Steter Tropfen - Ulrike Werdün - E-Book

Steter Tropfen E-Book

Ulrike Werdün

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Beschreibung

Auf der Feier zu Glorias 14. Geburtstag kommt ihre jüngere Nichte bei einem tragischen Unfall ums Leben. Die Familie legt einen Mantel des Schweigens über das Ereignis; insgeheim glauben alle, die etwas sonderbare Gloria selbst trage Schuld am Tod des Mädchens. Jahre später, nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters, wird Gloria notgedrungen mit der Vergangenheit konfrontiert. Mysteriöse Vorkommnisse lassen ihr keine Ruhe. Sie stellt Fragen, die keiner hören will, und bemerkt nicht, in welche Gefahr sie sich damit begibt...

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Ich möchte dieses Buch meinem Mann widmen, der mir nicht nur zu jeder Zeit den Rücken freihält, sondern diesen auch, mit seiner Geduld und Liebe, stärkt.

Inhaltsverzeichnis

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

XII. Kapitel

XIII. Kapitel

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI Kapitel

XVII. Kapitel

XVIII. Kapitel

XIX. Kapitel

XX. Kapitel

XXI. Kapitel

XXII. Kapitel

XXIII. Kapitel

XXIV. Kapitel

I. Kapitel

Es hätte ein perfekter Tag werden können. Nach starken Regenfällen und einer drückenden Schwüle in der vergangenen Woche zeigte der Sommer endlich seine wahre Stärke. Schon am Morgen erstrahlte der Garten hinter ihrem Elternhaus in leuchtend satten Farben, wie sie nur das Sonnenlicht im Juli herbei-zaubern konnte. Gloria war von wildem Vogelge-zwitscher geweckt worden und mit einem energiegeladenen Satz aus dem Bett gesprungen. Vom Fenster ihres Zimmers aus sah sie einen Augenblick lang nachdenklich hinab in den Garten. Ihre Eltern hatten bereits damit begonnen, den Morgentau von Tischen und Stühlen zu wischen und große Sonnenschirme als Schattenspender rund um den langen Gartentisch aufzustellen, der ihnen am Nachmittag als Festtafel dienen würde. Der Wetterbericht hatte für den Tag über dreißig Grad angekündigt, sodass einem glorreichen vierzehnten Geburtstag nichts mehr im Wege stand.

Gloria schmunzelte. Im Gegensatz zu anderen Kindern hatte sie ihren Namen immer gemocht. Gloria.

Ihr Großvater hatte ihr, als er noch lebte, einmal erzählt, dass der Name aus dem Lateinischen komme und Ruhm bedeute. Wer wusste es schon, vielleicht würde sie ja eines Tages tatsächlich berühmt werden. Es dauerte nicht lange und sie war geduscht, angezogen und voller Tatendrang. Sie stürmte in den Garten, als ihr Vater gerade mit einem Turm von Sitzkissen, den er vor sich her balancierte, auf die Terrasse trat. Vorsichtig setzte er seine Füße voreinander, weil ihm der Stapel völlig die Sicht nahm. Seine Frau eilte ihm zur Hilfe.

„Karl, warum rufst du mich denn nicht? Ich hätte dir doch helfen können.“ Hastig griff sie die oberen Kissen ab.

„Glaubst du, dein Mann ist ein Schwächling?“, prus-tete er belustigt los, worauf sie nur sanft lächelte.

Als Gloria zu ihnen trat, zeigte sich für den Bruchteil einer Sekunde ein trauriger Schatten auf dem Gesicht ihrer Mutter. Dann legte sie die Kissen sorgfältig auf einer Bank ab, eilte ihrer Tochter entgegen und drückte ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Mein Engel, ich wünsche dir alles Gute zu deinem Geburtstag. Möge dein neues Lebensjahr ein steter Wandel auf Pfaden der Sorglosigkeit sein!“

„Ach, Mama“, Gloria machte sich kichernd von ihr los, „warum musst du immer so geschwollen daher-reden? Kannst du nicht einfach ‚Happy Birthday’ sagen?“

Ihr Vater tat es seiner Frau gleich und zog seine Tochter schwungvoll an seine Brust. Dabei schien Gloria in seinem großen, stattlichen Körper zu versinken. Karl Brix maß gut einen Meter fünfundneunzig, und seine Statur war die eines Mannes, der sehr auf seine körperliche Gesundheit achtete. Auch wenn er als Direktor einer namhaften Bank seiner Arbeit vorzugsweise im Büro nachging, legte er größten Wert auf sportlichen Ausgleich. Zweimal in der Woche lief er fünfzehn Kilometer durch einen nahegelegenen Wald und traf sich jeden Samstag mit einem guten Freund zum Tennis. Gloria hatte immer geglaubt, dass ihren Vater durch sein Training und seine immerzu gute Laune einfach nichts erschüttern könne.

Doch ungefähr ein Jahr zuvor hatte sie erleben müssen, dass er alles andere als unverwundbar war. Bei einem Biss in ein Stück Nusskuchen war eine heftige allergische Reaktion aufgetreten, die ihn fast in die Knie gezwungen hatte. An diesem Tag hatte er nicht nur nach Atem, sondern auch um sein Leben gerungen. Es hatte Gloria damals bis ins Mark erschüttert. Ihr Vater war für sie der Inbegriff der Un-verwüstbarkeit gewesen. Doch von jetzt auf gleich hatte er an Stärke eingebüßt und seine Unantastbar-keit verloren. Damals hatte sie solche Angst um ihn gehabt, dass sie noch heute bei dieser Erinnerung schmerzvoll das Gesicht verzog.

Sie stieß sich sanft von ihm ab, besah ihn sich, als sähe sie diesen Mann zum ersten Mal, und fragte sich, wie lange er noch würde für sie da sein können. Eigentlich zeigte nur sein dünnes Haupthaar, dass er seinen fünfzigsten Geburtstag schon vor einigen Jahren gefeiert hatte.

Er wuschelte ihr über den blonden Pagenkopf und sagte, als hätte er es eben erst bemerkt: „Du bist wirklich schon eine reife, junge Dame geworden.“ Und halb zu seiner Frau gewandt fügte er hinzu: „Inge, du würdest mir doch sagen, wenn es Anwärter auf die Hand dieser bezaubernden Frau gäbe? Ich müsste dann nämlich gewisse Sicherheitsvorkehrungen treffen, wenn du weißt, was ich meine?“ Er zwinkerte ihr vielsagend zu.

