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Was wäre, wenn der Mensch nicht mehr am Ende der Nahrungskette stünde? Die Erde in naher Zukunft. Jara wird mit anderen Menschen in einer Mast- und Zuchtstation gehalten. Sie werden überwacht und sollen für Nachwuchs sorgen. Die Phagen, eine dem Mensch überlegene Spezies, hat die Erde erobert. Ihr Heimatplanet wurde von einer Pandemie heimgesucht, sodass es dort nichts mehr zu essen gibt. Nun halten sie die Menschen wie einst die Menschen die Tiere. Plötzlich taucht ein Fremder in der Station auf. Er versucht Jara dafür zu gewinnen, nach draußen zu den Wildmenschen, einer Gruppe von Verschwörern, zu gelangen. Ihre Mission: die Erde von den Phagen zu befreien. Für Jara beginnt ein gefährliches Abenteuer ... Im Stile von Dystopien wie "1984" oder "The Handmaid's Tale" greift "Sternenfutter" die aktuelle Diskussion um Massentierhaltung und vegetarische Ernährung auf und entwirft eine Welt, in der Menschen zu Nahrungsmitteln geworden sind – ein beklemmendes, jedoch keineswegs auswegloses Szenario.
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Seitenzahl: 154
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Das Buch
„Sternenfutter“ entwirft eine Welt, in der Menschen zu Nahrungsmitteln geworden sind. In dem in naher Zukunft spielenden Roman ist die Erde von einer der Menschheit überlegenen Spezies erobert worden – den Phagen. Deren Heimatplanet ist von einer schrecklichen Pandemie heimgesucht worden, sodass sie sich neue Nahrungsquellen erschließen müssen. Auf der Erde werden sie fündig. Die Phagen halten Menschen in Zuchtstationen, um möglichst viel Fleisch zu erhalten – so wie die Menschen früher die Tiere. In den Stationen gibt es jedoch Humanoide, die sich gegen das System auflehnen. Einer von ihnen ist Jara. Er versucht, nach draußen zu den Wildmenschen zu gelangen, einer Gruppe von Umstürzlern, die die Erde von den Phagen befreien will. Es ist der Beginn eines spannenden Abenteuers.
Der Autor
Frank Schuster, Jahrgang 1969, lebt als Journalist und freier Autor in Darmstadt. Er ist Redakteur des Öko-Test-Magazins und ehemaliger Redakteur der Frankfurter Rundschau. Veröffentlichungen: „Das Haus hinter dem Spiegel“, Jugendroman (2014, mainbook, Frankfurt/M.), „If 6 Was 9“, Roman (2003, Grübeltäter Verlag, Oldenburg), Kurzgeschichten u.a. in der Literaturzeitschrift „Am Erker“ sowie in der Anthologie „Fotosynthesen“ (Pahino, Frankfurt/M., 2006) mit u.a. Feridun Zaimoglu und Dietmar Dath
eISBN 978-3-946413-76-9
Copyright © 2018 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Mia Beck
Bildrechte und Covergestaltung: Lukas Hüttner
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Frank Schuster
Roman
„Heifer whines could be human cries.”
The Smiths: Meat Is Murder
„Träte uns eines Tages eine stärkere und intelligentere Lebensform als unsere eigene gegenüber und würde uns so sehen, wie wir Fische sehen, was könnten wir dann als Argument anführen, dass man uns nicht isst?“
Jonathan Safran Foer: Tiere essen
Teil I: Kalb
Teil II: Kranich
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Teil III: Kanari
Der Mann war Jara schon seit längerem aufgefallen.
Mit kaum wahrnehmbaren Zeichen – einem kurzen Blickkontakt, einem Augenzwinkern, einer zaghaften Handbewegung – hatte er allmählich auf sich aufmerksam gemacht.
