Stefan George - Thomas Karlauf - E-Book

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Thomas Karlauf

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Beschreibung

Die erste Stefan-George-Biographie in deutscher Sprache

Als Dichter, Prophet und Mittelpunkt eines Kreises ihm grenzenlos ergebener Jünger zählte Stefan George (1868 – 1933) zu den einflussreichsten Figuren der deutschen Geistesgeschichte. Das Denkmal, das sich der »Meister« errichtete, war vielen Zeitgenossen allerdings zu hoch, und nach 1945 geriet George in Vergessenheit. Nach langjähriger Vorarbeit legt Thomas Karlauf die erste George-Biographie in deutscher Sprache vor: ein faszinierendes Stück Zeit- und Sittengeschichte am Vorabend der Katastrophe.

Stefan George war unter den deutschen Dichtern im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zweifellos der einflussreichste. Er hat die deutsche Lyrik entscheidend geprägt. Seinen Ruhm verdankte George allerdings weniger seinen Gedichten als vielmehr der Tatsache, dass er sich so perfekt inszeniert hat wie kaum jemand vor ihm. Legendär – und bis heute umstritten – war auch der so genannte George-Kreis, ein dem Dichter treu ergebener Männerbund. An diesem Kreis schwärmerisch begeisterter Jünglinge entwickelte Max Weber sein Modell der »charismatischen Herrschaft«. An der Person Georges lässt sich zeigen, was Macht über Menschen wirklich bedeutet. In seinem Werk finden sich zahlreiche Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus (George starb 1933), viele sahen in ihm einen »Wegbereiter«. Und doch steht am Ende dieses Weges das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944: Verübt hat es Claus von Stauffenberg, einer der letzten Vertrauten Georges.

Thomas Karlauf hat die gesamte Forschung aufgearbeitet, seine Biographie ist wissenschaftlich auf dem neuesten Stand und wunderbar lebendig erzählt.

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Seitenzahl: 1299

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Inhaltsverzeichnis
 
Lob
Prolog
 
I Der Aufstieg 1868-1898
Kapitel 1 - Der Sternegucker
2
3
 
Copyright
Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.
Goethe, Dichtung und Wahrheit, Vorwort
 
 
 
Für Biographien habe er nie besondere Sympathien. Er empfinde es stets als eine gewisse Rücksichtslosigkeit, Indiskretion, wenn ein Mensch Sachen, die sich zwischen zwei anderen abgespielt haben und die nur für diese bestimmt seien, bekannt macht und dadurch das große Publikum als Richter einsetzt.
Stefan George im Gespräch mit MaximilianKronberger, München, 19. Dezember 1903
 
 
 
The hero is he who is immovably centred.
Ralph Waldo Emerson
Prolog
»Und er kann töten, ohne zu berühren«Wien, 14. Januar 1892
 
