Sternstunden am Meggima-See - Gudrun Leyendecker - E-Book

Sternstunden am Meggima-See E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

Miriam erbt eine Berghütte in Italien, aber an die Erbschaft sind einige Bedingungen geknüpft. Ihre verstorbene Tante hatte vier Adoptivkinder, die sehr verschieden sind. Mit ihnen gemeinsam muss Miriam den letzten Willen der Verstorbenen erfüllen. Es geht um eine geheime Mission: zwei verfeindete Brüder müssen miteinander versöhnt werden, bevor auch sie ihre Erbschaft antreten können.

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Gudrun Leyendecker ist seit 1995 Buchautorin. Sie wurde 1948 in Bonn geboren.

Siehe Wikipedia.

Sie veröffentlichte bisher über 65 Bücher, unter anderem Sachbücher, Kriminalromane, Liebesromane, und Satire. Leyendecker schreibt auch als Ghostwriterin für namhafte Regisseure. Sie ist Mitglied in schriftstellerischen Verbänden und in einem italienischen Kulturverein. Erfahrungen für ihre Tätigkeit sammelte sie auch in ihrer Jahrzehntelangen Tätigkeit als Lebensberaterin.

Inhaltsangabe:

Miriam erbt eine Berghütte in Italien, aber an die Erbschaft sind einige Bedingungen geknüpft. Ihre verstorbene Tante hatte vier Adoptivkinder, die sehr verschieden sind. Mit ihnen gemeinsam muss Miriam den letzten Willen der Verstorbenen erfüllen. Es geht um eine geheime Mission: zwei verfeindete Brüder müssen miteinander versöhnt werden, bevor auch sie ihre Erbschaft antreten können.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1.Kapitel

Die junge Frau blickte aus dem Fenster des Zugabteils. „Da! Pass gut auf, Wendy! Jetzt geht es richtig los. Neben uns werden jetzt die Berge wachsen, immer höher, immer steiler. Ich bin jedes Mal fasziniert von den Ausblicken.“

Die Begeisterung der Freundin hielt sich in Grenzen. „Also, vom Zug aus sehe ich hier gar nicht so viel, Miriam. Wenn wir dann mal weiter südlich angekommen sind, ist der Blick in den Alpen bestimmt gigantischer. Als Kind war schon einmal in den Dolomiten, und damals sind sie mir richtig groß vorgekommen.“

„Ja, wenn wir in den nächsten Tagen einmal da mittendrin sind, wird es noch spektakulärer. Aber mich beeindruckt dieses alte Gestein immer wieder, das sich so wenig zu verändern scheint.“

Wendy protestierte. „Du glaubst gar nicht, wie schnell sich im Gebirge alles wandelt.

Wind und Wetter und nicht zuletzt auch der Klimawandel tun ihr Übriges und tragen zu großen Veränderungen bei. Aber das interessiert mich jetzt weniger. Erzähl mir lieber etwas über deine Tante Petra! Wie war sie denn eigentlich, und warum ist sie nach Italien ausgewandert?“

Miriam seufzte leicht. „Oh, ich erinnere mich noch gut an sie. Als ich Kind war, fuhr ich immer zu ihr in den Ferien in die Toskana. Sie lebte in der Nähe von Siena auf einem Weingut, das ihrem Mann, dem Dottore Giovanni Sasso gehörte.“

„Das hört sich so an, als hätten die beiden ein sehr glückliches Leben gehabt“, vermutete die Freundin. „Der Süden, die Sonne Italiens, die Weite der Toskana mit ihrer herrlichen Landschaft, die alten romantischen Städte mit ihren winkeligen Gassen! Das hört sich doch traumhaft an. Und Geld hatten sie dazu auch noch, wenn sie jetzt ihren Kindern und dir so einige Immobilien vermachen können.“

„So einfach hatten sie es nicht“, wusste Miriam. „Auch wenn Tante Petra mit ihrem wissenschaftlichen Verlag ziemlich gut verdiente und ihr Mann ein berühmter Professor war, so hatten sie doch ihre Probleme und Schwierigkeiten wie jeder andere Mensch auch. Sie haben sich erst sehr spät kennengelernt, zu einer Zeit, als Petra keine eigenen Kinder mehr zur Welt bringen konnte, und deswegen haben sie vier fremde Kinder adoptiert.“