Zuerst hatte Jara seine zögerlichen Versuche der Kontaktaufnahme ignoriert. Er wollte sichergehen, dass sie tatsächlich ihm und niemand anderem galten. Als der Fremde jedoch beharrlich weitermachte, brachte Jara irgendwann genügend Mut auf, die Zeichen zu erwidern. Eines Tages, der Unbekannte hatte gerade sein linkes Augenlid gesenkt und schnell wieder gehoben, zwinkerte Jara zurück.
Der Mann lächelte ihn kurz an, nicht ohne sich vorher mit hastigen und aufgeregten Blicken über die Schultern zu versichern, dass sie unbeobachtet waren. Dann gefror sein Lächeln wieder und er ging weiter seines Weges.
Nachdem das Spiel zwischen den beiden mehrere Tage lang so weitergegangen und die Kommunikation immer intensiver geworden war, drückte er Jara einen zusammengeknüllten Zettel in die Hand, den Jara sofort in den Mund steckte.
Auf möglichst schnellem Weg und den Speichelfluss unterdrückend zog sich Jara in seine Box zurück. Dort spuckte er den Zettel sofort wieder aus und entfaltete ihn mit vor Aufregung zitternden Fingern.
Jara sitzt da und denkt nach. Beim Schachspielen überlegt er immer sehr lange. Plötzlich fragt er: „Kann ich noch eine Rochade machen?“
„Ich glaube nicht, du hast deinen König schon gezogen“, antwortet Leta.
Immer wieder stoßen sie auf Lücken in den Schachregeln. Leta und Jara haben kein Buch, in dem sie nachschlagen könnten. Sie müssen sich auf ihre Erinnerung verlassen.
Die beiden haben sich Schachfiguren aus Laib geknetet. Die schwarzen Figuren aus dunklem, die weißen aus hellem. Das Schachfeld haben sie mit der nötigen Anzahl an Strichen in den Staub auf dem Boden gemalt. Aus was genau Laib besteht, wissen sie nicht. Das weiß keiner in der Station. Sie erhalten es als Futter. Es ist fast geschmacklos, aber nahrhaft.
Jara spielt heute unachtsam und zerstreut. Er muss ständig an den Zettel denken. Nach zwölf Zügen ist er schachmatt. Als Leta seinen König aufnimmt, fragt er: „Kannst du dir vorstellen, dass es da draußen Menschen gibt, die uns befreien wollen?“
Leta reagiert nervös. Er schaut sich um und flüstert: „Pst, sprich nicht davon!“ Anschließend tut er so, als sei nichts gewesen und schlägt eine weitere Partie vor.
Jara lehnt ab. Er sagt, er sei müde.
Runter, rauf, runter, rauf. „W …“, klingt es leise aus Jaras Kehle.
Kreis mit Häkchen dran: „a …“
Abnehmender Halbmond: „c …“
Jara versucht sich an das zu erinnern, was ihm seine Mutter beigebracht hat. Sie hatte als Kind noch die Tage der Herrlichkeit miterlebt. Sie hatte Lesen, Schreiben und vieles mehr gelernt, was die meisten Hominiden hier in der Station nicht beherrschen oder was sie längst verlernt haben. Oder was sie verbergen, da es verboten ist.
Jara erinnert sich kaum noch an seine Mutter. Manchmal zieht er heimlich das zerknitterte Foto hervor, das er in seiner Box versteckt hält. Es zeigt sie, wie er sie in Erinnerung hat: jung. Wie sie gewesen war, bevor man sie zwang, den Weg allen Fleisches zu gehen.
Im Gegensatz zu Jara war sie im Lesen geübt.
Nach vielen Minuten, es kommt ihm vor wie eine Ewigkeit, hat er den ersten Satz endlich zusammen: „Wacht auf!“
Er braucht lange, bis er schließlich auch den Rest der Nachricht auf dem Zettel entziffert hat: „Ihr seid Menschen! Widersetzt euch dem Weg allen Fleisches! Wehrt euch!“
Die Augen lassen Jara ohne Anstalten passieren. Sie scannen sein Gesicht, gleichen die Daten ab, erkennen ihn. Sie wissen, dass er heute dran ist, dass er seinen Tag des Beiwohnens hat.