Das Lachen seiner Frau war klar und ehrlich. Etwas, das Gloria an ihrer Mutter liebte. Sie konnte ihren Kopf in den Nacken werfen und sich einfach des Lebens freuen. So wie in diesem Moment. Ihr dichtes, blondes Haar glänzte im Sonnenlicht des frühen Tages, und ihre Haut erinnerte Gloria an einen Pfirsich. Ein bisschen flauschig und leicht gerötet. So sah sie aus, seit Gloria denken konnte. Inge sah ihren Ehemann und ihre Tochter mit ihren warmen, braunen Augen liebevoll an, als würde sie alles vor sich sehen, was ihr Leben reich machte. Sie trug ein schlichtes, weißes Leinenkleid mit Stickereien an Ärmeln und Saum und dazu bequeme, aber elegante, silberne Sandalen. Heute empfand Gloria ihre Mutter etwas gelöster und entspannter als in den letzten Monaten.

Ihretwegen.

Inge Brix hatte ein Catering beauftragt, weil ihr Mann schon Jahre zuvor, nachdem er über das entsprechende Einkommen verfügt hatte, meinte, dass seine Frau Feierlichkeiten nicht am Herd, sondern im Kreis ihrer Familie verbringen solle. Aus diesem Grund wurden gegen Mittag Variationen an Fingerfood und Süßspeisen auf zahlreichen Platten in den Garten getragen und auf einer länglichen Tafel am Rande der Terrasse drapiert. Inge beaufsichtigte die Vorbereitungen wie eine Konzertdirigentin, während ihr Mann sich um die Musikanlage kümmerte.

Zwischendurch ließ er immer wieder einen schnellen Blick zu Gloria huschen, die sich auf die Schaukel an der großen, alten Kastanie zurückgezogen hatte und anscheinend verträumt, mit geschlossenen Augen, leicht hin und her schwang. Besorgt sah er zu seiner Frau hinüber, die seine Blicke auffing und unmittelbar reagierte.

Inge entschuldigte sich bei den Helfern und überquerte den großzügigen Rasen, der nach Norden hin an das Grundstück eines Nachbarn grenzte. Den Kindern der Nachbarschaft flößte der Eigentümer dieses Hauses seit jeher allein durch seine Erscheinung große Angst ein. Sein Grundstück war wegen des dichten Bewuchses an der Grundstücksgrenze nur vage zu erkennen. Der Alte galt als Eigenbrötler und ging lediglich vor die Tür, wenn er mit seinem Dackel Maxl die Runde machte. Die übrige Zeit schien er auf der Lauer zu liegen. Niemand wusste, auf was er eigentlich wartete. Doch schon jedes Mitglied der Familie Brix war mindestens einmal erschreckt worden, wenn er plötzlich lautlos im Dickicht hinter dem Zaun erschien und stumm beobachtete. Auf freundliches Grüßen reagierte er meist nur abweisend und stakste mürrisch davon. Die Einzige, auf die er immer positiv ansprach, war Gloria. Wenn er sie sah, konnte es sogar passieren, dass der Hauch eines Lä-chelns über seine schmalen, verbissenen Lippen huschte.

Etwas weiter nord-östlich, im Schatten einiger kräftiger Laubbäume, stand die Gartenlaube, in der Gloria in den Sommern ihrer Kindheitstage oft mit ihren Freundinnen übernachtet hatte. Heute wurden dort nur noch Rasenmäher, alte Gartenstühle, ein zerlegtes Baumhaus und ähnliche, überwiegend ungenutzte Gegenstände gelagert. Das Grundstück verlief im Osten, in Richtung freier Felder, sanft zu einem kleinen Wäldchen leicht abschüssig. Vom Haus aus, das in der Nachbarschaft gerne auch das „Little White House“ genannt wurde, weil seine Front wie weißer Carrara-Marmor leuchtete und der Eingang von zwei gedrehten Säulen geziert wurde, konnte man abends über die Rasenfläche, vorbei an der großen, alten Kastanie, bis hinunter ins rot-getünchte Bergische Land schauen.

Inge kam neben der Schaukel zum Stehen, ohne Gloria anzusprechen. Sie sah ihrer Tochter einen Moment lang dabei zu, wie sie ihren Kopf an die Stricke der Schaukel gelehnt hielt, sich leicht mit ihr drehte und offenbar träumte.

Gloria pendelte in kleinen Kreisen weiter und meinte nachdrücklich, ohne die Augen zu öffnen: „Mama, mir geht’s gut. Wirklich.“ Jetzt hob sie langsam ihre Lider und sah ihre Mutter aus durchdringenden, blauen Augen an, die diese meist als klug, manchmal aber auch als unendlich beängstigend empfand. Inge wusste, dass sie so nicht über ihr eigenes Kind denken sollte, doch ihre Tochter hatte ihr hinreichend Anlass gegeben, wachsam zu sein. Gloria sprühte vor Intelligenz, gerne aber auch vor pubertärem Sarkasmus. Das eine war ein Segen. Und an vielen Tagen das andere ein Fluch. Jetzt, da eine Kombination aus Licht und Schatten durch die Blätter des Baumes fiel und kleine Sonnenpunkte auf dem goldenen Pagenkopf ihrer Tochter Nachlaufen spielten, schien es, als umgäbe das Kind etwas Mystisches. Ein Effekt, der es nahezu ätherisch wirken ließ und nur durch eine Vielzahl von Sommersprossen entwaffnet wurde, die seine Nase und Wangenknochen frech umspielten.

„Mach dir nicht immer so viele Sorgen!“, wies Gloria ihre Mutter an, die wünschte, dass das genau so einfach wäre, wie ihre Tochter es ihr abverlangte. Seit Gloria ihr von den Visionen erzählt hatte, ließ sie die Vorstellung nicht mehr los, dass ihre Tochter entweder unter großen Ängsten oder einer schwerwiegenden Krankheit leiden könnte. Sie und ihr Mann hatten noch versucht Gloria zu beruhigen und gemeint, dass das Gehirn ganz aberwitzige Kapriolen schlage, wenn es bei Nacht alle Ereignisse des Tages verarbeiten müsse. Doch als Gloria zehn geworden war, beschlossen sie, eine gute Freundin zu konsultieren, die als Kinderpsychologin auf viele Erfolge in ihrer Arbeit mit Jugendlichen zurückblicken konnte. Trotz allen Fachwissens, das sie bei Gloria unter Beweis gestellt hatte, war es ihr bisher nicht gelungen, dem Mädchen die schwere Last zu nehmen, die es schier zu erdrücken schien. Das Einzige, was etwas Wirkung zeigte, waren die Medikamente, die die Ärztin Gloria gab, um das Leiden in Schach halten zu können.