 
Der 14. Januar 1892, der Tag, an dem der 23-jährige Stefan George den 17-jährigen Gymnasiasten Hugo von Hofmannsthal ultimativ aufforderte, sich endlich mit ihm zu treffen, war ein Donnerstag. Anfang der Woche war George wieder einmal umgezogen: von der Garnisongasse drei Straßen weiter in die Wasagasse, Ecke Türkenstraße, wo er bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Wien ein Dreivierteljahr zuvor Quartier gefunden hatte. Ein Bote war bestellt. Der Brief, den George in der Nacht geschrieben und dann auf »donnerstag morgen« datiert hatte, sollte in den 3. Bezirk ans andere Ende der Stadt gebracht werden. Er steckte, ohne jede Anrede, ohne jede Grußformel, bereits im Couvert, als dem Verfasser Zweifel kamen, ob der Adressat den Ernst der Lage erfasse. »Bitte diesen brief zu lesen um die unangenehmsten folgen zu verhüten«, schrieb George mit Bleistift auf einen Zettel und legte ihn dem Brief bei. Der Dienstmann, der etwa eine halbe Stunde in die Salesianergasse brauchte, sollte dort auf Antwort warten.
Also auf etwas hin und gott weiss welches etwas »das Sie verstanden zu haben glauben« schleudern Sie einem gentleman der dazu im begriff war Ihr freund zu werden eine blutige kränkung zu. Wie konnten Sie nur so unvorsichtig sein, selbst jeden verbrecher hört man nach den schreiendsten indizien. Sie sehen ich rede ganz gesezt und wenn Sie nach einigen tagen gelassen denken oder nach jahren so werden Sie mir (mit Ihren werten eltern deren einziges kind Sie sind!) sehr verbunden sein dass ich soviel ruhe bewahrte und nicht sofort das veranlasse was mit Ihrem oder meinem tod endet1
Am Abend zuvor war Stefan George zum wiederholten Mal im ersten Stock der Salesianergasse vorstellig geworden, um nach dem jungen Herrn von Hofmannsthal zu fragen. Dieser hatte ihm am Dienstag zwar einige Bücher geschickt, Georges inständigem Bitten um ein Treffen war er jedoch seit Tagen ausgewichen. Seit seinem Besuch in dessen Pension an Heiligabend hatte sich Hofmannsthal mehrmals verleugnen lassen. George war nur seinetwegen über die Feiertage in Wien geblieben, wartete aber vergeblich; am 14. Januar war seine Geduld erschöpft.
Bevor George im März 1891 sein Studium an der Wiener Universität aufnahm, hatte er sich eine kleine Reise nach Verona und Venedig gegönnt. Zwei in Venedig entstandene Gedichte legen die Vermutung nahe, dass Georges Hang zur Schwermut dort erheblich verstärkt wurde. Das eine der beiden »Gesichte« endet:
Ich darf so lange nicht am tore lehnen, Zum garten durch das gitter schaun, Ich höre einer flöte fernes sehnen, Im schwarzen lorbeer lacht ein faun.2
Das andere Gedicht berichtet im Ton der Ballade von einer schönen und stolzen Venezianerin, die sich mit allem erdenklichen Luxus umgibt, um auf diese Weise der ganzen Stadt, insbesondere ihrem greisen Galan, Unnahbarkeit zu demonstrieren. Am Ende hält sie die Rolle der pompösen Frigiden jedoch nicht durch und gibt sich »in verhangenem gemach« einem namenlosen Liebhaber hin; nach dem Akt empfindet sie Schmach. In ihrer Verzweiflung, der glanzvollen Rolle nicht länger entsprechen zu können, sieht sie den einzigen Ausweg darin, sich öffentlich zu demütigen: Besser, alle Welt erfährt, dass sie hier liege, »niedrig und gebrochen«, als dass ein Einzelner sich anmaßt, den Sieg über sie davongetragen zu haben. Ein sprödes, herrisches Wesen und ein bis an die Grenze der Selbstzerstörung getriebener Hochmut: Das Bild der Venezianerin trägt durchaus autobiographische Züge.3
In Wien, wo er zum Frühjahrsbeginn aus Venedig eintraf, fühlte sich George von Anfang an einsam. Er kannte niemanden und verfügte über keine Empfehlungsschreiben. Auf langen Spaziergängen habe er die ihn südlich anmutende Stadt und ihre Umgebung erkundet, wusste der von George autorisierte Biograph Friedrich Wolters 1930. Er habe Museen besucht, viel gelesen - mit Vorliebe Texte deutscher Romantiker -, Baudelaire übersetzt, und gelegentlich warf er wohl auch einen Blick in den Hörsaal. Die Gedichte, die in diesen Monaten entstanden, zeugen von wüsten Versuchungen und Allmachtsphantasien bis hin zu schrillen Obsessionen:
Vor deinen schuhen stammelt man den eid, Entführte weiber weinen ihren gram Und eine, wirr im schrecken, ohne scham Zerreisst vor deinem herrenblick ihr kleid.4
Die Sommerferien verbrachte George zu Hause am Rhein. Auf dem Weg von Wien nach Bingen legte er ein paar Wandertage in Oberbayern ein und besuchte aus einer »dunklen Neigung«5 zu dem fünf Jahre zuvor verstorbenen Bayernkönig Ludwig II. Schloss Linderhof. Obwohl er nach der Besichtigung »an heftigem seelenkatarrh« litt,6 erhielt er doch entscheidende Anregungen zu einem neuen Gedichtband Algabal. Anfang September brach er eine Reise nach London in großer Erregung vorzeitig ab, fuhr anschließend zwei Wochen nach Paris und kehrte dann über Berlin Ende Oktober nach Wien zurück. Auch jetzt fand er nirgendwo Anschluss. Von innerer Unruhe getrieben, durchstreifte er abends die Straßen und dürfte die Verachtung der Welt ähnlich tief empfunden haben wie seine schöne Venezianerin. Der Abwehrmechanismus war der gleiche. Nicht er trug Schuld an seiner Vereinsamung, sondern die Stadt hatte nichts anderes verdient, als mit Nichtachtung gestraft zu werden. Wien sei doch gar nicht mit Paris zu vergleichen, schrieb er nach seiner Flucht Mitte Januar an Marie Herzfeld: »Ich gedeihe nicht unter jenen (grösstenteils) zeitungsschreibern ohne jedes musikalische oder malerische interesse.« In Paris lebten die Dichter, »die wahre künstler zugleich sind«.7 Solche wie er.
Bis zur Begegnung mit Hofmannsthal Mitte Dezember 1891 ist Marie Herzfeld der einzige Kontakt Georges in Wien, von dem wir wissen. Die 36-jährige Übersetzerin zeitgenössischer skandinavischer Literatur, die gelegentlich auch in der Wiener Mode publizierte, hatte er im November über seine Zimmerwirtin in der Garnisongasse kennengelernt. Marie Herzfeld »besäße die Einfühlsamkeit, ihn zu verstehen«, hatte die Wirtin ihm gesagt, und in der Hoffnung, sie werde seine Gedichte besprechen, suchte George sie auf. Zwar konnte Marie Herzfeld mit seinen Versen nur wenig anfangen - »was er sagt, ist besser, als was er schreibt« -, aber ihn selbst empfand sie als so interessant, dass sie sich mehrmals mit ihm traf.
Vielleicht durch einen Hinweis von Marie Herzfeld, die zum Kreis der Mitarbeiter der Modernen Rundschau zählte, vielleicht auch durch Lektüre, wurde George Anfang Dezember auf Hugo von Hofmannsthal aufmerksam. Weil österreichischen Gymnasiasten das Publizieren verboten war, veröffentlichte er fleißig unter Pseudonymen wie Theophil Morren, Loris Melikow oder einfach Loris. George hat wohl am meisten das kleine Versdrama Gestern angesprochen.8 Das im Oktober und November in der Modernen Rundschau gedruckte Stück, dessen Buchausgabe Hofmannsthal an Weihnachten George zum Geschenk machte, zeigte trotz gewisser Holprigkeiten einen neuen lyrischen Ton.
Eine ausführliche Schilderung ihrer ersten Begegnung gab Hofmannsthal selbst kurz vor seinem Tod. Auch wenn sich aufgrund des zeitlichen Abstands Irrtümer eingeschlichen hatten, ist die Stimmung jenes Dezemberabends vermutlich recht genau getroffen. Im Café - »es war dieses berühmte Griensteidl, wo ich oft hinging, u. waren damals sehr viele junge Leute da« - habe ihm eines Tages jemand erzählt,
es sei jetzt ein Dichter Stefan George in Wien, der aus dem Kreise von Mallarmé komme. Ganz ohne Vermittlung durch Zwischenpersonen kam dann George auf mich zu: als ich, ziemlich spät in der Nacht, in einer englischen revue lesend, in dem Café sass, trat ein Mensch von sehr merkwürdigem Aussehen, mit einem hochmütigen leidenschaftlichen Ausdruck im Gesicht (ein Mensch der mir weit älter vorkam als ich selber, so wie wenn er schon gegen Ende der Zwanzig wäre) auf mich zu, fragte mich, ob ich der und der wäre - sagte mir, er habe einen Aufsatz von mir gelesen, und auch was man ihm sonst über mich berichtet habe, deute darauf hin, dass ich unter den wenigen in Europa sei (und hier in Oesterreich der Einzige) mit denen er Verbindung zu suchen habe: es handle sich um die Vereinigung derer, welche ahnten, was das Dichterische sei.9
Folgt man der Darstellung Hermann Bahrs, so trat George keineswegs auf Hofmannsthal zu. Um 1910, also knapp zwanzig Jahre vor Hofmannsthals eigenem Bericht, erzählte er dem jungen Herbert Steiner: »Er [George] schickte ein paar Worte zu Hofmannsthal herüber und der setzte sich an seinen Tisch und war ganz begeistert von ihm.«10 Wichtiger als die Nuance, wer sich zu wem an den Tisch setzte, ist der in beiden Quellen übereinstimmende Hinweis, dass Georges äußere Erscheinung als ungewöhnlich registriert wurde und ihm der Ruf vorauseilte, er komme direkt aus Paris. Das machte George sogar für die anspruchsvolle Wiener Szene interessant. »Er fiel uns allen auf durch seinen ungewöhnlichen Kopf und durch ein viereckiges Monokel, das er von Paris mitbrachte.« George, so fasste Steiner die verschiedenen Berichte später knapp und treffend zusammen, saß »abseits, beobachtend, nicht ganz unbeobachtet«.
