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Auf Motivsuche im Schilcherland dringt ein Hobbyfotograf in ein verlassenes Abbruchhaus am Reinischkogel ein. Durch eine desolate Falltür stürzt er in den Keller und findet sich neben einer verwesten Leiche wieder. Schwerverletzt muss der junge Mann ausharren, bis er gerettet wird. Doch wer war die hochbetagte Frau, die an diesem Lost Place scheinbar hingerichtet wurde? Wer hat sie getötet und aus welchem Grund? Die Spuren führen Sandra Mohr und Sascha Bergmann vom LKA Steiermark in die Vergangenheit, als in diesem Haus Schreckliches geschah.
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Seitenzahl: 294
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Claudia Rossbacher
Steirerzorn
Sandra Mohrs 14. Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
nach einer Idee von Hannes Rossbacher, Kainberg
unter Verwendung der Fotos von: © mindscapephotos / stock.adobe.com und Katrin Lahmer mit Adobe Firefly
ISBN 978-3-7349-3038-6
Für Robert † 8.11.2023
Liebe Leserinnen,
geschätzte Leser!
Herzlich willkommen im Schilcherland, das ich als Schauplatz meines 14. Steirerkrimis auserkoren habe! Tatort ist diesmal der Reinischkogel, wo dereinst meine Liebe zur Steiermark ihren Lauf nahm. Im zarten Alter von sieben Jahren wurde ich erstmals in den Sommerferien ins Erholungsheim dorthin geschickt und habe mich, aus dem grauen Wien kommend, auf Anhieb in den Wald, in das Land und in die Leute verliebt.
20 Jahre später habe ich einen »Steirer in Wien« geheiratet, weitere 20 Jahre später den verlorenen Steirersohn in die Steiermark zurückgeholt. Ganz in der Nähe des Ferienlagers am Reinischkogel haben wir eine kleine Hütte im Wald gemietet und sind ab und zu auch am Haus meiner Kindheit vorbeigekommen, das längst verlassen und verfallen war. Im Internet bin ich dann auf Fotos der heruntergekommenen Räume gestoßen, die mich schließlich dazu inspiriert haben, diesem Lost Place einen Steirerkrimi zu widmen.
Die Schauplätze im Buch sind alle real. Die Geschichte, die bis in die 1970er-Jahre zurückführt, ist fiktiv, auch wenn sie in der Vergangenheit andernorts tatsächlich so ähnlich und noch schlimmer vielfach vorgefallen ist. Mehr kann ich an dieser Stelle nicht verraten, ohne zu spoilern.
Stattdessen möchte ich ausdrücklich davor warnen, es dem jungen Mann, den Sie im ersten Kapitel kennenlernen werden, gleichzutun und diesen Lost Place unerlaubt zu betreten. Nicht nur, weil es lebensgefährlich wäre, sondern weil sich das Haus in Privatbesitz befindet, überwacht wird und ein rechtliches Nachspiel drohen könnte. Völlig ungefährlich und viel spannender ist es, Steirerzorn zu lesen.
Noch ein Hinweis: Der Lesbarkeit zuliebe verzichte ich im Buch auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen, weiblichen beziehungsweise diversen Sprachformen. Die Personenbezeichnungen gelten im Zweifelsfall für alle Geschlechter.
Sollte Ihnen der eine oder andere steirische beziehungsweise österreichische Ausdruck oder eine Abkürzung nicht geläufig sein, können Sie wie immer im Glossar im Buch hinten nachschlagen. Falls Ihnen Erklärungen abgehen oder Sie Fehler im Text entdecken, dürfen Sie mir gerne ein E-Mail an [email protected] schicken, damit ich etwaige Korrekturen und Ergänzungen für die nachfolgenden Auflagen veranlassen kann.
Nun wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung und spannende Stunden in meiner Herzensheimat – dem wunderschönen Schilcherland!
Herzlichst,
Ihre Claudia Rossbacher
Kainberg, im Juni 2024
Auf einem Gummi-Gummi-Berg,
da saß ein Gummi-Gummi-Zwerg.
Der aß ein Gummi-Gummi-Brot,
dann war er Gummi-Gummi-tot.
Spruch beim Gummihüpfen in den 1970er- und 80er-Jahren (heute Gummitwist genannt)
Reinischkogel – Schilcherland
Donnerstag, 9. November
»Dort oben! Das ist es!« Christian Zwettler bremste den staubigen Volvo auf der schmalen Straße ab, die zwischen Sommereben und Oberwald durch den Nadelwald führte. Sein Blick war auf die Waldlichtung gerichtet. Keine 100 Meter von ihm entfernt stand das Objekt seiner Begierde im gleißenden Sonnenlicht. Seit er im Internet auf ein Foto des verfallenen Hauses gestoßen war, ließ es ihn nicht mehr los. Gleich nach dem Frühstück war er aus Graz aufgebrochen. Ohne die genaue Adresse oder Koordinaten zu kennen, hatte er stundenlang nach diesem Lost Place am Reinischkogel gesucht. Jetzt hatte er ihn gefunden. Vor Freude pochte sein Herz schneller.
Christian liebte es, verlassene Plätze aufzuspüren, sie zu erkunden und den Spuren der Vergangenheit zu folgen. Kaum etwas konnte ihn mehr begeistern, als verborgene Schätze zu entdecken und den morbiden Charme vergessener Orte einzufangen. Seine besten Fotos hatte er bereits ausgestellt, eines war sogar international ausgezeichnet worden. Im kommenden Frühjahr sollte sein erstes Buch über Lost Places in der Steiermark erscheinen. Die letzten noch leeren Seiten plante er, diesem besonderen Fundstück zu widmen, dessen Geschichte er anschließend erforschen wollte.
