Stephan von Wengland - Gundula Wessel - E-Book

Stephan von Wengland E-Book

Gundula Wessel

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Beschreibung

Die Verborgenen Lande sind eine von mir erfundene, fiktive Region, die - wäre es so möglich, wie ich es mir erdacht habe - in der Alpenregion zwischen Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz zu suchen wäre. Wer immer sich dort schon herumgetrieben hat, wird wissen, dass da nichts weiter ist, als direkt aneinander stoßende Grenzen ... Solch schnöde Realität muss ja nicht an der Fantasie hindern, dass diese Region in einer anderen Dimension versteckt ist, die mithilfe von Magie erreicht werden kann - nun, jedenfalls in unserer Zeit. Die Verborgenen Lande sind vier souveräne Staaten: Das Fürstentum Breitenstein, das Herzogtum Scharfenburg sowie die Königreiche Wengland und Wilzarien. Alle vier Länder existieren etwa seit dem 9. Jh. unserer Zeitrechnung. Im Zentrum der Geschichten steht das Königreich Wengland, dessen Historie ich anhand eines entscheidenden Abschnittes im Leben des jeweiligen Thronfolgers vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart erzähle. Sommer 1897: Stephan, der ältere Sohn und Thronfolger von König Alexander und Königin Simone von Wengland, hat seinen Militärdienst beendet und will an der Universität Christophstein in der wenglischen Grafschaft Aventur Vermessungstechnik studieren. Sein Vater ist besorgt, weil Aventur - trotz eines fast dreißigjährigen Waffenstillstands zwischen den Königreichen Wengland und Wilzarien - immer noch ein Zankapfel zwischen den verfeindeten Reichen ist. Sein Sohn teilt die Bedenken nicht und hat zwei gute Gründe, nicht bei seinem Vater in Wachtelberg zu studieren: Erstens, dass eben sein Vater der Professor ist und er eine zu subjektive Beurteilung befürchtet. Und zweitens, weil seine große Liebe Sandra Habermann ebenfalls in Christophstein studiert. Letzteres verheimlicht der junge Mann seinen Eltern jedoch. Er ahnt nicht, dass Gobur Simat, der schon seine Onkel Friedrich und Eberhard auf dem Gewissen hat und beinahe auch seinen Vater beseitigt hätte, als Fürst von Bonat in Wilzarien zu Ehren gekommen ist und mit der Rückgewinnung Aventurs für Wilzarien nach der Krone greifen will. Bonat bekommt die Unterstützung unzufriedener Milchbauern wilzarischer Herkunft in Aventur, die er geschickt zu nutzen weiß - auch gegen den Willen des neuen Königs von Wilzarien, der Aventur endgültig aufgeben will, um endlich Frieden mit dem Nachbarland zu haben. Stephan und seine Freunde sehen sich gezwungen, buchstäblich in den Untergrund zu gehen, um Aventur als wenglische Provinz zu erhalten.

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Gundula Wessel

Chroniken der Verborgenen Lande

Stephan von Wengland

Chronikband Ende 19. Jahrhundert

© 2022 Gundula Wessel

Stephan von Wengland

Chroniken der Verborgenen Lande

Chronikband Ende 19. Jh.

Autor: Gundula Wessel

Umschlaggestaltung, Illustration: Gundula Wessel

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Hardcover ISBN: 978-3-347-54082-8

E-Book ISBN: 978-3-347-54094-1

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1Neuer Lebensabschnitt

Kapitel 2Bekanntschaften

Kapitel 3Aufstand der Milchbauern

Kapitel 4Frühjahrsschock

Kapitel 5Schreckstarre

Kapitel 6Der Widerstand organisiert sich

Kapitel 7Desaster am Aventur

Kapitel 8Rettung aus dem Untergrund

Kapitel 9Bonats Rache

Kapitel 10Entdeckungen

Kapitel 11Überraschungen – gute und böse

Kapitel 12Entscheidungen

Kapitel 13Neue Erfahrungen

Kapitel 14Erkenntnisse

Kapitel 15Hinterlist

Kapitel 16Ermittlungen

Kapitel 17Ernste Gespräche

Kapitel 18Gegenmaßnahmen

Kapitel 19Lösungen

Kapitel 20Königliche Entscheidung

Kapitel 21Friedensfühler und Befreiung

Kapitel 22Ehre und Familienfrieden

KapitelHochzeit

Epilog

Prolog

Der Sommer 1897 war heiß und entsprechend heißblütig wurde der 1.010. Jahrestag der Gründung des Königreichs Wengland gefeiert. Wie immer hatte es am 10. Juli ein großes Feuerwerk gegeben, am 11. Juli, dem eigentlichen Feiertag, fand die große Militärparade statt.

König Alexander I. von Wengland nahm die Parade in Begleitung seiner Gemahlin, Königin Simone, von der Königsloge des Steinburger Schlosses aus voller Vaterstolz ab. Sein jüngerer Sohn Friedrich war als Leutnant der Gardekavallerie mit dabei. Neben ihm standen noch Tochter Ursula, Friedrichs Zwillingsschwester, und der ältere Sohn Stephan, der Kronprinz.

Alexander nahm vertraulich die Hand seiner Frau.

„Täusche ich mich oder ist es heute fünfundzwanzig Jahre her, dass wir beide von hier aus die Parade gesehen haben?“, fragte er leise. Simone lächelte.

„Nein, du täuschst dich nicht“, erwiderte die Königin und drückte ihrem Mann einen sanften Kuss auf die Wange. Seit sieben Jahren regierte König Alexander – und sie, die Tochter des radikalsten Sozialistenführers im ganzen Königreich Wengland, war die Königin eines modernen und aufgeschlossenen Wengland.

In Wengland hatte sich politisch viel verändert. Schon 1875, als Alexander nach dem Tod seiner beiden älteren Brüder Friedrich und Eberhard Kronprinz geworden war, hatte er angekündigt, die Regierungsform in eine konstitutionelle Monarchie umwandeln zu wollen. König Wilhelm war davon zunächst wenig angetan gewesen, hatte seinen Sohn aber letztlich nicht behindert, als er ab 1880 entsprechende Vorbereitungen getroffen hatte, weil sich die reichsweite Änderung erst nach Alexanders Regierungsübernahme auswirken sollte. Der damalige Kronprinz hatte dafür gesorgt, dass sich Parteien bilden konnten, die sich zunächst auf der untersten Verwaltungsebene, den Städten und Dörfern, als Mittler des politischen Willens der Bevölkerung etablierten. Etwa fünf Jahre später, nachdem das System auf kommunaler Ebene funktionierte, hatte der Prinz sich mit den Spitzenpolitikern aller wenglischen Parteien – einschließlich der Sozialisten – getroffen und in jahrelanger Arbeit einen Verfassungsentwurf erarbeitet, der einen Teil der königlichen Macht an das Volk abtrat. Die Vorbereitungen waren so gründlich gewesen, dass ein halbes Jahr nach Alexanders Krönung ein Parlament gewählt worden war, zu dem alle Wengländer beiderlei Geschlechts das aktive und passive Wahlrecht hatten, sofern sie volljährig, also einundzwanzig Jahre alt waren.