„Das ist doch auch wunderbar“, fand Wendy und nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche, die vor ihr stand. „Die Erziehung ist ganz wichtig, da hat man die Möglichkeit viele Kinder sehr positiv zu beeinflussen und ein wenig zu formen.“

„Ariane, Niklas, Giorgio und Elisabeta waren alle Problemkinder und keine Babys mehr, als sie von meiner Tante und ihrem Mann adoptiert wurden. In den Heimen, in denen sie bisher gelebt hatten, waren sie sehr stark aufgefallen mit allerlei ungewöhnlichen Verhaltensweisen. Und wenn Kinder einmal ein gewisses Alter erreicht haben, dann kann sich schon vieles gefestigt haben, was in den ersten Jahren nicht korrigiert wurde.“

Wendy staunte. „Und? Wie sind sie? Kennst du sie?“

„Nein, ich habe sie zum letzten Mal gesehen, da waren sie noch Kinder. Und oft, wenn ich in den Sommerferien da war, machten sie gerade Ferien in Kalabrien bei Giovannis Bruder. Jetzt sind sie auch alle erwachsen und wohnen in den verschiedensten Städten Italiens. Also, genau genommen habe ich sie seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen.“

Wendy erhaschte einen Blick auf einen schneebedeckten Berggipfel. „Tatsächlich! Die Aussicht fängt auch mir an zu gefallen. Aber warum hat deine Tante Petra ausgerechnet dich dazu auserwählt, mit allen über die schwierigen Bedingungen dieser Erbschaft zu sprechen? Das wäre doch die Angelegenheit eines Notars gewesen.“

Miriam lächelte. „Das ist keine Sache für einen Notar. Ich denke, ich werde einige Überredungskünste anwenden müssen, um die vier Kinder davon zu überzeugen, dass es wichtig ist, die beiden verfeindeten Neffen miteinander zu versöhnen.“

„Was sind das nun schon wieder für Neffen?“

„Es sind die Neffen von Tante Petra. Und sie wohnten bis vor kurzer Zeit in Sankt Augustine, einem kleinen historischen Städtchen. Sie wohnen maximal zwanzig Minuten auseinander und hätten von daher keine Schwierigkeit, sich oft zu treffen. Aber was tun sie stattdessen? Sie haben sich seit Jahren nicht angeschaut und gehen sich aus dem Weg, was in Sankt Augustine ziemlich schwierig ist.“

„Aber was ist denn vorgefallen?“ fragte Wendy interessiert. „Weswegen haben sie sich denn gestritten?“

„Es ging um eine Frau, eine sehr schöne und attraktive Schauspielerin. Beide waren in sie verliebt.“

„Und? Wer hat sie bekommen?“

Miriam lächelte. „Keiner von beiden. Aber jeder von beiden war wohl sauer auf den anderen, weil sie sich gegenseitig die Schuld zugeschoben haben, dass Kassiopeia die Flucht ergriffen hat.“

„Kassiopeia? Was ist das denn für ein Name? Ist das nicht ein Sternbild?“

„Ja, ein Sternbild des Nordhimmels. Aber das war nur der Künstlername. Mit bürgerlichem Namen hieß sie Hildegard Werter, und das gefiel ihr überhaupt nicht.“

„Also gut, gehen wir einmal davon aus, dass dich diese vier Adoptivkinder von Petra weder in deiner hübschen kleinen Berghütte besuchen wollen noch von dir an ihren italienischen Wohnorten besucht werden wollen. Nehmen wir an, diese beiden Neffen von Tante Petra werden immer verfeindet bleiben. Was dann?“

„Dann? Dann gehen alle leer aus, die Adoptivkinder und auch die beiden Neffen. Und die ganzen Immobilien und das Barvermögen, beziehungsweise die Aktien gehen als Spende an ein Tierheim. Natürlich könnten sie vermutlich ihr Pflichtteil einklagen. Aber wenn sie die Bedingungen von Tante Petra erfüllen, erbt jeder ein hübsches kleines Häuschen, alle vier Kinder und sogar die Neffen. Und diese Häuschen sind um einiges größer als meine hübsche Berghütte, in die ich mich schon als Kind verliebt habe.“

