Sterne, die im Sommer tanzen - Tarah DeWitt - E-Book

Sterne, die im Sommer tanzen E-Book

Tarah DeWitt

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Beschreibung

Wenn aus Fake Dating plötzlich echte Liebe wird: »Sterne, die im Sommer tanzen« ist ein humorvoller Liebesroman mit ganz viel Herz rund um eine idyllische Kleinstadt in Oregon, eine leicht verrückte Hobby-Farmerin und einen Sterne-Koch aus New York. Sage Byrd liebt ihr Leben in der beschaulichen Kleinstadt Spunes, deren Gemeinschaft wie eine zweite Familie für sie ist. Nur dem Sommerfest sieht sie dieses Jahr mit gemischten Gefühlen entgegen: Als Single kann sie mal wieder nicht am Kochwettbewerb teilnehmen – im Gegensatz zu ihrem Ex, der gerade mal ein Jahr nach der Trennung bereits verlobt ist! Für Sterne-Koch Fisher Lange aus New York ist der Sommer in Spunes dagegen eine erzwungene Auszeit. Er muss den Tod seiner Schwester verarbeiten und sich um seine trauernde 15-jährige Nichte Indy kümmern. Als attraktiver Single in einer Kleinstadt erregt Fisher allerdings schnell mehr Aufmerksamkeit, als ihm lieb ist. Das bringt seine neue Nachbarin Sage auf eine scheinbar geniale Idee: Warum geben sie nicht einfach den Sommer über vor, ein Paar zu sein? Dummerweise ist so ein Sommer kürzer als gedacht, und die Fake Dates fühlen sich bald gar nicht mehr so sehr nach Fake an … Tarah DeWitts Wohlfühlroman erzählt eine zauberhafte Liebesgeschichte mit viel Spice. Wer die »Gilmore Girls« oder »Virgin River« liebt, wird sich auch in Spunes wie zu Hause fühlen.

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Seitenzahl: 457

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Tarah DeWitt

Sterne, die im Sommer tanzen

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Holtsch und Fabienne Weuffen

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Sage liebt ihr Leben in der idyllischen Kleistadt Spunes, deren Gemeinschaft wie eine Ersatzfamilie für sie ist. Nur dem Sommerfest sieht sie mit gemischten Gefühlen entgegen: Als Single kann sie nicht am Kochwettbewerb teilnehmen – im Gegensatz zu ihrem Ex, der gerade mal ein Jahr nach der Trennung bereits verlobt ist! Für Sterne-Koch Fisher aus New York ist der Sommer in Spunes dagegen eine erzwungene Auszeit. Er muss den Tod seiner Schwester verarbeiten und sich um seine trauernde 15-jährige Nichte Indy kümmern. Als attraktiver Single in einer Kleinstadt erregt Fisher allerdings schnell mehr Aufmerksamkeit, als ihm lieb ist. Das bringt seine neue Nachbarin Sage auf eine scheinbar geniale Idee …

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

EPILOG

Danksagung

Das hier ist für mich, die ich im Dunkeln vor dem leuchtenden Monitor gesessen und genau hiervon geträumt habe. Lieber mutig als perfekt.

Okay, und vielleicht ist dieses Buch auch in gewisser Weise für James Acaster, der in einer Spezialfolge von The Great British Bake Off die Worte aussprach, in denen sich wohl alle kreativen Geister dieser Welt wiederfinden:

»Hab angefangen, hatte ’nen Nervenzusammenbruch … Bon appétit!«

Liebe Leserinnen und Leser,

 

obwohl diese Geschichte zwar vor Wärme, Liebe und Humor nur so strotzt, enthält sie auch ein paar ernstere und sensiblere Themen. Ein besonderes Thema, das ich in meinen Büchern aufgreifen möchte, ist, dass das Leben manchmal ohne Rücksicht auf Verluste unsere Pläne durchkreuzt. Und selbst wenn die besten Pläne und kühnsten Träume in Erfüllung gehen, können diese Erfolge manchmal zu einem Burn-out führen, weil wir mit jedem Erfolg nur noch mehr Druck verspüren und vergessen, uns Zeit für die schönen und wichtigen Dinge im Leben zu nehmen.

Hier also eine Triggerwarnung bezüglich folgender Themen, die in meinem Buch zur Sprache kommen:

Trauer

Tod eines geliebten Menschen (nicht explizit beschrieben)

Karriere-Burn-out

schwere Verletzungen

Wie immer hoffe ich, all dies mit Sorgfalt, Respekt und Umsicht behandelt zu haben. Und natürlich hoffe ich, dass Fishers und Sages Reise euch das Gefühl gibt, selbst irgendwo auf eurem Weg gesehen zu werden.

KAPITEL1

Sage

Na ja«, sage ich, »es sieht ziemlich … eigenwillig aus.«

Es hat nämlich Ähnlichkeit mit einem Phallus und ist mindestens 15 Meter hoch. Stolz ragt der turmartige Anbau des alten Lagerhauses samt Kuppel vor den Dächern im Hintergrund in den Frühsommerhimmel auf.

Wren, meine allerbeste Freundin (und Lieblingsmensch – genau wie ihr fast auch schon erwachsener Sohn), kann sich das Kichern kaum noch verkneifen.

»Wie haben die das Ding denn so schnell hochgekriegt?«, fragt sie unter prustendem Gelächter. »Lieber Himmel, da sind die Witze doch schon vorprogrammiert!«

»Hast du Sam nicht bekommen, als du gerade mal sechzehn warst? Da müsstest du eigentlich wissen, wie das mit dem ›Hochkriegen‹ geht«, antworte ich scherzhaft. Für eine Millisekunde reißt Wren schockiert die Augen auf, bevor wir beide einen Lachkrampf kriegen.

»Wie ich sehe, habt ihr beiden Ladys das alles überragende Prachtstück auch entdeckt«, sagt Athena Cirillo und verzieht belustigt die Lippen. »Gestern wurde das Gerüst abgebaut.« Mit wehendem, schneeweißem Haar überquert sie die Promenade und gesellt sich zu uns.

»Morgen, Sprout«, begrüße ich den Belgischen Zwerggriffon, der unter ihrem Arm klemmt und mich mit einem Blinzeln aus seinen wässrigen Knopfaugen bedenkt.

»Weißt du, was das sein soll?«, fragt Wren mit einem Nicken in Richtung des Bauwerks. Als Besitzerin der Buchhandlung ist Athena unsere persönliche allwissende Kleinstadtgöttin und immer für eine Insiderinformation gut.

Sie dreht sich zu dem alten Lagerhaus um und schüttelt den Kopf. »Ich weiß nur, dass die Fläche für Gastronomie oder Einzelhandel freigegeben ist.«

»Hm«, machen Wren und ich im Chor. In dem alten Backsteingebäude in vorderster Lage an der Promenade hat sich seit Ewigkeiten nichts getan. Jedenfalls nicht, solange ich denken kann. Hier in Spunes, Oregon, hat kaum noch jemand von dem Gebäude Notiz genommen. Im schattigen, gefliesten Außenbereich fand alle zwei Wochen der Bauernmarkt statt, und innen wurden Fahnen, Feiertagsdekoration und solches Zeug gelagert.

Bis vor Kurzem. Vor einigen Monaten wurde das Gebäude vollständig leergeräumt, und ein paar Wochen später begannen die Umbauarbeiten.

»Ich tippe auf Gastronomie«, erklärt Athena. »Einzelhandel käme eher infrage, wenn es noch mehr Läden in der Nähe gäbe. Aber Martha läuft schon gegen beides Sturm. Und das da trägt nicht gerade zur Beschwichtigung bei«, fügt sie mit einem ergebenen Seufzer hinzu. »Also dann, ich muss los, den Laden aufschließen. Habt einen tollen Tag, Ladys. Und handelt euch keinen Ärger ein!«

Nachdem wir Athena auch einen schönen Tag gewünscht haben, drehen wir uns wieder um und betrachten schweigend das Gebäude samt Turm.

»Tja …«, sinniere ich begeistert bei der Aussicht auf ein neues Restaurant. Prompt denke ich an meine Sammlung von Kochzeitschriften, an die vielen komplizierten Gerichte, die ich gern nachkochen würde, aber vermutlich nicht werde. Und trotzdem juckt es mir augenblicklich in den Fingern, etwas Neues auszuprobieren.

Synchron drehen wir uns die Köpfe zu. »Tja …«, wiederholt Wren. »Wie zur Hölle hat dieser Phallus-Palast denn eine Genehmigung bekommen? O’Doyle würde das doch niemals hinnehmen.«

»Was würde ich niemals hinnehmen?«

Wir halten beide die Luft an und stehen sofort stramm. Mrs Martha O’Doyle, die Inhaberin von O’Doyles Lebensmittel und Alltagsbedarf – in Spunes die schnelle Anlaufstelle für alles Mögliche, von Hühnerfutter bis zu Sportartikeln – betritt gemächlich unser Sichtfeld. Sie hebt den Kopf, und ich umkralle schon mal Wrens Handgelenk.