Genau genommen wählte das Volk nur das Unterhaus, die eigentliche Volksvertretung, während das Oberhaus, die Vertretung des Adels, durch die Grafen und Barone erbliche Sitze hatte. Den alten Grafenrat gab es nicht mehr, dafür war das Oberhaus eingesetzt worden. Das Oberhaus hatte Kontrollfunktion gegenüber dem Unterhaus, wirkte bei der Gesetzgebung mit, hatte wohl ein Vetorecht, jedoch nur ein aufschiebendes, das durch eine Zweidrittelmehrheit des Unterhauses überstimmt werden konnte. Ein absolutes Vetorecht hatte nur der König – und das nur in Angelegenheiten des Adels. König Alexander selbst hatte diesen Passus eingefügt, weil er der Ansicht war, dass das Volk im Wesentlichen selbst seine Geschicke bestimmen sollte und dafür auch haften sollte, wenn es notwendig war …

Die erste fünfjährige Wahlperiode war beendet, die Regierungspartei der Königlich Konservativen unter Premierminister Maximilian Bärmann war im Amt bestätigt worden und hatte sogar Stimmengewinne auf Kosten der Sozialisten verzeichnen können.

Auch in der Verkehrstechnik hatte sich vieles verändert. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hatte die Eisenbahn unter ihrem Direktor Alexander von Wengland ein so dichtes Netz von Verbindungen erstellt, dass beinahe jeder Ort mit Marktrecht von der Eisenbahn erreicht werden konnte. Felsbruck, damals im Jahr 1872, noch ein Flecken mit sieben Häusern und neun Spitzbuben, war Wenglands Eisenbahnhauptstadt geworden. Zwar war die Hauptverwaltung der KWE, der Königlich Wenglischen Eisenbahn, in Steinburg, aber die größte Regionalverwaltung, die RV West, befand sich in Felsbruck. Außerdem hatte Felsbruck das Ausbesserungswerk, was eigentlich eine grobe Untertreibung war. In Felsbruck wurde nicht nur repariert, die Eisenbahn arbeitete auch sehr eng mit den beiden dort befindlichen Lokomotivfabriken und drei Waggonwerken zusammen. Im so genannten Ausbesserungswerk befand sich die Erprobungsabteilung mit eigenem Labor, die ihresgleichen suchte. Schon seit zehn Jahren experimentierte man dort mit elektrisch getriebenen Fahrzeugen, seit einem guten Jahr hatte die LFF, die Lokomotivfabrik Felsbruck, die erste Elektrolok zur Serienreife gebracht. Spätestens zur Jahrhundertwende sollte die erste Teilstrecke elektrifiziert sein und künftig mit Elektroloks befahren werden.

König Alexander nahm weiterhin regen Anteil am Geschick seiner Bahn. Schließlich hatte er sie geplant, war ihr Bauleiter und Direktor gewesen. Als er 1890 nach dem Tod seines Vaters Wilhelm zum König gekrönt worden war, hatte er den Direktorenposten zugunsten seines damaligen Stellvertreters Anselm Krantz aufgegeben, hatte aber immer noch einen Sitz im Vorstand der Königlich Wenglischen Eisenbahn. Sein ehemaliger Hauptmitarbeiter, Dr. Ing. Andreas Ettinger, hatte an der Steinburger Universität den Lehrstuhl für Geologie, war glücklich verheiratet, hatte fünf Kinder, drei Töchter und zwei Söhne, die mittlerweile alle das Steinburger Martinsgymnasium besuchten. Die väterliche Intelligenz hatte bei den Ettinger-Kindern voll durchgeschlagen.

Fünfundzwanzig Jahre zuvor wäre es schiere Utopie gewesen, dass die Kinder eines selbst aus armen Verhältnissen stammenden Vaters ein Gymnasium besuchten. Intelligenz allein hätte ihnen nicht geholfen. Der Vater hätte es sich ob des teuren Schulgeldes einfach nicht leisten können, seine Kinder auf ein Gymnasium zu schicken. Doch noch unter der Regierung König Wilhelms war bereits vor zwanzig Jahren auf Anregung des damaligen Kronprinzen Alexander das Schulgeld abgeschafft worden. Schul- und Hochschulbesuch waren kostenfrei, ebenso die dazugehörigen Lernmittel. Die Folge war ein deutlicher Bildungsschub gewesen, der sich jetzt richtig auswirkte. Die Anzahl der Studenten – und Studentinnen! – hatte sich glatt vervierfacht, was zur Gründung weiterer Universitäten geführt hatte. Außer der altehrwürdigen Hochschule in Wachtelberg gab es nun die Universität Steinburg, die einen guten Ruf im Bereich der Naturwissenschaften und in der Archäologie hatte, die Universität von Siebeneich, die sich eher den sprachlichen Wissenschaften verschrieben hatte, sowie die Universität von Christophstein, die neben dem Polytechnikum auch die medizinische und juristische Fakultät mit der landesweit größten Bedeutung hatte. Eine besondere Spezialität der Universität Christophstein war der Umstand, dass alle Fächer sowohl in wenglischer, also deutscher, als auch in wilzarischer Sprache unterrichtet wurden.

Alexander konnte mit dem, was er erreicht hatte, durchaus zufrieden sein. Mit seiner Hilfe hatte Wengland den Sprung in eine neue Zeit geschafft, war ein mobiles, politisch waches und gebildetes Land geworden. Die Narben der alten Teilung, die noch bis in die Regierungszeit König Wilhelms zu spüren gewesen waren, waren ausgelöscht. Es schien, als sei Wengland nie etwas anderes gewesen, als das Land, was es jetzt war.

Doch es gab eine kleine Ausnahme – und das war Aventur. Aventur war die südöstlichste und die jüngste Grafschaft Wenglands, auch wenn die Zugehörigkeit bereits über sechshundert Jahre andauerte. Seit 1265 gehörte die Provinz zu Wengland. Gleichwohl wurden dort beide Sprachen gesprochen, verlief doch die Sprachgrenze zwischen dem Wenglischen und dem Wilzarischen mitten durch die Provinz. Sämtliche Orte waren zweisprachig bezeichnet, in den Schulen wurde zweisprachig unterrichtet. Kam ein Beamter oder Angestellter nach Aventur, musste er nachweisen, dass er beide Sprachen fließend beherrschte. An der Universität Christophstein gab es deshalb eine große Anzahl von Studenten mit mindestens wilzarischen Wurzeln, wenn sie nicht sogar wilzarische Staatsbürger waren. Und weil es im Gegensatz zu Wengland in Wilzarien keine Studienmöglichkeit für Frauen gab, war der Frauenanteil unter den wilzarischen Studierenden besonders hoch.