Für Außenstehende schien sie für ihr Alter nachdenklich und verschlossen zu sein. Aber ihre Familie wusste, dass hinter dieser Ernsthaftigkeit viel mehr steckte, als manch einer verstehen konnte. Und um Gloria nicht zusätzlich zu belasten, wurde im Kreis der Verwandten nie offen über ihr Problem gesprochen. Zumindest hatten sie gemeinsam beschlossen, Glorias Wohl vorzuschieben, um nicht tiefer in ihr unerklärliches Seelenleben eintauchen zu müssen.

Die Gäste wurden gegen Mittag erwartet, und Gloria bat in ihrer kühlen Eigenart darum, noch einen Augenblick allein sein zu können, bevor alle kamen. Glorias Mutter verstand und ließ ihre Tochter für eine Weile allein.

Doch nur eine halbe Stunde später winkte Inge ihre Tochter von der Terrasse aus zu sich. Glorias Bruder Alex war im Schlepptau seiner mürrischen und immerzu unzufriedenen Frau Katrin und seinen beiden Kindern aufgetaucht. Sein dreijähriger Sohn Sven war für Glorias Geschmack ein richtiger Quälgeist. Sandra jedoch, seine uneheliche Tochter, mit auffällig dunkler Hautfarbe, ging Gloria gründlich gegen den Strich. Alle wussten, dass Katrins Kind aus einem Fehltritt mit einem Marokkaner hervorgegangen war. Dies jedoch Jahre bevor sie Alex kennengelernt hatte. Doch darüber wurde in der Familie geschwiegen. Im Schweigen, wusste Gloria, war ihre Familie besonders stark.

Alex war der Älteste im Bunde der Brix-Kinder und genoss in dieser Rolle Glorias Sympathie. Sie sah zu ihrem Bruder auf, auch wenn sie wusste, dass er einige Schwächen hatte. Eine davon war sein übermäßiger Alkoholkonsum. Doch sie verzieh es ihm, war er doch immer für sie da und teilte zudem ihre Leidenschaft für Tiere. Er war es auch, der sie immer wieder in ihrem Wunsch bestärkte, später einmal Tierärztin zu werden.

Als sie bei der Gruppe eintraf, gratulierte Alex ihr auf kumpelhafte Art: „Na, Schwesterchen, heute schon Menschen gefressen?“ Er überreichte ihr feierlich ein hübsch verpacktes Paket und ließ sie wissen, dass er es mit Sorgfalt ausgewählt hatte. „Ich habe lange suchen müssen, aber ich glaube, es wird dir gefallen.“

Er zog sich die Jeanshose bis zu seinem Bauchring hoch und nestelte geschäftig an seinem Gürtel. Sein blondes, strähniges Haar war zu einer Seite gekämmt, und ein kleiner Schnurrbart tanzte bei jedem Wort auf seiner Oberlippe, als wollte er vor seinem Träger fliehen. Alex‘ gestreiftes Hemd zeigte bereits Flecken unter den Achseln, die so gar nicht zu seiner Lässigkeit passten.

Glorias Neugier war geweckt. Sie drehte das Päckchen in ihren Händen und wusste schon zu diesem Zeitpunkt, dass ihr Bruder sich sicher etwas Besonderes für sie überlegt haben musste.

Gloria entwirrte das Geschenk aus dem Papier und fand einen Bildband der Tierlehre. Kein Kinderbuch, sondern ein richtiges Sachbuch, das, so verriet es der Einband, hilfreiches Wissen zur Anatomie und zum Verhalten verschiedener Tierarten vermitteln sollte.

Gloria strahlte. „Danke, Alex“, sagte sie, spürte jedoch, wie dabei der eifersüchtige Blick ihrer Schwägerin auf ihr lag.

Nur wenig später tauchte ihre Schwester Sofia mit deren fettleibigen Ehemann auf. Während ihre Schwester anscheinend ausschließlich von Luft, Sport und hin und wieder einem Gemüse-Smoothie lebte, musste ihr Mann seinen Bauch unter höchster Anstrengung aus dem Porsche Cayenne wuchten. Lothar, stadtbekannter Zahnarzt, schleifte die gemeinsamen Zwillingstöchter Ann-Kathrin und Ma-rie-Sofie wie zwei widerspenstige Esel hinter sich her. Als er zu der Gruppe stieß, fuhr er sich angestrengt mit einem großen Stofftaschentuch, das er sich umständlich aus der Hosentasche zog, über das Gesicht und fluchte über die furchtbare Hitze. Dann stapfte er geradewegs zu einem Gartenstuhl, in den er sich geräuschvoll fallen ließ. Unter seinem Gewicht gab der Stuhl einen knacksenden Laut von sich. Mit einem großen Glas alkoholfreiem Weizenbier konnte Karl Brix den Unmut seines Schwiegersohnes, der im Übrigen beinahe so alt war wie er selbst, besänftigen.

Sofia balancierte auf schwindelerregend hohen Schuhen in den Garten und begrüßte zunächst ihre Eltern, ihren Bruder Alex, dessen Frau und dann deren Kinder. Alex‘ Tochter wurde von ihr allerdings nur mit einem angedeuteten Winken bedacht. „Alles Gute wünsche ich dir“, hauchte sie Gloria mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange zu. Ihre Augen sagten jedoch etwas anderes.

Sofia streckte ihrer kleinen Schwester gleichgültig ein Geschenk entgegen. Das Päckchen war mit zahlreichen Schleifen versehen und enthielt sicherlich, wie das Jahr zuvor, ein sündhaft teures Kosmetikset, das Gloria niemals nutzen würde, weil sie mit Kosmetika nichts anfangen konnte.

Sofia flippte ihr langes Haar in den Nacken und meinte mit einer Kopfbewegung zu ihrem Bruder: „Hat er es wieder verstanden, dich mit seinem Geschenk zu verblüffen?“ Anstatt eine Antwort darauf zu geben, bedankte sich Gloria knapp bei Sofia und ihrem Mann, indem sie das Päckchen kurz anhob und ihnen zunickte. Schon zu diesem Zeitpunkt stand ihr Entschluss fest, es ungeöffnet in einer Schublade verschwinden zu lassen.