»Meridian«, redet unsere selbsternannte Stadterhalterin Wren an und nimmt sie mit zusammengekniffenen Augen kritisch ins Visier. Seit O’Doyles Petition gegen die Außendekoration der Bäckerei zu Weihnachten vor zwei Jahren können die beiden nicht mehr miteinander. Bloß weil die elfenartige Aufklappfigur nicht O’Doyles konservativem Geschmack entsprach.

»O’Doyle«, entgegnet Wren tonlos.

Ich höre schon die drohende Italo-Western-Melodie und schiebe mich zwischen die beiden, ehe das Ganze auf einen High-Noon-Showdown hinausläuft. »Wir dachten nur, dass Sie ein solches Bauwerk in Spunes doch niemals akzeptieren würden.« Ich muss mir in die Wange beißen, um nicht loszulachen. »Etwas … so Monströses.« Jetzt lieber nicht weiter anstacheln. Jeder hier weiß, dass der Verkauf und Umbau dieses Gebäudes O’Doyle ein Dorn im Auge ist. Kein Wunder, dass sie sich mit einer Reihe penibler Beschwerden an das County gewandt hat – nur dass sie damit nicht durchgekommen ist.

Die Furchen in ihren gekräuselten Lippen werden tiefer. »Wovon in aller Welt redet ihr überhaupt?« Doch dann dreht sie sich langsam zu dem aufragenden Teil um, und ich schubse Wren ein Stück vorwärts, damit wir entkommen können. Erst als wir in sicherem Abstand sind, werfe ich einen Blick über die Schulter und sehe, wie O’Doyle auf die Erhebung mit der Kuppel starrt und ihr Mund vor Entsetzen auf- und wieder zuklappt.

»O Gott, jetzt hat sie der Schlag getroffen«, sage ich mit kaum verhohlener Belustigung zu Wren.

Wren packt mich am Arm und bringt mich abrupt zum Stehen. »Also hör mal! Gestern hast du Sam gefragt, ob er ›an Schwermut‹ leidet und jetzt dieser Spruch? Ich muss dich echt davon abbringen, ständig den Spirit des Viktorianischen Zeitalters heraufzubeschwören. Nimm doch lieber den einer modernen, toughen Frau unter dreißig! Von uns gibt es in dieser Stadt doch kaum noch welche.«

»Du bist einunddreißig, Süße.« Zweiunddreißig, um genau zu sein, auch wenn Wren immer so tut, als hätte sie ihren letzten Geburtstag gar nicht mitbekommen, und ich ihr das durchgehen lasse. Wren senkt unheilvoll den Kopf, und ich ziehe mit gespielter Betretenheit die Nase kraus. »Schon gut. Ich räume ja ein, dass ich bei der Recherche für das Festival-Quiz ein bisschen abgeschweift bin. Aber da du mir nicht beistehen willst, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich irgendwie in meiner neu entdeckten, althergebrachten Mundart zu üben.« Ich zucke mit den Achseln.

Wren tut meine Worte mit einem Lachen und einem Kopfschütteln ab. »Ich wage zu bezweifeln, dass in dem Quiz irgendetwas zu dem damaligen Slang vorkommt.«

»Warum denn nicht? Man kann nie wissen. Irgendwie geht es doch immer um die Zeit der Gründerväter. Die versuchen nur jedes Jahr, die Fragen umzuformulieren.«

»Bist du sicher, dass keiner deiner Brüder mitmachen will? Hast du überhaupt schon alle drei gefragt?«

»Nein, die wollen nicht. Und ich will auch gar keinen meiner Brüder dabei haben. Das wäre nur noch demütigender.« Ich werfe ihr einen betont hilflosen Blick zu. »Willst du es dir nicht doch noch mal überlegen?«

Wren zieht eine Grimasse. »Ich hasse solche Wettbewerbe. Außerdem braucht Mom mich in der Bäckerei. Ach, da ich gerade von Mom rede …« Sie schaut plötzlich nachdenklich und ein bisschen traurig drein, während sie sich auf die Unterlippe beißt. Sofort macht sich Panik in meinem Brustkorb breit.

»Was ist los? Geht es ihr nicht gut?«

»Doch. O Gott, Sage, tut mir leid. Mom geht es total gut. Es ist nicht … nicht so etwas.« Beruhigend drückt sie meinen Ellbogen. Ich atme erleichtert auf und schüttele den Anflug von Angst ab.

Wenn man seine Eltern in so jungen Jahren verloren hat wie meine Brüder und ich, macht man sich wohl immer auf das Schlimmste gefasst. Als müsse man ständig mit einem weiteren Verlust rechnen.

»Es ist nur so, dass Ian gestern mit Cassidy bei uns war«, sagt Wren zur Erklärung.

Ich versuche, einen unverbindlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Was hast du denn erwartet, Wren? Hier gibt es nur eine Bäckerei. Dass die zu euch kommen, war doch klar.« Leichtes Achselzucken meinerseits, wenn auch etwas steif. »Und selbst wenn es hier ein Dutzend Bäckereien gäbe, wäre Savvys immer noch die beste.«

»Mom hat sich geweigert, eine Bestellung von ihnen anzunehmen.«

Ich stöhne auf. »O nein! Das ist nicht wahr, oder?«

»Nun, also … nicht direkt. Aber sie ist nach hinten gegangen und hat Cassidy dort halblaut eine unscheinbare, hinterhältige Zicke genannt. Als sie dann wieder in den Laden ging, hat sie Ian gefragt, ob er etwa eine Glatze kriegt, hat ihm alles Mögliche aufgezählt, was er dagegen tun soll, und ihn damit sichtlich auf die Palme gebracht. Und dann hat sie den beiden gesagt, sie habe keine Kapazitäten frei.«

Ein trockenes Lachen schüttelt mich. »Ich glaube dir kein Wort. Savannah Meridian ist eine Seele von Mensch.« Ich wage zu behaupten, nicht einmal je so etwas wie ›verdammt noch mal‹ von ihr gehört zu haben.

»Stimmt genau! Und deshalb würde es ihr auch niemals einfallen, ihre Ansicht über die Sache zu ändern«, antwortet Wren vergnügt.

»Wren, das mit Ian und mir ist seit über einem Jahr vorbei! Wie würdest du es denn finden, wenn ich nicht mehr mit Ellis reden wollte?«

Ihre karamellfarbenen Locken wippen, als sie skeptisch den Kopf schief legt. »Ich finde, das ist etwas anderes. Ellis ist schließlich dein Bruder.« Ihr Gesichtsausdruck wird ernst. »Außerdem hat er mich nicht nach fünf Jahren ohne weitere Erklärung verlassen und direkt etwas mit einer Freundin von mir angefangen. Und ihr nach einem Jahr einen Heiratsantrag gemacht.« Sie wendet ihr Gesicht ab und fügt hinzu: »Unsere Ehe ist in die Brüche gegangen, weil Ellis und ich beide Fehler gemacht haben.«

Ich antworte mit einem Schnauben. Dann könnt ihr diese Fehler vielleicht auch beide beheben, würde ich am liebsten sagen. Aber ich halte mich zurück und erwidere stattdessen eindringlich: »Ihr seid meine besten Freundinnen. Irgendwie sogar meine einzigen, was letzten Endes mich in dieser Konstellation zu ›der anderen‹ macht. Dein Vergleich hinkt also von Anfang an.« Ich hebe eine Eiscremeverpackung auf und werfe sie in den Papierkorb. »Für mich ist alles in Ordnung, Wren, ehrlich. Und das Letzte, was ich will, ist, dass Sav und du meinetwegen auf Umsatz verzichtet.« Bevor ich weiterspreche, sehe ich ihr bewusst in die Augen. »Du müsstest doch besser wissen als jeder andere, dass alles zwei Seiten hat. Und dieser Ort ist zu klein, als dass sich alle Leute auf meine Seite schlagen könnten … zumal Ian wohl nie von hier wegziehen wird, weil sein Vater ja der verdammte Bürgermeister ist.«

Wir lassen uns auf unsere Lieblingsbank am Ende des Weges sinken. An dieser Bank haben wir uns immer getroffen, als Sam noch ein Baby war. Ich war erst zwölf, als er geboren wurde, aber manchmal habe ich auf ihn aufgepasst. Als er noch im Kinderwagen saß, bin ich an den Wochenenden oder nach der Schule mit ihm spazieren gegangen, wenn Wren Dienst in der Bäckerei hatte. Für drei fünfzig die Stunde war ich das einzige Kindermädchen, das Ellis und Wren sich leisten konnten. Trotz der vier Jahre Altersunterschied und unserer verschiedenen Lebensumstände wurden Wren und ich in jener Zeit zu besten Freundinnen. Zu Freundinnen, die nicht mal ihre Scheidung von meinem Bruder auseinanderbringen konnte.