Wendy schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das noch nicht so ganz. „Wie kommt deine Tante auf die Idee, dass du mit ihren vier Pflegekindern, dass ihr zusammen die beiden verfeindeten Brüder versöhnen könntet? Hat sie sich dafür auch etwas ausgedacht?“

Miriam kicherte. „Sie scheint sich die ganzen letzten Jahre darüber Gedanken gemacht zu haben, sonst hätte sie sich nicht so eine verrückte Geschichte austüfteln können.“

Die Freundin seufzte. „Jetzt machst du mich aber neugierig.“

„Ich finde die Sache auch ziemlich skurril“, gab Petras Nichte zu. „Meine Tante hat die Geschichte von Kassiopeia aufgeschrieben. Und ihre vier Adoptivkinder und ich sollen dafür sorgen, dass daraus ein Bühnenstück wird, das man in Sankt Augustine im Theater des Schlosses aufführen kann. Zur Premiere werden dann die beiden verfeindeten Brüder Ron und Marek eingeladen, und sie müssen nebeneinandersitzen und sogar noch gemeinsam der Premierenfeier beiwohnen.“

Wendy hob die Augenbrauen. „Und davon verspricht sich deine Tante eine Versöhnung?“

„Offenbar ja. Und wenn nicht, dann ist das Erbe futsch.“

„Oh, dann werden die beiden sicher eine Versöhnung zum Schein vorspielen, um an die Erbschaft zu gelangen.“

„Immerhin ist es eine Chance für die beiden verfeindeten Brüder“, gab Wendy zu. „Aber wie kommt deine Tante darauf, dass ihr fünf Personen ein Bühnenstück zustande bringen könnt?“

„Elisabeta ist Journalistin und kann sehr gut Geschichten und Gedichte schreiben. Niklas ist Schreiner, der soll sich um das Bühnenbild kümmern. Ariane entwirft Modelle für eine Modefirma, sie könnte sich um die Kostüme kümmern. Und Giorgio leitet einen Gospelchor, der könnte für die musikalische Seite zuständig werden.“

„Und woher nehmt ihr die Schauspieler?“

„Der Ort Sankt Augustine hat eine fabelhafte Laienspielgruppe. Vielleicht finden diese Schauspieler Spaß daran, die Geschichte zu spielen. Und wenn nicht, müssen Ariane, Niklas, Giorgio und Elisabeta selbst einspringen.“

„Und was ist dann deine Aufgabe dabei?“

„Ich muss zuerst alle davon überzeugen, dass diese Versöhnung der Neffen ihrer Pflegemutter wichtig ist. Und dann muss ich sie alle betreuen und bis zu der möglichen Versöhnung begleiten. Erst dann habe ich die Freizeit und Möglichkeit, mich ein bisschen länger in der schönen Berghütte aufzuhalten.“

„Die vier Adoptivkinder scheinen doch ganz patent geworden zu sein. Da hast du doch bestimmt keine Schwierigkeiten“, vermutete Wendy.

„Leider hat mir Tante Petra genau das Gegenteil angedeutet. Die Karriere ihrer vier Pflegekinder ist wohl nur nach außen hin wie eine Fassade zufriedenstellend. Angeblich muss jeder von ihnen in einer ziemlichen Krise sein.“

„Gleich sind wir am Brenner“, freute sich Wendy. „Aber dann dürftest du doch gerade deswegen gar keine Schwierigkeiten haben. Wenn alle vier gut Geld gebrauchen können, dann werden sie sicher genau das tun, was sich ihre verstorbene Adoptivmutter wünscht.“

„Es sind wohl nicht nur finanzielle Probleme“, wusste Miriam, „und du weißt ja, Geld macht nicht glücklich. Viele sagen, es beruhigt, aber auch das bezweifle ich in manchem Fall.“

„Noch habe ich Urlaub“, lächelte Wendy siegessicher. „Ich bin sicher, dass ich dir helfen kann. Immerhin bin ich als ehemalige Arzthelferin täglich mit Menschen zusammen gewesen, die krank sind oder krank zu sein glauben. Die Probleme deiner Schützlinge werde ich sicherlich bald erkennen und mit dir gemeinsam nach einer Lösung suchen.“

