Stimme der Macht - Die magische Bestseller Serie rund um Sprache und Schrift - Melanie Cellier - E-Book
BESTSELLER

Stimme der Macht - Die magische Bestseller Serie rund um Sprache und Schrift E-Book

Melanie Cellier

0,0

Beschreibung

Stimme der Macht - Band 1 der internationalen Bestseller Serie endlich auf Deutsch! In Elenas Welt haben Worte die Macht über Leben und Tod – aber keine so sehr wie ihre eigenen. Als Tochter von Ladenbesitzern wusste Elena immer, dass ihr die Mysterien des Schreibens und Lesens verborgen bleiben würden. Nur magisch Geborene können es riskieren, die Macht zu nutzen, die durch Stift und Papier entfesselt werden kann. Bis Elena eine unmögliche neue Fähigkeit entdeckt und sich der Magierelite anschließen muss. Aber da sich das Königreich im Krieg befindet, können sich die Obrigkeiten nicht entscheiden, ob Elena einen Gewinn darstellt, oder eine Bedrohung, die eliminiert werden muss. Ohne Verbündete und ohne Sachkenntnisse wird Elena in die Welt der Königlichen Akademie gestoßen, wo sie all ihren Verstand, ihre Stärke und ihre neuen Fähigkeiten braucht, um zu beweisen, dass sie sich ihren Platz dort verdient hat. Doch als die Angriffe immer persönlicher werden, reichen Verstand und Stärke nicht mehr aus. Elena muss sich an ihre neuen Freunde und einen rätselhaften Prinzen wenden, um das geheimnisvolle Potenzial ihrer Worte zu entschlüsseln und ihr erstes Jahr als Magierlehrling zu überleben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 454

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



STIMME DER MACHT

DIE SPRECHENDE MAGIERIN

BUCH 1

MELANIE CELLIER

Für Rachel,

aus zu vielen Gründen, um sie hier nennen zu können.

Ich halte unsere Freundschaft in Ehren.

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

1

Ich eilte über den Waldweg nach Hause und war bereits spät dran, als ich den Schrei hörte. Er stammte offensichtlich von einem Kind und war zu laut, um ihn zu überhören, und zu schmerzerfüllt, um ihn zu ignorieren. Seufzend wurde ich langsamer und versuchte, die Quelle ausfindig zu machen. Ich hatte mehr Zeit in den Wäldern verbracht, als ich es sonst bei meinen Kräutersammelausflügen tat, und die Sonne stand bereits tief am Himmel. Doch ich befand mich immer noch ein gutes Stück außerhalb des Dorfes, also war es unwahrscheinlich, dass jemand anderes die Sache hören oder eingreifen würde.

Eine wütende Stimme, gefolgt von einem weiteren Schrei, ließ mich durch einige Büsche auf ein flaches Stück Land eilen, das an den kleinen Fluss grenzte, der an unserer Stadt Kingslee vorbeiführte. Ein kleines Kind, das mir bekannt vorkam – nicht älter als drei Jahre –, kauerte im Dreck, ihm gegenüber standen ein Junge und ein Mädchen in meinem Alter. Ich stürzte nach vorne, sprang zwischen das Kind und seine Angreifer, bevor mein Gehirn verarbeiten konnte, was geschah. Ich warf dem Mädchen vor mir einen verletzten Blick zu.

»Wirklich, Alice?«

Sie zuckte zusammen. »Wir mussten eingreifen, Elena. Er hätte uns alle in Gefahr bringen können. Du hättest dasselbe getan.«

Ich drehte mich um, um den Jungen zu mustern, der sich jetzt an mein Bein klammerte. Er sah nicht gefährlich aus. Tränen liefen über seine Wangen – auf einer davon zeichnete sich deutlich der rote Abdruck einer Hand ab. Ich drehte mich wieder nach vorne und sah die beiden finster an.