Jara tritt durch die Schleuse und geht in den Frauentrakt. Heute Nachmittag empfängt ihn Sosa.
Jara darf einmal in der Woche einer Frau beiwohnen. Als Alpha halten ihn die Phagen besonders hominid. Er hat eine Einzelbox und alle paar Tage Auslauf. Alphas wird dies alles zugestanden, da ein besonders hominid gelebtes Leben für weniger Ausstoß von Schadhormonen sorgt, sodass ihr Fleisch gut, gesund und genießbar bleibt.
Es gibt zwei Arten Robota in der Station: die Greifer und die Augen. Sie sind von verschiedener Gestalt und haben unterschiedliche Aufgaben, doch beide dienen nur dem einen Zweck: dem Überwachen.
Heute ist wieder der Tag des Beiwohnens. Oft, besonders seitdem Sosa in freudiger Erwartung ist, sitzen sie aber auch nur beieinander, tauschen Zärtlichkeiten aus, halten Händchen und reden. Seit Sosas Bauch eine dicke Wölbung zeigt und sie einen grünen Schurz trägt, lassen die Greifer dies geschehen, mischen sich nicht ein, zwingen die beiden nicht zur Begattung.
Sosa begrüßt Jara mit einem Lächeln.
Seit Monaten ist sie die einzige Frau, der Jara beiwohnt. Die beiden mögen sich sehr. Sie sagen sich heimlich Ich liebe dich. Sosa erzählte ihm einmal, dass in den Zeiten der Herrlichkeit, als die Erde noch den Menschen gehörte, dies völlig normal gewesen sei.
„Schön, dass du kommst“, begrüßt Sosa ihn. Sie umarmt ihn, gibt ihm einen Kuss auf den Mund. Ihre Zungen berühren sich für einen kurzen Moment. Dann schließt Jara wieder die Lippen. Er streichelt Sosa über die dicke Wölbung ihres Bauches.
„Noch einen Monat und dann kommt es“, sagt Sosa leise.
Sie gehen Arm in Arm hinaus auf den Rasen. Sie haben Auslauf.
Es heißt, dass die Station früher, in den Zeiten der Herrlichkeit, bevor die Phagen die Macht übernahmen, einmal eine Sportstätte gewesen sei. Auf den Laufbahnen, die nun für den Ausgang der Alphas bestimmt sind, hätten die Menschen einst Wettläufe veranstaltet. Und im Innern des Ovals, auf dem Rasen, hätten sie mit Füßen einen Ball getreten.
Jara und Sosa beobachten, wie die Alpha-Kinder auf dem Gras herumtollen. Nur wenige von ihnen werden ein langes Leben führen, denkt Jara. Nur diejenigen, die für die Zucht bestimmt sind. So wie er und Sosa. Alle anderen werden früh den Weg allen Fleisches gehen müssen.
„Wie lange wird unser Kind leben dürfen?“, flüstert Sosa. Sie hat plötzlich einen feuchten Glanz in den Augen.
„Vielleicht haben wir Glück und es wird für die Zucht bestimmt“, sagt Jara. Er streichelt ihr erneut zärtlich über den Bauch und küsst dabei eine Träne von ihrer Wange.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wie ich dieses Ausgeliefertsein hasse“, sagt Sosa. Jara beobachtet, wie sie dabei die Hände zu Fäusten ballt. Wütend fährt sie fort: „Ich hab mal gehört, Betas würden schon als Babys von ihren Eltern getrennt. Und von den Gammas würden manche sogar schon als Babys …“ Sosa bricht den Satz ab. Stattdessen macht sie mit der Hand vor ihrem Hals eine Bewegung, die aussieht, als ob ihr jemand die Kehle durchschneidet. Sie findet ihre Sprache wieder und sagt: „Es heißt, die Phagen lieben ihr zartes Fleisch.“
„Ich glaube, das stimmt nicht“, sagt Jara. Er küsst eine nächste Träne weg und streichelt weiter ihren gewölbten Bauch.