Jeder beobachtete freilich etwas anderes. In den Tagen, in denen George und Hofmannsthal sich kennenlernten, arbeitete Hermann Bahr an seinem Aufsatz »Loris«, der im Januar in der Freien Bühne erschien und den jungen Dichter mit einem Schlag bekannt machte. Bahr zeichnete ein Porträt, »wie Watteau oder Fragonard es gemalt hätte«, ganz im Stile des Rokoko: »unter der kurzen, schmalen, von glatten Ponnys überfransten Stirne … braune, lustige, zutrauliche Mädchenaugen«, die von einer »naiven Koketterie« zeugten, »welche die schiefen Blicke von der Seite liebt«. - »Ein feiner, schlanker, pagenhafter Leib von turnerischer Anmut, biegsam wie eine Gerte … mit den fallenden Schultern der raffinierten Kulturen, von ungeduldiger Nervosität … Er erlebt nur mit den Nerven … er empfindet nichts... daher aber auch die Kälte, die sécheresse, der ironische Hochmut seiner Verse.«11 Marie Herzfeld fügte diesem Bild in ihren Erinnerungen noch »die herrliche Reihe ebenmäßiger Zähne« hinzu: »Wenn er laut auflachte (was er gern tat und wobei er wie ein Kind den Ton beim Atmen auf und ab zog), entstanden Grübchen in den pfirsichfarbenen Wangen … Die Haare waren von tiefgebräuntem Blond, die Augen wie helle Haselnuss, mit dem lichten Blau, das in diese Farbe gemischt ist.«12
Schon früh gab es jedoch auch Stimmen, die davor warnten, sich von der Leichtigkeit seines Auftretens blenden zu lassen. Hofmannsthal sähe »ungefähr so aus wie sehr viele Wiener junge Herren aus gutem Haus«, schrieb der spätere Direktor des Wiener Hofburgtheaters, Alfred von Berger, 1905. »Er spricht auch so, wie man in Wien oft sprechen hört. In aristokratischem Wienerisch, mit etwas näselnder Stimme und ein wenig ziehender Sprechweise sagt er einem über ein Buch, das er soeben gelesen hat, die feinsten Sachen so geflissentlich nachlässig und unliterarisch, als ob er sich beim Oberkellner eines eleganten Restaurants beklagte, dass der Champagner nicht genug frappiert ist.« Zwar fände sich in Hofmannsthals Poesie eine Reihe von »auserlesenen lyrischen Leckerbissen«, aber zu einem Hasenragout gehöre nun einmal in erster Linie ein Hase. Vieles wirke bloß anempfunden, und deshalb könne man auch nicht viel »Körperhaftes, Scharfumrändertes« an ihm entdecken: »Ob er wohl im Mondschein einen Schatten wirft?«13
Auf jeden Fall war dieses Luftwesen in allem das Gegenteil von Stefan George. Während Hofmannsthal offenbar stets für jünger gehalten wurde, als er war,14 wirkte George niemals jung. Das lag an seiner Physiognomie. Die breite, weit vorspringende Stirn über verschatteten Augenhöhlen, die hohlen Wangen, der herbe, schmallippige Mund, zuletzt der eigenartig wächserne Teint, der mitunter fast olivfarben schillerte: Selbst im Wiener Caféhaus musste ein solcher Kopf auffallen. Wie ein gewaltiger Block saß dieser Kopf dicht über den Schultern, was der eher feingliedrigen Gestalt etwas Keilförmiges verlieh. Beim Gehen war »der Oberkörper leicht zurückgelegt«, und da alle Bewegung aus dem Becken kam, sah es aus, als schiebe er sich gravitätisch nach vorn.15
George war unter 1,75 Meter groß. Da er aufrecht ging, den Kopf meist in den Nacken warf und den kurzen Hals durch einen hohen Stehkragen mit weißer Schleife optisch verlängerte, wirkte er jedoch größer. Der Maler und Zeichner Karl Bauer, der George 1891 kennenlernte und dessen in bürgerlichen Kreisen weit verbreitete Lithographien um die Jahrhundertwende das öffentliche Bild Georges nachhaltig prägten, schilderte sein Auftreten so:
Der übrige Anzug war fast immer schwarz von modischem Schnitt. Man hätte ihn für einen Herrn der Gesandtschaft halten können. Die dunkelblonden zurückfliegenden Haare trug er ziemlich kurz und regelmäßig, so dass der kugelrunde Schädel im Profil klar hervortrat. Der spätere auf meinen Bildnissen so oft hervortretende Hinterkopf entstand durch die längere Haartracht … Sehr auffallend fand ich den medusenhaften seltsamen Blick der tief unter den felsigen eckigen Stirnknochen liegenden graugrünen Augen … Alles das gab und gibt noch heute dem Antlitz etwas Sphinxhaft-Dämonisches … Dem Eindruck des Gefaßten und Stolzen beim ersten Zusammentreffen steht bei näherer Bekanntschaft Lebhaftigkeit der Rede, ja Leidenschaftlichkeit und zarte Reizbarkeit im besten Sinne, die sich gern in Ironie flüchtet, gegenüber.16
George sah immer ein wenig übernächtigt aus, schon als junger Mann wirkte er verhärmt und leidend. Wer ihm gegenübertrat, musste den Eindruck gewinnen, dass dieser Mann es schwer hatte mit sich und der Welt. Das stete Leiden an der Gegenwart war für George aber auch Ausweis seines Erwähltseins. Mit jeder Geste, mit allem, was er sagte, unterstrich er seinen Anspruch, stellvertretend, im Namen einer höheren Macht zu handeln. So überspielte er nicht nur Unsicherheiten im täglichen Umgang mit seinen Mitmenschen, sondern verwies auch alle, mit denen er in engeren Kontakt trat, auf ein übergeordnetes Bündnis, das er vorerst als »das Dichterische« umschrieb.
Im ersten Heft der Blätter für die Kunst hieß es im Oktober 1892 programmatisch, die Zeitschrift wende sich an »zerstreute noch unbekannte ähnlichgesinnte« Künstler, an solche also, die, wie George selbst, auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten waren, ohne schon sagen zu können, in welche Richtung ihre Bemühungen zielten. In der Kunst, so das Credo der neuen Gruppe, »glauben wir an eine glänzende wiedergeburt«. Um welche Art Kunst es sich dabei handelte, blieb zunächst unklar. Eine geistige Kunst sollte es sein, »eine kunst für die kunst«.17 Wichtiger als die Ausgestaltung eines Programms war der Sammlungsruf als solcher. Alle, die sich im Zeichen der neuen Kunst erkannten, durften sich berufen fühlen.
Die Vison einer anderen Kunst muss George mit enormer Eindringlichkeit vermittelt haben. Er erzählte Hofmannsthal von den Dienstagabenden bei Mallarmé, von verwandten Bewegungen in England und Italien und wies mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hin, der neuen Kunst auch im deutschen Sprachraum zur Herrschaft zu verhelfen. Selbst über offensichtliche Nebensächlichkeiten wie Druck und Papier »sprach er mit einem imponierenden Ernst« und zog den jungen Hofmannsthal auf diese Weise in eine ihm neue Welt.18 Er habe, schrieb Hofmannsthal Jahrzehnte später, diese Welt als ungeheuer lebendig empfunden und sich sofort zugehörig gefühlt. Mit einem Mal sei er sich nicht länger wie ein »ganz vereinzelter Sonderling« vorgekommen. Im Zusammensein mit George habe er »jenes Communizieren webender Kräfte« erfahren, »das eben den Geist einer Zeit ausmacht«.
Du hast mich an Dinge gemahnet Die heimlich in mir sind, Du warst für die Saiten der Seele Der nächtige, flüsternde Wind
Das Gedicht, »Einem, der vorübergeht«, entstand unter dem unmittelbaren Eindruck der ersten Begegnung zwischen dem 16. und 19. Dezember. Hofmannsthal überreichte es am Montag der darauffolgenden Woche in einem Umschlag mit der Aufschrift »Herrn Stefan George«.19 Am nächsten Tag bedankte sich George: »Ihr schönes bekenntnis hat mich tief entzückt - nur wer bewundern kann vermag wunderbares zu schaffen.« Er fragte jedoch sofort nach dem ihn irritierenden Titel: »aber bleibe ich für Sie nichts mehr als ›einer der vorübergeht‹?« Als George drei Wochen später einen großen Bekenntnisbrief an den »zwillingsbruder« schrieb, milderte er, nachdem er sich für sein Gefühl allzu weit vorgewagt hatte, am Ende vieles ab - »Werden wir wieder vernünftig« - und unterschrieb, als hätte er sich zu guter Letzt doch mit dieser Rolle abgefunden: »Einer der vorübergeht«.
Es klang ein wenig beleidigt. Und in der Tat: George war ja nicht nach Wien gekommen, um mit Geschichten aus dem Mallarmé-Kreis diesen oder jenen jungen Dichter zu unterhalten und dann wieder seiner Wege zu ziehen. Er suchte Gefährten, und das hieß für ihn: Menschen, für die der Glaube an die reine Kunst einherging mit dem Glauben an ihn, Stefan George. Die Überzeugung, dass durch ihn die neue Dichtung repräsentiert werde, gab seinem Auftreten die nötige Sicherheit. Der Weg zur neuen Kunst - so vermittelte er es - führte ausschließlich über ihn. Dem Gegenüber blieb da wenig Raum. Hofmannsthal machte als Erster die Erfahrung, dass aus der gemeinsamen Begeisterung für die Sache unversehens ein Zwang zu persönlichem Bekenntnis erwuchs. Schon wenige Tage nach ihrer Bekanntschaft bekam er es mit der Angst zu tun.
Spätestens an Heiligabend. An diesem Tag hatte er George in seiner »provisorischen wohnung« hinter der Universität besucht. Der schämte sich offenbar ein bisschen für die Bleibe, denn er wollte den neuen Freund nur ungern dort empfangen - »trotzdem! besser dort als nirgends«. Nach einem letzten vergeblichen Versuch am 23., den Besuch doch noch in ein Café umzudirigieren, kam es dann am Weihnachtsabend gegen 17 Uhr zu jener Begegnung, der wir eines der unheimlichsten Gedichte verdanken, die ein Dichter auf einen anderen verfasst hat: »Der Prophet«
In einer Halle hat er mich empfangen Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt Von süßen Düften widerlich durchwallt. Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen.
 