* * *

Eine Weile sitzen wir in einträchtigem Schweigen da, schauen auf die Wellen in der Ferne und lauschen dem Kreischen der Möwen. Ich fasse meine Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen und genieße die wärmende Sonne auf meiner Haut, obwohl ich die neuen Sommersprossen direkt mitzählen könnte.

Der Frühsommer an der Nordküste des Pazifiks war schon immer meine Lieblingsjahreszeit, besonders hier in dem alten Städtchen oberhalb der Klippen, wo die Luft salzig und kühl ist. Die Sonne schafft es meist bis zum Nachmittag, die Wolken aufzulösen, und vom Meer weht immer eine frische Brise herüber, sodass die Haut sich nie klebrig anfühlt. Als ich die Augen wieder öffne, fällt mir plötzlich auf, dass Wren mich abermals traurig ansieht.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, frage ich lachend.

Sie mustert mich prüfend. »Ich finde es einfach nicht fair«, sagt sie schließlich.

Ah, es geht also immer noch um meinen Ex.

Ich stoße einen Seufzer aus, lächle jedoch und sage: »Es ist alles gut, Wren. Backt ihm einfach diese Hochzeitstorte. Wenn die Carvers hier tatsächlich etwas zu sagen haben, bringt euch das eine Menge Publicity.«

»Mal sehen«, lautet ihre knappe Antwort. »Darüber, wie die Geschäfte laufen, brauchen wir uns während des Festivals sowieso keine Gedanken zu machen.« Ihr Lächeln wirkt etwas bemüht, dann wirft sie einen Blick auf ihr Handy. »Ich muss den Laden aufmachen. Kommst du mit? Ich habe eine Kokosschnitte mit weißer Schokolade vorbereitet.«

»Kann leider nicht. Ich will noch beim O’Doyles reinspringen, um Futter zu holen, und dann das Haus der Andersens herrichten. Die Mieter kommen heute.«

Wren verdreht die Augen. »Die Andersens sollten sich mal eine Hausverwaltung leisten, so wie alle anderen Ferienhausvermieter auch.«

»Sie sind doch nur für ein halbes Jahr weg, aber alle Hausverwalter machen ausschließlich Jahresverträge«, erkläre ich ihr. »Außerdem ist es nur ein Football-Feld von mir entfernt.« Und das wortwörtlich. Den Abstand zwischen den beiden Grundstücken habe ich selbst mal gemessen, in den Sommerferien nach dem siebten Schuljahr – einem extrem langweiligen Jahr.

»Das Ganze gefällt mir eh nicht«, sagt Wren und sticht mich mit dem Finger in die Seite. »Was, wenn es irgendein Spinner ist, der das Haus für den ganzen Sommer gemietet hat? Dann bist du mit dem allein da draußen. Warum mietet der das Haus überhaupt für den ganzen Sommer? Das Festival ist doch erst im August. Was will man denn vorher hier? Normalerweise kommen die Touristen immer erst später.«

Andere Orte in der näheren Umgebung sind außerhalb der Saison tatsächlich viel attraktiver. Yoos Bay hat sonnigere Strände, und im Landesinneren gibt es einige größere, idyllischere Städtchen mit Weihnachtsbaumfarmen oder Weingütern, die immer gut besucht sind. Gandon zum Beispiel ist sehr malerisch.

Spunes hingegen liegt größtenteils zwischen den Klippen hoch über dem Meer. Das heißt, selbst wenn man nur einen kurzen Spaziergang machen will, kommt es einem vor wie eine Bergwanderung. Der Hafen unterhalb der Klippen ist zu klein für Fischereiflotten, nur kleinere Boote können dort anlegen. Unsere Feierlichkeiten am vierten Juli können nicht mit denen im nächsten County konkurrieren, und im Juni herrscht noch das typische bewölkte Oregon-Wetter. Also bleibt uns nur der August. Ein einziger Monat, in dem das gegen alle Widrigkeiten und Chancen erbaute Örtchen das trockenste der Umgebung ist und viele der Geschäfte den Gewinn eines ganzen Jahres einfahren.

»Wie wir bereits bis zum Erbrechen erörtert haben, meine Liebe, habe ich nicht die leiseste Ahnung«, sage ich auf Wrens Fragen zu dem geheimnisvollen Mieter. »Aber ich habe kein Problem damit, ein paar Mal im Monat im Haus der Andersens nach dem Rechten zu sehen und sauber zu machen. Ich habe doch den ganzen Sommer lang frei.« Dann wuchte ich mich von der Bank hoch und nehme Wren schnell in den Arm, um die Debatte abzukürzen. »Sieh zu, dass du nicht zu spät kommst.«

»Ja, ja, bis morgen.« Sie winkt mir zum Abschied.

Ich schicke ihr noch eine Kusshand hinterher und dann gehe ich in die entgegengesetzte Richtung, vorbei an den wohlbekannten Geschäften, während ich die noch wohlbekannteren Leute grüße. Auf der anderen Seite der Hauptstraße hängt ein Transparent mit der Aufschrift Das Spunes-Festival feiert sein 150-jähriges Jubiläum.

Jede freie Fläche ist zugekleistert mit Flyern und Plakaten, auf denen Bilder vergangener Saisons zu sehen sind: Founder’s Point voller Kanus, die Promenade voller Verkaufsstände und mit massenhaft Besuchern. Das O’Doyles hat zusätzlich eine komplette Wand dem Labyrinth gewidmet, das Jahr für Jahr in den Sand geharkt wird und wo dann zahllose Menschen in meditativer Versunkenheit wandeln. Aber auf den meisten der anderen Fotos sind Szenen der Festival-Veranstaltungen zu sehen: Kanurennen, Kostümfeiern, Kochwettbewerbe … Und, wie mir in dem Moment, als ich daran vorbeigehe, einmal mehr auffällt, ein Bereich ist den Gewinnern der Festival-Wettkämpfe eines jeden Jahres gewidmet. Da diese Bilder die größten sind und obendrein gerahmt, kann man sie gar nicht übersehen.

Ian und Cassidy lächeln mich vom Siegerfoto des letzten Jahres triumphierend an, als ich gerade eine Tüte Futter auf die Ladentheke lege. Daneben hängen Fotos von Ian mit meinem mittleren Bruder Silas aus zwei aufeinanderfolgenden Jahren, in denen die beiden noch unzertrennlich waren. Und dann sind da noch Ian und sein Vater – Bürgermeister Ian Carver Senior – sechs Jahre zuvor. Ian hat die Festival-Wettbewerbe gewonnen, seit er achtzehn ist. Dieses Jahr vermutlich zum zehnten Mal nacheinander.

So wie immer küsse ich meine Fingerspitzen und drücke sie dann auf das jahrzehntealte Foto von meiner Mom und meinem Dad aus dem Jahr, als sie die Gesamtsieger waren.

Nachdem ich das Wechselgeld in die Hosentasche gesteckt, mich verabschiedet und den Laden verlassen habe, setze ich mich samt dem Futter in meinen Truck, um nach Hause zu fahren, während mir die gleichen Gedanken durch den Kopf gehen wie seit Monaten.

So sehr mich die Geschichte damals auch überrascht hat, bin ich nicht eifersüchtig auf Cassidy, weil sie jetzt mit Ian zusammen ist. Sie kann ihn gern haben. Besser sie als ich.

Was mir dabei gegen den Strich geht, ist nur, dass ich, wenn ich denke, besser sie als ich, auch denke, sie ist besser als ich. Sie ist Ärztin, kommt aus einer Familie von Ärzten und Anwälten, die Spunes seit Generationen und bis zum heutigen Tag entweder verlassen, um etwas Großes und Wichtiges zu tun oder um sich zuerst irgendwelche Titel zuzulegen und dann als eine Art Zugeständnis oder wegen einer Verpflichtung zurückzukehren. Nach dem Motto: »Ich muss sowieso in Moms Nähe bleiben, und die Schulen in So-und-So-County (immer im übernächsten) haben ja einen so guten Ruf!« Als würden sie jemandem einen Gefallen tun, wenn sie einfach … hierbleiben.

Für meine Familie gilt das nicht. Jedenfalls nicht für mich.