Auch wenn es seit nunmehr über sechshundert Jahren zu Wengland gehörte, war und blieb es ein Zankapfel mit dem östlichen Nachbarn Wilzarien. Aber auch hier schien eine Lösung am Horizont zu sein. Zwei Jahre zuvor war mit Paul von Silla zum ersten Mal seit Jahrhunderten ein König gekrönt worden, der nicht aus dem Buchenberger Fürstenhaus stammte. Sein Vorgänger, König Livor IV., hatte zwar einen Sohn gehabt – doch hatte er diesen Sohn hinrichten lassen, weil er einem wenglischen Spion aus der Zitadelle von Buchenberg zur Flucht verholfen hatte.

In Wilzarien erbte nach wie vor nur ein Sohn. Weder eigene Töchter des Erblassers noch andere Angehörige hatten in irgendeiner Form ein Erbrecht. Das gesamte Erbe ging an den ältesten Sohn. Hatte der Erblasser keine Söhne, ging das gesamte Erbe an den Provinzfürsten. Im Falle des Königs ging das Erbe auf den Fürstenrat über, der den neuen König dann aus seiner Mitte wählte.

So war Paldor von Silla zum König gekrönt worden. Der Name kam von einer Stadt, die schon lange nicht mehr wilzarisch war; unter dem Namen Christophstein war Silla die Hauptstadt der wenglischen Provinz Aventur.

Was sich die Wilzarenfürsten mit Paldor von Silla als König eingehandelt hatten, merkten sie erst, als der die absolute Macht des wilzarischen Königs in der Hand hatte. Kaum dass der letzte Fürst ihm den bedingungslosen Gehorsam geschworen hatte, hatte der neue König eröffnet, dass er das Verbot des Christentums aufhebe und dass er sich selbst zum Christentum bekenne und den Namen Paul annehme. Er widersagte der wilzarischen Sitte, nach der der König einen Harem von wenigstens zwanzig Frauen unterhielt. Weiterhin kündigte Paul an, sich nunmehr mit dem Nachbarn Wengland ein für allemal auszusöhnen und einen dauerhaften Frieden schließen zu wollen. Die wilzarischen Adligen waren hell entsetzt – und es gab durchaus welche, die an einen gewaltsamen Umsturz dachten.

Für einen dauerhaften Frieden war eine endgültige Lösung für Aventur unumgänglich, das war König Paul klar. Da immer wieder die Behauptung kursierte, die Wilzaren in Aventur wünschten eine Rückkehr nach Wilzarien, beschloss Paul, das näher zu untersuchen – aber unauffällig. Er sandte eine ganz besondere Vertrauensperson nach Aventur …

Kapitel 1

Neuer Lebensabschnitt

Für den Kronprinzen Stephan bedeutete dieser 11. Juli 1897 den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt. Er hatte seinen zweijährigen aktiven Militärdienst beendet, war als Oberleutnant aus den Reihen der Gardepioniere ausgeschieden und würde am folgenden Tag nach Christophstein reisen, um sein Studium aufzunehmen.

Dass er gerade Vermessungstechnik studieren wollte, hatte niemanden verwundert. Schließlich war sein Vater Doktor-Ingenieur in diesem Fach, hatte darin eine Gastprofessur an der Universität Wachtelberg und arbeitete – wenn seine Aufgaben als König Wenglands es zuließen – noch immer als freier Vermessungstechniker für sein viertes Kind, die Königlich Wenglische Eisenbahn. Aber dass Stephan ausgerechnet in Christophstein studieren wollte, bereitete seinem Vater doch gewisse Sorgen.

Alexander hatte selbst zu oft in Grenzkonflikten mit Wilzarien um Aventur gestanden, als dass er seinen Erben gerade dort wissen wollte. Zwar hatte Stephan seinen Militärdienst dort geleistet, aber er hatte das Glück gehabt, dass in den beiden Jahren seiner Dienstzeit kein neuer Krieg wegen der Provinz ausgebrochen war. Der König wusste noch nicht recht, was er von seinem neuen Kollegen auf wilzarischer Seite halten sollte und mochte dem Angebot zu endgültigen Friedensverhandlungen nicht wirklich trauen.

Doch Stephan hatte darauf bestanden, nicht in Wachtelberg zu studieren. Ihm war die Gefahr zu groß, dass sein Vater ihn als dortiger Professor für Vermessungstechnik entweder zu sehr bevorzugen oder zu sehr unter Druck setzen würde. Das jedenfalls war Stephans offizielle Version, weshalb er gerade nach Aventur zurück wollte.

Der wirkliche Grund hatte lange Beine, dunkle Haare, rehbraune Augen, beim Lächeln niedliche Grübchen in den Wangen und hieß Sandra Habermann. Er wusste, dass Sandra wilzarischer Herkunft war und dass sie in Christophstein Jura studieren wollte. Sie waren sich im März des Jahres 1897 bei einem Tag der offenen Tür in der Pionierkaserne von Christophstein begegnet – und es hatte sofort gefunkt.

Stephan sah auf die Parade, aber er war nicht bei der Sache. Seit Wochen freute er sich auf seine Abreise am 12. Juli nach Christophstein, freute sich auf das Wiedersehen mit Sandra – aber darüber konnte er mit seinen Eltern einfach nicht sprechen. Dass ausgerechnet er, der Thronfolger Wenglands, eine in eine Wilzarin verliebt war, konnte er bei aller Toleranz seiner Eltern nicht offen aussprechen.

Seine offensichtliche Geistesabwesenheit deutete sein Vater falsch, dafür entschuldigend. Er war der Meinung, Stephan befasse sich intensiv mit einem Vermessungsproblem, das sie am Abend zuvor besprochen hatten und das auch noch beim Frühstück Thema gewesen war.

Wenn Stephan sein Studium aufnahm, würde er in seinem Fach kein Anfänger mehr sein. Er war unter den Fittichen eines Vermessungsingenieurs aufgewachsen und hatte schon als Junge gelernt, mit einem Theodoliten umzugehen. Rein aus Jux hatte Stephan den Steinburger Burgberg mit den Gerätschaften seines Vaters vermessen, die Werte auf eine Karte übertragen und nachgezeichnet. Unter Anleitung seines Vaters hatte er die Vermessung in Holz nachgebaut – und es war ein fast originalgetreues Abbild des Burgberges im Maßstab 1:100 herausgekommen. Von diesem Moment an hatte Alexander das offensichtliche Talent seines Ältesten gefördert. Genau genommen würde das Studium für Stephan ein Wiederholungskurs mit staatlichem Abschluss sein.

Am folgenden Tag brachte Alexander seinen Sohn selbst und außer dem Kutscher ohne Begleitung zum Steinburger Hauptbahnhof. Königin Simone konnte eine Bahnhofstrennung nicht ertragen. Sie hatte immer schreckliche Angst um ihre Kinder. So hatte der König seine Kinder bislang immer allein zum Bahnhof gebracht, wenn sie aus immer welchen Gründen ohne ihre Eltern reisen mussten. Nie hatte er das Gefühl gehabt, dass es sich um einen unabsehbar langen Abschied handeln könnte. Doch diesmal beschlich ihn eine eigenartige Ahnung.