Miriam hob ihren Kaffeebecher. „Darauf müssen wir anstoßen!“

2. Kapitel

Wendy öffnete das Fenster und blickte hinaus. „Der Blick in die Berge ist wirklich einmalig hier. Da hat sich deine Tante ein schönes Plätzchen ausgesucht für ihr Feriendomizil. Und heute, bei dem Sonnenschein sehe ich auf ein Bild, das man als Postkarte verschicken könnte.“

Miriam reckte sich und gähnte. „Das glaube ich dir ungesehen. Ich liebe dieses Mühlwalder Tal mit all seinen Mühlen und Sägen, mit den frischgrünen Almwiesen und den dunkelgrünen Nadelbäumen. Du wirst dich auch noch verlieben in die wilden Gebirgsbäche, deren Wellen über die Steine springen, und über all dem thronen die steinernen Bergmassive in ihren verschiedenen Farben und Strukturen.“

Die Freundin lächelte. „Du scheinst dich schnell zu verlieben, aber ich kann dich verstehen.“ Sie atmete die frische Bergluft tief ein.

Miriam grinste. „Sollte ich Petras Adoptivkinder in den diversen italienischen Städten aufsuchen müssen, wirst du, wie ich, feststellen, dass es eine ganze Menge Orte hier in Italien gibt, in die man sich verlieben kann.“

„Womit willst du anfangen?“ erkundigte sich Wendy.

„Heute kommt Ariane zu uns. Da müssen wir die zauberhaften Berge gar nicht verlassen. Ich habe erfahren, dass sie in einer Modefirma in Verona arbeitet, und das ist gar nicht so weit weg von hier. Wir können mit ihr einen Ausflug machen, oder sie in die Pizzeria am Meggima See einladen.“

Die Freundin hob die Augenbrauen. „Wenn sie für eine Modefirma arbeitet, ist sie sicher etwas Besseres gewohnt als eine Pizzeria.“

Miriam schüttelte den Kopf. „Nein, diese Pizzeria ist etwas ganz Besonderes. Dort werden nicht nur Naturprodukte verwendet, dort ist es gemütlich und doch zugleich vornehm. Die Speisen sind ganz exquisit, und auch die Pizza ist ein Gedicht. Wenn wir dorthin gehen, können wir uns nicht blamieren. Aber vielleicht hat Ariane auch ganz andere Wünsche.“

„Ist sie überhaupt eine Italienerin? Ariane ist doch ein deutscher Name.“

„Das hast du völlig richtig bemerkt. Ariane und Niklas sind aus deutschen Kinderheimen, während Giorgio und Elisabeta früher in italienischen Heimen gelebt haben.“

„Wann kommt denn unser Besuch? Können wir vorher noch ein bisschen in die Berge laufen? Ich bin schon ganz neugierig auf das viele Gestein, das du mir hier angekündigt hast. Ist auch noch etwas von dem Kupfer übrig, das früher in den Bergwerken abgebaut wurde?“

„Das Kupferbergwerk, von dem du sprichst, ist nicht direkt in unserer Gegend“, berichtete Miriam. „Aber oben hinter dem Neves Stausee sind ein großer Steinbruch und eine Alm. Dort kannst du alles finden, was dein Herz begehrt. Quarze in jeder Form und Farbe und wenn du Glück hast, auch ein paar Versteinerungen aus dem Tethysmeer.“

„Vielleicht können wir die modische Frau auch für solch eine Wanderung begeistern“, überlegte Wendy.

„Ich werde es ihr überlassen, wo wir den Tag verbringen sollen. Aber ich kann ihr natürlich mehrere Vorschläge machen, also, warum nicht auch einen Spaziergang in die verlockende Natur?!“

„Ich bin schon sehr gespannt, gespannt auf die Gegend hier, gespannt auf Ariane und gespannt auf die Argumente, die du finden wirst, um sie zu überzeugen, mit ihren Geschwistern ein Bühnenwerk auf die Beine zu stellen.“

Miriam lächelte. „Das kann ich auch erst nach einem guten Frühstück. Drinnen oder draußen?“

„Was für eine Frage! Bei diesem Wetter halten mich keine zehn Pferde in dem Häuschen, auch wenn es noch so romantisch ist.“

„Fein, dann fange ich schon einmal an, draußen den Tisch zu decken. Die frische Bergluft wird mich bestimmt inspirieren.“

Sie stapelte Geschirr auf einem Tablett, und belud es mit Marmelade, Butter, Bergkäse und frischen Bauernbrot. Wendy bereitete Kaffee zu, dessen Duft sich aromatisch in der Hütte ausbreitete.