Das Thor fällt zu, des Lebens Laut verhallt Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen Und alles flüchtet, hilflos, ohne Halt.
 
Er aber ist nicht wie er immer war, Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar. Von seinen Worten, den unscheinbar leisen Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann tödten, ohne zu berühren.20
Das war der andere George. Der Magier und Menschenfänger, dem Hofmannsthal jetzt aus dem Weg ging, indem er zwei Tage später aus Angst vor weiteren Unannehmlichkeiten eine Abreise aus Wien vortäuschte. George, der spürte, dass Hofmannsthal sich ihm entzog, wollte allen Ausflüchten vorbauen und schrieb noch am gleichen Tag: »An meine abreise ist vorläufig nicht zu denken und wann kommen Sie?«21 In seiner Erregung vergaß er das Wort »zurück«.
Zehn Tage, nachdem sie sich kennengelernt hatten, war das Verhältnis zwischen Stefan George und Hugo von Hofmannsthal von gegenseitigem Misstrauen überschattet.
George verbrachte die letzten Tage des Jahres allein in Wien und fieberte der angeblichen Rückkehr Hofmannsthals entgegen. Er brannte so sehr auf das Wiedersehen, dass er am ersten Werktag des neuen Jahres in der Hofmannsthalschen Wohnung klingelte, um zu erfahren, wo der junge Herr steckte. Mittwoch, den 6. Januar, fing er ihn dann an der Schule ab - und die Tragödie nahm ihren Lauf. »Inzwischen wachsende Angst; das Bedürfnis den Abwesenden zu schmähen«, notierte Hofmannsthal in seinem Tagebuch.22 Die Aufzeichnung trug die Überschrift »Der Prophet. (eine Episode) Jänner 1892«. In wenigen Stichworten hielt Hofmannsthal die aus seiner Sicht wesentlichen Stationen der Bekanntschaft fest. Indem er George als Propheten charakterisierte, die ganze Angelegenheit jedoch zur »Episode« erklärte, glaubte er seine Faszination durch den Fremden und sein gleichzeitiges Bedürfnis, ihn loszuwerden, auf einen Nenner zu bringen. Der Prophet als Episode war in sich so widersprüchlich wie das Verhältnis selbst.
Für Sonntag, den 10. Januar, hatte Hofmannsthal endlich einer Verabredung gegen 17 Uhr im Café Griensteidl zugestimmt. Da er jedoch Felix Salten mitbrachte, einen befreundeten jungen Schriftsteller aus dem Kreis um Hermann Bahr, in dessen Begleitung er sich sicherer fühlte, konnte George nicht frei reden. Aus diesem Grund entschloss er sich wohl, Hofmannsthal den Brief zu übergeben, den er ihm am Vortag angekündigt, dann aber zurückgehalten hatte. Salten war von Hofmannsthal instruiert worden, beizeiten zum Aufbruch zu drängen.
Der Zufall wollte es, dass sich George und Hofmannsthal am Abend ein weiteres Mal begegneten. »War es meine schuld dass Sie gerade in jenes unglückl. cafe kamen am sonntag?«, fragte George. Beide müssen sich in dem Moment, da Hofmannsthal das Café betrat, gleichsam ertappt gefühlt haben: Hofmannsthal, weil er sich mit Saltens Hilfe ein Alibi für den Abend verschafft hatte, das nun aufgeflogen war, George, weil er annehmen musste, dass Hofmannsthal inzwischen den Brief gelesen hatte. Die Begegnung war für beide peinlich, die Stimmung gereizt. Hofmannsthal erinnerte sich später, George habe einen schönen Hund, der an ihren Tisch kam und sich zutraulich an Georges Bein rieb, mit einem brutalen Tritt verjagt: »Va-t-en, sale voyou!« Über den Brief schwieg man sich offenbar aus.23
George hatte den Brief den ganzen Samstag mit sich herumgetragen. Als er gegen Mittag bei Hofmannsthal vorbeiging, um einige Bücher abzugeben - seinen ersten Gedichtband Hymnen in einem frischen Exemplar, die zu Weihnachten vom Drucker aus Lüttich eingetroffenen Pilgerfahrten und andere Schriften24 -, erwähnte er ihn sogar auf der Karte, die er beilegte: »Einen brief den das wesen x in mir abfertigte unterschlug das wesen y, denn wozu?« Am nächsten Tag im Café überreichte er ihn dann doch, nicht ohne sich zuvor vom Adressaten die Zusicherung auf Rückgabe oder Vernichtung ausbedungen zu haben. Als George vier Wochen später Hofmannsthals Vater zur Herausgabe des Schriftstücks drängte, meinte er, gewisse Worte, »recht und bezeichnend für eine stunde«, seien »am andren tag schon zu viel und unrichtig«.
Der Brief war aus der Stimmung gemeinsamer Spaziergänge geschrieben worden. George hatte Hofmannsthal in diesen Tagen zweioder dreimal am Mittag im Akademischen Gymnasium abgeholt und ihn auf dem Nachhauseweg begleitet (Hofmannsthal stand ein halbes Jahr vor der Matura). George nannte diese Spaziergänge ihre »akademischen gespräche«, aber das, was sie dabei erörterten, der Geist dieser Gespräche war, jedenfalls für ihn, keineswegs »akademisch«. Seinen Bekenntnisbrief rechtfertigte George denn auch damit, dass das, was er Hofmannsthal eigentlich zu sagen habe, andernfalls auf immer ungesagt bliebe, »wenn wir auch noch ein dutzend mal unsre akademischen gespräche führen«.
Hatte George seine Gefühle für Hofmannsthal tatsächlich so wenig unter Kontrolle, dass er »durch einen Dienstmann mit roter Kappe dem jungen Octavaner ein großes Rosenbouquet ins Schulzimmer schickte, zur lebhaften Belustigung seiner Mitschüler«?25 Leopold Andrian, der diese Anekdote überlieferte, befreundete sich im Herbst 1893 mit Hofmannsthal und lernte ein halbes Jahr später auch George kennen. Als er 1948 gebeten wurde, persönliche Erinnerungen an Hofmannsthal aufzuschreiben, notierte er sich im Vorfeld: »Die Freundschaft u. Brouille mit George - Bewunderung für den Dichter u. Antipathie gegen den Menschen u. Homosexuellen, das Bouquet durch den Dienstmann -. Wenn man den vor eine Schwadron stellt, fängt die ganze Schwadron zum Brüllen an.«26 Wer auch immer die Geschichte mit dem Rosenbouquet in Umlauf brachte, sie dürfte die Wiener Jungliteraten amüsiert und zur Erheiterung über den kauzigen Deutschen beigetragen haben.
Hofmannsthal hasste nichts so sehr wie die Lächerlichkeit. »Die Scheu vor der Lächerlichkeit - die Scheu sich zu unterscheiden«, notierte Andrian, schien fast ein Grundzug seines Wesens zu sein. Die Angst, ins Gerede zu kommen, war offenbar noch stärker als der physische »Widerwillen« gegen die Person Georges, den Andrian aus späteren Bemerkungen Hofmannsthals meinte heraushören zu können. 27 Hofmannsthals Bemerkung gegenüber Bahr, er sei durch die ganze Angelegenheit »weniger beunruhigt als peinlich berührt«, lässt jedenfalls das Spektrum seiner Aversionen ahnen. Je unverhohlener George sich bemühte, Hofmannsthal aus der charmanten Unverbindlichkeit der Wiener Caféhausszene herauszulösen, weil er ihn - literarisch und menschlich - für sich allein beanspruchte, desto mehr zog sich der Umworbene zurück. Es war ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, der Jungstar des literarischen Wien lasse sich im Handstreich erobern.
Der Brief, den George am 10. Januar im Griensteidl übergab, endete: »Sie sind der einzige der von mir solche bekenntnisse vernahm. Darin bau ich blind auf Sie.« Zum ersten Mal in seinem Leben offenbarte sich George einem anderen, Jüngeren, in schriftlicher Form. Er breitete vor ihm seine künstlerischen Überzeugungen aus, die sich in vielem mit denen Hofmannsthals deckten, sprach aber auch von seinen Selbstzweifeln, seiner Einsamkeit - jeder wahre Künstler lerne früher oder später diese »grosse Trübnis« kennen. Indem der dem Adressaten zu verstehen gab, dass sein weiteres Schaffen gefährdet sei und sein Leben sinnlos zu werden drohe, falls er von ihm nicht erhört werde, suchte er sanften Druck auf ihn auszuüben. Man ahnt, wie schwer es George gefallen sein muss, seine Leidenschaft in einigermaßen verständliche Worte zu fassen:
Schon lange im leben sehnte ich mich nach jenem wesen von einer verachtenden durchdringenden und überfeinen verstandeskraft die alles verzeiht begreift würdigt und die mit mir über die dinge und die erscheinungen hinflöge, und sonderbar dies wesen sollte trotzdem etwas von einem nebelüberzug haben … Jenes wesen hätte mir neue triebe und hoffnungen gegeben … und mich im weg aufgehalten der schnurgrad zum nichts führt. O den satz den ich gestern schrieb - nein ich nenne ihn nicht denn für den andern ist daran zu viel papier tinte federn während er für mich siedendes quellendes-stoffloses blut bedeutet … Und endlich! wie? ja? ein hoffen - ein ahnen - ein zucken - ein schwanken - o mein zwillingsbruder- 28
Hofmannsthal war verwirrter, als seine Antwort vom gleichen Abend vermuten ließ. George nannte sie »diplomatisch«. Hofmannsthal verwahrte sich darin gegen jeden Ausschließlichkeitsanspruch - »mein Wesen giesst den Wein seines jungen Lebens aus … wer nehmen kann, nimmt« -, gab sich zuversichtlich, dass George auch allein aus seiner gegenwärtigen Krise herausfinden werde, und offenbarte im letzten Satz des Briefes die ganze Ambivalenz seines Verhältnisses zu dem Älteren: »Ich kann auch das lieben, was mich ängstet.«
Eindeutiger bekannte sich Hofmannsthal am nächsten Tag. In einem unmittelbar durch Georges Gedicht »Der Infant« angeregten »Prolog«, der später dem Tod des Tizian vorangestellt wurde, tritt ein Page die Schlosstreppe herunter und bleibt vor dem Bild des Infanten stehen, der ihm, »jung und blass und frühverstorben«, ähnlich sein soll:
So träum ich dann, ich wäre der Infant … Und aus dem Erker tritt mein Freund, der Dichter. Und küsst mich seltsam lächelnd auf die Stirn Und sagt, und beinah ernst ist seine Stimme: »Schauspieler deiner selbstgeschaffnen Träume, Ich weiss, mein Freund, dass sie dich Lügner nennen Und dich verachten, die dich nicht verstehen, Ich aber liebe dich, o mein Zwillingsbruder.«29
Als Hofmannsthal den »Prolog« noch am gleichen Abend in Reinschrift übertrug, änderte er die letzte Zeile in: »Doch ich versteh dich, o mein Zwillingsbruder.« Der »Prolog« wie auch der am nächsten Tag in Angriff genommene Tod des Tizian selbst boten später Anlass zu vielfältigen Spekulationen, wen Hofmannsthal hier in welcher Maske auftreten ließ.30 Mit Sicherheit war seine Adaption von Georges »Infant« über alle dichterischen Spiegelungen hinweg eine Antwort auf dessen Liebesbekenntnis vom Vortag.
In der Realität gestaltete sich alles ein wenig schwieriger, denn George ließ nicht locker. »Wie lange noch das versteckspiel?«, fragte er am Dienstag und machte den Vorschlag, sich »auf neutralem gebiet« zu treffen, zum Beispiel auf der Straße, »Kärnthnerring (Stadtseite)«. Hofmannsthals Angst, George auch nur zufällig über den Weg zu laufen, ging unterdessen so weit, dass er es sogar vermied, sich mit Freunden im Café zu verabreden, denn dort gehe »der Symbolist« um.31 Georges Brief vom Dienstag ist der verzweifelte Ruf eines Werbenden, der mit Gewalt eine letzte Chance erzwingen will: Er brauche nur kurze Zeit, sich zu erklären, und wolle die Mühe, die er Hofmannsthal dadurch bereite, »so gering wie möglich« halten, alles solle ganz »nach Ihrem belieben« arrangiert werden.
Hofmannsthal verlor die Nerven. Wenn sich dieser merkwürdig hartnäckige Verehrer durch Höflichkeiten nicht auf Distanz halten ließ, sondern im Gegenteil, jedes Sowohl-als-auch sofort als feiges Ausweichen interpretierte, dann mussten deutlichere Worte gefunden werden. Der Antwortbrief Hofmannsthals wurde vernichtet, wohl von George selbst, noch vor seiner Abreise aus Wien. Es dürfte in diesem Brief nicht um »Akademisches« gegangen sein, sondern um Georges Zuneigung - »die Sie so schmählich auslegten«. Hofmannsthal war minderjährig, wohlerzogen und alles andere als naiv. Er wird sich gehütet haben, Vorwürfe zu fixieren, die ihm möglicherweise gerichtlichen Ärger hätten einbringen können. Und doch muss der Brief für George so beleidigend, so ehrabschneidend gewesen sein, dass er ein Duell - genau gesagt, die Androhung eines Duells - als einzigen Ausweg sah.
Sich zu duellieren war in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der k.u.k. Monarchie eine Sache von Offizieren und Angehörigen des Adels. In den mittelständischen ländlichen Kreisen, aus denen George stammte, war das Duell zur Wiederherstellung verloren geglaubter Ehre ganz und gar ungebräuchlich, in Bingen hätte man ihn ausgelacht. »Das ist die Sprache des Verfemten«, schrieb Adorno und zog den Schluss, »nichts als die Angst, in die Maschinerie der Sittlichkeit zu geraten, kann George dazu vermocht haben, sich einen Gentleman zu nennen.«32 Aber hat er ein Duell wirklich ernsthaft in Betracht gezogen? Zweifellos fühlte er sich auf das Tiefste verletzt und wollte denjenigen, der ihm diese Schmach angetan hatte, zur Rede stellen. Dennoch dürfte er gewusst haben, dass es unmöglich war, sich mit einem Minderjährigen zu schlagen. George wollte sich nicht duellieren, George wollte erhört werden. In seiner Not griff er zu einem Drohmittel, von dem er irrigerweise annahm, es werde Hofmannsthal zum Einlenken bewegen. »Ich muss Sie sofort sprechen: spielen Sie nicht übermütig mit dem leben«, lautete der letzte Satz des Briefes.
Das Duell als ultima ratio. George hatte sich zu diesem Schritt entschlossen und den Brief auf den Weg gebracht. In dem langen schmalen Flur im ersten Stock der Salesianergasse wartete der Dienstmann, wie befohlen, auf Antwort. Hofmannsthal schrieb zwei Billette. Das eine an George, mit dem er, wie dieser trocken vermerkte, gesellschaftlich Genüge tat - »verzeihen Sie meinen Nerven und einer großen Aufregung jede begangene Unart«. Das andere, sehr viel aufschlussreichere an Hermann Bahr: »Lieber Freund! Der Herr George kommt unaufhörlich in meine Wohnung und schreibt mir Drohbriefe. Meine Eltern sind sehr geängstet. Ich kann mich doch als Gymnasiast nicht mit einem Verrückten schlagen. Bitte kommen Sie sobald als möglich zu mir!«33
Auch dieses Billett wurde durch einen Boten überbracht. Bahr war jedoch nicht zu Hause. Daraufhin setzte Hofmannsthal seinen Vater über die jüngste Entwicklung in Kenntnis, und schon kurz darauf konnte er Bahr in einem weiteren Billett mitteilen, »dass Papa die unangenehme Geschichte selbst in die Hand genommen hat«. Der machte nicht viel Umstände. In gehobener Position bei der Oesterreichischen Central-Boden-Credit-Bank tätig, wusste er, wie die nötige Distinktion, der erforderliche Abstand wiederherzustellen war:
Euer Wohlgeboren! Mein Sohn hat mir über die unerquickliche Gestaltung seiner Beziehungen zu Ihnen Mitteilung gemacht. Ich bedaure einerseits die seiner Jugend u. Unerfahrenheit zuzuschreibende Art, auf welche er dieselben zu lösen gesucht hat, muss aber andererseits die bestimmte Bitte an Sie richten den Verkehr mit ihm nicht erzwingen zu wollen. Ich bin vollkommen bereit Ihnen die Gründe, welche mich zu dieser Bitte veranlassen und die nichts Verletzendes für Sie enthalten, mündlich auseinanderzusetzen, falls Sie darauf bestehen; da ich, als Geschäftsmann, nicht genug Herr meiner Zeit bin, würde ich Sie in diesem Fall bitten an einem der nächsten Tage in meinem Bureau... vorzusprechen.34
George hatte überzogen. Zwei Tage später verließ er Wien. Zwar traf er sich noch mit dem Vater Hofmannsthal, der ihn seines Wohlwollens versicherte. Aber zu der sehnlichst herbeigewünschten Versöhnung mit Hugo selber - »keine auf zwanzig schritt sondern eine aug in aug« - kam es nicht mehr. Es war nun einmal der Wurm drin, oder, wie der Hofmannsthal-Herausgeber Herbert Steiner 1941 aus Anlass des Erscheinens des Briefwechsels zwischen beiden schrieb: »Die Katastrophe dieser Beziehung hatte sich in ihrem ersten Akt abgespielt.«35