»Ich glaube wirklich nicht, dass ich das getan hätte.«

Wieder zuckte Alice zusammen. »Nun, das vielleicht nicht. Vielleicht ist Samuel etwas zu weit gegangen …«

»Nein, das bin ich nicht.« Samuel sah mich aus zusammengekniffenen Augen heraus an. »Dem Jungen musste eine Lektion erteilt werden, und das solltest sogar du wissen, Elena. Ist das Haus deiner Familie nicht gleich die Straße runter?«

Ich rieb mir über die Stirn. Für diese Rätsel war ich heute zu müde.

»Wovon sprichst du, Samuel?«

Samuel deutete lediglich auf den aufgewühlten Erdboden, neben dem wir alle standen. Hilflos sah ich zu Alice hinüber.

Sie lehnte sich leicht nach vorne und deutete etwas genauer auf eine Stelle. Widerwillig beugte ich mich ebenfalls nach unten und blickte stirnrunzelnd auf etwas, das wie eine einzelne kurze, geschwungene Linie aussah, die in die Erde gezeichnet worden war, tiefer als die anderen undeutlichen Abdrücke.

»Ist das … eine Linie?« Ich hob das weinende Kind in meine Arme, das versucht hatte, an meinem Bein nach oben zu klettern, und setzte es auf meiner Hüfte ab. »Also hat er in den Dreck gemalt. Na und?«

»Ja, es ist nur eine Linie. Unseretwegen.« Samuel trat nach vorn, seine Haltung wirkte angriffslustig und ließ mich einen Schritt zurückweichen. Aber nur wegen des Jungen. Ich wollte nicht, dass Samuel ihn noch einmal schlug.

Jedoch ignorierte Samuel das Kind und deutete stattdessen auf etwas, das auf unserer anderen Seite lag. Bei dem Handgemenge, das hier vor meinem Eintreffen stattgefunden hatte, war offenbar etwas zur Seite gefallen und teilweise von einem Busch verdeckt worden. Die halbe Seite, die noch sichtbar war, reichte jedoch aus, um zu erkennen, worum es sich handelte – ein einzelnes Blatt bedruckten Pergaments.

Ich schnappte nach Luft und sprang instinktiv zurück, wobei ich beinahe den Jungen hätte fallen lassen.

»Was …? Wo kommt das her?«

Samuel verschränkte die Arme vor seiner Brust und betrachtete mich erneut aus zusammengekniffenen Augen. »Jetzt verstehst du es also. Wir haben uns alle gerettet. Und diesem Kind muss eine Lektion erteilt werden.«

»Er ist noch ein Baby«, protestierte ich und schlang meine Arme um ihn. »Er weiß es nicht besser.«

Doch auch ich konnte spüren, wie meine Glieder zitterten, als die Angst durch mich strömte. Wie knapp waren wir dem Tod entgangen? Ich wischte mit meinem Fuß durch die Erde, um auch die letzte Spur von dem zu vernichten, was auch immer dort gestanden hatte.

»Warum habt ihr es nicht verbrannt?«, fragte ich. »Bevor jemand anderes es findet. Wie eine der Wachen. Ihr kennt die Strafe, die einem für den Besitz von Schriften droht, ganz zu schweigen von der Gefahr …«

Samuel schüttelte den Kopf. »Wir werden es verbrennen, sobald der Junge seine Lektion gelernt hat.«

Wieder trat ich zurück, als er sich bedrohlich näherte. Alice legte eine Hand auf seinen Arm und hielt ihn zurück.

»Ich glaube, du hast ihm genug Angst gemacht, Samuel. Sieh ihn dir an, er weint immer noch. Elena hat recht. Wir sollten es verbrennen.«

Für einen Augenblick waren Samuel und ich wie erstarrt, unsere Blicke ineinander verankert. Doch dann zerrte Alice an seinem Arm, und er seufzte, bevor er ihre Hand abschüttelte.