Die Hitze hatte den Garten mittlerweile vollständig für sich eingenommen und ihre Schwägerin Katrin bereits zum dritten Mal das Buffet gestürmt, als endlich Glorias jüngste Schwester Tanja eintraf. Tanja war nicht wie sie, aber sie war auch anders als alle anderen. Vater nannte sie gerne nachsichtig sein „schwarzes Lämmchen.“ Sie durchbrach nicht nur die optische Linie der Familie mit ihren gefärbten, pechschwarzen und raspelkurzen Haaren, ihren zahlreichen Tattoos und einem Hang dazu, Kleidung mit Nieten und Löchern zu tragen. Tanja war zudem ungewollt von einem Mann schwanger, den sie in die Wüste geschickt hatte, als er ihr abverlangen wollte, das Kind abzutreiben.

Gloria rannte ihr freudestrahlend entgegen, als sie am Gartentor auftauchte und ihr zuwinkte. Nichts tat so gut wie die Umarmung ihrer Schwester. Sie vermisste sie seit Tanja zwei Jahre zuvor aus ihrem oberbergischen Heimat-Dörfchen Bellingroth nach Köln-Ehrenfeld, umgezogen war. In dem großen Haus fühlte es sich manchmal richtig einsam ohne sie an. Doch das wollte Gloria niemanden wissen lassen. Mit diesem Gefühl drückte sie ihre Schwester an sich, bis ihr plötzlich schlagartig etwas klar wurde: „Oh, mein Gott, es tut mir leid!“ Mit einem schnellen Blick auf Tanjas Bäuchlein errötete Gloria.

„Nein, hey, Glory“, ihre Schwester winkte gelassen ab, „da drin wächst nur ein Kind heran, und ich denke, dass sie Umarmungen liebt.“

Gloria riss begeistert die Augen auf: „Es wird ein Mädchen?“

Tanja legte einen Finger an die Lippen und zischte ihr zu: „Ja, aber das ist unser Geheimnis, okay? Lass uns heute bloß kein Fass aufmachen.“

Das Gel in ihren kurzen Haaren glänzte in der Sonne, und es war offensichtlich, dass sie das T-Shirt mit dem glitzernden Totenkopf selbst so zugeschnitten hatte, dass es reichlich Einblick auf einen wirklich heißen, schwarzen Spitzen-BH und das monströse Drachen-Tattoo zuließ, das sich ihre gesamte Wirbelsäule hinabschlängelte. An diesem Tag trug sie, der Hitze trotzend, eine enge Lederhose, die sie einfach im Bund offenstehen ließ. Die Länge des Oberteils reichte allerdings nicht aus, um ihren offenen Hosenstall zu kaschieren.

Als sie die Blicke ihrer jüngeren Schwester bemerkte, sah sie an sich hinab und bemerkte, was anscheinend auch Gloria durch den Sinn ging: „Ja, gleich werden sie mir erklären, dass man als Schwangere nicht zu enge Klamotten tragen soll. Und natürlich, dass ich die Piercings rausnehmen und endlich erwachsen werden soll. Und dass ich endlich einen vernünftigen Mann heiraten möge, der mich und das Kind versorgen kann.“ Sie streichelte liebevoll über ihren Bauch und lächelte versonnen.

Gloria stellte fest, dass diese Geste ihrer sonst immer so taffen und aggressiven Schwester einen angenehmen, weichen Zug verlieh.

Als sie zum Rest der Familie stießen, ließ Sofia einen verächtlichen Blick über ihre Sonnenbrille hin zu Tanjas Bauch huschen. „Ach, herrje“, gab sie enerviert von sich und schob die Brille wieder auf den Nasen-rücken zurück.

„Freue mich genauso dich zu sehen, frostige Sofie“, gab Tanja lässig zurück.

Alex zeigte sich ungewöhnlich zurückhaltend und bedachte sie lediglich mit einem kurzen „Hallo.“ Dabei spielte er, wie immer, wenn er nervös war oder sich in einer Situation unwohl fühlte, mit seinem Talisman, einer Art Münze mit dem Abbild des Salma-nus. Er hatte einmal schwallend und stark alkoholisiert erklärt, dass er nicht religiös sei, aber dieser Glücksbringer ihm schon mehr als einmal den Arsch gerettet habe. Deshalb werde er keinen Schritt ohne dieses Ding machen. Meist sah man den Salmanus durch seine Hemdtasche scheinen, wo er ihn immer am Herzen trug. Gloria hatte sich manches Mal gefragt, ob er überhaupt eines habe. Jetzt aber drehte und wendete er den Talisman zwischen den Fingern, geschickt wie ein Hütchenspieler.

Gloria hatte gegoogelt, um herauszufinden, was es mit diesem Salmanus auf sich habe, und entdeckt, dass er ein Heiliger und ein Schutzpatron im 7. Jahrhundert war. Die Menschen kamen zu ihm, um von ihren Atemwegserkrankungen geheilt zu werden. Sicher war es das, was Alex brauchte – den Glauben, dass dieser Glücksbringer sein Asthma unter Kontrolle halten konnte.

Sven, der Sohn der beiden und Jüngster am Tisch, wurde bereits unruhig und zerrte am Kleid seiner Mutter. „Ich will spielen gehen“, jammerte er weinerlich, was Gloria zeigte, dass die Ruhe zu Tisch nicht mehr lange zu halten wäre. Normalerweise hielt Svens Schwester Sandra ihn in Schach, doch jetzt saß sie nicht neben ihm.

Gloria hatte Sandra schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Mit ihren Augen suchte sie den Garten nach ihr ab und fand sie bei der Schaukel. Auch wenn sie froh war, dass sie sich für diesen Augenblick nicht mit Sandra befassen musste, ließ sie das ungute Gefühl nicht los, dass diese Ruhe nicht von langer Dauer sein würde.

„So, Glory!“, rief Tanja triumphierend aus, als sie ein kleines, schmales Geschenketui aus ihrer Tasche zog. „Was ist das?“, Gloria nahm das Kästchen aufgeregt entgegen und strahlte ihre Schwester an.

Sofias Sarkasmus wurde sowohl durch den kühlen Weißwein, dem sie sich ausgiebig hingab, als auch durch die steigende Hitze beflügelt: „Wahrscheinlich dein erstes Piercing. Sie wird es dir gleich hier mit einer Heftmaschine ins Fleisch jagen.“ Sie grinste breit, zufrieden mit ihrem Scherz, und erntete eine Zurechtweisung seines Vaters.