„Ich bin schon ganz schön dick“, flüstert Sosa. „Ich hoffe, es wird nur ein Kind. Ist dir schon mal aufgefallen, dass fast alle Frauen in der Station Zwillinge bekommen? Glaubst du, es stimmt, was man sagt? Dass die Phagen uns Frauen etwas in den Laib tun, damit wir Mehrlinge kriegen?“
Jara wechselt das Thema. „Du“, fragt er.
„Ja?“
„Kannst du dir vorstellen, dass es da draußen Menschen gibt, die uns befreien wollen?“
Sosa blickt sich um. Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. Als sie Jara wieder anschaut, ist ihr Ausdruck ernst und klar. Keine Spur mehr von dem verweinten, gläsernen Blick.
„Wie meinst du das?“
Jara erzählt ihr von dem Zettel, leise. Er blickt sich dabei mehrfach um.
75 Kilo. Jara hat sein Gewicht gehalten.
Der Nächste in der Reihe, der auf die Waage tritt, ist Kuro.
Der Summer ertönt. Kuro hat an Gewicht verloren. Wenn er das erste oder zweite Mal dabei ertappt wird, wird weiter nichts passieren. Dann muss er nur aufpassen, dass er genügend Laib in sich hineinstopft. Ein drittes Mal lassen die Phagen einen Gewichtsverlust nicht zu. Dann droht ihm die Mast. Das bedeutet, Greifer stopfen ihm so viel Laib in den Hals, bis sein Rachen wund wird.
Kuro tritt von der Waage herab. Im Weggehen raunt er Jara zu: „Da sprach die böse Hexe: Hänsel, streck deine Finger heraus, dass ich fühle, ob du bald fett genug bist.“ Er zuckt die Schultern und grinst. „Höchste Zeit, dass ich mir ein Knöchlein besorge“, sagt er und geht.
In der Station kursieren viele Märchen. Die Hominiden erzählen sie sich gerne und geben sie mündlich weiter. Früher, in den Zeiten der Herrlichkeit, habe es Bücher gegeben, in denen hätten noch viel längere Geschichten gestanden, hatte Jaras Mutter ihm einmal erklärt.
Die Hominiden erzählen sich auch Witze. Beliebt sind die über Phagen. Besonders mögen sie jedoch Märchen. Viele fangen an mit den Worten Es war einmal.
Der Großteil des Fleisches der Hominiden liegt frei. Es wird regelmäßig von den Robota begutachtet.
Jara trägt wie alle in der Station einen einfachen Schurz. Er verdeckt lediglich sein Geschlecht und die Analrinne. Auch die Frauen tragen nichts als einen solchen Schurz. Wenn sie ihren Trakt verlassen und mit Männern in Kontakt kommen, dürfen sie sich ein Tuch um ihre Brüste wickeln. Sind sie schwanger, tragen sie einen grünen Schurz, ansonsten einen weißen. Haben sie ihre fruchtbaren Tage, ist ein roter vorgeschrieben.
Sosa verachtet das. „Menschen haben keine Brunstzeiten“, sagt sie. „Von allen Säugetieren sind sie das einzige, das zu jeder Jahreszeit Beischlaf haben kann.“
Seine Mutter hatte Jara einmal erzählt, dass die Menschen früher vollkommen bekleidet waren. Sogar auf dem Kopf und an den Füßen. Sie trugen Hüte, Mützen, Tücher, Kapuzen, Jacken, Mäntel, Hemden, Pullover, T-Shirts, Hosen, Kleider, Röcke, Büstenhalter, Unterhemden, Unterhosen, Socken, Strümpfe, Schuhe, Stiefel, Sandalen, Handschuhe.
Viele Worte für verschiedene Arten von Kleidungsstücken. Jara hat eine vage Vorstellung, was sie jeweils bedeuten.
Der Fremde muss irgendwie erkannt haben, dass Jara lesen kann. Unter den Alphas in der Station gibt es nicht wenige, die den Eindruck machen, dass sie es können. Jara weiß nicht genau, wer und wie viele es sind. Er weiß es nur von Sosa. Man redet nicht darüber. Es ist verboten.