Obwohl George und Hofmannsthal sich später nur noch wenige Male begegneten, kamen sie nicht mehr los voneinander. In einem quälenden, sich über 14 Jahre hinschleppenden, mehrfach abgebrochenen und wieder neu aufgenommenen Briefwechsel setzte sich die Tragödie fort, die zum Jahreswechsel 1891/92 begonnen hatte. Weil beide die offene Aussprache über das, was damals geschehen war, scheuten, eskalierte ihre Korrespondenz immer wieder im Streit um Nebensächlichkeiten. Eine in ihrer Wirkung auf den anderen nicht genügend bedachte Formulierung, eine etwas zu nachdrücklich vorgetragene Bitte, ein beiläufiges Urteil über Dritte: Der geringste Anlass genügte, die gegenseitigen Irritationen sofort wieder in voller Schärfe aufbrechen zu lassen.
Die Konstellation blieb dabei stets die gleiche. George forderte und drängte, Hofmannsthal wich aus. Da George sich hütete, jemals wieder so offen und direkt um ihn zu werben wie im Januar 1892, sah Hofmannsthal seinerseits keine Notwendigkeit, ihn noch einmal so unmissverständlich wie damals zurückzuweisen. Weil ihr Verhältnis dem Schein nach in der Schwebe gehalten wurde, stieg die Anspannung im Lauf der Jahre ins Unerträgliche. »Das Übergewicht des Ungesagten über das Gesagte in diesen Briefen ist ein ungeheuerliches«, schrieb Richard Alewyn 1949. »Gibt es noch einen Briefwechsel, in dem so viele Fragen so wenige Antworten enthalten, wie die vielen ausdrücklichen Fragen Hofmannsthals an George, oder die eine ständige, stumme Frage Georges an Hofmannsthal?«36
Eines stand allerdings von Anfang an außer Zweifel: dass Hofmannsthal der bedeutendste Dichter war, dem George in seinem Leben begegnete - und umgekehrt. In Hofmannsthals Gesprächen und Briefen »taucht Georges Name nie anders auf als wie ein Maßstab, ein trigonometrischer Punkt zur Bestimmung des eigenen Kurses«. George sei für ihn »in bestimmtem Sinne der einzige Dichter der Epoche« gewesen, bekannte Hofmannsthal noch Mitte der zwanziger Jahre.37 Als sei das Gespräch zwischen ihnen nie abgerissen, durchziehen die Spuren der Beschäftigung mit George sein Werk vom Tod des Tizian über den Chandos-Brief und Das Gerettete Venedig bis hin zum Andreas-Roman. In der Figur des Maltesers hat Hofmannsthal seine Erinnerungen an George auf beklemmende Weise komprimiert. Die über viele Jahre entstandenen Notizen bilden die Summe dessen, was ihn an ihm faszinierte und zugleich befremdete. Einiges deutet darauf hin, dass er in der Geschichte der Erziehung des jungen Andreas von Ferschengelder durch den Malteser Sacramozo seine Freundschaft mit George zu verarbeiten suchte. Allerdings wollte er die Geschichte so erzählen, wie sie hätte verlaufen können, wenn beide etwas geduldiger und großzügiger miteinander umgegangen wären. »Die Stunden mit Sacramozo waren das Leuchtende in seinen Tagen.«38
Und George? »Mögen ihr hr. sohn und ich uns auch im ganzen leben nicht mehr kennen wollen«, schrieb er am 16. Januar kurz vor seiner Abfahrt aus Wien an den Vater Hofmannsthal,
für mich bleibt er immer die erste person auf deutscher seite die ohne mir vorher näher gestanden zu haben mein schaffen verstanden und gewürdigt - und das zu einer zeit wo ich auf meinem einsamen felsen zu zittern anfing es ist schwer dem nicht-dichter zu erklären von wie grosser bedeutung das war. Das konnte denn kein wunder sein dass ich mich dieser person ans herz warf (Carlos? Posa?) und habe dabei durchaus nichts anrüchiges gefunden.39
George bemühte sich, den Faden nicht reißen zu lassen, und hielt bis über die Jahrhundertwende hinaus an der Hoffnung fest, Hofmannsthal doch noch einbinden zu können. Als dieser allerdings immer häufiger im feindlichen Lager der Borchardt, Heymel, Schröder gesichtet wurde und im März 1906 ein Streit über Urheberrechte entbrannte, kam es zum endgültigen Bruch. Hofmannsthal drohte mit rechtlichen Schritten, George ließ wie ein Geschäftsmann antworten: »sehen wir dem von Ihnen angedrohten Rechtsgang mit Ruhe entgegen«. 40 Was folgte, waren literarische Grabenkämpfe der jeweiligen Gefolgsleute, die den einen gegen den anderen auszuspielen suchten und die Ereignisse beim Jahreswechsel 1891/92 in ihrem Sinn umdeuteten.
Aus einem begabten, wenn auch »fraulich-unberechenbaren« Gymnasiasten sei damals durch »das Wunder der Weiterzeugung« ein Dichter begnadeter Verse geworden, der aber, da er »die Führerschaft Georges verschmäht« habe, bald in die Beliebigkeit gefallen sei und sein Heil in seichten Libretti suchte - so die 1930 von Wolters exekutierte offizielle Lesart der Georgeaner.41 Es sei geradezu frivol, hatte Gundolf schon zwanzig Jahre früher gegen Borchardt gewettert, »den heutigen Hofmannsthal der dialekt-komödien und operettentexte der deutschen jugend als meister und vorbild zu preisen«.42 Als nach der Erstaufführung des Rosenkavalier 1911 das Gespräch auf Hofmannsthal kam, tat Karl Wolfskehl ganz erstaunt: »Ach, Sie sprechen über den Dichter Hofmannsthal! Der war enorm. Aber der ist 1906 gestorben. Das Libretto ist von seinem Vetter gleichen Namens.«43 Es ist diese radikale Um-Schreibung der Geschichte, die George und die Seinen so gewalttätig erscheinen lässt.
In der Zurückweisung durch Hofmannsthal lag das folgenreichste Ereignis im Leben Georges. Nie wieder wollte er einem anderen Menschen so ausgeliefert sein wie Hugo von Hofmannsthal an jenem 14. Januar 1892, als er im 9. Wiener Bezirk auf die Rückkehr des Dienstmanns aus der Salesianergasse wartete. Auf der sittlichen Ebene ließ sich die Katastrophe mit einiger Mühe zwar in einen Sieg über Hofmannsthal umdeuten. »Es war einer besitzergreifenden Natur wie der seinen nicht gegeben, aus einer persönlichen Zuneigung anderes als einen sittlichen Anspruch abzuleiten und deren Nicht-Erwiderung anders zu verstehen denn als ein sittliches Versagen« des Umworbenen.44 Aber gerade weil er sich eine persönliche Niederlage nicht vorzustellen vermochte, trug George emotional tiefe Wunden davon. Es sollte Jahre dauern, bis sie verheilten.
ca. 1899
I Der Aufstieg 1868-1898
Sagen Sie Ihm, dass er für die Träume seiner Jugend Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.
Schiller, Don Carlos, IV.21
1
Der Sternegucker
Am 9. Februar 1801 verkündete der Friede von Luneville öffentlich und unzweideutig, was der Vertrag von Campo Formio nur insgeheim und unklar bestimmt hatte: daß der Rhein fortan Deutschlands Grenze sei. Ein Gebiet von elfhundertfünfzig Geviertmeilen und fast vier Millionen Einwohnern war für Deutschland verloren, beinahe ein Siebentel von der Bevölkerung des alten Reichs, das ohne Schlesien auf achtundzwanzig Millionen Köpfe geschätzt wurde. Mit unheimlichem Kaltsinn liess die deutsche Nation den furchtbaren Schlag über sich ergehen. Kaum ein Laut vaterländischen Zornes ward vernommen, als Mainz und Köln, Aachen und Trier, die weiten schönen Heimatlande unserer ältesten Geschichte, an den Fremden kamen; und wie viele bittere Tränen hatte einst das verkümmerte Geschlecht des Dreißigjährigen Kriegs um das eine Straßburg vergossen!1
Als Heinrich von Treitschke bald nach der Reichsgründung von 1871 seine Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert zu schreiben begann, schickte sich Deutschland eben an, als jüngste unter den europäischen Nationen in den Kreis der Großmächte aufzurücken. Mit Bismarcks Einigungswerk war ein Schlussstrich gezogen, das Blatt hatte sich gewendet. Die preußischen Historiker, allen voran Sybel und Treitschke, betrachteten es als ihre Pflicht, die Ansprüche des Parvenüs geschichtlich zu untermauern, und gingen insbesondere mit der französischen Expansionspolitik hart ins Gericht. In Treitschkes Darstellung der bösen Konsequenzen des Friedens von Lunéville spiegelt sich das Selbstverständnis der Sieger von Sedan, die in der Annexion von Elsass und Lothringen nichts anderes sahen als den gerechten Ausgleich für die seit den Tagen Ludwigs XIV. immer wieder erlittene Schmach. Die Annexion war in ihren Augen die Antwort der Geschichte auf jahrhundertelange französische Rempeleien am Rhein; Deutschlands Strom war eben doch nicht Deutschlands Grenze.