Glorias Mutter verfolgte besorgt, wie die Stimmung zusehends aggressiver wurde. Sie fragte sich, was es wohl sein mochte, das ihre Kinder so wütend machte. Was hatten sie und ihr Mann dazu beigetragen, dass, wann immer sie aufeinandertrafen, diese boshaften Wortgefechte entbrannten? Sie hatte Sorge, dass Gloria antworten würde. Sie war zwar die Jüngste im Bunde der Geschwister, aber wenn sie aufgebracht war, wurden ihre Worte schneidend, und die Kälte, mit der sie ihre Geschwister dabei bedachte, konnte alle Getränke der Festtafel zum Einfrieren bringen. Und dann war da noch die Angst um ihre Verletzlich-keit.

Doch dieses Mal reagierte Gloria erstaunlicherweise gar nicht. Zu sehr war sie mit Tanjas Geschenk beschäftigt. Sie löste neugierig das Papier und öffnete die zum Vorschein kommende Pappschachtel bedächtig. Im Inneren lag etwas, das sie auf Anhieb liebte. Nicht nur, weil es ein Geschenk ihrer Lieblings-schwester war, sondern auch weil es sie tief in ihrem Inneren berührte. An einer dünnen Halskette zog sie einen Anhänger aus der Schachtel empor. Ein einzelner Engelsflügel aus Silber. Verträumt hielt Gloria ihn gegen das Sonnenlicht. Das Material des Flügels war so leicht und dicht verarbeitet, dass sich der Anhänger bei Wind an der Kette drehte, schneller und schneller, und dabei zu einer sich windenden Spirale mutierte. Ließ der Wind von dem Flügel ab, war er wieder einfach nur ein Engelsflügel. Mit Tränen in den Augen sah sie ihre Schwester an. „Die Kette ist wunderschön!“

Auch Tanja kämpfte mit den Tränen und zog ihre kleine Schwester an sich. Damit die anderen es nicht hören konnten, flüsterte sie ihr zu: „Er erinnerte mich gleich an dich, als ich ihn sah. Wenn Wind aufkommt, drehst du dich schnell um dich selbst, du kämpfst und wehrst dich. Aber in Wahrheit bist du stark und strebst zu Höherem. Das weiß ich!“

Sie hielten sich noch einen Augenblick umarmt, bis Sofia den stimmungsvollen Moment mit einem giftigen Einwurf beendete: „Es ist doch nur irgendein Stück Blech. Wo hast du es her, Tanja? Aus einem Go-thic-Kiosk?“

Inge Brix übertönte die Frechheit mit einer Frage: „Wer hat Lust auf einen kleinen Schnaps?“ Damit traf sie ins Schwarze. Gloria war aus dem Fokus und alle anderen abgelenkt. Leider bedeutete das auch, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, an dem Gloria die Unterhaltung der Kinderschar übernehmen musste.

Tanja zwinkerte ihrer Schwester aufmunternd zu und tätschelte ihr Knie. „Auch das geht vorbei.“

Gloria legte sich das Kettchen um und bestätigte in schwermütigem Tonfall: „Alles geht einmal vorbei.“

Nach einiger Zeit sah Gloria auf die Uhr und musste feststellen, dass sie erst eine Stunde die Entertainerin für die Kinder gab. Nach Topfschlagen und Eierlau-fen war nun Blumenkranz-Binden angesagt. Etwas, das Sven so gar nicht interessierte. Und so riss ihr Neffe allen Blumen, die er in seine kleinen Hände bekam, die Blüten einzeln und mit verbissenem Gesichtsausdruck aus. Sandra sprang aus dem Kreis auf und gab vor, zur Toilette zu müssen. Sie entfernte sich mit hüpfenden Schritten von der Gruppe, wobei Gloria ihr einen Moment zusah.

Während ihre Nichte im Haus verschwand, fühlte Gloria ein Stechen im Kopf. Sie wünschte sich, Sandra würde nie wieder auftauchen. Doch dann verwarf sie diesen Gedanken und wand sich wieder den anderen zu. Ann-Kathrin und Marie-Sofie zickten sich an. Jede wollte einen noch schöneren Kranz geflochten haben als die andere. Es ging eine Weile so weiter, während Gloria sich in eine eigene Komposition aus bunten Blüten vertiefte. Irgendwie fühlte sie sich erschöpft und müde. Sie war froh, dass ein Moment der Ruhe eingekehrt war und alle mehr oder weniger friedlich beieinandersaßen.

Aber saßen wirklich alle zusammen? Sandra war schon eine ganze Weile nicht mehr aufgetaucht. Gloria drehte sich in böser Vorahnung zum Haus um. Die Geburtstagsgesellschaft war mittlerweile in Gespräche vertieft, als Sandra in den Garten zurückkam. Gloria glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Sie kniff sie fest zusammen, um besser gegen das Licht sehen zu können. Sandra stand auf der Terrasse, hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt, von der anderen baumelte Glorias Puppe Clara herab, die Ärmchen verdreht und der Kopf hintenübergefallen.

Glorias Atem beschleunigte sich. Ihre Müdigkeit schien verflogen. Ohne weiter auf die Kinder zu achten, die sich gerade lautstark um das letzte Gänseblümchen stritten, das es zu flechten oder zu rupfen galt, erhob sie sich entschlossen und steuerte mit energischen Schritten direkt auf ihre Nichte zu. Beim Näherkommen hörte sie Wortfetzen wie „kaputt“ und „plötzlich“ und musste erkennen, dass ihre Lieb-lingspuppe, ein Erbstück ihrer verstorbenen Großmutter, mit ausgehebelten Gliedmaßen und aus nur noch einem Auge, das andere war in den Puppenkopf eingedrückt worden, hilfesuchend zu ihr aufsah. Schnaubend kam sie vor Sandra zum Stehen. Ihre Mutter und Katrin waren zeitgleich aufgesprungen und zur Salzsäule erstarrt. Gloria sah kalt auf ihre Nichte hinab, die ihr ängstlich den zerstörten Puppenkörper entgegenstreckte. Unsicher sah sich Sandra nach den Erwachsenen um. Ihre Mutter und Großmutter näherten sich der Szene langsam, beinahe vorsichtig, wie einem Raubtier.