»Na schön.«

Während er seinen Zündschwamm und einen Feuerstein hervorzog, versuchte ich, das Pergament nicht anzuschauen. Doch die markanten schwarzen Zeichen riefen nach mir, ich konnte nicht widerstehen, einige flüchtige Blicke zu erhaschen. Natürlich konnte ich nicht lesen, was dort stand. Keiner von uns konnte das. Aber ich wusste genug, um Wörter zu erkennen, wenn ich sie sah. Ihre Schlaufen und Kurven und scharfen Kanten faszinierten mich. Welche Geheimnisse würden sie enthüllen, wenn man sie nur entziffern könnte? Wenn ich nicht als Elena von Kingslee, Tochter von zwei Ladenbesitzern, geboren worden wäre?

Als die erste helle Flamme das Papier entzündete und die verbotenen Buchstaben verbrannten, schüttelte ich mich. Für nichts in der Welt würde ich meine Familie eintauschen. Nicht mal für die Wunder der geschriebenen Worte und die magischen Kräfte, die jene mit der richtigen Blutlinie mit deren Hilfe entfesseln konnten.

»Okay, das wäre erledigt«, sagte Alice, nachdem das Pergament sich vollständig in Asche verwandelt hatte. »Wir sollten gehen.« Sie warf einen Blick über ihre Schulter in Richtung der Straße, offensichtlich konnte sie es kaum erwarten, von hier zu verschwinden.

Doch in mir regte sich ein unbehagliches Gefühl.

»Die eigentliche Frage ist, woher er es hatte.« Ich schaute auf den Jungen hinunter, der sich an meine Schulter gekuschelt hatte. Die hypnotisierenden Flammen hatten seine Tränen versiegen lassen. »Woher kam es? Kingslee kann diese Art von Ärger nicht gebrauchen.« Nicht mit unserer Nähe zur Hauptstadt, durch die wir für die Wachen des Königs viel zu leicht zu erreichen waren.

Samuel grunzte. »Hast du sie vorhin nicht gesehen? Auf ihrem Weg nach Corrin sind mehrere schicke Kutschen hier vorbeigerollt.« Er gestikulierte über die Straße, vorbei an meinem Haus – dorthin, wo weit außer Sicht die Hauptstadt lag. »Sie haben sich zu einer Pause hinreißen lassen, und die Magier darin haben sogar den Laden deiner Eltern betreten. Ich bin mir sicher, dass einer von ihnen dieses Ding fallengelassen hat, und dieser Idiot hat es gefunden.«

Seine wütende Stimme ließ den Jungen in meinen Armen erzittern, der versuchte, sich in meiner Schulter zu vergraben. Ich hob ihn auf meiner Hüfte etwas höher und warf Samuel einen bösen Blick zu.

»Es ist nicht seine Schuld. Er ist zu jung, um es besser zu wissen. So etwas sollte nicht einfach irgendwo herumliegen.«

»Offenbar ist er schlau.« Alice betrachtete ihn aus traurigen Augen. »Er hat versucht, das, was er gesehen hat, zu kopieren.«

»Schlau? Ha!« Samuel brach in ein humorloses Gelächter aus. »Wohl eher ein idiotischer Narr. Er hätte uns alle mit einem einzigen Wort in die Luft sprengen können, das weißt du.«

»Aber das hat er nicht!«, fauchte ich, meine Geduld war am Ende. »Und es ist schon spät. Ich werde ihn nach Hause bringen.« Ich verengte meinen Blick, forderte Samuel heraus, zu versuchen, mich aufzuhalten, aber er starrte lediglich zurück.

»Weißt du, wohin er gehört?«, fragte Alice zögerlich.

Ich nickte. »Ich kenne ihn. Er wird bald wieder zu Hause sein.«

Keiner von ihnen bewegte sich, also umrundete ich sie und machte mich auf den Weg. Es wäre mir lieber gewesen, hinter ihnen zu laufen, außerhalb ihres Sichtfeldes, aber ich hatte keine Zeit, um noch länger zu warten. Nicht jetzt, wo ich in die Stadt musste, bevor ich nach Hause gehen konnte.