„Du fährst in eine Gegend, bei der mir nicht ganz wohl ist, Stephan“, sagte er, als sie auf dem Bahnsteig auf den Zug warteten.

„Was soll schon passieren, Vater?“, fragte der junge Mann. „Im Dezember sind Semesterferien, und ich komme heim. Ich hab’ doch meinen Militärdienst auch dort abgeleistet, und du hast nie etwas dazu gesagt.“

„Da warst du Soldat, mein Junge, und deine Einheit war dort stationiert“, erinnerte Alexander.

„Damit, dass ich die Uniform ausgezogen habe, habe ich nichts davon verlernt, wenn du das meinst. Außerdem haben du und Großpapa immer gesagt, dass ein Wengländer immer Soldat sei, ob mit oder ohne Uniform. Und Paul von Wilzarien gehört nicht zu der Sorte Wilzaren, die auf Aventur scharf sind.“

„So? Wer sagt das?“

„In Christophstein pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Hat Paul dir nicht sogar schon direkte Verhandlungen angeboten?“

„Ich traue den Wilzaren nicht. Ich habe zu oft erlebt, dass sie uns mit List und Tücke Aventur entreißen wollten. Mir wäre es wirklich lieber gewesen, wenn du in Wachtelberg studieren würdest.“

„Weiß ich, Paps, aber Christophstein gefällt mir nun einmal besser. Ist auch die einzige Gegend in der ich ab und zu mal ausprobieren kann, ob es sich gelohnt hat, Wilzarisch zu lernen.“

Alexander seufzte tief. Es fiel ihm schwer, seinen Sohn loszulassen …

„Ich … wünsche dir alles Gute, mein Junge. Mach mir keine Schande“, sagte er schließlich.

„Erwartest du, dass ich Abschlussbester werde?“, fragte Stephan mit verschmitztem Grinsen.

„Mindestens!“, gab sein Vater lachend zurück, auch wenn sich ein Schatten in das Lachen mischte. „Christophstein ist eine schöne Stadt“, sagte er dann leise.

„Warst du auch mal dort?“

„Ich habe auch einen Teil meiner Militärzeit in Aventur verbracht. Daran denke ich zwar nicht gern, aber Christophstein … oh ja, davon träume ich manchmal noch.“

„Grund?“, fragte Stephan.

„Wenn man zum ersten Mal richtig verliebt ist, dann ist jede Gegend rosarot.“

„Oh, wer war sie?“

„Jedenfalls nicht deine Mutter; der bin ich erst viel später begegnet. Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte deine Mutter schon damals gekannt. So schön weit weg von allen Anstandswachen …“, erwiderte Alexander. „Aber das ist kein Freibrief, mein Sohn!“, schränkte er dann ein. „Ich erwarte, dass du fleißig studierst und einen guten Abschluss machst.“

„Jawohl, Majestät!“, bestätigte Stephan grinsend.

„Auf Gleis drei fährt ein Schnellzug nach Christophstein über Ahrenstein, Wutzbach, Turmesch, Rothenfels, Buchhausen. Nach Markbach in Ahrenstein umsteigen, nach Limmstedt in Wutzbach umsteigen, nach Karlstedt in Turmesch umsteigen!“, rief der Aufsichtsbeamte aus, als der Zug einrollte und mit quietschenden Bremsen am Bahnsteig zum stehen kam. Dampf entwich zischend aus den Bremsventilen. Alexander und sein Sohn gingen am Zug entlang, bis sie zu einem Wagen der II. Klasse kamen.

„Eins versteh’ ich nicht: Wieso reist du eigentlich nicht I. Klasse?“, fragte der König, als er dem angehenden Studenten das Gepäck hinaufreichte.

„Ach, Paps, ich möchte ein stinknormaler Studiosus sein“, erwiderte Stephan mit einem Seufzen. „Ich erinnere mich, dass mein Herr Papa das auch immer gewollt hat und außerhalb von Steinburg nur ungern der Kronprinz war … Wir haben viel gemeinsam, Vater.“

„Daraus schließe ich, dass niemand in Christophstein weiß, wer du wirklich bist“, schmunzelte der König.

„So ist es. Dort bin ich als Stephan Steiner eingeschrieben.“

„Du Lümmel!“, schalt Alexander, aber der Klang machte deutlich, dass es ironisch gemeint war. „Ich habe mich ja wenigstens noch von Steinburg genannt.“

„Zieht nicht mehr, der Trick ist bekannt, Paps. Deshalb habe ich mich fürs volle Inkognito entschieden. Außerdem … falls doch was schiefgeht, wissen die Wilzaren nicht sofort, dass Wenglands Kronprinz unter ihrer Nase tanzt.“

„Das beruhigt mich jetzt mehr, als du ahnst, mein Junge.“

„Nach Christophstein bitte einsteigen und Türen schließen! Vorsicht an der Bahnsteigkante!“, rief der Aufsichtsbeamte, ein schriller Pfiff ertönte. Stephan schloss die Abteiltür und zog das Fenster hinunter.

„Bis Weihnachten, Papa. Grüß Mama und die Kleinen.“

„Ja, mache ich. Lass es dir gutgehen und schreib bitte mindestens einmal in der Woche. Und telegrafiere unbedingt gleich, wenn du angekommen bist. Mama macht sich sonst Sorgen. Du kennst sie ja.“

Stephan nickte. Der Fahrdienstleiter hob die grüne Kelle, die dem Lokführer die geschlossenen Türen der Wagen signalisierte. Die Dampfpfeife der Lok fiepte schrill auf, als das Ausfahrtsignal auf „Freie Fahrt“ klappte. Der Zug setzte sich mit einem heftigen Ruck in Bewegung. Stephan blieb am offenen Fenster stehen und winkte, bis der Zug in die Kurve hinter dem Bahnhof fuhr, wo die Strecke gen Osten nach Ahrenstein abzweigte.

Zum ersten Mal in seinem Dasein als Vater hatte Alexander ein flaues Gefühl in der Magengrube, als er die roten Schlusslichter des Zuges am Ende der Kurve hinter dem Steinburger Stadtwald verschwinden sah.

‚Hoffentlich bereut Stephan seine Entscheidung nicht‘, durchzuckte es den König. Langsam ging er zur Empfangshalle, vor der Gottlieb, sein persönlicher Diener, mit der Kutsche auf ihn wartete.

„Majestät sehen nicht glücklich aus“, bemerkte der Diener.

„Wie soll ich glücklich sein, wenn ich meinen Jungen wieder hergeben muss, kaum dass er zu Hause war?“, seufzte Alexander.

„Darf ich Majestät daran erinnern, dass der Herr Außenminister Walter in einer Stunde einen Termin bei Ihnen hat?“, fragte Gottlieb.