Gloria griff nach der Puppe und besah sie sich einen Augenblick, als ob sie sie gar nicht wiedererkennen würde. Dann ruhten ihre strengen Augen einen Moment lang starr auf Sandra. Gloria atmete tief ein, als müsste sie sich für eine große Aufgabe wappnen. Ihr Ausatmen war bis zum Tisch zu hören, von dem aus sie ihre Mutter leise etwas rufen hörte. Der Inhalt kam allerdings nicht bei ihr an. In ihrem Kopf drehten sich die Dinge, die sie sagen und tun wollte, in einem wilden Tanz umeinander. Sie selbst bemerkte nicht, wie ihr Körper bei dem Versuch verkrampfte, den Kampf gegen die aufkeimende Gewalt zu gewinnen. Doch noch bevor Glorias Mutter bei den beiden war, stob ihre Tochter an Sandra vorbei und rannte ins Haus. Betretenes Schweigen erfüllte den Garten.

Nur wenige Minuten später kam Gloria in den Garten zurück. Alle konnten sehen, dass sie geweint hatte, doch ihre Tränen waren getrocknet und ihre Stimme stark: „Wer hat Lust auf Versteckspielen?“, rief sie über den Rasen hinweg.

Alle Kinder jubelten und reckten die Arme in die Luft, während sie ihr entgegengelaufen kamen. Sandra folgte der fröhlichen Gruppe nur zögerlich.

Die Erwachsenen am Tisch verstummten und sahen wortlos dabei zu, wie Gloria bunte Bändchen um die Handgelenke aller Kinder legte und sie in Teams einteilte. Eine Gruppe bestand aus Suchenden die andere aus denen, die sich verstecken würden. Gloria würde die Schiedsrichterin sein.

Tanja beobachtete die Szene wie alle anderen auch. Doch ihre Gefühle waren stärker. Warum musste das mit der Puppe passieren? Warum gerade an Glorias Geburtstag?

Das Versteckspiel ging in die dritte Runde und alle, Gloria eingeschlossen, schienen viel Spaß zu haben. Die Stimmung zu Tisch hatte sich auch wieder entspannt, und es wurde über die Arbeit gesprochen. Alex hatte allmählich ein Bier-Pensum erreicht, das seine Stimme lauter und gleichzeitig undeutlicher werden ließ.

Es dauerte nicht lange und die Zwillinge liefen kreischend aus den Büschen hervor, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her.

Besorgt sprang Sofia auf und eilte ihnen entgegen.

„Was ist passiert?“ Im Wirrwarr der Erzählungen und dem lauten Schluchzen konnte sie kaum verstehen, was ihre Töchter zu erklären versuchten. Ann-Katrin wedelte mit den Armen, als müsste sie die Ausmaße eines Elefanten zeigen, und Marie-Sofie schnappte aufgeregt nach Luft, während sie sich immer wieder die verweinten Augen wischte.

„Nun beruhigt euch. Was ist los?“, versuchte es Sofia erneut. Sie führten sie jammernd zur Grundstücksbegrenzung, dorthin wo die Büsche so dicht waren, dass der Zaun, der das „Little White House“ vom Nachbarn trennte, nicht zu sehen war. Mit zitternden Kinderärmchen zeigten die Zwillinge auf das dichte Gestrüpp und erklärten ihrer Mutter, dass ein alter Mann hinter dem Zaun sie erschreckt habe.

Das konnte Sofia nicht dulden. Sie stürmte zurück zu den anderen Erwachsenen und erklärte ihnen, dass sie mal nach nebenan gehen würde, um mit dem Kauz zu sprechen, der ihre Kinder beinahe in einen Schockzustand versetzt hätte. Übertreibung war eines ihrer Markenzeichen und wollte jemand ihren Kindern zu nahetreten, verteidigte sie sie wie eine Löwin. Lothar drehte gerade die dritte Schleife damit, der Verwandtschaft zu erklären, dass er eine neue Cerek-Fräse erstanden habe, die ihn mehr als ein Jahresgehalt seiner Helferin kostete, als Alex einen Anruf erhielt. Hektisch zog er sein Handy aus der Hosentasche und benötigte drei Anläufe, um das Annahme-Symbol zu treffen. Katrin rollte mit den Augen und winkte ab, doch Alex sah sich in der Pflicht: „Ich muss da rangehen. Es ist die Werkstatt.“

Die letzten Worte spuckte er wichtigtuerisch hervor. Eine weitere Schwäche von Gloria’s Bruder. Wie immer tat er sich auch jetzt mit seiner Selbstständigkeit hervor, auch wenn allen natürlich klar war, dass er die große Autowerkstatt in Köln nur hatte betreiben können, weil ihr Großvater ihm diese nach seinem Tod vererbt hatte. Katrin hoffte, dass seine Mitarbeiter nicht bemerken würden, wie tief ihr Chef ins Glas geschaut hatte. Alex entfernte sich wild gestikulierend. Eine Weile konnte man ihn noch hören. Dann, als er samt Telefon über den Gartenweg davonmarschiert war, versank seine Stimme im Schatten der großen Rhododendron-Büsche.

Nach einer Weile trottete Gloria zurück zum Tisch, nahm sich ein Glas Limo und saugte erschöpft am Strohhalm. Sie wusste nicht, ob ihre Müdigkeit an der Hitze oder an ihrem Widerwillen lag, die Kinder mit einem Unterhaltungsprogramm zu beglücken.

„Alles okay?“, fragte ihre Mutter.

„Ja, alles super. Ich muss nur mal eine Pause machen. Ich glaube, ich werde alt.“ Sie zwinkerte ihre Mutter zu, nur um sie lachen zu hören.

„Oh, ja“, meinte diese, „ich glaube ich sehe schon erste Falten. Wo sind denn die anderen?“, fügte sie hinzu und sah sich suchend nach den Kindern um.

Es war untypisch, dass Gloria alle sich selbst überließ. „Die spielen immer noch Verstecken. Ich habe ihnen gesagt, dass ich mal eine Runde aussetzen und was trinken muss. Echt heiß heute.“ Wieder zog Gloria an ihrem Strohhalm. Doch wirklich erfrischt fühlte sie sich dadurch nicht.

Einige Minuten später kam Alex den Weg unter der alten Kastanie hoch. Das Handy hatte er weggesteckt, doch sein Gesichtsausdruck wirkte gehetzt. Augenscheinlich hatte er unangenehme Nachrichten aus seiner Firma erhalten. Doch gerade als er nur noch wenige Meter von den anderen entfernt war, passierte es.