Wenig später nahmen sie auf der kleinen, mit Natursteinen belegten Terrasse Platz.

„Ich fürchte, ich werde dich jetzt so manches Mal im Urlaub fragen, ob du in der Hütte noch Platz für mich hast“, meinte Wendy lächelnd.

Miriam sah einem Raubvogel zu, der hoch über ihnen kreiste. „Ich habe nichts dagegen. Wenn ich zusammen sein kann mit Menschen, die die Natur ebenso lieben wie ich, dann ist das völlig in Ordnung. Aber ich fürchte, Ariane wird uns nur etwas von der neuesten Mode zu erzählen haben, und das würde mich hier furchtbar langweilen.“

Während sich die beiden Freundinnen das Frühstück schmecken ließen, schweiften ihre Blicke immer wieder über das weite Bergpanorama.

„Die Sonne beleuchtet jeden einzelnen Stein“, stellte Wendy fest. „Licht und Schatten zeichnen die Strukturen exakt nach, sodass man Lust bekommt, die Bergmassive zu malen oder besser noch, zu zeichnen.“

Von einer Alm her läuteten die Kuhglocken in melodischen Klang.

„Wie friedlich das hier ist!“ begann Miriam zu schwärmen. „Bis hierhin ist uns die Hektik des Alltags nicht gefolgt. Ich hoffe, wir können hier einmal so richtig entspannen.“

In diesem Augenblick entdeckten die beiden eine weibliche Person, die auf sie zukam.

Sie trug einen eleganten Hosenanzug und dazu Schuhe mit mäßig hohen Absätzen. Fröhlich winkend kam sie näher.

„Hallo! Endlich habe ich euch gefunden. Mein Gepäck habe ich erst noch mal unten gelassen, es wird sich sicher jemand finden, der es mir hier heraufbringt.“

Miriam stand auf und begrüßte die Fremde. „Du bist bestimmt Ariane aus Verona, Tante Petras jüngste Tochter. Sei herzlich Willkommen hier in der schönen Bergwelt!“

Wendy erhob sich ebenfalls. „Ich bin nur die alte Freundin aus der Kinderzeit“, erklärte sie und zeigte auf ihren Pullover, auf dem ihr Namenszug geschrieben war. „Und das ist mein Name. Sehe ich das richtig, dass du bei uns hier oben wohnen möchtest? Ist diese Hütte denn hier vornehm genug für dich?“

„Für ein paar Tage wird es schon gehen“, meinte Ariane. „Oder muss ich jetzt den ganzen Sommer über hierbleiben?“

„Der Sommer ist schon fast vorbei“, bemerkte Miriam mit Bedauern in der Stimme. „Ich habe wirklich keine Ahnung, wie lange es dauert, bis wir etwas arrangiert haben und Tante Petras Wünsche erfüllen können. Aber setz dich doch und trink einen Kaffee mit uns!“

Ariane setzte sich auf eine der alten Holzbänke und streckte die Beine aus. „Puh! Das war ganz schön anstrengend zu euch nach oben. Jeden Tag möchte ich das nicht machen“, sagte sie stöhnend.

„Wir werden hier in den nächsten Tagen ziemlich viel wandern“, teilte ihr Wendy mit. Die Gelegenheit hatten wir nämlich das ganze Jahr noch nicht. Aber bei euch in Verona ist es ja ziemlich flach, und so hohe Berge wie hier gab es ja in der Toskana auch nicht. Da hast du wohl noch nie so viel mit den Bergen zu tun gehabt, oder?“

„Nein, ich bin tatsächlich lieber am Meer, und ich habe meine ersten neun Jahre in einem Kinderheim an der Ostsee verbracht. Die Gegend in der Toskana bei Petra kam mir dann wie ein Paradies vor.“

„Du sagst nicht Mutter zu ihr?“ wunderte sich Wendy. „War sie nicht wie eine Mama zu dir?“

„Keine Ahnung“, sagte Ariane leichthin. „Ich habe nur ganz kurz eine Mutter gehabt. Die nächsten Jahre habe ich im Waisenhaus verbracht. Für mich war sie die „Petra“, und ich habe sie auf jeden Fall gemocht. Sie war immer ganz nett und meist fair zu mir. Aber jetzt bin ich doch sehr neugierig, was sie sich ausgedacht hat.“

„Es liegt ihr am Herzen, ihre beiden Neffen Ron und Marek zu versöhnen, die sich seit Jahren nicht mehr anschauen“, begann Miriam und teilte ihr die Details mit.