Was mir zu schaffen macht, sind eigentlich gar nicht Ian und Cassidy. Es ist nicht mehr diese Art von Eifersucht, die mir den Magen zugeschnürt hat. Aber es ist nun mal so, dass diese Stadt ebenso meine ist wie Ians. Schon vor zwei Jahren bin ich dem Komitee zur Organisation des diesjährigen Festivals beigetreten. Ich habe Artikel über die vorherigen Festivals verfasst und an die größeren Zeitungen im County geschickt, um Publicity für die Veranstaltungen zu machen. Ich habe eine Marketingkampagne gestartet und Social-Media-Seiten eingerichtet. Ich habe anderen Leuten gezeigt, wie sie diese Seiten zur Werbung für ihre eigenen Geschäfte nutzen können – Leuten, die, bevor ich ihnen geholfen habe, eine ziemliche Aversion gegen neue Technologien hatten. Ich bin hier diejenige, die etwas dazu beigetragen hat, aus dem Festival eine größere Touristenattraktion zu machen als in den letzten zehn Jahren.

Also würde ich selbst auch gern mal einen kleinen Sieg einfahren. Selbst wenn ich Ian nicht schlagen kann, würde ich auch gern mal erwähnt werden. Ich will es wert sein, erwähnt zu werden.

Zudem bin ich es, glaube ich, einfach leid, nicht ernst genommen zu werden. Ich war es schon leid, als ich noch mit Ian zusammen war. Es stand mir bis oben hin, immer von allen anderen das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass ich mich in Bezug auf ihn glücklich schätzen müsse. Als wäre es etwas ganz Besonderes, dass sich Ian Carver dazu herabgelassen hatte, mit mir zusammen zu sein – mit dem bedauernswerten Waisenkind. Mit dem braven, unscheinbaren Mädchen, aus dem eine Frau geworden ist, die sich wohl in ihrer Haut fühlt. Was für ein Glück ich doch hatte!

Eigentlich komme ich mir bei all dem bloß vor wie ein dämlicher Loser, und das bin ich so was von leid. Ich bin es leid, ständig mit Mitleid betrachtet zu werden, wenn ich nicht ohnehin übersehen werde. Ich will … einfach wissen, was für ein Gefühl es ist, wenn man gewinnt! Und ich glaube, das ist nicht zu viel verlangt.

Ich hatte in meinem Leben nie große Ambitionen. Ich hatte Träume, aber dabei ging es immer um ganz einfache Dinge. Ich selbst finde, ich habe sie verwirklicht. Ich will glücklich sein. Und wenn ich das Gesamtbild betrachte, bin ich das auch. Es macht mir Freude, zu unterrichten und mit jungen Leuten zu arbeiten. Ich habe das große Glück, kleine Klassen zu haben, und es kommt mir zugute, dass ich die Kids alle von klein auf kenne und meistens auch ihre Familien. Ich habe keine Hypothek, weil wir mit der Lebensversicherung unserer Eltern das Haus abbezahlen konnten und ich meine Brüder ausbezahlt habe, als ich achtzehn wurde. Die 10.000 Dollar Preisgeld für den Gesamtsieg beim Festival wären natürlich ein willkommenes Polster, aber auch ohne das übersteigen meine Rechnungen nicht meine finanziellen Mittel, und ich kann mir immer den ganzen Sommer lang freinehmen und brauche nicht in der Summer School zu unterrichten. Ich liebe meine Tiere und meinen Garten. Ich liebe mein Haus, meine Stadt, meine Leute.

Und ja, ich hätte auch gern jemanden an meiner Seite. Aber ich weigere mich, mir die Freude am Leben nehmen zu lassen, weil ich so jemanden noch nicht gefunden habe. Es wäre nur schön, mein Leben mit einem Menschen zu teilen, der mich liebt und zu schätzen weiß.

Als mein Zuhause in Sicht kommt, navigiere ich den Truck mit einem Lächeln auf den Lippen über die kurvige Schotterzufahrt. Zwei Stockwerke, nicht besonders groß – mit einer kleinen Veranda vorn und einem Wintergarten, der sich an die Rückseite des Hauses schmiegt. Mit den Einnahmen vom Bauernmarkt aus dem letzten Jahr konnte ich es mir sogar leisten, das ganze Haus weiß streichen zu lassen.

Das Lächeln vergeht mir allerdings sofort, als ich meine Wolfshündin aus Richtung der Andersens quer über die Wiese laufen und mit einem Satz über den Zaun springen sehe.

»SABLE!«, rufe ich mit möglichst strenger Betonung auf beiden Silben.

Mit flatternden Ohren macht sie eine Vollbremsung und dreht sich zu mir um. Dann flitzt sie mit eingezogenem Kopf weiter über die Wiese und versucht, sich unauffällig auf die Veranda zu schleichen.

»Ich SEHE dich, Sable!«, rufe ich sinnloserweise.

Nina Andersen hat so schon panische Angst vor ihr. Wenn sie auch noch mitbekommt, dass sie über den Zaun springen kann, will sie ihn bestimmt erhöhen.

Als ich den Truck abgestellt und das Futter ausgeladen habe, hat sich der Köter mit der Größe eines Ponys schon auf der Veranda ausgestreckt und lässt den Kopf über die oberste Stufe hängen. Das reinste Bild der Unschuld.

Mit einem ergebenen Seufzer setze ich einen skeptischen Blick auf – den Sable mit einem Schnauben quittiert.

»Schon klar. Was interessieren dich auch meine Probleme!«

* * *

Der Rest des Tages plätschert unspektakulär dahin. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass bei den Andersens alles wie abgesprochen an Ort und Stelle ist, lege ich den Schlüssel in die Zahlenschloss-Kassette. Trotz Wrens Bedenken kommt mir der Gedanke, dass es doch ganz nett sein kann, den ganzen Sommer über dieselben Nachbarn zu haben. Dann brauche ich meine Tiere nicht immer wieder neuen Leuten vorzustellen und spare mir alle möglichen skurrilen Begegnungen an der Scheune auf der Grenze unserer Grundstücke.

Ich schlüpfe in ein Bikinioberteil und abgeschnittene Jeans, um noch etwas die Sonne zu genießen, werfe mir aber meinen Kimono über die Schultern – schließlich will ich in Bezug auf meine Haut nicht leichtsinnig sein. Die Eier der Hennen sind eingesammelt, mein Clydesdale-Kaltblüter Bud hat seinen Hafer und seine Streicheleinheiten bekommen. Wenn auch unbeabsichtigt, terrorisiert Sable die Gänse, und ich stelle meine Ohrstöpsel auf volle Lautstärke, während ich die Gartenarbeit und was sonst noch anfällt erledige. Ich halte meinen Körper und meinen Geist auf Trab, bis für nichts anderes mehr Platz ist als für die kleinen gegenwärtigen Freuden. Die Freude an meiner um mich herumhüpfenden Riesenhündin und meinem verschrobenen dreibeinigen Kater, der von der Wiese zum Haus schlendert. Leggieless weist Sable mit einem Tatzenhieb auf die Schnauze in die Schranken und sichert sich auf der Veranda ein Plätzchen in der Sonne.

Mehr brauche ich nicht an meinem Rückzugsort.

Es ist ein schönes Leben, und obwohl ich allein bin, bin ich dank all der Menschen, die mir lieb und teuer sind, und der Tiere, die immer mehr werden, so gut wie nie einsam.

* * *

Nach dem Abendessen lackiere ich mir zur Entspannung im Wintergarten die Nägel, und als sich die Dunkelheit über unseren kleinen Hügel senkt, lasse ich angenehm erschöpft meinen Kopf aufs Kissen sinken.

* * *

Dass die Mieter des benachbarten Anwesens irgendwann eingetroffen sind, merke ich nur, weil Sable mitten in der Nacht zu winseln anfängt – kurz bevor ich die Sirenen höre und die Blaulichter des Polizeiwagens und des Feuerwehrautos sehe, die inmitten einer Staubwolke vorbeirasen.

KAPITEL2

Fisher

War jemals etwas so gut, dass du es von dir stoßen wolltest? Vielleicht ein Film, ein Buch oder ein Urlaub – so derart unvergesslich, dass du dich gegen sein Ende gewehrt hast? Dass du auf Pause drücken und das Unausweichliche hinauszögern wolltest?

Irgendein Trottel hat einmal in einem Interview erzählt, dass er genau dieses Gefühl mit seinem Essen erreichen wollte. Er wollte, dass jedes Gericht so umwerfend ist, dass die Leute zu essen aufhören. Er wollte reine kulinarische Ekstase servieren. Er wollte, dass es die Leute nach mehr verlangte, noch bevor sie ihre Mahlzeit beendet hatten.

Tja.

Tja, dieser Trottelwar ich einst, und ironischerweise kann dieser Roadtrip für mich gerade gar nicht schnell genug enden.