»Privatbesitz – Betreten verboten!« Das verwitterte Schild am rot-weiß-rot lackierten Schlagbaum, von dem die Farbe abblätterte, vermochte ihn nicht aufzuhalten. Wenngleich er wusste, dass er eine Genehmigung vom Eigentümer oder Verwalter des Grundstücks benötigte, bevor er einen Fuß daraufsetzen durfte, und dass er außerdem noch eine Abdruckgenehmigung für seine Fotos einholen musste. Mit seinem Handy rief er die Webseite für Grundbuchauszüge auf, um den Eigentümer ausfindig zu machen. In diesem entlegenen Waldgebiet war jedoch kein Empfang. Die Formalitäten würde er eben später erledigen.
Gedankenverloren schob er seine Sonnenbrille zur Nasenwurzel, während seine Augen über das verlassene Anwesen schweiften. Eingezäunt war es nicht. Das lang gestreckte Holzhaus mit der großen, zentral gelegenen Veranda war über die Wiese zu Fuß ungehindert erreichbar. Seinen Wagen musste er allerdings woanders parken, um nicht erwischt zu werden und eine Anzeige wegen Besitzstörung zu riskieren.
Christian gab Gas und folgte der Straße, die an einer Hofzufahrt vorbeiführte. Nach der nächsten Kurve bog er auf einen holprigen Forstweg ab. Hinter dem Holzstoß würde der alte silbergraue Kombi kaum jemandem auffallen. Und wenn doch, am ehesten einem Wanderer oder Schwammerlsucher aus Graz zugeordnet werden. Für Eierschwammerl und Steinpilze war es heuer bereits zu spät. Allerdings waren auch die jungen Schopftintlinge genießbar, die den Waldrand entlang der Straße säumten, solange ihre Hüte sich nicht entfalteten und wie Tinte zerrannen. Doch die Pilze interessierten ihn heute nicht.
Christian stieg aus dem Volvo und setzte seine Schirmkappe auf. Die Waldluft roch nach frisch geschlagenem Holz und würzigen Nadeln. Er holte seine Fotoausrüstung und den Rucksack aus dem Laderaum und verriegelte den Wagen. Im Schatten der hohen Fichten war es kühler, als er es auf einer geschätzten Seehöhe von 800 bis 900 Metern erwartet hätte. Der Fußmarsch mit Sack und Pack brachte ihn dennoch ins Schwitzen. Stativ, Kamera, Blitzgerät und verschiedene zusätzliche Lampen, Akkus und Objektive – auch das Weitwinkelobjektiv – hatte er dabei, um Lichtakzente zu setzen und den erwünschten Eindruck der Verlassenheit auf den Fotos zu verstärken. Mit Strom war an solchen Plätzen nicht zu rechnen, ebenso wenig mit funktionierenden Wasserleitungen. Daher hatte er immer eine Flasche mit stillem Wasser, Salznüsse und einen Schokoriegel in seinem Rucksack.
Christian marschierte am Straßenrand entlang, bis die Hofzufahrt und die Lichtung mit dem Haus hinter der Kurve wieder vor ihm auftauchten. Zu seiner Rechten entdeckte er zwei kleinere Hütten, die sich weiter oben an den Waldrand schmiegten. Im Vorbeifahren hatte er die dunklen Holzhäuschen mit ihren grünen Fensterläden und den spitzen grauen Giebeldächern im Schatten der hohen Fichten gar nicht bemerkt. Wahrscheinlich waren diese Hütten nur im Sommer bewohnt.
Die Waldschneise auf der linken Straßenseite gab den Blick auf herbstlich gefärbte Wälder, Wiesen, verstreute Siedlungen und kleinere Ortschaften im Tal frei. In der Ferne erhoben sich das Steirische Randgebirge mit dem Grazer Bergland und dem markanten Schöckl. Den Hausberg der steirischen Landeshauptstadt kannte Christian von Kindesbeinen an durch unzählige Wanderungen mit den Eltern, später vom Biken in der Trail Area und von einem Tandemflug mit dem Gleitschirm, den ihm seine Freunde vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatten.
Entschlossen wandte er sich wieder seinem Ziel zu und verließ die Straße, um über die feuchte Wiese direkt auf das zweistöckige Gebäude zuzusteuern. Das harte Mittagslicht war für Außenaufnahmen nicht ideal. Lieber wollte er abwarten, bis die Sonne hinter die Fichten wanderte und das Haus in weicheres Licht tauchte. Solange würde er drinnen fotografieren. In den vielen Zimmern fanden sich bestimmt einige lohnende Motive.
Vor der Veranda hielt er inne, stellte sein Gepäck ab und schnaufte durch. Im Licht- und Schattenspiel der spärlich belaubten Sträucher war er in seinem beige-braunen Gewand gut getarnt und von der Straße kaum noch zu sehen. Blinzelnd schaute er sich um und lauschte. Da war weit und breit nichts und niemand. Die Stille war beinahe gespenstisch. Nicht einmal Vogelgezwitscher war zu hören.
Sein Blick wanderte vom stark verwitterten Giebeldach der Veranda über das ebenfalls graue Hauptdach mit den drei Gauben. Etliche Dachziegel fehlten, einige hingen nur noch locker oben und drohten beim nächsten Windstoß herabzustürzen. Auch an der Holzfassade hatten Wind und Wetter ihre Spuren hinterlassen. Die Fensterscheiben waren zerbrochen, die orange-braunen Muster der schmutzigen Vorhänge ausgebleicht. Die Farbe blätterte von den weiß lackierten Sprossen und den rot gestrichenen Rahmen der Doppelfenster ab. Das winzige Kellerfenster im Fundament aus Natursteinen war eingeschlagen. Offensichtlich hatte nicht nur der Zahn der Zeit an diesem Haus genagt, es hatten auch Vandalen hier gewütet. Christian konnte nirgendwo eine Alarmanlage oder eine Überwachungskamera entdecken.