Die Modezeichnerin nahm einen Schluck Kaffee, den ihr Wendy eingeschenkt hatte und runzelte die Stirn. „Da hat sie sich aber wirklich etwas Verrücktes ausgedacht. Ich kenne die beiden Brüder nicht, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Giorgio, Niklas und Elisabeta irgendeinen Einfluss auf sie haben könnten. Die drei führen ihr eigenes Leben, und selbst wir hatten jetzt seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zueinander. Und inzwischen bin ich neunundzwanzig Jahre alt.“

„Habt ihr euch denn als Geschwister nicht gut verstanden?“ erkundigte sich Wendy.

„Wir haben uns nicht miteinander gestritten, so wie mit den Heimkindern. Aber das lag daran, dass wir unsere eigenen Hobbys hatten, und der Hof von Giovanni und Petra war groß genug, sodass man sich aus dem Weg gehen konnte. Allerdings mussten wir eine Mahlzeit am Tag gemeinsam einnehmen. In der Woche war es das Abendessen, und am Wochenende das Frühstück, damit man auch abends einmal ausgehen konnte.“

„Du sprichst sehr gut Deutsch“, lobte Miriam die junge Frau. „Hast du das bei Tante Petra gelernt?“

„Ja, sie hat immer mit uns Deutsch gesprochen und Giovanni natürlich Italienisch. In der Schule haben wir dann beides gelernt, und ab und zu ist Petra mit uns auch nach Deutschland gefahren, damit wir Land und Leute kennenlernen sollten. Ich bin dann mit zwanzig Jahren nach Mailand und habe dort viele Ausbildungen angefangen, bis ich dann Modezeichnerin geworden bin. Zuerst habe ich das Nähen gelernt, und danach habe ich ein Jahr lang bei den Kostümen im Theater gearbeitet.“

Wendy atmete tief. „Ach so, deswegen hat dich deine Adoptivmutter auch dazu auserkoren, dich um die Kostüme zu kümmern. Und wie sieht es bei dir in der Partnerschaft aus?“

„Im Moment bin ich solo, und ich suche auch niemanden. Allein in der großen Stadt habe ich da so meine Erfahrung mit den Männern gemacht. Immerhin war ich zweimal verlobt, aber die Herren der Schöpfung konnten nichts anderes als mein sauer verdientes Geld auszugeben, und da musste ich natürlich einen Riegel vorschieben. Dabei kann ich mich auch nur gerade so über Wasser halten.“

Wendy musterte Arianes Hosenanzug. „Dafür bist du aber ganz schön elegant gekleidet. Viel und wenig Geld, das ist natürlich relativ.“

Ariane hob die Augenbrauen. „Den Anzug habe ich zu einem guten Preis bekommen, euch kann ich das ja anvertrauen. Ich bin sicher, dass ihr nicht darauf aus seid, mein Privatleben auszuplaudern.“

Miriam nickte. „Du kannst uns vertrauen. Ich würde nie etwas tun, was Tante Petras Kindern schaden kann. Und ich kann gut Geheimnisse für mich behalten. Wir werden bestimmt gute Freunde, während wir den letzten Willen deiner Adoptivmutter erfüllen. Kennst du denn die Geschichte von Ron und Marek?“

„Nein, ich habe zwar gewusst, dass sie nicht miteinander verkehren, aber aus welchem Grund, das haben wir nicht erfahren. Ich war nur ein einziges Mal dabei, als Elisabeta Giovanni nach Ron und Marek gefragt hat, aber er hat abgewunken und gesagt, wir sollen doch unsere Mutter mit Fragen nach den beiden verschonen, weil es für sie wohl auch ziemlich schmerzhaft sei.“