Ich ging schnell, doch mit jeder Minute wurde der Junge schwerer. Ich überlegte, ihn abzusetzen und selbst laufen zu lassen, aber das langsame Tempo hätte meinen Nerven den Rest gegeben. Also ging ich weiter und hielt nur einmal an, um ihn auf meine andere Seite zu setzen.

Es waren heute also Mitglieder der Magierfamilien vorbeigekommen. Das ergab Sinn, da niemand sonst geschriebene Worte bei sich führen würde. Wenn ich nicht unterwegs gewesen wäre, um Kräuter zu sammeln, hätte ich sie selbst gesehen. Vielleicht sogar mit ihnen gesprochen, wenn sie in den Laden gekommen waren, wie Samuel erzählt hatte.

Wie wären sie gewesen? Es war eine Sache, Dinge über sie in der Schule zu lernen. Dass nur sie die Macht kontrollieren konnten, die die geschriebenen Worte entfesselten, und deshalb nur ihnen anvertraut werden konnte, Lesen und Schreiben zu lernen. Über die Geschichte, wie sie unser Königreich mit der Kraft ihrer schriftlichen Werke aufgebaut hatten. Wir hatten sogar etwas über die unterschiedlichen Roben gelernt, die sie trugen, um ihre Disziplinen zu kennzeichnen. Aber das war nicht das Gleiche, wie sie persönlich kennenzulernen.

Stolz, hochmütig und unliebsam? So hatte ich sie mir immer vorgestellt, und so sahen diejenigen, die gelegentlich durch Kingslee ritten, auch aus.

Aber was wäre, wenn sie normal gewirkt hätten? Sogar freundlich? Eine Person genau wie ich, nur mit schickerer Garderobe. Wäre das noch schlimmer? Zu wissen, dass uns nicht mehr voneinander unterschied als ein Zufall bei der Geburt?

Ohne anzuklopfen, schob ich die Tür eines kleinen Häuschens auf, das etwas abseits der Hauptstraße lag. Eine junge Frau mit geröteten Augen blickte auf und stieß ein leises Quieken aus.

»Joseph! Da bist du ja!« Sie eilte zu uns und nahm mir den Jungen aus den Armen, um ihn in ihre eigenen zu schließen. Ich hatte schon gedacht, dass er wie Isadoras Junge aussah, obwohl ich seinen Namen vergessen hatte.

Sie betrachtete mich mit großen Augen. »Wo hast du ihn gefunden, Elena?«

Ich trat von einem Fuß auf den anderen. »Unten am Fluss.«

Sie quiekte erneut und drückte ihn so fest an sich, dass er sich wehrte und versuchte, sich zu befreien. Nur mit Mühe konnte ich mich davon abhalten, mit den Augen zu rollen. Das war ganz schön viel Drama für jemanden, der nicht mal draußen war, um nach seinem Kind zu suchen.

Ich wollte wieder verschwinden, doch etwas hielt mich zurück. Ich räusperte mich. »Von dem Fluss ging keine Gefahr für ihn aus«, sagte ich, wodurch ich sofort Isadoras volle Aufmerksamkeit bekam.

»Was meinst du damit?«

»Er hat keine Anstalten gemacht, schwimmen gehen zu wollen. Vielleicht, weil er etwas gefunden hatte.« Ich schaute mich um, konnte aber niemand anderen in dem kleinen Haus entdecken, das nur aus zwei Zimmern bestand. Trotzdem senkte ich meine Stimme. »Ein Stück Pergament. Mit Worten. Samuel denkt, dass es aus einer der Kutschen gefallen sein muss, die heute hier vorbeigekommen sind. Joseph hat es gefunden und …« Ich holte tief Luft. »Er hat versucht, etwas davon zu kopieren. Er hat es in die Erde geschrieben.«

Ich war mir sicher gewesen, dass mir diese Enthüllung ein weiteres Quieken von ihr einbringen würde, doch stattdessen schien sie starr vor Schreck. Mit großen Augen blickte sie zwischen mir und ihrem jungen Sohn hin und her.