»Vielleicht ist dieses Downgrade ja gut für dich«, ertönt die bissige Stimme meiner Nichte Indy vom Rücksitz. »Vielleicht erweitert etwas fettige Hausmannskost ja deinen Horizont.«

Selbst wenn dieser Kommentar nicht vor jugendlicher Verachtung triefen würde, hätte ich ihn als Falle erkannt. Sie weiß, dass ich bis vor drei Monaten ein Drei-Sterne-Restaurant geführt habe, und sie weiß, dass ich diesen Auftrag nicht angenommen habe, um meine Fähigkeiten zu erweitern. Sie weiß ganz genau, dass ich schon oft gedemütigt worden bin. Aber wahrscheinlich wird auch sie immer unruhiger, je näher wir unserer vorübergehenden Unterkunft für diesen Sommer kommen.

»Hat das neue Restaurant schon ein Thema?«, fragt sie. »Schmorpfanne mit einer Prise Ignoranz?«

Wow. Wir sind jetzt seit sieben anstrengenden Tagen unterwegs. Ich hätte gedacht, dass Fahren statt Fliegen uns beiden guttun würde – nicht nur, weil ich so all meine Küchenutensilien mitschleppen kann, sondern weil wir außerdem Zeit hätten, wieder zueinander zu finden. Die Therapeutin, zu der wir seit einem Monat gehen, hat mir gesagt, ich solle mich eine Zeit lang nach Indy richten, sie die Führung übernehmen und sie sich mir öffnen lassen … Das Problem dabei ist allerdings, dass sie einfach nicht nachgibt und keinerlei Anstalten macht, das Zepter in die Hand zu nehmen. Sie hat ihre Kopfhörer in New York aufgesetzt und sie während der gesamten Fahrt nicht runtergenommen; abgesehen von den gelegentlichen Pausen, um neue Kräfte zu tanken, mir spitze Bemerkungen zuzuwerfen oder mich zu verdächtig unpassenden Zeiten wissen zu lassen, dass sie mal aufs Klo muss. Anfangs habe ich ständig versucht, Gespräche anzuleiern, bloß, um im Gegenzug ein paar einsilbige Antworten zu erhalten. Also habe ich es nach einer Weile aufgegeben. Den Rest unserer Reise verbrachte ich in einem selbst hervorgerufenen, benebelten Zustand. So als würde meine Sicht verschwimmen und als würde ich versuchen, mich absichtlich nicht auf das Gesagte zu konzentrieren, aber trotzdem voll funktionsfähig zu bleiben. Ein Trick, den ich mir angeeignet habe, als ich zu Beginn in der Spitzengastronomie dauernd angeschrien und beschimpft wurde. Man bekommt zwar noch das Wesentliche von all dem mit, was einem entgegengeschrien wird, aber die Worte treffen einen nicht mehr allzu hart.

Jetzt, da wir unserem Ziel augenscheinlich immer näherkommen, kocht Indys Ärger ebenfalls immer mehr hoch. Aber auch wenn ich sie nicht davon abhalten will, etwas mit mir zu teilen, glaube ich nicht, dass es produktiv wäre, ihr uneingeschränkt in allem zuzustimmen.

»Weißt du, ich glaube, wir müssen uns beide vor Augen halten, dass wir quer durchs Land reisen und nicht in der Zeit zurück«, sage ich daher. »Vielleicht sollten wir es mal mit Optimismus versuchen.« Es klingt und schmeckt nach Scheiße, als diese Worte meinen Mund verlassen.

Indy schnaubt und starrt mich im Rückspiegel verächtlich an, woraufhin ich noch einen draufsetze.

»Vielleicht ist Spunes ja gar nicht so furchtbar und klein, wie wir denken. Archer meinte, in den Neunzigern hätte es mal einen Olympiasieger von dort gegeben.« Eher langweilig als Funfact, aber ich denke, dass sich Indy im Moment am meisten dafür interessiert, ob es an einem Ort irgendetwas Spektakuläres gibt.

»Sieger in was?«, fragt sie. »Wofür gab’s die Medaille?«

»Langstreckenlauf, glaube ich.«

Sie gibt ein tiefes, süffisantes Lachen von sich. »Echt ironisch, findest du nicht? Selbst die Bewohner dieses Ortes wollen nichts anderes, als so weit wie möglich davonzulaufen.« Damit setzt sie wieder die Kopfhörer auf und lehnt sich an ihr Fenster.

Ja, jetzt erkenne ich die Ironie. Das habe ich wohl verbockt. Ich seufze und checke die Route auf meinem Navi. Immer noch acht Stunden, bis wir in Spunes sind, also kommen wir erst weit nach Mitternacht an. Normalerweise halte ich in solchen Fällen irgendwo und suche uns ein Hotel, aber es ist klar, dass wir beide ziemlich durch sind, und das Ferienhaus wurde ohnehin schon für die heutige Nacht von meiner Chefin bezahlt.

Ich fahre mit dem Truck zurück auf den Highway, und wie so oft schweifen meine Gedanken ab, und ich frage mich, ab welchem Zeitpunkt genau eigentlich alles schiefging. Wieder und wieder gehe ich gedanklich alle Schritte und Fehltritte durch, die dazu geführt haben, dass ich vor drei Monaten nach fünfzehn Jahren voller Herzblut als Koch meinen Job verloren habe.

Manchmal glaube ich, dass alles schon mit dieser ersten schlechten Kritik vor fünf Jahren begonnen hat. Als ich über die Feiertage nach Hause fahren wollte, die Reise aber stornierte, weil eine gewisse Food-Bloggerin ins Marrow kommen würde, nur um meine Rinderbäckchen letzten Endes als »uninspiriert« zu bezeichnen.

Vielleicht ist ja etwas zerbrochen, als ich vorletztes Jahr wegen Pfeifferschen Drüsenfiebers ausgefallen und dann in eine Küche zurückgekehrt bin, in der man sich ohne mich deutlich wohler zu fühlen schien.

Vielleicht ist es auch einfach nicht möglich, einen gewissen Standard über einen so langen Zeitraum aufrechtzuerhalten, in dem jede Sekunde zählt und jedes kleine Detail wichtig ist.

Was auch immer es war, ich schleppe mich weiter damit herum, weil ich denke, dass Selbstreflexion das ist, was ich jetzt tun sollte. Ich versuche, endlich wieder etwas zu fühlen – sei es Sehnsucht nach meiner Karriere oder Wut darüber, dass sie vorbei ist –, aber da ist so gut wie nichts. Außer vielleicht der bittere Nachgeschmack von Scham und Blamage.

Nur eines weiß ich mit Sicherheit, nämlich dass all das nach dem Autounfall meiner Schwester vor drei Jahren nicht länger wichtig war.

Unfall. Was für ein harmloses Wort, um etwas zu beschreiben, das die Existenz eines Menschen schlagartig ausgelöscht und das Leben aller Angehörigen verändert hat. Eine ganz normale Besorgung an einem ganz normalen Tag, ein Moment der Unachtsamkeit oder Ablenkung oder … Ich weiß nicht, was es war. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich weiß nicht einmal, warum ich es gern wüsste. Es ist ja nicht so, als würde das irgendetwas ändern. Jedenfalls nichts von Bedeutung. Es hätte weder die Position der Leitplanke geändert noch Freya daran gehindert, mit dem Auto die Böschung hinunterzustürzen. Es würde sie weder zurückbringen noch die Tatsache ändern, dass meine verwaiste Teenie-Nichte, die vor zwei Monaten aus dem Haus meiner Eltern ausgebüxt ist, jetzt auf meinem Rücksitz sitzt – zu Recht wütend auf die Welt und zu Recht ebenso wütend auf mich.

Ich gebe mein Bestes, um meine Gedanken unter Kontrolle zu halten, und versuche, mich an dem Goldgrün der Landschaft um mich herum zu erfreuen, während ich über diese Restaurantmission nachdenke, auf die ich geschickt wurde.

Heißt es nicht immer, aller guten Dinge sind drei? Warum sind es bei mir dann nur die schlechten? An dieser Redensart scheint auf jeden Fall etwas dran zu sein. Vor drei Monaten wurde ich gefeuert. Vor zwei Monaten stand Indy vor meiner Haustür, und vor einem Monat fand ich drei Leute in meinem Wohnzimmer vor, als ich von meiner täglichen Selbstbemitleidungstour durch den Central Park nach Hause kam …

Als Erstes erblickte ich das Gesicht meiner ehemaligen Chefin, das mich mit geradezu irritierender Sanftheit anschaute. Carlie Visconti ist die strenge, furchteinflößende Matriarchin einer halb französischen, halb italienischen Familie von Gastronomen, von denen viele als kulinarische Hoheiten gelten – und sie schaute mich mit unverhohlener Sorge an, ungeachtet der Tatsache, dass ich ihr Restaurant einen seiner Sterne gekostet hatte.