Ob das früher ein Wirtshaus war? Hinter den Gaubenfenstern unter dem Dach lagen vermutlich Schlafzimmer, vielleicht auch Fremdenzimmer, die an Gäste vermietet worden waren. Was mochte an diesem Ort alles vorgefallen sein? Seine Fantasie schlug Purzelbäume, das Kopfkino setzte ein. Der Drang hineinzugehen war schier unwiderstehlich. Gleich würde er eine längst vergessene Welt betreten.
Der Hobbyfotograf, der seinen Lebensunterhalt als Mediendesigner verdiente, holte die Kamera aus der Tasche, überprüfte den Akkustand und hängte sie um seinen Hals. Anschließend zog er Einweghandschuhe an, um seine Hände vor dem Dreck zu schützen, den er in dem verwahrlosten Gebäude erwartete.
Den Eingang fand er um die Ecke auf der linken schmalen Seite des Hauses. Einige Holzstufen führten zur überdachten Haustür hinauf. Mit vorsichtigen Schritten vergewisserte er sich, ob sie sein Gewicht tragen würden, ehe er sie voll belastete. Gesetze zu brechen war eine Sache, seinen Hals wollte er nicht riskieren.
Das einfache Buntbartschloss hatte er im Nu geknackt. Die schiefe Holztür öffnete sich knarrend. Ein Ekel erregender Geruch schlug ihm entgegen, als er sich in einem langen Flur wiederfand. In verlassenen Gebäuden war er schon öfter auf Tierkadaver und Exkremente gestoßen.
Durch die zerbrochenen Scheiben dreier Schwingtüren drang Tageslicht aus den straßenseitig gelegenen Räumen. An den Wänden wuchs der Schimmel bis über die Decke hinauf. Der Staub der vergangenen Jahrzehnte wirbelte durch die Luft, und Fliegen schwirrten umher. Da und dort waberten Spinnweben. Ein abgeschlagener gusseiserner Heizkörper war halb aus der Wand herausgerissen.
Christian konzentrierte sich auf die Lichtstimmung im Haus, um sie später bei der Fotobearbeitung aus dem Gedächtnis abrufen zu können. Auf künstliches Licht konnte er hier verzichten, was ihm ohnehin lieber war. Er stellte die Kamera ein und drückte mehrmals auf den Auslöser. Beim Anblick der Fotos würde Leonie bestimmt niesen müssen, dachte er schmunzelnd. Er hatte seiner allergiegeplagten Freundin gar nicht erzählt, dass er sich alleine auf die Suche nach diesem Lost Place begab. Leonie sollte sich keine unnötigen Sorgen machen. Sie zeigte wenig Verständnis für sein Hobby, dafür teilten sie andere Interessen. Er konnte sich sogar vorstellen, sie später zu heiraten und eine Familie mit ihr zu gründen. Mit seinen 26 Jahren fühlte er sich allerdings noch zu jung dafür, und Leonie war erst 22.
Sein Blick flog über die schäbige Holztreppe ins Obergeschoß und entlang der schwarz gefleckten Wand wieder hinunter. Im Haus gab es keine Kellertreppe. Stattdessen entdeckte er eine Falltür im morschen Boden. Ringsherum lagen verrottete Dielen kreuz und quer, dazwischen Glasscherben und Müll.
Christian wandte sich einer der drei Schwingtüren zu und drückte sie vorsichtig auf. Mit bedachten Schritten betrat er die holzvertäfelte Veranda, die einst als Gaststube oder Speisesaal gedient hatte. Ein kalter Luftzug wehte durch die kaputten Fenster herein. Im Haus kam es ihm noch kälter vor als draußen. Weitere Glasscherben und zerbrochenes Geschirr lagen neben zertrümmerten Holzstühlen und Bilderrahmen, Zeitungs- und Kartonschnipsel bedeckten die kaputten Dielen. Auf den alten Tischen häufte sich allerlei Gerümpel, und auf einer Holzbank lehnte ein Teddybär in einem schmutzigen weißen Hemdchen. Christian hob das zerschlissene Plüschtier auf, um es näher zu betrachten. Aus einem halb abgerissenen Bein quollen Sägespäne. Ein braunes Knopfauge fehlte. Er platzierte das alte Spielzeug auf einer wurmstichigen Tischplatte und fotografierte darauf los.
Nebenan in der Küche herrschte ein ähnliches Chaos. Die Wandfliesen waren ebenso beschädigt wie die Küchenkästen und Schubladen. Verdreckte Kochutensilien lagen auf den schrundigen Arbeitsplatten und in den verschmutzten Stahlbecken, in denen die Abwäscherinnen früher das Geschirr, Töpfe und Pfannen gespült hatten. Der alte Tischherd war mit Holz zu befeuern. Christian rückte einen zerlegten Mixer und einen antiquierten Flaschenwärmer ins rechte Licht. Danach wandte er sich der Fensterbank zu. Ein Glasfläschchen funkelte leuchtend orange, als wäre es mit Sonnenlicht gefüllt. Das Logo und die Schrift auf dem Etikett stammten aus den 1970er-Jahren, der Hustensirup aus einer Apotheke in der Grazer Kärntnerstraße. Er drückte mehrfach auf den Auslöser, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Anschließend gönnte er sich einen Schluck Wasser, bevor er sich den Zimmern auf der anderen Seite des Flurs widmete.
Im Waschraum fand er schmutzige Waschbecken, rostige Armaturen, abgeschlagene Kacheln, schimmelige Duschzellen und verdreckte WC-Kabinen vor, an denen die Türen fehlten. Der Anblick der fetten Spinne in der Ecke ließ in abermals schmunzeln. Wieder dachte er an Leonie, der vor Krabbeltieren grauste, und zoomte das Motiv näher heran. Sie würde sich schreiend abwenden.