»Und …« Ihre Stimme zitterte. »Samuel weiß davon? Er hat noch nie gewusst, wann man seinen Mund halten sollte.«

»Keine Sorge«, sagte ich schnell. »Joseph ist praktisch noch ein Baby. Und wir haben es verbrannt. Ich bin mir sicher, dass Samuel keine Probleme bereiten wird, egal was er sagt.« Ich zögerte. »Aber du musst sicherstellen, dass er versteht …« Ich biss mir auf die Lippen. »Er muss sehr klug sein. Hat er … Hat er so etwas schon einmal versucht?«

»Natürlich nicht!« Sie sah fast beleidigt aus. »Er hat noch nie zuvor Worte gesehen. Wo hätte er das tun sollen? Aber er liebt es zu zeichnen. Er hat schon immer versucht, die Formen der Bilder am Markt und der Schilder dort zu malen …« Sie brach ab und fuhr sich mit der Hand über ihre Augen. »Er ist klug, wie du schon sagst.« Ihr Blick begegnete meinem. »Wie dein Bruder Jasper.«

Ich lächelte, doch es fühlte sich falsch an, ich spürte noch immer die Anspannung in mir. »Das wären in der Tat glückliche Umstände für ihn. Für euch alle.« Ich unterdrückte es, meinen Blick über das notdürftig gepflegte Innere der Hütte schweifen zu lassen. »Aber zunächst muss er lange genug überleben.«

Isadora erzitterte. »Es wurde verbrannt, hast du gesagt?«

Ich nickte.

»Nun …« Sie seufzte. »Hoffentlich hat es sich damit erledigt.« Doch ich konnte die Angst in ihren Augen sehen, als sie Joseph beobachtete, der sich freigekämpft hatte und zum Spielen auf die andere Seite des Raumes gelaufen war.

»Ja.« Ich bewegte mich langsam auf die Tür zu. »Ich sollte besser gehen …«

»Natürlich, du wirst bestimmt bereits zum Abendessen erwartet. Vielen Dank, Elena.«

Joseph sah auf, als wäre das sein Stichwort gewesen, und wiederholte: »Vielen Dank, Elena«, mit seiner hohen Stimme, die die Worte leicht verzerrte. Das Gesicht seiner Mutter schmolz hingerissen dahin, und auch ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Doch es legte sich schnell wieder, als ich aus der Stadt lief. Isadora hätte vorsichtiger sein müssen. Sie hätte besser auf ihren Sohn aufpassen sollen. Er war jetzt alt genug, um es zu verstehen. Ich erzitterte. Oder vielleicht eben noch nicht. Ich konnte mich kaum daran erinnern, wie Clementine in dem Alter gewesen war, ganz zu schweigen davon, wie es war, selbst so jung zu sein. Dennoch. Erst vor einem Jahr war ein ganzes Dorf vernichtet worden. Ein großer Knall und das ganze Ding war verschwunden. Natürlich wusste niemand genau, was geschehen war. Wie auch, wenn nichts mehr davon übrig war.

Man wusste nur, dass die Explosion ungeschult gewesen war, nicht kontrolliert. Tödlich. Jemand hatte geschrieben. Ein Normalgeborener ohne die Kontrolle, die Macht zu formen, die hinausströmte, sobald die geschriebenen Worte Gestalt annahmen. Ein Normalgeborener wie ich und jede andere Person in diesem Königreich, deren Eltern keine Magier waren.

Und es hätte auch Kingslee treffen können. Vielleicht wäre das heute beinahe passiert. Ich schluckte und wich von dem Weg ab, um meinen ledernen Ranzen einzusammeln, den ich in den Büschen zurückgelassen hatte, als ich zu Josephs Rettung geeilt war. Jasper würde mich finster anstarren, wie er es immer tat, wenn er je davon erfahren würde, und mir sagen, dass ich einen viel zu ausgeprägten Beschützerinstinkt hätte.