„Ja, danke, Gottlieb. Fahren Sie nach Hause.“

Kapitel 2

Bekanntschaften

Kaum dass der Zug den Steinburger Hauptbahnhof verlassen hatte und die Silhouette der heimatlichen Burg hinter der Talbiegung verschwunden war, schob Stephan das Fenster wieder hoch und setzte sich auf den Fensterplatz in Fahrtrichtung. Das Abteil war – abgesehen von seinem Platz – leer. Er griff in die Innentasche seine Jacke und nahm einen Brief heraus, dem anzusehen war, dass er schon oft gelesen worden war.

Stephan las den Brief mit einem Lächeln. Seine Sandra! Was für ein Mädchen! Die junge Dame wilzarischer Herkunft hatte es dem Königssohn mit einer Macht angetan, die ihn völlig umgerissen hatte.

Dass sie eine Bürgerstochter mit Studienabsichten war, konnte seine Eltern nicht stören. Schließlich war seine Mutter ebenfalls bürgerlich erzogen und gebildet, seine Großmutter war eine Bürgerstochter gewesen. Aber der Umstand, dass Sandra wilzarisches Blut hatte, konnte Schwierigkeiten machen. Zwar waren Ehen zwischen Wengländern und Wilzaren nicht verboten, waren gerade in Aventur eher normal als eine Ausnahme, doch Stephan sollte eines Tages den Thron erben – und eine Königin mit Wilzarenblut auf Wenglands Thron, das ging gar nicht! Das konnte gut einen Volksaufstand geben.

Die meisten Wengländer mochten den Wilzaren nicht verzeihen, dass sie in den nun über tausend Jahren, die es Wengland als Königreich gab, immer wieder Streit gesucht hatten. Mit erschreckender Regelmäßigkeit waren wilzarische Heere mindestens seit dem Jahr 1200 immer wieder mit so erbarmungsloser Grausamkeit über Südwengland, zuweilen auch Eschenfels, Karlsfeld und Hirschfeld hergefallen, dass es geradezu sprichwörtlich war, zu sagen: Hier sieht’s ja aus, als hätten die Wilzaren gehaust, wenn etwas massiv unaufgeräumt oder großflächig beschädigt war …

Stephan hatte die Geschichte der Könige Wenglands aufmerksam gelesen. Jeder König oder Fürst hatte versucht, mit Wilzarien einen Ausgleich zu finden, was seit 1265 regelmäßig an der Aventurfrage gescheitert war. Seit König Ranador die Provinz 1265 nach einem verlorenen Krieg die Provinz als Sicherheitszone hatte abtreten müssen, hatten seine Nachfolger immer wieder eine Rückeroberung versucht, hatte Wengland wenigstens hundert Kriege mit Wilzarien nur um diese Provinz ausgefochten und war bis jetzt immer Sieger geblieben. In den ersten Jahren waren es bis zu vier Kriege in einem Jahr gewesen, dann hatte die Energie der Wilzaren allmählich nachgelassen.

Nun war es schon fast dreißig Jahre ruhig, aber die Wengländer hatten gelernt, dass die Wilzaren unberechenbar wie ein Vulkan waren. Auch nach jahrzehntelanger Ruhe konnte ohne jede Vorwarnung ein Ausbruch erfolgen. Stephan war wie jeder Wengländer überzeugt, dass die Gewalt von Wilzarien ausging, denn Wenglands Könige fingen von sich aus keinen Krieg an, auch wenn sie stets auf Auseinandersetzungen gut vorbereitet waren.

Die Menschen in Aventur hatten sich bisher stets wenglandtreu gezeigt. Sie hatten auch keinen Grund, es nicht zu sein. Die Wilzaren hatten ihre Sprache behalten, den Ortsnamen war nur eine wenglische Übersetzung oder Neubenennung hinzugefügt worden, die auf den Ortsschildern in der wilzarischen Sprachregion ganz bescheiden an zweiter Stelle stand. Der Provinzname war erhalten geblieben, es gab nicht einmal eine Übersetzung ins Wenglische. In der Regel verwendeten die Wengländer die neuen Ortsnamen, die Wilzaren die alten.

Aber es gab Ausnahmen, wie Sandra Habermann bewies. Nicht nur, dass der alte Name Havanor mit Habermann übersetzt war, sie nannte die Hauptstadt der Provinz auch beim wenglischen Namen Christophstein und nicht wilzarisch Silla. Bei Stephan konnte sie sich sprachliche Verrenkungen sparen, denn er war nicht nur tolerant, sondern auch sprachbegabt. Wie jeder wenglische Prinz hatte er Wilzarisch gelernt und sprach mit Sandra in der Sprache, die sie beide gerade bevorzugten.

Das Einzige, was die Wilzaren hatten aufgeben müssen, war ihr Glaube. Eigentlich war Wengland ein tolerantes Land, in dem jeder glauben konnte, was er wollte, aber bei Teufelsanbetung hörte diese Toleranz auf. Gerade unter König Ranador war die Teufelsanbetung das hauptsächliche Bekenntnis in Wilzarien gewesen, der Urglaube an die nordischen Götter schon zur verschwindenden Minderheit geworden. Nachdem den Wilzaren in Aventur die Ausübung ihres Teufelsrituals bei Todesstrafe verboten worden war, hatte König Sevur, Ranadors Nachfolger, seinerseits die christlichen Riten unter Todesstrafe gestellt.

Stephan lehnte sich zurück und schloss die Augen. In der zentralwenglischen Ebene zwischen Ahrenstein und Wutzbach versäumte er ohnehin nichts und gab sich lieber verliebten Träumen von Sandra Habermann hin.

In Wutzbach wurde die Abteiltür aufgerissen und ein weiterer Passagier stieg zu. Es war ein junger Mann, etwa im gleichen Alter wie Stephan, der ebenso wie der Königssohn die Studentenmütze der Universität Christophstein ohne Stufenstreifen trug, kenntlich an ihrem grünen Mützenbeutel.

„Grüß dich, Kommilitone!“, begrüßte Stephan ihn und machte in dem engen Durchgang Platz.

„Was haben wir miteinander zu schaffen, Mann?“, knurrte der Zugestiegene. Stephan stutzte. Solche Grobheit war er nicht gewohnt, obwohl er sich stets bürgerlich gab und sich noch nie als Sohn des Königs zu erkennen gegeben hatte.

„Ich habe höflich gegrüßt. Ich denke, ich kann eine höfliche Antwort erwarten“, gab er zurück. „Der Mütze nach bist du ein Student. Unter Studenten ist dieser Gruß üblich. Bist du kein Student, dann gib dich nicht als solcher aus!“, wies er den Grobian zurecht.

„Weißt du überhaupt, mit wem du es zu tun hast?“, fauchte der andere. „Ich bin Rupert, Erbgraf von Limmenfels. Also, zeig mehr Ehrfurcht!“

Stephan lachte fröhlich auf.

„Ach so, der Herr ist von Adel! Warum tragt Ihr Euer Wappen nicht im Schilde, edler Erbgraf? Beinahe hätte ich Euch für meinesgleichen gehalten.“

Rupert ahnte nicht einmal, wie doppeldeutig Stephans lachende Antwort war.