Plötzlich dämmert es Jara: Der Fremde muss ihn dabei beobachtet haben, wie er einmal zu lange vor den Aufschriften gestanden hat. Überall in der Station gibt es noch welche aus den Zeiten der Herrlichkeit, als der Bau noch den Menschen gehörte.
Viele der Buchstaben an den Wänden sind längst verblasst und unleserlich geworden. Aber man kann einige der Wörter noch entziffern: Haupttribüne. Westkurve. Logen. Stehplatzbereich.
Wörter, die Jara Rätsel aufgeben.
Jara singt.
Er singt gerne. Es weckt schöne Gefühle. Sie machen, dass der Atem ruhiger geht und der Brustkorb leichter wird. Als ob sich das Herz im Innern wie eine Hand öffnet. Beim Singen und danach fühlt er sich befreit. Obwohl er weiß, dass er weiterhin gefangen ist.
Er singt Hätt ich einen Hammer, ich hämmerte am Morgen und Meine Gedanken, sie reißen die Schranken. Er singt Auf nem Wagen liegt ein Kälbchen, liegt gebunden mit nem Strick. Er muss leise singen. Es sind verbotene Lieder. Lieder, die ihm seine Mutter heimlich beigebracht hat.
Einmal die Woche darf Jara im Chor singen. Nur das gemeinsame Singen unter Aufsicht ist erlaubt. Das Singen soll die Hominiden in der Station ablenken und für weniger Ausstoß von Schadhormonen sorgen. Dann bleibt ihr Fleisch gut, gesund und genießbar.
Im Chor singen sie andere Lieder als die, welche Jaras Mutter ihn lehrte. Nach dem Abendlaib zum Beispiel In seiner Güten uns zu behüten oder Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.
In der Nacht träumt Jara. Er ist ein Säugling. Er hat schrecklichen Hunger und schreit fürchterlich. Seine Mutter kommt, nimmt ihn auf und flüstert ihm ins Ohr: „Sch, ist ja gut, mein Kleiner.“ Jara spürt ihren warmen Atem in seinem Ohr.
Sie reicht ihm die Brust. Jara trinkt. Er saugt gierig. Die körperwarme Milch fließt in seinen Mund, an seinen Gaumen, in seinen Rachen, in seinen Bauch.
Mutters Hände. Mutters Brust. Mutters Wärme.
Dann plötzlich ist ihre Brust, ist seine Mutter weg. Er liegt alleine da und hat immer noch schrecklichen Hunger. Er schreit. Und von diesem Schreien wacht Jara auf.
Es gibt keinen Kalender in der Station. Es gibt keine Möglichkeit, das Vergehen der Wochen und Monate zu messen. Auch nicht anhand des Sonnenstands. Dazu sind Jara und die anderen Hominiden zu selten draußen, nur alle paar Tage, in unregelmäßigen Abständen.
Jara weiß nicht, wie viele Jahre vergangen sind, seitdem er seine Mutter das letzte Mal sah. Er weiß auch nicht, wie alt er damals war und wie alt er heute ist. Er weiß nur, dass seine Mutter damals in den besten Jahren war. Und dass er bald in den besten Jahren sein wird und den Weg allen Fleisches gehen muss.
Das beste Alter für eine Frau ist, wenn sie zwei oder drei Kinder bekommen hat. Das beste Alter für einen Mann, wenn er möglichst viele gezeugt hat.
Jara hat in seinem bisherigen Leben erst fünf- oder sechsmal einen Phagen gesehen. Die Phagen kommen selten in die Station. Es heißt, sie besuchen nur selten die Erde. Die Luftfeuchtigkeit des Planeten, der nicht ihr Heimatplanet ist, ist zu hoch. Nicht gut für ihre sandige Haut. Selbst unter ihren Schutzanzügen beginnt sie nach und nach zu klumpen. Sie lassen deshalb Robota die Arbeit in den Stationen verrichten.