An den Waschraum grenzten mehrere nahezu identische Schlafzimmer an. Alle waren jeweils mit einem Fenster, einem Einzelbett, einem Stockbett und zwei doppeltürigen Kleiderkästen ausgestattet. Die Matratzen auf den schäbigen, einst weiß lackierten Eisenbetten wiesen Löcher und Stockflecken auf. Auf einer Matratze lag ein strohblonder Puppenkopf, der ihn aus einem halb geöffneten blauen Schlafauge und einer leeren Augenhöhle anstarrte. Der abgetrennte Kopf gab ein ähnlich starkes Fotomotiv ab wie der Teddybär in der Küche. Vielleicht war dieses Haus früher eine Jugendherberge, ein Jungschar- oder ein Pfadfinderlager, überlegte Christian, während er die letzte Fotoserie auf dem Kamera-Display betrachtete.
Dann schweifte sein Blick aus dem Fenster über die Wiese hinter dem Haus zum Waldrand hinauf. Nebel zog auf – der perfekte Weichzeichner für die Außenaufnahmen. Hastig packte er seine Sachen zusammen, um die Gunst des Augenblicks zu nutzen und nicht noch einmal herfahren zu müssen. Mit geschultertem Rucksack, der Tasche samt Stativ in einer Hand und dem Scheinwerfer in der anderen, eilte er über den Flur, als plötzlich der Boden unter ihm krachend nachgab.
Christian verlor den Halt. Er stürzte in die Tiefe, schlug hart mit dem Rücken auf. Die Luft blieb ihm weg. Er konnte nicht atmen. Reglos lag er auf dem Boden und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die rechteckige Lücke, die hoch über ihm klaffte. Während er noch immer nach Luft rang, versuchte er zu begreifen, was geschehen war. Seine Gedanken überschlugen sich, bis ihm dämmerte, dass er die Falltür im Flur übersehen haben musste. Endlich füllte sich seine Lunge wieder mit Luft. Ein eigentümlicher Geruch brachte ihn zum Husten.
Warum spürte er seine Beine nicht? So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sie nicht bewegen. Verzweifelt drosch er mit den Fäusten auf seine Oberschenkel ein, spürte jedoch nichts. Er holte tief Luft, dann schrie er um Hilfe, so laut er konnte. Es war sinnlos. Wer sollte ihn hier unten hören? Außer den abertausenden Fliegen, die ihn umschwirrten.
Der Geruch im Keller verursachte ihm Übelkeit. Was war das? Fäkalien von Mäusen, Ratten, Haus- oder Wildtieren? Tierkadaver?
Langsam drehte er den Kopf zur Seite. Ein kühler Luftzug streifte sein Gesicht. Durch das zerbrochene Kellerfenster drang Tageslicht.
Das Handy! Wo war sein Handy?
Christian blickte sich panisch um, tastete den Boden um sich herum ab. Er musste auf die Trümmer der Holzleiter und der Falltür gestürzt sein, die unter ihm zerbrochen waren. Die Kamera hing noch immer an seinem Hals. Keinen Meter von ihm entfernt lag sein Rucksack, weiter hinten die Fototasche. Er streckte den Arm aus, erreichte einen Riemen und schaffte es, den Rucksack zu sich zu ziehen. Sein Handy fand er im Seitenfach.
Kein Netz, verdammt! Der Akku stand bei 31 Prozent. Mit zittrigen Händen drehte er das Mobiltelefon in alle Richtungen, hob und senkte es immer wieder, während er auf das Display starrte. Das durfte doch nicht wahr sein! In diesem verfluchten Keller war ein Funkloch. Nicht einmal einen Notruf konnte er absetzen.
Er schaltete die Taschenlampen-App an seinem Handy ein. Die Fototasche mit der Stablampe war zu weit weg, um sie erreichen zu können. Das grelle LED-Licht wanderte durch den Keller. Was war das dort drüben? Eine Zelle? Die Tür stand weit offen. Auf dem Boden lag etwas, das sein Verstand nicht gleich erfasste. Ein totes Tier? Nein, das war kein Tier. Dort lag ein toter Mensch, der ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte. Lange weiße Haare wuchsen aus dem Schädel. Die Nase und das linke Ohr fehlten. Der Mund war weit aufgerissen und schief. An der Wange nagte eine Ratte. Dort drüben saß noch eine! Überall waren diese Viecher!
Voller Grauen wandte er sich ab und schrie erneut los. Was für ein Albtraum! Er wollte aufwachen. Doch er war bereits wach, und er spürte seine Beine nicht. Aus eigener Kraft würde er diesen Keller nicht mehr verlassen können. Weder durch die Lücke in der Decke noch durch das winzige Fenster, das mindestens zwei Meter vom Boden entfernt war.
Die Erkenntnis traf ihn hart. Er war querschnittsgelähmt, hatte kaum zu essen und zu trinken. Die Ratten würden an seinem lebendigen Leib nagen, bevor er in diesem Drecksloch verreckte. In Gesellschaft einer Leiche, deren Schicksal er demnächst teilen würde. Christian schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.
Freitag, 10. November
»Schickst du mir bitte die Koordinaten vom Einsatzort aufs Handy?« Sandra Mohr rollte mit ihrem Bürostuhl zurück, während sie telefonierte.
»Soeben geschehen«, bestätigte ihr der Anrufer aus der Landesleitzentrale. »Das Gebäude ist hochgradig einsturzgefährdet«, fuhr Lubensky fort. Ein Experte war bereits unterwegs, um den Tatort mithilfe der Feuerwehr abzusichern, damit dieser gefahrlos betreten werden konnte.