Der zeitgesteuerte Rasensprenger setzte ein und erwischte Alex frontal. Binnen Sekunden war er von Kopf bis Fuß durchnässt. Sein Hemd klebte an seinem Leib, und aus seinem dünnen Haar liefen feine Rinnsale. Der Kontrast zwischen seiner reizbaren Mimik auf der einen und der Situationskomik auf der anderen Seite ließ alle am Tisch johlen.

Alex stapfte missmutig zu ihnen. „Wer den Schaden hat“, begann er brummig.

„Schaden nennst du das?“, lachte seine Mutter. „Wir alle könnten eine Dusche bei diesen Temperaturen gebrauchen.“

„Dann lauf schnell“, meinte ihr Mann lachend, „ich habe den Timer auf fünf Minuten gestellt. Das kannst du noch schaffen.“

Alle grölten vor Lachen. Nur Alex nicht.

„Ist etwas passiert?“, fragte Katrin ihn leise, während alle anderen weiter feixten.

„Ärger im Betrieb“, zischte er verkniffen. „Aber nichts, was nicht warten kann.“ Dann griff er nach seinem Bier und leerte es in einem Zug.

Glorias Blick haftete an Alex‘ durchnässtem Hemd. Bei diesem Anblick wurde ihr mit einem Mal, trotz der Hitze, eiskalt. Was war es nur, das ihr plötzlich dieses Unbehagen bereitete?

Es wurde schwüler im Garten. Selbst im Sitzen klebte die Kleidung am Körper. Sofia war mittlerweile zurück und erklärte, dass sie diesem Troll von Nachbarn die Leviten gelesen habe. Es war für alle nur allzu gut vorstellbar, wie dies vonstattengegangen war. Wahrscheinlich hing die Mixtur aus ihrem aufdringlichen Parfüm und ihrer schrillen Stimme nun dauerhaft wie eine geschlossene Wolkendecke über dem Haus des alten Mannes.

Eine weitere Runde Verdauungsschnäpse wurde gereicht, als Sven vom Versteckspiel zurück an den Tisch kam.

„Habt ihr aufgehört mit dem Verstecken?“, fragte seine Mutter.

„Nein“, gab der Zwerg kurz zurück und sah auf seine Schuhe hinab.

„Dann bist du in deinem Versteck gefunden worden?“

„Nein.“ Wieder eine knappe Antwort.

Katrin stutze. Auch Inge bemerkte das sonderbare Verhalten des Jungen, der jetzt starr vor sich hinsah, als wollte er krampfhaft vermeiden, jemanden anzusehen.

„Ist etwas passiert, Sven?“, fragte sie deshalb sehr direkt.

„Nein.“

„Und warum bist du dann schon zurück?“ Katrin drehte ihren Sohn zu sich und sah ihm tief in die Augen.

Das reichte aus, um ihm einige Worte mehr zu entlocken. „Ich muss mich nicht mehr verstecken.“

„Und warum nicht?“

„Weil Sandra eh schon gewonnen hat.“ Gedankenverloren stocherte er in einem Rest Kuchen auf dem Teller seiner Mutter umher.

„Woher willst du das wissen?“

„Weil ich gesehen habe, wo sie sich versteckt hat.“

Katrin versuchte ihn aufzuheitern. „Na, dann kannst du ihr Versteck doch lösen und hast gewonnen.“ Katrin frohlockte, doch ihr Nachwuchs konnte diese Freude nicht teilen.

„Das habe ich ja versucht. Aber sie kommt nicht mehr raus.“

Katrin erstarrte. Sie drückte ihren Rücken durch und hielt den Atem an. Alle am Tisch bemerkten den Stimmungswechsel. „Wo ist deine Schwester jetzt?“, fragte Katrin gepresst, bemüht nicht zu schreien. Ihr Herz raste, und das Blut dröhnte in ihren Ohren.

Wortlos nahm Sven sie bei der Hand und führte sie geradewegs durch den Garten, in Richtung der Gartenlaube. Ein Tross aufgeregter Erwachsener folgte dem sonderbaren Gespann mit eiligen Schritten. Sie umrundeten den Schuppen. An der Rückseite blieb Sven kurz stehen, kletterte dann auf ein kleines Mäuerchen und deutete mit ausgestrecktem Arm zu einer Regentonne, die einem Mann bis zur Hüfte reichte.

Katrin verschwamm alles vor Augen. Ihre Beine drohten nachzugeben. Ihr Schwiegervater sprang geistesgegenwärtig vor, warf sich über den Rand der Tonne und tauchte mit beiden Armen soweit wie möglich ein. Sofia und Inge hielten ihn an den Beinen, um ihn zu stabilisieren.

Nur Sekunden später zog er den leblosen Körper seiner Enkelin aus dem Wasser und legte ihn auf dem Rasen ab. Lothar begann unmittelbar mit der Wiederbelebung. Alex, der jetzt vortrat, stieß einen Schrei des Entsetzens aus und tippte sofort die Nummer des Rettungsdienstes in sein Handy. Hektisch fuhr er sich mit der Hand durchs dünne Haar und sah immer wieder zwischen seiner leblosen Tochter und seinem Vater hin und her. Er schrie einige Daten in das Telefon. Dann fiel er neben Sandra zu Boden und fühlte ihren Puls.

Lothar wiederholte immer und immer wieder die gleichen Handgriffe, doch Sandras Mutter hatte verstanden, was noch niemand wahrhaben wollte. Ihre Tochter war bereits tot.

* * *

Der Notarzt und die Polizisten waren fort. Ein Bestatter hatte Sandras Leichnam mitgenommen. Katrin und Alex drängten darauf, ihrer Tochter auf dem Weg beizustehen, doch die Polizisten hatten ihnen schonend versucht zu erklären, dass dafür keine Notwendigkeit mehr bestehe.

Es war immer noch heiß, obwohl die Sonne schon zu sinken begann. Schwere Schritte bewegten sich in einem traurigen Gänsemarsch vom Gartenschuppen fort. Abgekämpft und betäubt stapfte die Familie in stillem Schrecken den Weg zum Haus zurück.

Als Inge den Kopf hob, sah sie, dass ihre Tochter Gloria schon wieder auf der Terrasse Platz genommen hatte und abwesend in den Abendhimmel starrte. Im Arm hielt sie ihre demolierte Lieblingspuppe und drückte sie an sich. Das Abendlicht zauberte einen roten Heiligenschein um ihr goldenes Haar. Wie friedlich, dachte ihre Mutter. Und doch ließ sie das Gefühl nicht los, dass dies alles andere als ein harmloser Moment sei.