„Auch wenn ich II. Klasse reise, heißt das nicht, dass ich zweiter Klasse bin!“, versetzte der Erbgraf hochnäsig.

„Nein, Sie benehmen sich drittklassig, Herr von Limmenfels!“, schnaubte Stephan. „Von einem Adligen erwarte ich, dass er sich adlig benimmt – und das tun Sie wahrhaftig nicht!“

„Gib Acht, was du sagst, Lümmel, sonst lasse ich dich verhaften!“

„Den Tatbestand der Majestätsbeleidigung hat es in Wengland mindestens seit der Einführung des Codex Rex Wenglandia im Jahre 1265 nicht gegeben, geschweige denn den Straftatbestand der Erbgrafenbeleidigung. Aber Sie sollten es lassen, mich Lümmel zu nennen. Mein Name ist Steiner, Stephan Steiner aus Steinburg.“

„Dein Name tut nichts zur Sache. Für mich bleibst du ein Lümmel, wenn auch aus der Hauptstadt. Dann eben ein Hauptstadt-Lümmel.“

„Na schön, dann bist du der Provinz-Lümmel!“, grinste Stephan. „Wie du mir, so ich dir …“

Rupert lief puterrot an und wollte auf Stephan losgehen, als der Schaffner an der Durchgangsseite des Wagens in das Abteil trat. Der seitliche Durchgang vor den Abteilen durch die Personenwagen war eine Besonderheit, die andere Bahngesellschaften (noch) nicht hatten.

„In Wutzbach noch jemand zugestiegen?“, fragte er und sah den Neuankömmling im Abteil deutlich an. Rupert setzte sich wieder, machte aber keine Anstalten, seine Fahrkarte vorzuzeigen.

„Ihre Fahrkarte bitte, mein Herr!“, forderte der Schaffner ihn auf.

„Wie reden Sie überhaupt mit mir?“, entfuhr es von Limmenfels.

„Wie mit jedem Fahrgast. Ihre Fahrkarte, bitte!“

Rupert verschränkte die Arme.

„Ein gewöhnlicher Beamter hat wohl kaum ein Recht, den Erbgrafen von Limmenfels nach irgendeinem Ausweis zu fragen!“

Der Beamte holte tief Luft, doch bevor er etwas sagen konnte, schaltete sich Stephan ein.

„Hör mal, du Provinz-Lümmel: In dieser Bahn hat nicht mal König Alexander selbst freie Passage! Also rück’ deine Fahrkarte raus oder ich befördere dich an die frische Luft!“

Das war so scharf und befehlend vorgetragen, dass Ruperts kunstvolle Adelsfigur zusammenbrach. Er saß mit offenem Mund da.

„Der Beamte hat nicht nur das Recht, sondern die beeidete Pflicht, deine Fahrkarte zu kontrollieren! Also?“, setzte der Prinz grollend hinzu. Von Limmenfels machte große Augen und gestand dann kleinlaut ein, keine Fahrkarte zu haben. Der Beamte nickte, zog seinen Fahrkartenblock, den Kopierstift und leckte daran.

„Bis wohin wollen Sie?“, fragte er.

„Was geht Sie das …“, setzte er an, aber die vernichtenden Blicke Stephans und des Schaffners bremsten ihn.

„Christophstein“, sagte er leise. Der Schaffner nickte und schrieb die Fahrkarte aus.

„Macht sechzig Gulden für die einfache Fahrt und dreißig Gulden wegen Schwarzfahrens.“

„Aber ich will doch zahlen!“, protestierte Rupert.

„Ein bisschen spät, mein Herr. Hätten Sie mir das gleich gesagt, hätten Sie lediglich zwei Gulden Zugaufpreis bezahlt.“

„Ich zahle die Strafe nicht!“

„In dem Fall …“, grinste der Schaffner, drehte sich um und zog die Notbremse. Der Zug kam mit blockierenden Rädern rutschend zum Stillstand.

„Raus!“, fauchte der Schaffner, packte Rupert beim Schlafittchen und beförderte ihn samt Gepäck unsanft aus dem Zug.

„Drei Kilometer in Fahrtrichtung ist die Station Meisenwies. Von dort verkehrt täglich der Personenzug nach Christophstein. Aber bezahlen Sie lieber freiwillig vor Fahrtantritt, sonst bekommen Sie Ärger mit der Polizei!“, rief der Schaffner ihm nach, löste die Bremse, gab dem Lokführer ein Zeichen, bevor Rupert sich wieder aufgerappelt hatte. Der Zug fuhr an und ließ einen völlig verdatterten Erbgrafen von Limmenfels zurück.

Der Schaffner ließ ihn nicht aus den Augen bis der Zug so viel Geschwindigkeit aufgenommen hatte, dass der Mann nicht mehr aufspringen konnte.

„Erleben Sie so etwas häufiger?“, fragte Stephan.

„Immer wenn Adlige aus Limmenfels in Wutzbach zusteigen. Graf Thorwald soll es so gewurmt haben, dass die Schnellzugstrecke Steinburg – Christophstein nicht über Limmenfels gebaut wurde, dass er und seine Familie sich grundsätzlich weigern, eine Fahrkarte zu kaufen. Gestern habe ich grad des Herrn Grafen Großmutter in Meisenwies ausgesetzt.“

„Nein, wie hartherzig!“, empörte sich Stephan gespielt. Der Schaffner wollte aufbegehren, aber er sah in Stephans lachendes Gesicht und merkte, dass der junge Mann es nicht ernst meinte.

„Vielleicht sollte die Königlich Wenglische Eisenbahn von ihren aufmerksamen Schaffnern und zahlungsunwilligen Kunden erfahren. Wie ist Ihr Name?“, fragte der Prinz.

„Habermann, Udo Habermann aus Silla“, erwiderte der Schaffner und sah, dass Stephan sich den Namen notierte.

„Was haben Sie vor?“, fragte er dann.

„Ich werde jemandem, dem die Bahn sehr am Herzen liegt, berichten, wie ein pflichtbewusster Schaffner aus Aventur die Rechte des Königs wahrt, Herr Habermann.“

„Und wen wollen Sie unterrichten?“

„Den König.“

„Sie … Sie kennen unseren König?“

„Ja, er hat mir Stunden in Vermessungstechnik gegeben“, erwiderte der Königssohn.

„Ich habe gehört, unser König Alexander sei ein freundlicher Mann, der auf die Sorgen seines Volkes hört.“

„Das ist er“, bestätigte Stephan.

„Ob es wohl möglich wäre, dass ich ihn irgendwann mal persönlich treffen könnte? Ich bin zwar wilzarischer Abstammung, aber mein Herz schlägt einfach wenglisch.“

„Das kann ich nicht versprechen, aber ich werde es mit erwähnen. Sagen Sie, Herr Habermann, haben Sie vielleicht eine Tochter mit Namen Sandra?“

Habermann zuckte zusammen.