„Dann muss sie wohl Ron und Marek auch sehr gern gehabt haben“, überlegte Wendy. „Wenn ihr das Schicksal der beiden so nah gegangen ist, hat sie die beiden bestimmt sehr gemocht.“

„Das will ich wohl meinen“, antwortete Ariane mit Bestimmtheit. „Wenn sie sogar jedem von ihnen ein Haus vermachen will, dann sind sie ihr mit Sicherheit sehr wichtig gewesen. Ich will die Sache so schnell wie möglich erledigen. Also, wo ist die Geschichte. Ich werde mir schnellstmöglich dazu die Kostüme ausdenken und sie entwerfen.“

„Ich habe sie noch nicht hier“, verriet Miriam. „Ein Freund von Tante Petra und Giovanni, Roberto Bianchi ist auf dem Weg zu uns und will sie uns vorbeibringen. Ich kann allerdings nicht genau sagen, wann er hier eintreffen wird.“

„Kommt er aus der Toskana?“ fragte Ariane interessiert.

„Nein, er hat ein Haus auf einer der Äolischen Inseln“, wusste Tante Petras Nichte. „Er kommt dann von dort, obwohl er in der Toskana arbeitet.“

Die Modezeichnerin verzog den Mund und schmollte. „Das hätte ich nicht gedacht, dass alles so kompliziert ist. Ich habe jetzt gar nicht viel eingepackt und mich gar nicht auf eine lange Zeit hier eingerichtet. Nicht einmal Geld habe ich mir genügend mitgenommen.“

„Das ist doch nicht schlimm“, tröstete Miriam. „Du kannst einfach hier bei uns bleiben und muss dich um nichts kümmern. Wir haben genug zu essen und zu trinken und andere Dinge brauchen wir hier oben im Moment gar nicht.“

„Und außerdem wird dieser Signore Bianchi bestimmt nicht zu Fuß hierherkommen. Mit dem Flieger ist das doch aus dem Süden gar kein Problem. Es wird schon keine Ewigkeit dauern, bis alles weitergeht“, fügte Wendy tröstend hinzu.

3. Kapitel

Miriam und Wendy waren an der Wegabzweigung hinter der Neves Alm angekommen und hatten einen freien Blick auf die Bergspitzen, die die Grenze zwischen Italien und Österreich bildeten.

Sie blieben stehen und atmeten tief durch, um die frische Bergluft zu spüren. Während die Sonne noch hoch über ihnen stand, zeigten sich am leuchtend blauen Himmel kleine weiße Wolken, die sich schnell wieder auflösten.

„Wie gut, dass sich Ariane im Liegestuhl wohlfühlt“, fand Wendy. „Bei solch einer Wanderung hätte sie uns bestimmt die gute Laune verdorben. Was hältst du jetzt von ihr? Ist sie nicht ein bisschen überheblich?“

Miriam überlegte einen Augenblick. „Ich habe schon eine eitle junge Frau erwartet, für die die Mode sehr wichtig ist. Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, dass sie eine Großverdienerin ist, denn sie scheint es mit ihrem Erbe ziemlich eilig zu haben.“

„Das Ganze kommt mir recht komisch vor. Sie muss schon sehr übereilt abgereist sein, wenn sie nicht einmal Geld mitgenommen hat.“

„In der heutigen Zeit reisen viele Leute nur noch mit ihren Scheckkarten“, wusste Miriam. „Und wenn sie sofort losgefahren ist, konnte sie bestimmt nicht mehr zu einer Bank, um dort Bargeld zu holen.“

Die Freundin überlegte. „Ich habe mal im Internet recherchiert und geschaut, ob Ariane dort eine interessante Seite hat, aber es ist nicht viel über sie zu lesen. So wirklich berühmt scheint sie nicht geworden zu sein. Aber ihre Kleidung sieht schon recht teuer aus. Wirst du ganz schlau aus ihr?“

„Nein, auch wenn sie uns eine ganze Menge über fantastische Aufträge erzählt hat, macht sie mir nicht den Eindruck einer reichen und verwöhnten Frau. Ich denke mit viel Geld hätte sie sich sicher unten im Wellness Hotel einquartiert und wäre nicht zu uns in die Almhütte gezogen.“

