameraden hatten steigen müssen, um überhaupt vorrücken zu können.
Der Einzug der Sieger in Donauwörth hatte sich nicht so einfach gestaltet, wie man es sich gedacht hatte. Die französische Garnisonsbesatzung hatte die Verteidigungsanlagen erst aufgegeben, als die Soldaten erkannten, dass die Alliierten sie vom Rest ihrer Armee abschneiden würden, sobald es ihnen gelänge, die Donau zu überwinden. Schließlich waren sie geflohen, in einem unkoordinierten Rückzug in Richtung ihrer Hauptarmee. Das war vor zwei Tagen gewesen.
Die Einwohner Donauwörths hatten die britischen Rotröcke und alliierten Soldaten mit vorsichtiger Zurückhaltung willkommen geheißen, war ihnen doch das Blutbad eines anderen Krieges noch frisch in Erinnerung. Daher wussten sie nicht, wie ihnen das Schicksal nun mitspielen würde.
Außerdem konnte man erst dann an die Verfolgung der Franzosen und Bayern denken, wenn die Ingenieure und Pioniere die Brücke fertig hatten. Also stellten die Männer sich auf einige Tage unvorhergesehener Rast ein. Die meisten Offiziere hatten sich in Privathäusern reicher Kaufleute Unterkünfte gesichert. Für die Unteroffiziere und anderen Ränge dienten einfachere Behausungen oder Stallungen und Nebengebäude als mehr oder weniger bequeme Quartiere. Die Verwundeten, die es während des Kampfes nicht bis zum Hauptquartier in Nördlingen geschafft hatten – auf Fuhrwerken, zu Fuß oder gar auf allen vieren –, hatte man außerhalb der Stadtmauern in Zelten unterbringen müssen, so groß war ihre Zahl.
Steel wusste, dass ein Drittel der Männer die schrecklichen Verletzungen nicht überleben würde. Selbst jetzt noch, drei Tage nach der Schlacht, war man damit beschäftigt, die Toten zu bestatten. Der bittersüßliche Gestank des Todes hing schwer in der Luft. Das war für Steel der schlimmste Moment im Krieg: Die Zeit unmittelbar nach einer Schlacht, wenn ihm der Verlust der Kameraden genauso präsent war wie ein Sieg. In dieser Phase waren die Männer zu allem fähig. Es kam zu Trunkenheit oder Desertion – oder zu Schlimmerem. Und während die Ingenieure die zerstörte Brücke reparierten, boten die Tage der Ruhe denjenigen, die den Angriff überlebt hatten, die willkommene Gelegenheit, das Essen und die Getränke vor Ort zu genießen. Ganz zu schweigen von den weichen Laken und sinnlichen Freuden, die in den Hurenhäusern der Stadt zu haben waren.
Steel ging davon aus, dass er die meisten Männer aus seiner Kompanie in einem Etablissement dieser Art finden würde, aber er wollte sie nicht suchen. Seine Jungs waren während einer Kampfpause nicht so naiv zu glauben, abseits der Armee erwarte sie ein besseres Leben. Vor drei Stunden hatte er Slaughter das Kommando über die halbe Kompanie auf dem improvisierten Exerzierplatz jenseits der Stadtmauern überlassen. Die Männer hatten sich ihre einfachen Freuden verdient, und er wusste, dass der Sergeant für Ordnung in der Truppe sorgen würde.
Steel selbst war fleischlichen Genüssen nicht abgeneigt, aber das Grauen der zurückliegenden Tage hatte jegliche Sehnsüchte in ihm erkalten lassen. Anstatt also die Bordelle aufzusuchen, in denen sich viele seiner Offizierskameraden zurzeit vergnügten, hatte er zusammen mit Hansam die nächste Taverne angesteuert. Um zu trinken und zu plaudern und die wenigen kostbaren Stunden der Freiheit zu genießen. Steels Blick fiel wieder auf die Liste mit den Gefallenen. Er dachte an die Heimat, an die Todesnachrichten, die den Hinterbliebenen bald in den entlegensten Dörfern und Herrenhäusern überbracht würden: Mütter und Schwestern, untröstlich in ihrem Kummer; Väter, die mit müden Augen aus den Fenstern auf die unbestellten Felder blickten.
Er wandte sich von der Liste ab und setzte sich zu seinem Freund an den Tisch. Dann nahm er einen tiefen Schluck Wein und kratzte sich am Hals. Vielleicht könnte er morgen jemanden finden, der seine Uniform säuberte. Oder zumindest seine Hemden ausbesserte. Schließlich sagte er: »Ein trauriger Augenblick für Britannien, Henry.«
Hansam, der selbstvergessen in sein Weinglas gestiert hatte, wandte sich seinem Freund zu. »Traurig, ja, aber du wirst zugeben müssen, dass es ein ruhmreicher Sieg war.«
»Ich bezweifle, dass die Tories daheim in London das so sehen.«
»Das kannst du nicht wissen, Jack. Es heißt, der Feind habe siebentausend Mann verloren, weitere zweitausend sind in den Fluten ums Leben gekommen, als wir den Versprengten nachsetzten. Jeden Tag werden mehr Tote ans Ufer gespült. Und wir haben fast dreitausend Gefangene gemacht.«
»Aber was ist mit unseren Verlusten? Sieh dir doch nur diese Schlachterliste an! Sechstausend Mann tot und verwundet, und davon kommen allein tausendfünfhundert aus England und Schottland. Tausendfünfhundert Mann, Henry! Ich habe noch nie einen so verlustreichen Tag erlebt, sag ich dir.«
»Dennoch haben wir jetzt die Stadt und alles, was dazugehört. Wir haben Vorräte, Jack, und eine starke strategische Basis. Und du weißt, dass es keine andere Möglichkeit gab.«
Er drehte sich halb vom Tisch weg, um die Aufmerksamkeit des hübschen jungen Mädchens auf sich zu ziehen, das geschickt zwischen den Tischen der rot uniformierten Offiziere hin und her lief und in jeder Armbeuge zwei Zinnkrüge mit Wein balancierte.
»Noch einen für mich hier, Madame. Wenn’s geht, Mademoiselle. S’il vous plait. Un autre, ici.«