Alex erspähte seine jüngste Schwester ebenfalls und stürmte ansatzlos auf sie zu. Er riss sie von ihrem Stuhl hoch und rüttelte an ihren Schultern. „Warum hast du das getan? Du warst es, nicht wahr? Sag, dass du es warst! Du hast sie nie gemocht. Und dann das mit der Puppe. Jetzt hast du es ihr also heimgezahlt, richtig?“

Ihr Vater ging dazwischen und zog seinen Sohn von Gloria weg, die den Angriff apathisch hinnahm. „Alex, es ist genug! Ich verstehe deinen Schmerz, aber ich dulde nicht, dass du deine Schwester beschuldigst! Es war ein schrecklicher Unfall!“

Alex schluchzte einmal trocken, löste sich von Gloria und verließ hastig den Garten. Katrin folgte ihrem Mann ohne ein Wort des Abschieds. Sie trug den völlig verstörten Sven auf dem Arm zum Wagen.

Tanja streichelte Gloria übers Haar und drückte ihre Hand, doch das schien ihre jüngere Schwester gar nicht wahrzunehmen. Dann verließen auch sie und Sofia den Unglücksort.

Inge setzte sich zu Gloria und legte ihr einen Arm um die Schulter. „Das war heute sehr schwer für deinen Bruder. Es war nicht fair, was er zu dir gesagt hat, aber sieh es ihm bitte nach.“

„Natürlich“, gab Gloria kühl wieder, „er hat seine Tochter verloren.“

„Ich wusste, dass du das verstehst. Du bist sehr erwachsen.“ Ihre Mutter zog sie an sich und spürte die Steifheit, die von ihrer Tochter Besitz ergriffen hatte.

„Natürlich, verstehe ich das. Aber mir ist auch klar, dass ihr mich alle für eine Mörderin haltet, wegen ...“ Gloria ersparte sich und ihrer Mutter die Erklärung.

Inge schluckte ihre Tränen hinunter und zog ihre Jüngste enger zu sich. „Das ist nicht wahr.“ Sie spürte, dass Gloria bei diesem kläglichen Versuch eines Widerspruchs nur noch stärker verkrampfte. Vorsichtig rückte das Mädchen von ihr ab. Selbst nach dieser Tragödie zeigte Gloria keinerlei Emotion. Keine Regung. Was mache ich nur mit ihr?, fragte sich Inge verzweifelt.

Gloria konnte die Gedanken ihrer Mutter lesen. Sie wusste, was ihr in diesem Moment durch den Kopf ging. Und insgeheim fragte sie sich selbst, ob das Ereignis das Ende ihrer Qualen bedeutete oder der eigentliche Horror erst mit diesem Tag beginnen würde.

II. Kapitel

Köln, 15 Jahre später

„Wie geht es Ihnen heute?“, Doktor Cornelia Blum setzte sich eine grün-gerahmte Brille auf, die einen aufregenden Kontrast zu ihrem feuerroten Haar bildete, schlug die Beine übereinander und sah Gloria neugierig an.

„Es geht so“, nuschelte Gloria und sah dabei auf ihre Hände, die sie knetete, als stünde sie ohne Handschuhe in einem Schneesturm.

Der Raum, in dem sie sich jeden Mittwochabend trafen, war spartanisch eingerichtet. Es gab zwei reichlich mit Fachliteratur gefüllte Bücherregale an der Längsseite des Büros. Unter dem einzigen Fenster des Raumes stand ein moderner Schreibtisch. Ein Notebook thronte darauf, als wäre es zu Dekorationszwecken anstatt zur Arbeit bestimmt. Bis auf einen einzigen Aktenordner und einen kleinen Stapel Papier fanden sich keine Unterlagen auf der Arbeitsfläche. Die beiden Kopfwände des Zimmers waren mit abstrakten Gemälden geschmückt, die dem Betrachter nicht verrieten, was sie eigentlich darstellen sollten. Womöglich war das Blums Absicht. Schließlich suchten die Besucher hier keine Kunst, sondern seelischen Beistand. Gemütlichkeit verlieh jedoch ein flauschiger, langborstiger Teppich, der weite Teile der Raummitte ausfüllte. In seinem Zentrum fanden sich zwei bequeme, graue Polstersessel, die einander zugewandt standen. In einem hatte die Psychiaterin Platz genommen und musterte ihre Patientin nachdenklich. Im anderen saß Gloria vornübergebeugt und verschlossen, wie meist in ihren Sitzungen.

Cornelia Blum wusste, dass Gloria zwar hin und wieder passable, meistens aber fürchterlich dunkle Tage erlebte. Nach vielen Jahren der Therapie hatte sie Gloria nur selten glücklich oder gar unbeschwert erlebt. Heute, das war ihr sofort klar, war ein ganz schlechter Tag, denn ihr Schützling zeigte große, emotionale Distanz. Sie versuchte daher, sachte zu Gloria durchzudringen: „Hatten Sie nicht gestern Geburtstag? Wie haben Sie ihn verbracht?“

Gloria stoppte einen Augenblick damit ihre Hände zu bearbeiten, kniff die Augen zusammen und starrte zur Decke empor, als wäre ihr durch diese Frage erst eingefallen, dass sie hätte Geburtstag feiern können. Sie wusste, dass sie ihrer Ärztin eine Antwort schuldig war. Immerhin kam sie freiwillig her und zahlte ihr ein stattliches Honorar für ihre Fragen.

„Ich hab’ ihn allein verbracht. War zu Hause“, brachte sie wie ein mürrischer Teenager hervor.

Blum runzelte die Stirn. „Bei unserem letzten Gespräch hatten Sie mir aber etwas ganz anderes erzählt. Sie wollten mit Ihrem Freund ausgehen, eine Bootsfahrt machen und neunundzwanzig Kerzen auf einer mehrgeschossigen Torte ausblasen. So Ihre Worte in der letzten Sitzung“, erinnerte die Psychiaterin Gloria sanft.

Doch die konterte genervt: „Dazu hatte ich dann aber doch keine Lust. Ist eh nur ein Geburtstag mehr, an dem ich meinen vierzehnten feiere.“ Entmutigt ließ sie die Arme wieder herabsausen. Nach einem kurzen Augenblick schob sie leise und reuig ein „Entschuldigung“ hinterher.