»Alles klar. Wir brechen gleich auf. Pfiat di, Lubensky!«, verabschiedete sich Sandra und trennte die Verbindung im Aufstehen. Die Abteilungsinspektorin des LKA Steiermark holte ihren braunen Lederrucksack unter dem Schreibtisch hervor und sprach den Chefinspektor an, der hoch konzentriert auf seinen Bildschirm starrte. »Können wir dann, Sascha?«
Der dritte Schreibtisch im Büro war seit einer guten halben Stunde nicht mehr besetzt, die Kollegin Anni Thaler bereits im Wochenende.
»Sofort«, murmelte Sascha Bergmann, ohne aufzublicken, und hantierte mit seiner Maus.
Was war so fesselnd, dass er seinen Computer noch nicht heruntergefahren hatte? War ihm etwa entgangen, dass ein Einsatz auf sie wartete? Sandra zog ihre leichte Steppjacke über das Schulterholster mit der Dienstwaffe und warf einen Blick auf ihr Handy. 17.58 Uhr. Die Koordinaten des Einsatzortes waren eingegangen, stellte sie fest und tauschte das Diensthandy gegen ihr privates Smartphone. Keine neuen Nachrichten. Am besten schrieb sie Hubert gleich, dass ihr gemeinsames Abendessen heute ins Wasser fallen würde. An Kummer war er gewöhnt. Und sie auch. Unwillkürlich entkam ihr ein Seufzen.
Bergmann erhob sich endlich und streckte sein Kreuz durch. »Was gibt’s denn?«, erkundigte er sich.
»Eine unbekannte weibliche Tote«, antwortete Sandra, den Blick auf ihr Handy gerichtet.
»Schon wieder ein Femizid?«, fragte der Chefinspektor, während sie die Nachricht an Hubert abschickte.
Im Durchschnitt wurde in Österreich alle zwei Wochen eine Frau getötet, wobei für gewöhnlich mehr weibliche als männliche Mordopfer zu beklagen waren. Die meisten Frauen kamen durch die Hand eines eifersüchtigen oder gekränkten Mannes aus ihrem privaten Umfeld gewaltsam zu Tode. Ausgerechnet die Steiermark führte das traurige Ranking der sogenannten Femizide in diesem Jahr an. »Wir wissen bisher nur, dass die Leiche im Keller eines leer stehenden Hauses aufgefunden wurde«, sagte sie. Der Tatort an sich war auch nicht ungewöhnlich. Die heimische Kriminalgeschichte wusste von etlichen Leichen und Leichenteilen zu berichten, die in Kellern, manchmal sogar eingemauert, entdeckt worden waren. Entführte Mädchen wurden gefangen gehalten, Töchter von ihren Vätern missbraucht, geschwängert und samt ihren Inzestkindern versteckt. Und wer wusste schon, welche Geheimnisse sich sonst noch unter der oftmals biederen Oberfläche verbargen, und ob sie jemals ans Tageslicht gelangen würden. Sandra steckte ihr privates Handy in den Rucksack. Bis auf Weiteres würde sie es ignorieren, um die Kommentare zu ihrer kurzfristigen Absage nicht lesen zu müssen. Das konnte getrost bis nach dem Einsatz warten.
»Was wissen wir über die Todesursache?«, fuhr Bergmann fort, während er seinen Parka anzog.
»Warum die Frau gestorben ist, ist noch unklar«, antwortete Sandra, die mit geschultertem Rucksack an der offenen Tür auf ihn wartete. Allein die Tatsache, dass der Amtsarzt eine unnatürliche Todesart in Betracht zog, genügte, um einen Einsatz der Kriminalpolizei auszulösen. Der Staatsanwalt war bereits verständigt, die forensischen Untersuchungen des Tatorts und der Leiche in die Wege geleitet.
Bergmann wandte sich ab und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, um sein Handy zu holen und es in die Jackentasche zu stecken. »Eine genauere Diagnose hat der Herr Doktor nicht gestellt?«, fragte er.
»Das könnte am schlechten Zustand der Leiche liegen«, meinte Sandra achselzuckend. »Sie befindet sich offenbar schon länger in diesem Keller. Außerdem wurde auch ein junger Mann dort aufgefunden. Sein Name ist Christian Zwettler, Jahrgang 1997, wohnhaft in Graz …«
»Noch eine Leiche?«, unterbrach sie der Chefinspektor, offenbar überrascht darüber, dass sie die zweite Person nicht gleich erwähnt hatte.
»Der Mann lebt noch, ist jedoch schwer verletzt«, stellte Sandra klar. »Er wurde mit einem Wirbelsäulentrauma aus dem Keller geborgen und nach Graz in die Universitätsklinik transportiert.«
»Konnte er zu den Geschehnissen im Haus schon befragt werden?«, wollte Bergmann wissen.
Sandra zuckte erneut mit den Achseln. »Du fragst mich Sachen, von denen ich leider noch nichts weiß.«
Der Chefinspektor ging stirnrunzelnd als Erster durch die Tür.
Sandra schaltete das Licht aus, bevor sie ihm auf den Gang folgte. An diesem trüben Herbsttag hatten die Deckenleuchten den ganzen Tag gebrannt. Dass es im Winterhalbjahr so früh dunkel wurde, nervte sie ebenso wie das Aufstehen bei völliger Finsternis am Morgen. Dabei hätte die Zeitumstellung in der EU längst abgeschafft und die Sommerzeit dauerhaft beibehalten werden sollen. Aber ganz so einfach war es dann doch nicht. Nach einer Online-Befragung der Bevölkerung waren sich die EU-Länder noch immer uneinig. Einige Unionsmitglieder sprachen sich strikt gegen eine Abschaffung der Zeitumstellung aus, andere befürworteten die permanente Winterzeit, während manche wiederum die permanente Sommerzeit bevorzugten. Da die mitteleuropäischen Zeitzonen in der EU von Zypern im Osten bis nach Portugal im Westen reichten, wäre die Umsetzung des Votums folgenreich. Zum Beispiel würde sich bei permanenter Sommerzeit im Winter der Sonnenaufgang im westlichen Spanien in den Vormittag verschieben, während in Polen erst der Morgen graute.