Dabei räumte sogar Treitschke ein, dass die Franzosen viel frischen Wind an den Rhein gebracht hatten. Aus 97 durcheinandergewürfelten Herrschaften und Besitzungen bildeten sie vier wohlgeordnete Departements und setzten mit einer kleinen, tüchtigen Beamtenschaft die Segnungen des Code civil in die Praxis um. Mit diesem 1804 in allen Teilen Frankreichs in Kraft getretenen Gesetzeswerk hatte Napoleon die Errungenschaften der Revolution gültig festschreiben lassen. Zu den elementaren Grundwerten, in deren Bann bald ganz Europa geriet, zählten die persönliche Freiheit des Einzelnen, der Gleichheitsgrundsatz in der Rechtsprechung und die Möglichkeit zum Erwerb von Grund und Boden durch jedermann. Als außerordentlich verlockend wurden diese Neuerungen gerade von der linksrheinischen deutschen Bevölkerung empfunden, die der strengen Vormundschaft der »Krummstabregierungen« (Treitschke) ausgesetzt gewesen war. Hier, im Bereich der Kurien von Mainz, Köln und Trier, »hatte ein besonders altmodisches, vorabsolutistisches, feudal-ständisches System bestanden, hier war der Modernitätsumbruch am schärfsten, die Reform am radikalsten«.2
Einer der vielen, die im Tross Napoleons ihr Glück zu machen hofften, war Johann Baptist George, der Urgroßonkel. Geboren 1772 in Rupeldingen, einem Flecken im nördlichen Lothringen, knapp zwanzig Kilometer nordöstlich von Metz, ziemlich genau auf der deutsch-französischen Sprachgrenze zwischen Mosel und Saar. Am Neujahrstag des Jahres XIII - nach dem Gregorianischen Kalender, den die Franzosen in revolutionärem Eifer abgeschafft hatten, war es der September 1804 - machte er sich auf den Weg, nicht mehr ganz jung, aber noch unverheiratet. Die Lebensbedingungen für Deutschstämmige in Lothringen waren seit der Revolution schwieriger geworden, und er wollte auf deutschem Boden einen Neuanfang wagen. Vor allem wollte er Land erwerben. Johann Baptist George blieb in Büdesheim hängen, einem kleinen Dorf südlich von Bingen, nicht viel größer als der Weiler an der Nied, aus dem er stammte. In dieser Gegend, die seit dem 15. Jahrhundert im Besitz des Mainzer Domkapitels gewesen war, stand viel Grund und Boden zum Verkauf, hier wollte er sich niederlassen.
Lothringen war wie das Elsass immer Grenzland gewesen. Zweisprachigkeit gehörte hier zu den Selbstverständlichkeiten, und zweisprachige Leute waren bei der französischen Verwaltung jetzt besonders begehrt. Johann Baptist George avancierte zum Fiskalbeamten der Besatzungsmacht und wurde Gemeindeeinnehmer von Büdesheim. Er verstand es, sich trotz der undankbaren Aufgabe als Fremder beliebt zu machen, wurde schnell integriert und heiratete in die Familie des Bürgermeisters ein. Als zehn Jahre später die Franzosen an allen Fronten den Rückzug antraten und die alte deutsch-französische Grenze im Großen und Ganzen wiederhergestellt wurde, blieb Johann Baptist George in Büdesheim. 1818, drei Jahre nach dem Wiener Kongress, holte er, der selbst kinderlos geblieben war, seinen zwölfjährigen Neffen Etienne nach. Als dessen Vater 15 Jahre später starb, ließ Johann Baptist auch die Witwe, seine Schwägerin, mit ihrem zweiten Sohn Anton nach Büdesheim kommen.
Etienne, der Neffe, der sich jetzt Stephan nannte, setzte die Karriere seines Onkels fort. Er brachte es 1837 zum Bürgermeister von Büdesheim, gehörte dreißig Jahre dem Hessischen Landtag an und krönte seine Abgeordnetenlaufbahn 1872 mit dem Posten des Vizepräsidenten der Zweiten Kammer. Seine männlichen Nachkommen überlebten ihn nicht. Der Sohn starb 1860, der einzige Enkel fünf Jahre später im Alter von sechs Jahren. Ein Vierteljahrhundert stand die Gipsbüste, die man nach der Totenmaske des Kindes gefertigt hatte, in einer Glasvitrine auf dem großen Schrank im Salon seines Hauses, »das hinterköpfchen stark hervortretend und um den mund schon den ansatz zur falte die man später die schmerzensfalte nennt«.3
Die Bauern, erzählte George später gern, hätten das Haus seines Büdesheimer Großonkels, des Bürgermeisters und Landtagsabgeordneten Stephan George, ehrfurchtsvoll Haus der hundert Fenster genannt. In Wirklichkeit hatte das Haus, ein langgestreckter einstöckiger Bruchsteinbau, wie er in den wohlhabenden Straßendörfern an Rhein, Main und Neckar typisch ist, zwölf Fenster oben, neun Fenster unten, dazu eine gut proportionierte Toreinfahrt. Für Büdesheimer Verhältnisse ein Palast. Auch Georges Geburtshaus, die Wirtschaft »Zur Traube« ein paar Meter weiter auf der anderen Straßenseite, konnte mit dem herrschaftlichen Anwesen des »ohm« nicht konkurrieren. In späteren Jahren neigte George dazu, die genauen Verwandtschafts- und Besitzverhältnisse zu verwischen, und sprach gern von »dem schönen Haus seiner Großeltern in Büdesheim«. 4
Georges leiblicher Großvater, jener Anton George, der seinem Onkel 1833, zusammen mit seiner Mutter, nach Büdesheim gefolgt war, hatte ebenfalls Karriere gemacht, wenn auch eine weniger spektakuläre. Von Beruf Küfer und im Zuge seiner Heirat mit einer Einheimischen 1838 naturalisiert, betrieb er einen Weinhandel und genoss Ansehen als Wirt der »Traube«. Sein 1841 geborener Sohn Stephan stand zunächst mit am Tresen, konzentrierte sich dann auf das Weingeschäft und zog 1873 in das benachbarte Bingen, den Hauptumschlagplatz für die Weine der Nahe, die von hier, als Rheinwein deklariert, in alle Welt verschifft wurden.
Im Mai 1865 hatte Stephan George geheiratet. Die Partie mit der gleichaltrigen Eva Schmitt von der Neumühle am Fuß des Scharlachkopfs, an der Straße nach Bingen, bedeutete einen gesellschaftlichen Aufstieg. Die Schmitts, seit mindestens drei Generationen an der oberen Nahe zu Hause, wo sie einige Mühlen besaßen, waren eine weitverzweigte, selbstbewusste Sippe. In der Hauptlinie erhielt der Älteste seit je den Vornamen Saladin, der jeden daran erinnern sollte, dass die Vorfahren an den Kreuzzügen teilgenommen hätten. Das war historisch zwar Unsinn, denn solche Ahnen konnte allenfalls der Hochadel vorweisen - nach Stendhal sein einziges wirkliches Privileg -, aber wer hätte den Schmitts ihre Legende von der Morgenlandfahrt ernsthaft streitig machen wollen. Was den Georges die hundert Fenster, waren den Schmitts die Saladins: In der Provinz gelten eigene Maßstäbe, vor allem, wenn es um die Familie geht.
Fast auf den Tag neun Monate nach der Eheschließung von Stephan und Eva George kam am 16. Februar 1866 die Tochter Anna Maria Ottilie zur Welt. Knapp zweieinhalb Jahre später, am 12. Juli 1868, folgte Stephan Anton, und noch einmal zweieinhalb Jahre später, am 26. Dezember 1870, das dritte und letzte Kind, Friedrich Johann Baptist. (Alle drei blieben unverheiratet und ohne Nachkommen.) Nach der Geburt der Kinder hatte sich die junge Familie zum Umzug in das drei Kilometer nördlich gelegene Bingen entschlossen. In der Hinteren Grube, Ecke Nahekai, erwarb man ein solides, geräumiges Haus aus buntem Rotsandstein mit einem kleinen, von einer Steinmauer umgrenzten Garten zur Nahe.
So wie sich der Großonkel seinerzeit eingedeutscht und Stephan genannt hatte statt Etienne, so wurde der ältere der beiden George-Söhne statt Stephan jetzt Etienne gerufen. Das schuf neuerliche Familientradition, zumal der Stellvertretende Kammerpräsident auch Patenonkel des Jungen war. Das geistige Vermächtnis der Georges war also zweimal hintereinander jeweils auf die Linie des Bruders übergegangen. Etienne nannte sich dieser Großneffe bis in die neunziger Jahre, mit Etienne unterzeichnete er noch als 22-Jähriger seine Briefe. Seit er in Paris dem Dichter Stéphane Mallarmé vorgestellt worden war, bevorzugte er jedoch immer häufiger seinen Taufnamen, allerdings in der Schreibung »f« statt »ph«. Von seinem 24. Lebensjahr an nannte er sich endgültig Stefan George.5 Nur in der Korrespondenz mit den Eltern wurde Etienne noch über ein Jahrzehnt beibehalten, und die Schwester schrieb bis 1905 konsequent »Lieber Stephan«.