An ihrer Seite saß mein ehemaliger Souschef und frisch beförderter Küchenchef Archer. »Chef«, begrüßte er mich mit einem Nicken.

Den beiden gegenüber hockte Indy auf einem Stuhl und blickte mürrisch drein.

»Ich bin nicht hier, um über die Kritik, den Stern oder irgendetwas dergleichen zu sprechen«, verkündete Carlie sofort.

»Also, warum –«

»Aber du hättest es besser wissen müssen, als dir die Worte dieses Mistkerls zu Herzen zu nehmen, Fisher«, fügte sie hinzu, wobei sich ihre Frustration sowohl in ihrem Gesicht als auch in ihrem Tonfall widerspiegelte. All das hatte sie mir schon hundertmal gesagt. Das Gleiche hatte ich mir auch gesagt. »Roth ist ein mieses Arschloch. Er ist gut darin, beiläufig irgendwelchen dramatischen, negativen Scheiß zu schreiben, weil sich das eben gut verkauft. Aber trotz all seiner Beschwerden hat er es geschafft, dein Talent anzuerkennen und zwischendrin sogar zu erwähnen.«

»Ich dachte, du wolltest nicht darüber reden?«, entgegnete ich bleiern.

»Will ich ja auch gar nicht.«

Ich gestikulierte wild durchs Zimmer. »Aber warum sind wir dann alle hier, Carl?«

»Weil deine Mom mich angerufen hat.«

»Um Gottes willen.« Ich stöhnte, stieß ein tiefes Lachen aus und warf meinen Schlüsselbund auf die nächste Ablage. »Ich bin einunddreißig, Carlie. Wieso ruft meine Mutter meine Chefin an?« Archer schien plötzlich sehr an seinen eigenen Schuhen interessiert.

»Ich sehe mich selbst eher als deine Partnerin statt als Chefin. Wir haben schließlich ein bisschen enger zusammengearbeitet, meinst du nicht auch?«, sagte sie, nicht ganz ohne Kummer in der Stimme. Ich schluckte, und mein Blick wanderte zu meinen Füßen. Ich konnte – und kann – mich nicht dazu durchringen, meinen Ausbruch zu bedauern, wegen dem ich gefeuert wurde, auch wenn die Konsequenzen meiner Taten bedauerlich waren. Richard Roth ist derjenige, der mich angesprochen hatte, während ich in Ruhe essen wollte, und der dachte, er könne darüber scherzen, wie er meine Karriere und die harte Arbeit meiner Mitarbeiter verunglimpft hatte. Die Torte in seinem Gesicht hatte er mehr als nur verdient.

Und ich schätze, ich hatte es verdient, dafür gefeuert zu werden.

»Es war offensichtlich, dass deine Mutter keine Ahnung hatte, dass du nicht mehr im Restaurant arbeitest, Fisher«, fuhr Carlie fort. »Du wirst es ihr früher oder später erzählen müssen.«

»Carlie«, setzte ich an, und der Schmerz in meiner Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich hasse es, dass ich auch sie enttäuscht habe. Meine Arbeitskollegen waren quasi meine zweite Familie, bis derVorfall Carlie die Hände gebunden hat. Es ist ja nicht so, als hätte sie mich unbedingt feuern wollen.

Immer, wenn meine Eltern und Indy über die Jahre hinweg bei mir zu Besuch waren, war die Teilnahme an Carlies Familienfeiern der perfekte Zeitvertreib. Zwischen ihr und Mom war eine Art Freundschaft entstanden, und es war immer schön zu sehen, wie gut sie sich verstanden. In diesem Moment waren meine Gefühle allerdings etwas gemischter.

»Da du das anscheinend nicht wahrhaben willst«, fuhr Carlie fort, »und du nicht mit den Menschen darüber reden möchtest, die sich um dich sorgen, sage ich es jetzt einfach mal ganz geradeheraus: Dir geht es nicht gut. Und Indy offensichtlich auch nicht.«

Indy stand empört auf. »Wieso werde ich da mitreingezogen?«

Ich schüttelte den Kopf und sah Carlie eindringlich an. »Lassen wir Indy aus der Sache raus«, sagte ich. Ich konnte vielleicht meinen eigenen Absturz sehr gut immer wieder Revue passieren lassen, aber zu diesem Zeitpunkt war es sicherlich nicht produktiv, Indys Probleme noch einmal durchzukauen. Sie war bereits zum dritten Mal in den letzten Jahren aus dem Haus meiner Eltern abgehauen, also wollte ich ihr ungern noch einen Grund geben, sich aus dem Staub zu machen. Carlie runzelte die Stirn, während sie sich mit der Hand über die weiße Strähne in ihrem Haar fuhr.

»Lass mich dich eines fragen«, begann sie nach einer kleinen Pause wieder. »Willst du es denn nicht zurück?«

Beinahe hätte ich mit Sarkasmus geantwortet. »Was genau? Meine Würde, meinen Job, den verlorenen Stern oder mein Leben, wie ich es vorher kannte?« Doch ich hielt mich zurück, weil ich wusste, was sie meinte. Alles zusammen.

»Natürlich will ich das«, antwortete ich heiser. Ich schleppte mich quer durchs Zimmer zum letzten noch freien Stuhl und ließ mich darauf sinken.

Sie stieß einen langen Seufzer aus und wechselte einen Blick mit Archer, bevor sie mit ihrer Präsentation begann und von einem ihrer Investitionsprojekte erzählte, das seit fast einem Jahr in Arbeit war: ein Restaurant an der Küste von Oregon. Es war mir peinlich, festzustellen, dass ich sowohl beruflich als auch privat zu verschlossen gewesen war, um ihr sonderlich viel Aufmerksamkeit zu schenken, wenn es nicht gerade um mich selbst ging – obwohl sie sich in den letzten zehn Jahren unermüdlich für mich eingesetzt hatte.

Sie erzählte mir, dass es bei fast jedem Schritt dieses Projekts zu Verzögerungen gekommen sei, dass die Stadt ihr Schwierigkeiten bereitet habe und dass sie Vertreter vor Ort brauche, um voranzukommen. Sie meinte, dass sie Frankie hinschicken würde, einen Bauunternehmer, mit dem wir schon bei anderen Projekten in New York zusammengearbeitet haben und der auch den Bau des Marrow beaufsichtigt hatte.

»Und wo komme ich ins Spiel?«, fragte ich zweifelnd. »Und Archer?«

Archer räusperte sich. »Ich will diesen Job«, sagte er. »Ich möchte als Chef de Cuisine anfangen, wenn alles fertig ist. Spunes ist für mich nicht allzu weit von zu Hause entfernt.«

Es überrascht mich immer wieder, dass Menschen den Ort, an dem sie aufgewachsen sind, automatisch als »zu Hause« bezeichnen.

»Aber ich brauche dich, Archer, vorerst hier«, warf Carlie ein. »Sonst hätte ich überhaupt keinen Küchenchef mehr. Und dich, Fisher, kann ich noch nicht zurückholen, zumindest nicht, bevor sich die Lage nicht etwas beruhigt hat.«

Ich verhinderte mit Mühe ein Zusammenzucken. Und wartete, bis sie mit ihren Erklärungen fertig waren.

»Hilf mir mit dem Starhopper«, sagte Carlie. »Denk dir eine Speisekarte aus wie damals, als wir das Marrow eröffnet haben. Finde heraus, was diese Gegend braucht, was die Leute wollen, was für das Gesamterlebnis am besten funktioniert. Du weißt schon, all dieses kreative, atmosphärische Zeugs, das du so gut draufhast.« Sie beugte sich vor und starrte mich eindringlich an. »Zeig mir, dass du bei klarem Verstand bist, und ich hole dich hierher zurück – zurück ins Marrow, wenn alles so weit erledigt ist. Und es ist mir egal, ob ich dafür Ärger bekomme, wir werden zusammenarbeiten und erobern uns diesen Stern zurück. Meinetwegen sogar noch einen, wenn du willst.«

Es war, als würde jemand Benzin ins Feuer gießen – dieses Gefühl, das in meinem Innern entflammte. Der Gedanke an ein Comeback war etwas, das ich mir zum Ziel setzen konnte, und sei es nur aus Stolz oder Eitelkeit.

Indy ließ von ihrem Platz rechts neben mir ein Schnauben hören und sah von ihrem Handy auf. »Das heißt also, ich habe gerade eine beschissene Stadt hinter mir gelassen, und du willst mich gleich in eine andere verfrachten?« Darauf folgte ein »Auch egal«, bevor sie aufstand und die Tür zum Gästezimmer hinter sich zuschlug.