Wendy nickte. „Da bin ich ganz deiner Meinung. Möglicherweise hat sie doch keine so große Karriere gemacht, oder sie hatte wirklich ein paar schlimme Beziehungen, die ihr einen Verlust eingebracht haben.“

„Auf jeden Fall ist es schön für sie, dass sie jetzt von ihrer Adoptivmutter die Chance erhält, finanziell neu beginnen zu können. Immerhin ist sie ja auch noch sehr jung und kann mit einem Neustart bestimmt viel anfangen“, überlegte Miriam. „Aber ich finde es schon ein bisschen merkwürdig, dass die Adoptivkinder nicht wirklich in enger Verbindung geblieben sind. Ob das daran liegt, dass sie so verschieden sind? Oder sind sie einfach aufgrund ihres Schicksals Einzelgänger geblieben?“

Wendy beobachtete den Wanderfalken, der über ihnen flog. „Wir wissen noch zu wenig über die Adoptivkinder deiner Tante. Wenn sie alle nicht mehr so ganz klein waren, als sie von ihr und deinem Onkel aufgenommen wurden, dann kann schon allerlei in ihrem Leben geschehen sein, das sie vielleicht doch heute noch belastet.“

Miriam hob einen Stein auf. „Schau nur! Ich habe eine Versteinerung aus dem Tethysmeer gefunden. Ist das nicht fantastisch, wie sich die Alpen durch die Verschiebung der Kontinentalplatten entwickelt haben?! Man kann hier immer wieder die unterschiedlichsten Gesteinsarten finden.“

Die Freundin nickte. „Ja, ich bin auch so ein Fan der Gesteine. Selbst wenn es nichts besonders Wertvolles ist, finde ich immer etwas Schönes an ihnen. Hast du eigentlich von den anderen Adoptivkindern schon eine Antwort bekommen?“

„Ja. Glücklicherweise gibt es heutzutage das Internet. Da muss man nicht auf einen Brief warten, der einen langen Postweg hat. Niklas, der Schreiner hatte mir zuerst geschrieben, dass er keine Zeit hat, sich in der nächsten Zeit mit uns hier in der Gegend zu treffen. Er wohnt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Rom und wollte ursprünglich, dass wir dorthin kommen. Aber dann fand er wohl doch jemanden, der ihn kurzfristig vertritt, und so will er sich mit uns morgen in Bruneck treffen.“

„Wird Ariane denn mit uns dorthin fahren?“

„Bis jetzt konnte ich sie noch nicht dazu überreden. Sie hat mir ein Tablet und einen Zeichenblock gezeigt. Angeblich muss sie morgen früh zeichnen und dringend einen Entwurf fertig machen. Aber ich nehme ihr das nicht ab, denn wieso hat sie dann heute Zeit, den Tag im Liegestuhl zu verbringen?“

Wendy überlegte. „Ob sie irgendwie miteinander zerstritten sind oder eifersüchtig aufeinander waren? Vielleicht hätte deine Tante lieber nur ein Kind adoptieren sollen. Oder vielleicht nur zwei. Aber die Liebe und Aufmerksamkeit und Fürsorge auf vier Kinder zu verteilen, das ist schon wieder eine ganze Menge. Möglicherweise hat einer dem anderen die Zuwendung der Adoptiveltern geneidet.“

„Das glaube ich nicht“, entgegnete Miriam. „Ich kenne Tante Petra gut. Sie hat bestimmt alle ihre Gefühle gleichmäßig unter den Kindern verteilt. Sie war sehr gerecht und hatte große pädagogische Fähigkeiten. Außerdem ist es gut, wenn man früh im Leben lernt, dass man nicht allein auf der Welt ist. Und dass man teilen muss, das haben die Kinder sicher auch schon im Heim gelernt.“

„Weißt du denn schon etwas über den Niklas? Hat er eine Frau, vielleicht eine Familie?“

„Er ist auch nicht verheiratet. Ob er allerdings jetzt eine Freundin hat, darüber bin ich nicht informiert. Er wollte jedenfalls schon eine ganze Menge über seine Aufgabe wissen, weil er glaubt, sich lange darauf vorbereiten zu müssen. Ich hatte den Eindruck, dass er ein gewissenhafter Mensch ist, sofern man das nach dem kurzen schriftlichen Verkehr beurteilen kann.“