»Wo müssen wir eigentlich hin?«, holte Bergmann sie aus ihren Gedanken.
»Zum Reinischkogel.« Sandra trabte neben ihm die Stufen hinunter.
»Kenne ich nicht«, meinte er.
Alles andere hätte sie auch gewundert. »Wir haben schon einmal ganz in der Nähe im Schilcherland ermittelt«, half sie ihm auf die Sprünge. »Du erinnerst dich doch bestimmt an die ermordete Weinkönigin, die im Weingarten ihres Vaters tot aufgefunden wurde.«
Der Chefinspektor hielt vor der gläsernen Eingangstür an und lächelte auf einmal verklärt. »Wie könnte ich unseren ersten gemeinsamen Serienmord vergessen«, sagte er, als würde er an ein romantisches Date denken.
Dabei hätte es damals beinahe ein weiteres Mordopfer aus den eigenen Reihen gegeben, wäre ihre junge Kollegin nicht im letzten Moment gerettet worden. Der Name des Täters war Sandra allerdings entfallen. Immerhin waren mittlerweile zwölf Jahre vergangen, rechnete sie zurück, als sie hinter Bergmann durch die Tür marschierte. Draußen zog sie fröstelnd den Reißverschluss ihrer Jacke zu.
Während die Ermittler nebeneinander über den Parkplatz trabten, blickte sich Sandra nach ihrem schwarzen Audi A6 um. Da der Standort des Dienstwagens beinahe täglich wechselte, manchmal sogar mehrmals, wusste sie oft nicht, wo sie ihn zuletzt abgestellt hatte, und im Nebel waren die dunklen zivilen Fahrzeuge kaum voneinander zu unterscheiden. Erst als sie auf den Funkschlüssel drückte, um die Türschlösser zu entriegeln, verrieten ihr die blinkenden Scheinwerfer, wo das Auto geparkt war.
Als Sandra hinterm Lenkrad saß, rief sie Lubenskys Koordinaten auf ihrem Handy auf, um das Navi damit zu füttern. Dass die Autobahn-Anschlussstelle Steinberg nach einer langen Sperre wieder geöffnet war, hatte sie bereits aus den Nachrichten mitbekommen. Die Bauarbeiten waren sogar zwei Monate früher als geplant abgeschlossen worden, was den Protesten der Betreiber von Buschenschänken, Wirtshäusern und Tourismusbetrieben am Reinischkogel zu verdanken war, oder jemand anderem, der wirtschaftliches Interesse an der Region hatte und über politischen Einfluss verfügte. Ansonsten hätte Sandra die A 2 bereits in Lieboch verlassen und wäre über die Radlpassstraße und Sankt Stefan ob Stainz gefahren. Die kaum längere Route hätte sie unter anderem am malerischen Hochgrail vorbeigeführt, der zu den schönsten Plätzen Österreichs zählte. Doch von den goldgefärbten herbstlichen Weinhängen des Schilcherlandes war bei Nacht und Nebel ohnehin nicht viel zu sehen.
Während Sandra aus der Parklücke und weiter zur Ausfahrt fuhr, tippte Bergmann in sein Smartphone. Vielleicht musste er ebenfalls private Pläne für diesen Abend absagen, überlegte sie und winkte dem Wachposten zu, der den Schranken für sie öffnete.
Bergmann blickte von seinem Handy auf. »Wie lange dauert die Fahrt?«, fragte er.
Sandra wies mit dem Kinn auf das Navi, das die Ankunftszeit anzeigte. Der dichte Verkehr aus der Stadt heraus sorgte für eine Verzögerung von rund zehn Minuten.
»Ich hätte vorher noch etwas essen sollen«, sagte Bergmann.
»Cashewnüsse sind im Handschuhfach, wenn du magst.«
»Gesalzene?«
Sandra schüttelte den Kopf. »Zu viel Salz treibt den Blutdruck in die Höhe.«
»Mein Blutdruck ist völlig normal«, murrte Bergmann, riss aber dennoch die Packung auf.
Liebes Tagebuch!
Gestern hat mich die Frau Moser von der Fürsorge abgeholt. Schuld ist der Karl. Ich bin zu nichts nutze, sagt er, koste nur Geld und verzapfe Lügen. Dabei hat er doch gelogen und nicht ich! In letzter Zeit begrapscht er mich immer. Das habe ich der Mutti erzählt, und sie hat ihn zur Rede gestellt. Er hat alles abgestritten und mich eine hinterfotzige Hure geschimpft. Ich hasse diesen alten Giftler! Warum schickt die Mutti nicht ihn fort, sondern mich? Ohne den Karl wäre unser Leben viel schöner.
Vor meiner Abreise in die Steiermark hat sie mir versprochen, daß sie sich von ihm trennen wird. Diesmal wirklich. Sie möchte zur Therapie nach Kalksburg, um von dem Äitsch wegzukommen. Solange muß ich im Kinderheim bleiben. Wenn alles gut geht, darf ich zu Weihnachten wieder nach Hause kommen. Dann ist der Karl nicht mehr da. Ich wünsche mir so sehr, daß die Mutti ihr Versprechen hält.
Sie hat mir Briefpapier und Briefmarken geschenkt. Ich soll ihr bald schreiben, damit sie weiß, wie es mir geht. Oder wenn ich etwas brauche. Anrufen darf sie mich im Heim nicht. Auch nicht besuchen. Ich habe ihr versprechen müssen, fleißig zu lernen. Damit es mir später einmal besser geht als ihr. Und ich soll ja die Finger vom Rauschgift lassen!