„Nein, aber eine Nichte. Sie wohnt bei mir. Wieso?“

„Oh, wir kennen uns gut …“

„Dann müssen Sie der Oberleutnant Steiner vom Gardepionierregiment sein“, mutmaßte der Schaffner.

„Das war ich“, lächelte Stephan. „Jetzt bin ich kein Soldat mehr. Ich will in Christophstein studieren.“

„Sandra hat sehr von Ihnen geschwärmt. Meine Frau und ich hätten noch ein Zimmer frei. Sind Sie interessiert?“

„Oh, gern. Kommt aber drauf an, was es kosten soll. Ich muss mir die Miete durch Gelegenheitsarbeiten verdienen.“

„Das lässt sich sicher regeln, Herr Steiner. Bisher haben wir fünf Gulden die Woche genommen.“

„Donnerwetter, haben Sie Tarife in Christophstein!“, entfuhr es dem jungen Mann. „Ich glaube, ich hätte doch in Wachtelberg studieren sollen … Drei Gulden wären normal.“

Schaffner Habermann zwinkerte

„Sie wissen Bescheid, Herr Steiner. Für Sie Vorzugspreis zweifünfzig.“

„Topp, abgemacht!“, bestätigte Habermann den Handel.

Am Abend rollte der Zug in den Hauptbahnhof von Christophstein ein. Stephan stieg aus und wartete, dass die Menschenmenge sich etwas verzog.

„Warten Sie, Herr Steiner!“, hörte er jemanden rufen. Er drehte sich um und sah den Schaffner vom Zug her winken. Er blieb stehen. Der Schaffner stieg aus, ging am Zug entlang und schloss die Türen. Dann gab er dem Lokführer ein Zeichen, dass alles gesichert war. Der Zug rollte langsam aus dem Bahnhof auf das Vorfeld.

„Sie sagten doch, dass Sie Ihr Studium mit Gelegenheitsarbeit finanzieren wollen, oder?“, fragte er.

„Ja.“

„Die Bahn sucht manchmal Mitarbeiter auf Zeit, beim Bahnbau zum Beispiel. Sie sehen kräftig aus. Schwellenlegen könnte etwas für Sie sein. Soll ich mich mal umhören?“

„Wäre nicht zu verachten. Wer weiß, ob ich später nicht sogar für die Bahn arbeiten werde. Da schadet es nicht, sich das mal von unten anzusehen.“

„Sehr vernünftige Ansicht. Es heißt, unser König hätte als junger Mann auch für die Bahn gearbeitet“, bemerkte Habermann. Stephan lächelte.

„Oh, das ist keine Sage, Herr Habermann. König Alexander vermisst noch immer für die KWE, wenn er Zeit hat“, erwiderte er.

„Woher wissen Sie das so genau?“

„Zum einen ist es in Steinburg kein Geheimnis, zum anderen gibt es im Königlichen Vermessungsamt in Steinburg mindestens fünfzig Karten neueren Datums, auf denen als Zeichner Alexander von Steinburg dokumentiert ist. Wenn er arbeitet, benutzt er immer noch sein altes Alias.“

„Lernt man so was in der Schule?“

„Nein, im Probesemester in Steinburg – und bei den Fürst-Wolf-Pionieren.“

„Ach ja, Sie waren ja bei den Gardepionieren …“, fiel es Udo Habermann wieder ein.

Wenig später hatten Sie das Haus in der Bahnhofstraße erreicht. Habermann klopfte und eine ältere Frau öffnete.

„Guten Abend, Maria“, sagte der Schaffner und umarmte seine Frau.

„Guten Abend, Liebling. Sag, wer ist der junge Herr?“

„Das ist unser neuer Mieter, Herr Stephan Steiner aus Steinburg. Ich habe ihm unsere Studentenbude vermietet“, erklärte Habermann.

„Sehr schön, kommen Sie, Herr Steiner.“

Stephan nahm die Studentenmütze ab, verbeugte sich höflich und putzte sich ordentlich die Schuhe ab, als er eintrat. Seine Vermieter nahmen sein höfliches Benehmen angenehm überrascht zur Kenntnis.

Eine gute Stunde später hatte Maria Habermann Stephan sein Zimmer gezeigt, ihm erklärt, wo er seine Habseligkeiten lassen konnte – und dass sie es mit der wenglischen Tradition hielten, nach der Damenbesuch bei Mietern von Studentenbuden nicht erwünscht war. Stephan bestätigte dies, obwohl ihm klar war, dass es ihm schwerfallen würde, sich daran zu halten, wenn Sandra im gleichen Hause wohnte …

„Ach so, noch etwas:“, sagte Frau Habermann. „Meine Nichte wohnt hier gleichfalls. Sie ist die Tochter eines einflussreichen Mannes. Lassen Sie also die Finger von ihr!“, mahnte sie.

„Ich werde mir alle Mühe geben, Frau Habermann“, versprach Stephan.

„Wenn Sie das nicht garantieren können, dann muss ich den Vertrag für nichtig erklären“, warnte sie. Stephan sah sie lange an.

„Frau Habermann, ich bin mit Ihrer Nichte befreundet“, sagte er dann langsam. „Es war purer Zufall, dass Ihr Mann mir das Zimmer anbot, und ich wäre sehr daran interessiert, zumal es meinen schmalen Geldbeutel schonen würde. Aber ich kann keine Versprechen abgeben, die ich nicht halten kann.“

Maria Habermann lief bereits rot an, als unten die Haustür geöffnet wurde und Schaffner Habermann seine Nichte begrüßte.

„Tante, ich bin wieder da!“ rief sie hinauf. Frau Habermann schnaufte heftig, ging die Treppe hinunter; Stephan stellte seinen Koffer ab und folgte ihr in einem gewissen Abstand. Er hielt sich aber zunächst im Hintergrund, hörte, wie Sandra fröhlich von ihrem Tag berichtete. Plötzlich stockte sie, als sie eine Gestalt im Dunkel hinter ihrer Tante bemerkte. Er trat ins Licht.

„Stephan?“, fragte sie verblüfft. Er nickte nur, sie sprang die drei Stufen zu ihm hinauf und fiel ihm vor Freude weinend um den Hals.

„Ich bin so froh, dich wiederzuhaben, Stephan!“, jubelte sie unter Freudentränen.

„Ich auch, mein Kleines“, erwiderte er, tief berührt von ihrem überschwänglichen Empfang.

„Sag, wo wohnst du?“, erkundigte sie sich. Die Eheleute Habermann sahen sich mit stummem Seufzen an.

„Na ja, eigentlich …“, setzte er an, aber Sandra ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Du bleibst hier!“, entschied sie. Er legte ihr vorsichtig den Zeigefinger an die rosigen Lippen.

„Sandra, mein Schatz, ich habe mich hier eingemietet und bereits gegen den Mietvertrag verstoßen, weil ich die Finger von dir lassen soll.“

Sie sah lange in seine warmen, braunen Augen, deren sanften Blick sie so schmerzlich vermisst hatte. Dann drehte sie sich zu ihren Verwandten um.