»Und dabei bist du nicht mal die Älteste, Elena«, würde er sagen und mich liebevoll an den Haaren ziehen. »Bin ich nicht derjenige, der dich beschützen sollte?«

Ich spielte immer mit und lächelte, aber wir beide kannten die Wahrheit. Jasper war unser Lichtblick. Derjenige, der uns allen aus der Armut helfen würde. Er war das Genie mit dem perfekten Gedächtnis, das es sogar mit den Magiern aufnehmen konnte, wenn es um Wissenschaft ging.

Eines Tages würde er sich eine lukrative Position sichern und uns mit in die Hauptstadt nehmen. Was bedeutete, dass es an mir lag, nicht nur unsere jüngere Schwester Clementine, sondern auch ihn zu beschützen. Obwohl er heutzutage weit weg war, auf der Königlichen Universität. Zu weit entfernt, als dass wir uns necken oder beschützen könnten.

Es war immer klar gewesen, dass Jasper die Verantwortung unserer familiären Pflicht nicht akzeptieren würde. Das war genauso unwahrscheinlich, wie dass die schwache, kränkliche Clementine in den Krieg zog.

Wenn mir also die ultimative Bürde auferlegt wurde, meine Geschwister zu beschützen, warum sollte ich dann nicht früh damit anfangen? Auch wenn mein achtzehnter Geburtstag immer noch länger als eineinhalb Jahre entfernt war.

Als ich die Tür zu unserem Haus aufschob, begrüßte mich meine Schwester wie immer mit einem freudigen Schrei. Im Gegensatz zu dem Haus, das ich gerade verlassen hatte, war hier alles rein und ordentlich, die Möbel waren stabil und alle Oberflächen sauber geschrubbt. Sogar die Gardinen sahen wie frisch gewaschen aus. Und es war größer, hatte zwei Zimmer mehr und ein Dachgeschoss, in dem Clementine und ich schliefen. Das war der Lohn für die umsichtige Führung des kleinen Ladens meiner Eltern. Das und ihre Bereitschaft, außerhalb der Stadt zu wohnen, wo es Platz für größere Häuser gab.

Ich versuchte zu lächeln, aber Clementine kannte mich zu gut. Ihr Gesicht wurde ernst und sie eilte zu mir herüber, um meine Hand zu nehmen.

»Was ist los, Elena? Stimmt etwas nicht?«

Ich schüttelte mich. »Nein, eigentlich nicht. Kümmere dich nicht um mich, Clemmy. Ich bin nur müde.« Und das war die Wahrheit. Es war alles wieder in Ordnung. Aber ich konnte das ungute Gefühl trotzdem nicht loswerden, das sich am Fluss über mich gelegt hatte.

»Oh, armes Ding. Natürlich bist du erschöpft, du bist den ganzen Tag durch den Wald gelaufen.« Sie beeilte sich, mir die Tasche von meiner Schulter zu nehmen und deutete auf einen Stuhl, damit ich mich setzte, während sie die Kräuter fein säuberlich auf dem Tisch ausbreitete.

»Wir hatten ein paar besondere Besucher, während du fort warst.« Sie kicherte. »Na ja, nicht direkt Besucher. Kunden.«

Ich rieb mir die Augen. »Habe ich schon gehört. Magier, nicht wahr?«

Sie nickte und sah etwas enttäuscht aus, weil ihr jemand mit diesen Neuigkeiten zuvorgekommen war. »Eine der Damen hat unser frisches Obst gesehen und anscheinend ›ein Verlangen verspürt, dem sie nicht widerstehen konnte‹.«

Ich rollte mit den Augen, aber Clementine war offenbar fasziniert von ihrer Begegnung mit der Oberschicht. Diejenigen, die uns unterdrückten. Ich presste eine Hand an meine Schläfe. Ich musste müder sein, als mir bewusst gewesen war, wenn ich derart dramatisch wurde.