Meinen Teddybären habe ich mitgenommen, aber ohne Batterien. Jetzt kann der Johnny nicht mehr sprechen und brummen. Dafür sind in seinem Batteriefach 120 Schilling versteckt. Das Geld habe ich am Freitag von meinem Sparbuch abgehoben. Die Beamtin am Bankschalter hat mir einen Sparefroh geschenkt. Seine Arme und Beine kann man in alle Richtungen verbiegen. Ich habe ihn zu Hause lassen, aber meine Lieblingsbücher alle eingepackt. Und mein neues Notizbuch mit einem roten Bändchen, das mir die Mutti geschenkt hat, damit ich meine Gedanken und Erlebnisse aufschreiben kann. Vielleicht wird später einmal ein richtiges Buch daraus. Eines, das man in den Buchhandlungen kaufen kann. Ich würde gerne Schriftstellerin werden. Aber die Mutti meint, daß man davon nicht leben kann. Ich soll lieber etwas Anständiges lernen und Sekretärin, Verkäuferin oder Friseuse werden.
Nach dem Mittagessen hat es an der Tür geklingelt. Vor lauter Aufregung habe ich noch einmal aufs Klo gehen müssen. Dann hat mir die Mutti mit dem Koffer geholfen und wir sind im Lift hinuntergefahren. Zum Abschied haben wir uns abgebusselt und viel geweint. Sie hat mir versprochen, daß alles gut wird. Ich soll jeden Abend brav beten. Das mache ich, und ich bete auch dafür, daß der Karl verschwindet. Hoffentlich hört der liebe Gott auf mich.
Die Mutti hat meinen Koffer in den Kofferraum gehoben, und ich bin in den orangen Opel Kadett von der Fürsorgerin eingestiegen.
Die Frau Moser war schon öfter bei uns zu Besuch. Sie stellt mir immer tausend Fragen und redet auch allein mit der Mutti. Auf der Fahrt in die Steiermark hat sie mir erzählt, daß es im Kinderheim viele Mädchen in meinem Alter gibt, mit denen ich mich anfreunden und in die Schule gehen kann. Außerdem sind dort nur Dreibettzimmer. Kein großer Schlafsaal, in dem 30 Kinder oder noch mehr schlafen wie in anderen Heimen. Sie glaubt, daß es mir auf dem Land gut gefallen wird. Unterwegs sind uns vier Traktoren entgegengekommen, fast keine Autos. Das letzte Stück sind wir über eine schmale Straße durch den Wald gefahren. Es gibt hier so viel Natur, aber nur wenige Häuser, und die meisten sind Bauernhöfe.
Das Kinderheim hat zwei Stockwerke, eine dunkle Holzfassade, rote Fensterrahmen und steht ganz allein auf einer großen Wiese mitten im Wald. Vor dem Haus gibt es einen Spielplatz. Ein paar kleine Mäderln sind mit dem Karussell gefahren. Andere haben geschaukelt und sind Gummi gehüpft. Das habe ich früher auch immer mit meinen Freundinnen gespielt, meistens im Hof von unserem Gemeindebau und in der großen Pause in der Volksschule. Die Sprüche finde ich beim Gummihüpfen am lustigsten. »Am dam des, diese male press, diese male pumperness, am dam des« usw.
Die Fürsorgerin war von dem Heim mitten in der Natur begeistert, aber mir war der finstere Wald rundherum ein wenig unheimlich. Vielleicht wohnen da Hexen oder Räuber wie der Hotzenplotz.
Die Frau Moser hat mich ausgelacht. Im Wald wohnen Vögel, Rehe, Füchse, Käfer und Ameisen, aber keine Hexen oder Räuber, hat sie mir versichert. Ganz bestimmt gibt es auch Schwammerln, die wir sammeln, kochen und essen können.
Ich mag aber keine Schwammerln.
Die Frau Moser hat meinen Koffer aus ihrem Kofferraum gehoben und gefragt, ob da Steine drin sind.
So ein Unsinn! Wer nimmt denn Steine mit? Ich habe ihr erklärt, daß meine Bücher so schwer sind. Ich lese nämlich gerne und denke mir auch selbst Geschichten aus. Dann bin ich in einer anderen Welt. In einer Welt ohne den Karl. Ohne Rauschgift, Schläge und Grapschen. Mit einem Vati, der viel Geld verdient, der die Mutti und mich liebhat und uns verwöhnt. Am Wochenende machen wir Ausflüge mit unserem Auto, einem metallic-hellblauen amerikanischen Schlitten. In den Ferien fahren wir zusammen ans Meer oder in den Skiurlaub.
Meinen richtigen Vati kenne ich gar nicht. Er hat die Mutti verlassen, noch bevor ich geboren bin. Der Karl ist erst später bei uns eingezogen. Aber er ist nicht mit der Mutti verheiratet. Trotzdem spielt er sich immer wie mein Stiefvater auf und will mir Manieren beibringen. Dabei hat er doch selbst keine.
»Auf einem Gummi-Gummi-Berg, da saß ein Gummi-Gummi-Zwerg …« Die Mädchen vor dem Heim haben zum Spielen aufgehört und mich neugierig angeschaut, als wir vorbeigegangen sind. Die Frau Moser hat mich ins Büro vom Heimleiter gebracht. Der Herr Direktor Schmölzerl hat wenige dünne Haare, die von einem Ohr zum anderen über die Glatze frisiert sind. Seine grünen Augen durchbohren einen fast, wenn er einen anschaut. Außerdem raucht er dieselben Zigaretten wie der Karl. Pfui Teufel!
»Wer Falk raucht, frißt auch kleine Kinder«, habe ich den Trafikanten einmal sagen gehört. Gefressen hat mich der Karl nicht, aber gehaut. Von seinen Zigaretten ist mir im Auto immer schlecht geworden. Manchmal habe ich speiben müssen und danach mit der Mutti ihr Auto putzen. Das hat der Karl später verkauft, weil er das Geld gebraucht hat. Seitdem haben wir kein Auto mehr.