2

Am Anfang also Napoleon. George hat diese Genealogie gekannt und ihre Bedeutung für den Werdegang der väterlichen Familie einzuschätzen gewusst. »Sein Urgroßvater [richtig: Urgroßonkel] sei aus Lothringen mit Napoleon bei der Okkupation der Rheinlande nach dem Rheinland eingewandert, als man Beamte brauchte, die zwei Sprachen sprächen«, antwortete er im Sommer 1919 auf die Frage von Edith Landmann, ob bei ihm zu Hause französisch gesprochen worden sei.6 Georges Antwort war eindeutig: Dem Kaiser hatten sie ihren Aufstieg zu danken, Französisch war deshalb aber noch lange nicht die Familiensprache. Nur wenn die Enkel die Marseillaise anstimmten, sang der Großvater eifrig mit. Auf dem Kamin in seinem Wohnzimmer habe immer eine kleine Napoleon-Statue gestanden - »und wich nicht, obwohl die Großmutter eine Germania gegenüberstellte«. Da Bilingualität gut ins Bild eines von Frankreich geprägten Dichters passte, wurde in der George-Literatur immer wieder kolportiert, der Dichter sei zweisprachig aufgewachsen. Mit dem Französischen war es in seiner Familie aber nicht weit her, wie George seinem Biographen 1929 einräumte. Er selbst rückte im Laufe seines Lebens zunehmend vom Französischen ab und betonte stattdessen die Schönheit des Italienischen, »das er sehr liebte und mit Vollendung sprach«.7
Die Verehrung für den Korsen, vielleicht sein wichtigstes väterliches Erbteil, begleitete George ein Leben lang. In Napoleon symbolisierten sich Aufbruchstimmung und Freiheitsdrang der Vorfahren, mit ihm hatte die Geschichte seiner Familie eigentlich erst begonnen. Aber Napoleon verkörperte für George mehr als den Wohltäter der Ahnen, für ihn war er »der letzte grosse Stern der zeitenbiege...«8 Napoleon sei nicht bloß eine geschichtliche Figur, äußerte er im Frühjahr 1924 gegenüber Berthold Vallentin, »sondern in ihm strahle alles zusammen und alles von ihm aus«.9 Goethe habe ganz recht gehabt, ihn das »Kompendium der Welt« zu nennen. Im Winter hatte George die neunbändige Napoleon-Biographie von Walter Scott gelesen, zwei Jahre zuvor begeistert die Enstehung von Vallentins eigenem Napoleon-Buch begleitet. Das Ende 1922 erschienene 500-seitige Werk »sei doch sehr revolutionär, viel revolutionärer als die anderen Bücher des Kreises«, meinte George nach der Lektüre lobend. Um Vallentin bei seinem Vorhaben zu ermutigen, hatte er ihm den Satz Nietzsches über Goethe abgeschrieben: »Das ereignis um dessentwillen er [d.i. Goethe] seinen Faust, ja das ganze problem mensch umgedacht hat war das erscheinen Napoleons.« Vallentin ließ das Blatt zusammen mit einem eigenhändigen Namenszug Napoleons unter Passepartout montieren und rahmen. So hatte er bei der Arbeit seine beiden Helden in Autographen vor sich.10
Immer wieder kam George in den frühen zwanziger Jahren auf Napoleon zu sprechen - Napoleon als das dämonische, das orientalische, das ruhmreiche, das Prinzip der Tat an sich. Vor allem faszinierte ihn die Kraft des Visionären. Die gedruckte Widmung der Vallentinschen Napoleon-Biographie - »hodierno heroi«, dem Helden des Heute - unterstrich Georges Überzeugung, dass nach dem Untergang des alten Europa die Beschäftigung mit Napoleon eine neue, höchst aktuelle politische Bedeutung gewinne. »Napoleons Ausspruch, dass Europa in hundert Jahren entweder amerikanisch oder kosakisch sein würde, habe sich verwirklicht. Heute sehe man es. Es sei ein großer Gedanke von ihm gewesen, das gesamte lateinische Europa mit Polen einschließlich zu sammeln gegen die Gegenkräfte: im Westen England, Amerika, im Osten Russland.«11
Nicht nur Immigranten aus Lothringen, auch die Fürsten im Süden und Südwesten Deutschlands hatten allen Grund, dem Kaiser ein ehrendes Angedenken zu bewahren. Wer von ihnen 1806 dem Rheinbund beigetreten war und damit das Ende des alten Reichs beschleunigt hatte, war von Napoleon reichlich belohnt worden: Sachsen, Bayern und Württemberg jeweils mit einer Königskrone, der Landgraf von Hessen immerhin mit dem Titel eines Großherzogs. Auf dem Wiener Kongress fiel ein großer Brocken aus der linksrheinischen französischen Erbmasse an Hessen: das gesamte Gebiet von Worms über Mainz bis Bingen samt Hinterland. Um diesen Besitz in seinem Titel zu verankern, nannte sich Ludwig I. von 1816 an Großherzog von Hessen und bei Rhein. Außerdem hatte er jetzt Anspruch auf die Anrede Königliche Hoheit.
Der Fürst und seine neuen Untertanen auf der linken Rheinseite fanden Gefallen aneinander. Das Land prosperierte, auch wenn, wie überall im Gebiet des Deutschen Bundes, die Zahl der Auswanderer nach Übersee um die Mitte des Jahrhunderts ungeahnte Ausmaße annahm. 1866, im Krieg um die Vorherrschaft im Bund zwischen Preußen und Österreich, schlug sich Ludwig III., von seinem Minister Dalwigk schlecht beraten, auf die falsche Seite, und so kam zwei Jahre vor der Geburt Stefan Georges fast ganz Hessen unter preußische Besatzung. Nur seiner Verwandtschaft mit den Romanows und Queen Victoria, deren zweite Tochter mit seinem Neffen verheiratet war, hatte der Hesse es zu verdanken, dass ihm das Schicksal der Besiegten erspart blieb und er mit der Zahlung von drei Millionen Gulden Kriegskosten davonkam. Seine Nachbarn im Norden, Hessen-Kassel und Nassau, verloren ihre Selbständigkeit, das stolze Frankfurt seinen Status als Freie Reichsstadt. Gemeinsam bildeten die drei fortan die preußische Provinz Hessen-Nassau.
Im Westen stieß das Großherzogtum Hessen schon seit 1815 unmittelbar an Preußen. Die Nahe bildete die Grenze; Bingen gehörte zu Hessen, Bingerbrück auf der anderen Seite als Teil der preußischen Rheinprovinz zum Regierungsbezirk Koblenz. Wenn George aus dem Fenster sah - bis Ende der neunziger Jahre bewohnte er ein Zimmer im oberen Stock, dann zog er in das ehemalige Kontor, den Raum unten links neben dem Eingang -, schaute er nach Preußen. Am gegenüberliegenden Ufer hatte er die Weinberge der Elisenhöhe vor Augen, einen kleinen Kamm, den ein griechisches Tempelchen schmückte. In einer der für ihn typischen Gesprächsäußerungen der zwanziger Jahre fasste er den politischen Raum, in dem er als Kind groß wurde, so zusammen:
Wie man in Bingen, wo seit der Napoleonszeit die Marientage nicht mehr gefeiert wurden, sagte: drüben im Preußischen ist Feiertag, und wie der Lehrer drüben in Preußen, seine Schüler warnend, von einem erzählte, der seine griechischen Vokabeln nicht gelernt hatte - und was ist aus ihm geworden? Drüben im Hessischen ist er gestorben! Und der Schulrat in Hessen: wer ist der äußere Feind? - Die Franzosen. - Der innere? - Die Preußen!12
Bismarck tauchte in dieser Erinnerung nicht auf. Georges Verhältnis zum Reichsgründer war stets ambivalent gewesen. Nach Bismarcks Tod im März 1899 hatte er im Umfeld der sogenannten Zeitgedichte ein vierstrophiges Preisgedicht geschrieben, das er bei einer privaten Lesung im Oktober 1902 einmal vortrug. Aber es befriedigte ihn nicht. 23 Zeilen, mit diversen Änderungen und Hinweisen versehen, hat er damals ausgeschnitten und aufgeklebt und bis zu seinem Tod mit sich geführt. Die Gründung des Deutschen Reiches war in Georges Augen zwar eine epochale, mit List und Klugheit erdachte politische Tat. Weil sich Bismarck aber als Herold eines plumpen Materialimus entpuppt hatte, mangelte es dem neuen Staat an Visionen. Von geflügelten Worten im Stil des »Wir Deutsche fürchten Gott …« ließen sich nur Einfältige begeistern, hieß es im Bismarck-Fragment: »Für gimpel leim«. Das Reich sei verkommen, weil sein Gründer nicht sinnstiftend gewirkt und nichts hinterlassen habe, was den Deutschen zur Verheißung hätte werden können: »nie wort das niederzwang / Uns staunend noch vorm korsischen kometen...«13
Im provozierenden Vergleich mit dem Heros der Franzosen schnitt der märkische Junker selbstredend schlecht ab. Bismarck sei ein bloßer Machtpolitiker gewesen, der die Reichsidee aufgegriffen habe, ohne die damit verbundenen geistigen Herausforderungen zu verstehen; daher sei »sein Werk ein rein politisches geblieben, ein Kern ohne geistigen Gehalt«.14 Dennoch betonte George auch später, mit Blick auf den verlorenen Krieg, »wir hätten es Bismarck zu verdanken, dass das Land noch zusammenhalte«.15
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs sollte den fünfhundert über das Reich verbreiteten Denkmälern zu Ehren des Eisernen Kanzlers ein Nationaldenkmal folgen, das alle bisherigen Bismarck-Türme, Bismarck-Brunnen und Bismarck-Statuen in den Schatten stellte. George musste das Schlimmste befürchten. Als Pendant zum Nationaldenkmal auf dem Niederwald, der gewaltigen bronzenen Germania hoch über Rüdesheim,16 sollte der Bau nur ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt ausgerechnet auf die Elisenhöhe gestellt werden. An der Ausschreibung 1910 beteiligten sich 379 Architekten, darunter die später berühmt gewordenen Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Hans Poelzig. Aber ähnlich wie mit Georges Bismarck-Gedicht ging es auch mit dem Denkmal nicht so recht voran. Bei Kriegsausbruch geriet das Unternehmen vollends ins Stocken, und nach dem Krieg standen wieder die Franzosen im Land.

3

Die ehemalige Kreisstadt Bingen liegt im Knie des Rheins, wo der Fluss seine letzte scharfe Biegung nach Nordnordwest macht und die aus Süden kommende Nahe aufnimmt. Hat der Rhein zwischen Bingen und Rüdesheim eine majestätische Breite von neunhundert Metern, so verengt er sich beim Binger Loch auf etwa ein Viertel und wird zu einem reißenden Strom. Der Rheindurchbruch zählt zu den Höhepunkten deutscher Landschaft.17 George liebte das von den Römern kultivierte Hügelland mit seinen Weinbergen, die harmonische Strenge, das milde Klima, das südliche Licht. »Wäre es möglich«, fragte er am Ende der Aufzeichnungen Sonntage auf meinem Land, »in dieser friedfertigen gediegenen landschaft seine seele wiederzufinden?«18
Zur sonntäglichen Idylle seiner Kindheit gehörten reinlich gekehrte, ausgestorben wirkende Gassen, in der Nahe badende Kinder, Glockengeläut aus den umliegenden Weilern, Leierkastenmusik. Grau und Ocker sind die vorherrschenden Farben in den zwischen Herbst 1892 und Sommer 1894 entstandenen Sonntagsimpressionen: kalkbestrichene Wände, eine lehmige Heerstraße, Grabmale aus rotem und gelbem Sandstein, als Farbtupfer ein paar Pfingstnelken, ein Strauß Astern. Bedrohlich wirkt nur der auf dem Friedhof aufgestellte große schwarze Schiffsanker, ein Symbol gescheiterter Hoffnung. In solcher Stimmung konnte George seinen Frieden nur scheinbar finden. »Die seele lässt dieses flackern und flammen der sonntäglichen leiden über sich ergehen mit einem merklichen wolgefühl.«
Sonntage auf meinem Land beschwören den Herbst. Es ist die Zeit der Weinernte, die Zeit der welken Farben und der schweren Düfte. Bis zur Lebensmitte zog George den Herbst allen anderen Jahreszeiten vor. Darin unterschied er sich grundlegend von denen, die in der Nachfolge Heyses und Geibels um 1880 in der Lyrik den Ton angaben und am liebsten Bocksgesänge anstimmten. George konnte mit dieser Dichtung wenig anfangen, weil sie mit seiner Grundüberzeugung kollidierte, der eigentliche Zweck der Kunst liege in der Überwindung
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