„Onkel Udo, du weißt doch, dass ich mit Stephan befreundet bin. Außerdem hatte ich mit Tante Maria schon geklärt, dass Stephan hier wohnen kann, falls er hier studiert“, rotestierte sie.

„Sandra, wir sind deinem Vater für dich verantwortlich“, erinnerte Schaffner Habermann.

„Ach was!“, widersprach sie heftig. „Ich bin volljährig. Papa ist sonst auch nicht so kleinlich!“

„Wir wollen keinen Ärger mit deinem Vater haben, falls etwas passiert“, warnte ihre Tante.

„Den werdet ihr nicht haben. Das garantiere ich euch“, erwiderte sie überzeugt. Ihre Worte wirkten offenbar Wunder, denn Habermanns nickten.

„Nun gut, wenn Sandra uns garantiert, dass ihr Vater nichts dagegen hat, dann gilt der Mietvertrag natürlich, Herr Steiner“, bestätigte Udo Habermann den Vertrag.

Kapitel 3

Aufstand der Milchbauern

Der warme Sommer des Jahres 1897 ließ die Weiden üppig sprießen. In Aventur schien das Gras immer noch ein bisschen grüner und schmackhafter zu sein, als anderswo. Die im Osten bis auf eine Höhe von fast zweitausend Meter aufragenden Gipfel des Aventurgebirges zwangen die meist von Westen her kommenden Luftmassen zum Aufsteigen, wobei sie zu Wolken kondensierten, die im welligen Vorland des Aventurgebirges abregneten und dort für die so besonders saftigen und kräuterreichen Weiden sorgten. Aventur war die Gegend für Milchbauern, weshalb die Provinz auch gern „Milchkanne Wenglands“ genannt wurde. Von hier kamen Wenglands beste Milch, die wohlschmeckendste Butter und der sahnigste Käse.

Die allerbesten Weidegründe lagen am Ostrand der Provinz, nur wenige Kilometer vor der eigentlichen Staatsgrenze, die sich über die unzugänglichsten Gipfel der Aventurberge zog. Gebirgskräuter wie Enzian durchsetzten die Almwiesen oberhalb von Rosenbach, das, obwohl es ein Bauerndorf von kaum sechshundert Einwohnern war, mit seiner Genossenschaftsmeierei geradezu als Milchhauptstadt Wenglands galt. Die Bauerngenossenschaft Aventur/Region Ost hatte in Rosenbach eine Niederlassung, die die örtliche Milch verarbeitete. Die Zentrale dieser Genossenschaft war in Christophstein, das gute siebzig Kilometer weiter westlich lag – ziemlich genau dort, wo die von Osten aus dem Gebirge herunterfließenden Flüsse Silvanur und Osteraventur mit den aus dem Süden kommenden Flüssen Aventur und Sillanur die Sprachgrenze zwischen Wilzarisch und Wenglisch markierten.

Und genau darin lag das Problem, jedenfalls für die Rosenbacher Bauern. Die Milchbauern von Rosenbach waren stockkonservative Wilzaren, die meist stur bei ihrer Sprache blieben und grundsätzlich nur den wilzarischen Namen Seleria für ihr Dorf benutzten, während die Genossenschaftszentrale in Christophstein eher wenglisch dominiert war.

Seit dem Frühjahr 1897 gärte es unter den Bauern, die dank ihrer hervorragenden Milchqualität wohlhabend geworden waren. In der Bauerngenossenschaft hatte es im März einen Führungswechsel gegeben. Der langjährige Regionalvogt der Genossenschaft, Mila Valadin, war siebzig Jahre alt geworden und hatte damit die von der Mehrheit der Genossenschaftsmitglieder einige Jahre zuvor beschlossene Altersgrenze für diesen Posten erreicht. Valadin stammte aus Rosenbach, war dort auch seit gut dreißig Jahren Bürgermeister. Er gehörte damit zu den letzten Bürgermeistern in Wengland, die noch von den Provinzgrafen eingesetzt worden waren. Die meisten eingesetzten Gemeindeoberhäupter waren bei den ersten demokratischen Wahlen 1885 auf Gemeindeebene abgewählt worden, Valadin dagegen war von seinen Rosenbachern nahezu einstimmig im Amt bestätigt worden und seither immer wiedergewählt worden. Auch bei der Genossenschaft hatte er keine Konkurrenz gehabt, weshalb die Bauern im Aventurgebirge eigentlich angenommen hatten, dass Valadin trotz der beschlossenen Altersgrenze angesichts einer fehlenden Alternative weitermachen würde.

Nachdem sich kein Wilzare aus der Bergregion gefunden hatte, der Valadins Nachfolger werden wollte, hatte der Obervogt der Genossenschaftszentrale in Christophstein, Herrmann Bauernfeind, außerhalb der Bergregion nach Bewerbern für den verantwortungsvollen Posten gesucht und mit Gilbert de Restignac auch jemanden gefunden.

De Restignac war der Spross der alten französischen Adelsfamilie Ibelin, die mit der wenglischen Königsfamilie verwandt war und seit 1195 in Wengland und seit über zweihundertfünfzig Jahren auch in Aventur ansässig war. Nachdem Bauernfeind den regionalen Mitgliedern der Genossenschaft de Restignac als Kandidaten für die Nachfolge Valadins vorgestellt hatte, hatten sich die Rosenbacher vehement gegen einen Wengländer als neuen Regionalvogt ausgesprochen.

Obervogt Bauernfeind hatte den Wilzaren der Region eine letzte Frist gesetzt, in der sich einer der ihren als Nachfolger bereit erklären sollte, doch es hatte sich keiner gefunden. So war es Ende März zur Wahl des einzigen Kandidaten für diesen Posten gekommen. Die Wengländer in der Genossenschaft hatten Gilbert de Restignac einstimmig zum Regionalvogt Ost gewählt, aber die Wilzaren in der Genossenschaft hatten ihm komplett die Gefolgschaft verweigert. Nur die Tatsache, dass die Wengländer in der Genossenschaftsregion eine kleine Mehrheit hatten, hatte seine Wahl überhaupt möglich gemacht.

Schon bald fühlten sich die Wilzaren in ihrer Ablehnung eines Wengländers als örtlichen Vogt der Bauerngenossenschaft bestätigt. Mila Valadin hatte sich stets dafür eingesetzt, dass die Bergbauern von Rosenbach ein höheres Milchgeld erhielten als die Bauern im Hügelland um Christophstein und Buchhausen oder in der Ebene bei Rothenfels. Er hatte dies immer mit der besseren Qualität der Milch begründet und war damit in der Regel auch auf Gehör bei den anderen Regionalvögten und den Handelspartnern der Genossenschaft gestoßen. Der Milchpreis wurde jedoch von Jahr zu Jahr neu ausgehandelt, schließlich war nicht jedes Jahr gleich, was Ernte und Weidebewuchs betraf.