Die Frau Moser hat den Herrn Direktor Schmölzerl Zetteln unterschreiben lassen und sich dann verabschiedet.
Ich habe Angst bekommen und wollte nicht hierbleiben.
Der Herr Schmölzerl hat mich festgehalten, damit ich der Fürsorgerin nicht nachlaufen kann. Als sie weg war, hat er mich angeschrien, daß ich sofort zum Rean aufhören soll. Unter seinem Dach ist Weinen verboten!
Ich habe zurückgeschrien, daß er mich gefälligst loslassen soll.
Dafür hat er mir links und rechts eine runtergehaut. Ich soll es ja nie wieder wagen, so mit ihm zu reden. Sonst lande ich im Karzer, damit ich zur Besinnung komme.
Was ist ein Karzer?
Die spitze Kurve, die von der Landstraße zum Reinischkogel abzweigte, war im dichten Nebel kaum zu erkennen, aber Sandra bog hier nicht zum ersten Mal ab. Sie kniff die Augen zusammen, während sie der schmalen, stetig ansteigenden, stellenweise kurvigen Straße durch den Wald folgte, bis das Navi sie nach rechts schickte.
Bergmann blickte besorgt über den Rand seiner Lesebrille hinweg in die mondlose Nacht.
»Keine Angst. Ich bin ja bei dir«, sagte Sandra scherzhaft. Bis zur nächsten Abzweigung kannte sie den Weg. Von da an musste sie umso mehr aufpassen, dass sie im Nebel nicht die Orientierung verlor. Navis waren zwar hilfreich, aber nicht unfehlbar.
»Was täte ich nur ohne dich«, sagte Bergmann.
Sandra ignorierte seine Bemerkung, von der sie nicht wusste, ob er sie ernst oder sarkastisch meinte.
»Ich bin noch immer hungrig«, beschwerte er sich. Dabei hatte er ihre Cashewnüsse ratzeputz aufgegessen, ohne ihr auch nur eine einzige anzubieten.
»Es gibt hier ein paar ausgezeichnete Gasthäuser«, sagte Sandra und erzählte ihm von einem Ausflugslokal in Sommereben, das steirische Hausmannskost vom Feinsten auftischte. »Der Auerhahnhof ist unter anderem für seinen Blutwurz bekannt.« Die gute Küche und der Kräuterlikör, den die Seniorchefin selbst ansetzte, lockte Gäste aus Nah und Fern auf den Reinischkogel. Der lateinische Name des Krautes ließ den wahren Grund erahnen. Angeblich regte der hochprozentige Potentilla erecta nicht nur die Verdauung an.
»Ein Schnaps als Potenzmittel?«, fragte Bergmann interessiert.
»Eigentlich ist es ein Likör«, sagte Sandra. »Du kannst ihn ja ausprobieren.« Kaum ausgesprochen, bereute sie ihren Vorschlag.
»Jetzt gleich?«, zeigte er sich begeistert. Der alte Macho konnte es einfach nicht lassen.
»Es ist schon zu spät«, erwiderte Sandra.
»Für uns?«
»Das sowieso … In einer Viertelstunde sperrt die Hütte zu.«
»Dann muss ich wohl verhungern«, seufzte Bergmann.
»Es gibt auch noch andere Wirtshäuser am Reinischkogel, die länger geöffnet haben.« Sie nannte ihm einen weithin bekannten Familienbetrieb, in dessen Freigehege alte Schweinerassen artgerecht gehalten und gezüchtet wurden. Ihr bekömmliches Fleisch landete unter anderem als Waldschweinschnitzerl und Schweinsbraten auf den Tellern der Gäste. Je nach Saison wurden auch Kräuter, Gemüse und Salate von den Hügelbeeten der Permakultur und Obst aus dem Hausgarten in der Küche verarbeitet. Dazu kredenzte der Juniorchef und Sommelier des Hauses eigene und andere, vorzugsweise steirische, Weine und hausgebrannte Schnäpse.
»Und wie lange haben die offen?«, erkundigte sich Bergmann.
»Solange Gäste da sind«, nahm Sandra an. »Aber die Küche schließt wahrscheinlich schon früher.«
»Dann lass uns auf dem Heimweg ein Wildschweinschnitzel einschneiden«, schlug Bergmann vor.
»Waldschwein, nicht Wildschwein«, korrigierte Sandra ihn.
»Von mir aus«, meinte Bergmann, während sie auf das stumm geschaltete Navi blickte.
18.49 Uhr. »In fünf Minuten sollten wir den Einsatzort erreichen«, sagte Sandra. Durch den Nebel mochte die Fahrt vielleicht noch eine Minute länger dauern.
Bergmann kratzte sich am unrasierten Kinn. »Ich reserviere uns einen Tisch«, entschied er. »Zwischen 20.15 und 20.30 Uhr sollte sich ausgehen.«
»Wenn du meinst, dass wir das schaffen«, sagte Sandra skeptisch und nannte ihm den Namen des Wirtshauses. Im Vorhinein ließ sich schwer abschätzen, was sie beim Einsatz erwartete, geschweige denn, wie lange dieser dauern würde. Hoffentlich war der Tatort inzwischen so weit abgesichert, dass sie ihn betreten durften und nicht frierend im Wald herumstehen mussten. Hätte sie bloß die warme Polizeijacke angezogen, die in ihrem Spind in der Landespolizeidirektion hing, ging ihr durch den Kopf, während sie im Schneckentempo der Route folgte. Außerdem war es höchste Zeit, ihre private Winterkleidung aus dem Kellerabteil zu holen und gegen die Sommerkleidung in ihrem Kleiderkasten auszutauschen. Vielleicht schaffte sie es bei dieser Gelegenheit endlich auch einmal, ihr Gewand auszusortieren und die Kleidungsstücke, die sie seit Jahren nicht mehr getragen hatte, zur Carla