Phagen sind groß. Etwa anderthalbmal größer als ein ausgewachsener Hominide. Einmal stand Jara einem Phagen direkt gegenüber. Er trug einen Schutzanzug und einen verspiegelten Helm, hinter dem man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Er hatte einen Gorilla dabei. Phagen halten diese haarigen Wesen als Haustiere. Sie nehmen sie sogar mit auf ihren Heimatplaneten Zyt.
Sosa erzählte Jara einmal, in den Zeiten der Herrlichkeit hätten sich auch die Menschen Haustiere gehalten. Katzen, Hunde, Kaninchen, Hamster, Vögel. Jara hat noch nie einen Hund gesehen. Aber einmal eine Katze. Sie hatte sich beim Mäusejagen in die Station verirrt. Ein Greifer tötete sie.
Auch Ratten gibt es zuhauf in der Station. Sie fressen das, was Menschen ausscheiden oder übriglassen.
Einmal überraschte Jara eine Maus in seiner Box. Sie konnte nicht mehr rechtzeitig fliehen. Er hatte ihr den Weg verstellt. Sie kauerte in einer der Ecken. Jara sah ihr Herz schlagen. Er sah ihren ängstlichen Blick. Sie schaute ihm direkt in die Augen. Er spürte ihre Furcht. Vor seiner Größe, vor seiner Überlegenheit.
Jara kennt das Gefühl. Er spürte das Gleiche, als er dem Phagen gegenüberstand.
„Da reute es den Herrn, dass er den Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen. Und der Herr sprach: Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, den Menschen samt dem Vieh, den Kriechtieren und den Vögeln des Himmels, denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Und Gott sah die Erde, und sie war verdorben, denn der Weg allen Fleisches war verdorben auf Erden.“
Pino macht eine Pause. Er blickt in die Runde der Versammelten. Stets schafft er es, den Eindruck zu vermitteln, dass er jedem im Saal in die Augen schaut. Dabei sind es höchstens fünf oder sechs, denen er während seines Rundblicks direkt ins Gesicht sieht. Jara ist nicht darunter.
Manche in der Station sagen, Pino besitze besondere Gaben. Er stehe in Kontakt mit dem Jenseitigen.
„So steht es geschrieben“, fährt Pino fort. „Der Herr schloss zwar anschließend mit Noah einen Pakt, nie wieder eine Sintflut auf die Erde zu schicken. Doch der Mensch blieb verdorben. Schlimmer noch. Sein Handeln in den nächsten Jahrtausenden wurde immer verdorbener. Bis … bis die Phagen auf die Erde kamen und seinem Treiben ein Ende setzten. Manche Hominiden sagen, die Invasion sei eine neue Sintflut gewesen, welche die Zeiten der Herrlichkeit, wie viele von euch sie nennen, beendet habe. Brüder und Schwestern, seht ein, dass ihr sündig seid, dass euer Fleisch sündig ist. Opfert euch. Sagt euch los von eurem erbärmlichen und minderwertigen Dasein hienieden auf Erden. Führt euch und euer Fleisch einer höheren Bestimmung zu. Seid bereit, den Weg allen Fleisches zu gehen!“
Mit einem Handzeichen bedeutet Pino, dass seine Predigt zu Ende ist und die Gemeinde sich auflösen kann.
Die Hominiden in der Station müssen seine Predigten hören. Wer nicht teilnimmt, wird bestraft.
Jara ist aufgefallen, dass Pinos Predigten immer nach demselben Muster ablaufen. Erst liest er eine Passage aus dem Buch der Bücher. Er ist der Einzige in der Station, der Bücher (oder ist es nur dies eine?) besitzen darf. Dann schwört er die Versammelten auf den Weg allen Fleisches ein. Abschließend spricht er ein Gebet, in das die Anwesenden einsteigen sollen. Unser Fleisch geben wir. Jaras Mutter hatte einmal erzählt, dass es früher geheißen habe: Unser tägliches Brot gib uns heute.