»Ich gebe mir alle Mühe, Carl«, erklärte ich angesichts Carlies besorgtem Blick. Dabei fühlte ich mich, als müsse ich durch einen Strohhalm atmen und gleichzeitig die ganze Zeit bergauf laufen. »Ich weiß nicht, warum sie hier ist und ausgerechnet bei mir leben will, aber das tut sie nun mal, deshalb … ich gebe mir mit ihr Mühe, wirklich.« Ich zuckte mit den Schultern.

»Ist doch offensichtlich«, warf Archer ein und erntete dafür einen scharfen Blick von Carlie und mir. »Ich meine, du bist eine Legende. Das weißt du doch. Und sie hat gesehen, wie du es hier zu etwas gebracht hast, oder?«, fuhr er fort. »Du bist wahrscheinlich so eine Art Held für sie.«

Diese Aussage fand ich lächerlich, und Indy würde das sicher auch so sehen. Vielleicht traf es zum Teil auf die alten Versionen unserer selbst zu, aber inzwischen längst nicht mehr.

Ich verstehe zumindest, warum sie von zu Hause wegwollte, und kann nur vermuten, dass sie so verzweifelt war, dass sie einfach zu mir geflohen ist. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, dass diese beschissene Stadt in Nebraska ohne Freya nicht den geringsten Reiz hat.

»Und es macht dir nichts aus, bei dieser ganzen Planung nicht selbst Hand anlegen zu können?«, fragte ich Archer. Wir beide stehen uns so nahe, wie ich mit allen anderen auch, und das heißt im Prinzip: nicht besonders nahe. Der Kerl ist allerdings ein toller Koch und verdient definitiv seine eigene Küche.

»Ich will einfach nur kochen, Chef. Du kennst mich doch«, erwiderte er lässig. »Wenn ich erst mal da bin, kann ich machen, was ich will, aber ich vertraue darauf, dass du bis dahin alles gut in die Wege geleitet hast«, fügte er mit einem frechen Grinsen hinzu. Na prima, dachte ich. Um einen Laden erfolgreich zu führen, braucht man ein gesundes Ego.

Carlie stand auf und hängte sich ihre Handtasche über die Schulter. »Du kannst es dir ja überlegen, aber ich bin überzeugt, dass das gut wäre, Fisher. Es wäre gut für dich und für Indy, als eine Art Neuanfang.«

Ein Neuanfang.

Die Vorstellung, wieder über Rezepte nachzudenken, erfüllt mich immer noch mit spürbarer Angst, gefolgt von Selbstekel. Ich habe diese Sache, die ich nicht abschütteln oder benennen kann, so satt. Aber da jetzt das Wohlergehen eines anderen Menschen von meinem eigenen beeinflusst werden könnte und da bislang nichts anderes funktioniert hatte, wusste ich einfach, dass ich zustimmen musste.

»Bis Ende des Sommers müsste ich zurück sein!«, rief ich meinen sich entfernenden Gästen hinterher. »Damit Indy im Herbst hier zur Schule gehen kann.«

Später habe ich mich bei Carlie für ihr unermüdliches Vertrauen in mich bedankt, genauso wie dafür, mir überhaupt eine zweite Chance geben zu wollen. Sie empfahl mir eine Therapeutin, mit der Indy und ich wöchentliche Videokonferenzen abhielten, und seitdem habe ich mein Bestes getan, uns wieder auf die Beine zu helfen.

Die Minuten und Meilen ziehen sich hin, untermalt von den sanften Geräuschen des Trucks und irgendwann von Indys leisem Schnarchen.

Es ist genau Mitternacht, als die Scheinwerfer das Willkommensschild der Stadt erhellen:

Spunes, Oregon

(Nicht zu verwechseln mit Forks, Washington)

Ich bin sehr dankbar, dass Indy nicht wach ist, um sich darüber lustig zu machen.

Als wir am Ferienhaus ankommen, steht der Mond hoch am nebligen blauschwarzen Himmel, und ich bin zu erschöpft, um noch irgendetwas anderes auszupacken als mich selbst oder um irgendetwas vom Interieur unserer Unterkunft in Augenschein zu nehmen. Schlaftrunken rufe ich den Code für die Schlüssel-Kassette auf dem Handy auf und öffne die Tür. Dann schlurfen Indy und ich die Treppe zu den ersten Schlafzimmern hinauf, die wir finden. Ihre Tür schlägt zu, ich ziehe meine Schuhe aus und lasse mich ins Bett fallen.

KAPITEL3

Fisher

»Fisher!«

Ich wehre mich händewedelnd gegen das Zischen in meinem Ohr und versuche, mich wieder in meinem Kissen zu vergraben.

»Fisher, wach auf, bitte!«

Als ich in dem schwach beleuchteten Raum das Gesicht meiner Nichte erkenne, komme ich allmählich zu Bewusstsein. »Was ist los?« Das Leuchten eines Monitors in der Ecke erhellt die Todesangst in ihren Augen, und ich versuche, den Nebel in meinem Kopf abzuschütteln. »Indy, was ist?«

»Irgendwas ist im Haus«, flüstert sie. Sie ist völlig verängstigt, ihre Stimme zittert.

Ein dumpfer Schlag und ein Knall ertönen von unten, gefolgt von einem tiefen, rauen Knurren.

»Meinst du, das ist ein Bär?« Ihre Panik befeuert sofort meine eigene, denn woher zum Teufel soll ich das wissen? Dieses Ferienhaus liegt zwar etwas oberhalb dieser ohnehin schon sehr kleinen Stadt, aber trotzdem hätte ich nicht damit gerechnet, dass irgendwelche Bären ausgerechnet hier in Häuser einbrechen. Wo ich herkomme, sind Menschen die einzigen wirklichen Raubtiere.

Scheiße. Ich kenne mich weder in diesem Haus noch mit Wildtieren aus. Ich habe mich noch nicht mal ausgezogen, bevor ich diese Nacht in einen traumlosen Schlaf gefallen bin.

Wieder Geräusche. Eine Art dumpfes Zischen.

Mein Herz fängt an zu rasen, das Blut rauscht in meinen Ohren, als ich aus dem Bett gleite und mich nach etwas umsehe, das vage an eine Waffe erinnert.

Indy vergräbt ihre Fingernägel in meinen Arm.

»O Gott, war das eine Stimme?«, fiepst sie.

Verdammt, ich weiß es doch auch nicht, würde ich am liebsten schreien. Es könnte eine gewesen sein! Mein Verstand versucht immer noch, die Situation zu verarbeiten. Etwas oder jemand ist in diesem Haus. Indy ist zu Tode verängstigt. Sie weiß – wir beide wissen aus Erfahrung –, dass manchmal schlimmer und willkürlicher Scheiß passieren kann. Und es ist jetzt meine Aufgabe, ihr zu beweisen, dass alles gut wird, dass sie mir vertrauen kann, wenn es darum geht, Dinge in Ordnung zu bringen. Für unsere Sicherheit zu sorgen. Ich greife nach meinem Handy auf dem Nachttisch und wähle den Notruf. Eine unheimliche Ruhe durchströmt mich, während ich die Fakten wohlüberlegt vortrage.

»Bleib hier«, sage ich zu Indy, als ich aufgelegt habe. Sie nickt zitternd.

Ich schleiche so leise wie möglich durch die anderen Zimmer im Obergeschoss, bis ich auf einen alten, hölzernen Baseballschläger stoße. Im Vergleich zu einer zusammengerollten Yogamatte muss er genügen.

Das Klappern wird immer lauter, so als würde das Was-auch-immer alles durchwühlen und nach etwas suchen. Mein Gott, ich weiß zwar, dass Hauseinbrüche vorkommen, aber ob hier schon jemals etwas dergleichen passiert ist? Und natürlich muss das nur wenige Stunden nach unserer Ankunft geschehen.

Die Rädchen in meinem Kopf fühlen sich an, als würden sie sich durch Wackelpudding arbeiten. Mensch, jetzt denk doch nicht an Wackelpudding. Ich schüttle mich kurz, um den Gedanken loszuwerden. Wackelpudding erinnert dich an die Beerdigung.An dieses gallertartige Ding in Form eines Gugelhupfs und das blasse Gesicht deines ehemaligen Schulleiters, der dich fragt, ob du das Essen an diesem Tag zubereitet hast.

Schon wieder dieses Knurrgeräusch.

Das kann kein Mensch sein. Es muss sich um irgendein Tier handeln, das die Vorratskammer durchwühlt. Die Geräusche, die es von sich gibt, klingen irgendwie … rhythmisch? Ich sollte runterstürmen, genug Lärm veranstalten und es verscheuchen, bevor es noch dreister wird und sich auf den Weg die Treppe hoch macht. Vielleicht … vielleicht ist es ja nur ein Waschbär oder ein Opossum und nichts sonderlich Großes und/oder Todbringendes. Verdammt, ich darf nicht länger nachdenken. Ich muss meinen Mann stehen und mich darum kümmern.