Die Magier mochten die ganze Macht haben und viel des Wohlstands für sich beanspruchen, doch sie waren die Einzigen, die in der Lage waren, diese Macht zu kontrollieren. Und immerhin konnten wir alle einen gewissen Nutzen aus ihren Fähigkeiten ziehen. Sei es nur, weil ihre Botaniker und Windarbeiter sicherstellten, dass wir eine gute Ernte hatten, und ihre Baumeister Straßen und öffentliche Gebäude bauten. Sogar ihre Heiler standen denjenigen zur Verfügung, die es sich leisten konnten.

»Ich hoffe, sie haben gut bezahlt«, sagte ich.

»Das haben sie«, sagte Mutter, als sie geschäftig den Raum betrat. »Und sogar noch mehr. Als wäre es ihre Zeit nicht wert, den passenden Betrag herauszusuchen.« Sie schüttelte erstaunt den Kopf.

»Eines Tages werden wir das sein«, sagte Clementine mit Stolz in ihrer Stimme. »Sobald Jasper seinen Abschluss hat und wir alle zu ihm nach Corrin gehen.«

»Aye, so ist es«, sagte Vater und trat von draußen ins Haus. Er hob Clementine hoch und wirbelte sie herum, obwohl sie mit ihren elf Jahren schon viel zu alt für so etwas war. Allerdings erhob niemand von uns Einspruch dagegen.

Als er sie wieder absetze, fiel sein konzentrierter Blick auf die Reihen von Kräutern auf dem Tisch. Seine Augenbrauen wanderten nach oben.

»Du warst heute fleißig, Elena.«

Ich streckte meinen Rücken durch und lächelte ihn an. Tatsächlich hatte ich gute Beute erzielt, obwohl die neuesten Ereignisse von diesem Nachmittag mich davon abgelenkt hatten. Ich war schon immer die Beste darin gewesen, die versteckten Winkel in den Wäldern zu finden, wo die selteneren Kräuter wuchsen. Diejenigen, die in dem Laden einen guten Preis erzielen würden – egal ob frisch oder getrocknet.

Meine Familie würde mich vermissen, wenn ich achtzehn werden und mich einschreiben würde, um in den Krieg zu ziehen. Das wusste ich. Aber besser ich als Jasper oder Clementine. Niemand hatte es je ausgesprochen, aber wir alle waren uns dessen bewusst. Und das Gesetz war deutlich. Ein Kind aus jeder Familie musste sich melden, um der Armee beizutreten, wenn es volljährig wurde. Und falls sich niemand freiwillig meldete, würde das Jüngste an seinem achtzehnten Geburtstag dazu gezwungen werden, sich zu verpflichten.

Von Zeit zu Zeit gab es Debatten darüber, doch niemand schien entscheiden zu können, was weniger beneidenswert war – älter und dazu gezwungen zu sein, sich zu entscheiden, oder das jüngste Kind zu sein, das keine andere Wahl hatte. Manchmal sah ich die Traurigkeit und die Angst in den Augen meiner Mutter, wenn sie mich betrachtete. Die meisten Familien schickten ihren stärksten Sohn und hofften, dass er die drei Jahre überleben würde, bis er seine Pflicht erfüllt hatte und nach Hause zurückkehren durfte.

Manchmal fragte ich mich, ob das der Grund dafür war, weshalb Mutter noch einmal schwanger geworden war – ganze fünf Jahre nach meiner Geburt. Zu dem Zeitpunkt war klar gewesen, dass Jasper besonders war, und dass er nicht an der vordersten Front eines nie enden wollenden Krieges verschwendet werden konnte. Meine Eltern hatten damals bereits angefangen, ihr Geld zu sparen, weil sie wussten, wie viel Privatunterricht er brauchen würde, sobald er die Schule in Kingslee im Alter von zehn Jahren abgeschlossen hatte.