Sei laut. Mach dich groß. Es hat mehr Angst vor dir als du vor ihm, jawohl!

Ich werfe Indy, deren Wangen vor Tränen schimmern, noch einen Blick zu und gebe mir einen entschlossenen Ruck. Dann trete ich vom Treppenabsatz auf die oberste Stufe, und die Holztreppe knarzt unter mir. Ein weiteres Donnern und weitere Schleifgeräusche ertönen aus dem Erdgeschoss.

Ich komme mir vor wie in einem Horrorfilm, in dem irgendein Idiot auf Zehenspitzen einen dunklen, gruseligen Flur entlangschleicht, während hinter der nächsten Ecke ein Monster lauert.

Sei laut. Mach dich groß. Es hat mehr Angst vor dir als du vor ihm!,feuere ich mich erneut in Gedanken an.

Das Ganze könnte eine Chance für Indy und mich sein – indem ich ihr beweise, dass wir auch schwierige Situationen zusammen durchstehen. Dass das alles hier verdammt noch mal beängstigend ist, aber dass wir selbst Ungewohntes und Beängstigendes zusammen bewältigen können und es uns gutgehen wird.

Sei laut. Mach dich groß. Es hat mehr Angst vor dir als du vor ihm. Ich werde ihr beweisen, dass sie auf mich zählen kann. Dass ich, obwohl sie ihrer Mutter beraubt wurde und ich bislang ein bestenfalls mittelmäßiger Onkel war, entschlossen und gewillt bin, sie im Hier und Jetzt zu beschützen.

Ich hole tief Luft und springe die letzten Stufen hinunter. Mit einem kräftigen Brüllen und erhobenem Schläger stürze ich in die Küche.

Mein Kriegsgeschrei stirbt einen schnellen, kläglichen Tod. Sämtliche Energie verlässt den Raum.

Es dauert einen Moment, bis ich die Szene verarbeiten kann. Das unbekannte Etwas hängt halb in einer Art Schürze und halb in einer Plastiktüte. Es dröhnt und prallt gegen eine Palette Limo, die auf dem Boden der Speisekammer steht, bevor es versucht, sich umzudrehen, ein Surren von sich gibt und gegen den Türrahmen knallt. Es dreht sich erneut in die falsche Richtung und stößt gegen weitere Kisten, die es vermutlich auf seiner Futtersuche umgestoßen hat.

»Fisher? Fisher, was ist es denn?«, kreischt Indy.

Ein neuer Tiefpunkt, so viel steht fest.

»Komm mal gucken!«, rufe ich zurück, weil hierfür keinerlei Erklärung ausgereicht hätte. Das muss man definitiv selbst gesehen haben, um es zu glauben. Dann fällt mir ein, dass ich bereits die Notrufzentrale alarmiert habe. »Scheiße. Und bring mein Handy bitte mit!«

Indy kommt auf wackeligen Beinen die Treppe herunter und reicht mir mein Handy, bevor sie ebenfalls das Ding anstarrt. Sie stöhnt laut auf, ballt die Fäuste und schaut theatralisch zur Decke hoch. »Wer zum Geier lässt bitte seinen Saugroboter um vier Uhr morgens durch die Bude fahren?«

Ich schüttle wortlos und irritiert vor Scham den Kopf, bevor ich mich noch einmal bei der Notrufzentrale melde.

»911, wie lautet Ihr Notfall?«

»Hallo, ähm, ich habe eben angerufen und ein Tier oder einen Einbrecher im Haus gemeldet. Wie sich herausgestellt hat, habe ich etwas überreagiert«, sage ich. »Es ist keins von beiden.« Ich versuche zu lachen und fluche im nächsten Moment still in mich hinein, als ich das Blaulicht draußen sehe. Ich möchte heulen. Mit den Füßen stampfen. Auf irgendetwas einschlagen.

»Schon gut, Ihre Kollegen sind gerade angekommen.« Ich lege auf und flitze zur Haustür.

Abgesehen vom Verandalicht ist es noch dunkel draußen, aber ich kann einen Polizisten erkennen, der aus seinem Streifenwagen steigt. Dahinter kommt mit heulenden Sirenen ein Feuerwehrauto angefahren. Ich unterdrücke erneut den Drang, laut aufzustöhnen.

»Es tut mir sehr leid, Officer.« Ich halte demonstrativ die Hände hoch, bevor ich nach draußen auf die Veranda gehe, um alles so schnell wie möglich herunterzurasseln. »Hören Sie, hier ist alles in Ordnung. Es gab nur einen kleinen Irrtum, tut mir leid. Ich werde den Sommer über in diesem Haus wohnen und bin gestern Nacht erst sehr spät angekommen. Ich glaube, die Besitzer haben ihren Staubsaugerroboter über eine Zeitschaltuhr auf vier Uhr morgens eingestellt, und ich schwöre bei Gott, das Ding hört sich von Weitem an wie ein wildes Tier. Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie gestört habe –«

Der Polizist tritt ins Licht und neigt den Kopf. »Ich müsste mich trotzdem einmal umsehen, Sir. So lauten die Vorschriften.«

Er stellt sich breitbeinig vor mich und legt die Hände aufs Holster. Seine Augen verengen sich, während er mich von Kopf bis Fuß mustert, als würde er überlegen, wie er mich wohl am besten überrumpeln könnte. Ich zwinge mich, nicht die Augen zu verdrehen. Ich bin knapp zwei Meter groß und locker zwanzig Kilo schwerer als er, aber nichtsdestotrotz bin ich im Moment absolut keine Bedrohung – immerhin erhole ich mich gerade von einem Panikanfall aufgrund eines Saugroboters.

»Wirklich, Sir, es ist alles in Ordnung«, wiederhole ich gerade, als Indy durch die Tür hinter mir kommt.

»Er sagt die Wahrheit, Officer«, bestätigt sie. »Die Hausbesitzer haben ihren Staubsauger auf eine völlig dämliche Uhrzeit eingestellt«, fügt sie hinzu. Ihr Tonfall ist schneidend und mürrisch zugleich, wie es nur ein Teenager zustande bringt. Mein Kopf schnellt in ihre Richtung; diese kleine Solidaritätsbekundung überflutet mich mit neuer Hoffnung.

Der Polizist – Officer Carver, wie auf seiner Uniform zu lesen ist – stutzt merklich, als er sieht, was sich angesichts von Indys Bestätigung auf meinem Gesicht abspielt. Mein hoffnungsvolles Grinsen verlässt viel zu langsam meine Lippen.

»Ist das für Sie etwa ein Witz?«, fragt er mich.

Ich wedle entschuldigend mit den Händen. »Nein, nein. Es tut mir leid.«

»Denn die Sache ist die, Sir«, sagt er spöttisch. »Sie könnten genauso gut gezwungen werden zu sagen, dass alles in Ordnung ist. Es könnte sich hier auch um eine Geiselnahme handeln. Deshalb muss ich mich ein wenig umsehen.«

Indy lacht nur kurz auf, doch ich stupse sie mit der Schulter an. »Natürlich, ja. Selbstverständlich.« Ich fahre mir erschöpft mit der Hand durchs Gesicht.

»Was ist hier los?«, fragt ein Feuerwehrmann, der gerade die Veranda betritt.

»Angeblich ein tollwütiger Staubsauger«, antwortet Officer Carver langsam. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich will diese Sache hier endlich hinter mich bringen, damit ich in aller Ruhe in irgendeiner Ecke verrotten kann.

Nun kommt ein weiterer Mann auf die Veranda, und ich spüre geradezu, wie sie mich allesamt verurteilen. Der letzte Feuerwehrmann, der sich dieser vermeintlichen Rettungstruppe anschließt, sieht mich spöttisch an, bevor er den Griff um seine Axt verstärkt, vollends bereit, mich vor meinem robotischen Widersacher zu retten.

Vielleicht könnte ich einfach in die dunkle Nacht hinausspazieren und mich unter die Reifen des Feuerwehrtrucks legen, bis sie wegfahren. Sollen sie es ruhig für mich beenden.

Stattdessen bedeute ich allen Anwesenden, hereinzukommen.

KAPITEL4

Fisher

Officer Carver nimmt zunächst Indy beiseite, um ihr einige Fragen zu stellen, während einer der Feuerwehrmänner sich mir zuwendet.

»Wie lautet Ihr Name?«, fragt er und blickt mich unnachgiebig an.

»Fisher«, antworte ich und verstehe immer noch nicht, warum das alles so ausarten muss.

»Fisher, und weiter?«

»Fisher Lange.«