Vielleicht hatte meine Mutter gehofft, noch mehr Söhne zu gebären, die geeigneter waren, in einer Schlacht zu überleben als ich. Doch stattdessen bekamen sie Clementine – die Liebevollste und Schwächste von uns allen.

Allerdings hatte ich nie den Mut aufgebracht, sie danach zu fragen, also war an dieser Sache möglicherweise gar nichts dran.

»Hat irgendjemand von ihnen etwas fallen lassen?« Die Worte kamen mir über die Lippen, noch bevor ich gemerkt hatte, dass sie mir überhaupt auf der Zunge gelegen hatten.

»Wer?«, fragte Vater verwirrt.

»Du meinst die Magier?« Clementine neigte ihren Kopf zur Seite und beäugte mich skeptisch. »Warum?«

»Oh, die.« Vater widmete sich wieder seiner Aufgabe, die Kräuter zu verpacken.

»Ich habe nichts gesehen«, sagte Mutter. »Obwohl es mich nicht überraschen würde, so leichtsinnig, wie sie sich verhalten haben. Warum fragst du? Bist du beim Laden vorbeigekommen und hast etwas gefunden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Aber Joseph – Isadoras kleiner Junge – hat scheinbar etwas gefunden.« Ich hatte nicht vorgehabt, ihnen davon zu erzählen, aber ich konnte es nicht für mich behalten – nicht bei dem Gewicht, das auf meinen Schultern lastete. Die Geschichte wollte freibrechen.

Außerdem war Samuel dabei gewesen. Ich vertraute nicht darauf, dass er seinen Mund hielt, und sobald er angefangen hätte zu reden, wäre es schwer einzuschätzen, wie andere darauf reagieren würden. Ich hoffte nur, dass er Joseph nicht erkannt oder gesehen hatte, zu welchem Haus ich mit ihm gegangen war. Glücklicherweise war er nicht der Typ, der auf solche Details achtete.

»Etwas Wertvolles?«, fragte Clementine. »Denkst du, dass sie es vermissen werden? Die Magier, meine ich?«

»Ich hoffe nicht.« Ich streckte meinen Rücken durch und atmete tief ein. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »Es waren Worte. Eine Art gedruckter Bericht oder so.«

Sämtliche Bewegungen im Zimmer erstarrten.

»Und der junge Joseph hat es gefunden, sagst du«, sagte Vater nach einer Weile.

Ich nickte. »Samuel und Alice haben ihn unten am Fluss entdeckt. Wir haben es verbrannt. Aber …« Ich atmete tief durch und brachte die nächsten Worte so schnell wie möglich hinter mich. »Er hat versucht, sie zu kopieren. In der Erde, bevor ich angekommen bin. Sie haben ihn gerade noch rechtzeitig aufgehalten.«

»Er hat versucht, die … die Zeichen zu kopieren?«, stieß Clementine stotternd hervor, sämtliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Wenn er ein ganzes Wort geschrieben hätte …« Sogar mein Vater sah verängstigt aus.

Ich schluckte und nickte. »Aber das hat er nicht. Daran erinnere ich mich immer wieder. Er hat es nicht geschafft. Und er ist nur ein Kind. Vielleicht … Vielleicht wäre die Kraft in ihm nicht stark genug gewesen, um besonders viel Schaden anzurichten.«

Niemand reagierte auf meine hoffnungsvolle Äußerung. Denn wir alle kannten die Kraft der Worte. Worte hatten Macht über das Leben – und die Macht über den Tod. Geschriebene Worte formten die Macht und ließen sie aus uns hinaus in die Welt strömen. Aber nur die Magierfamilien konnte diese Macht kontrollieren.

Bestimmt keine Leute wie wir. Oder der junge Joseph. Wenn ein Normalgeborener auch nur ein Wort schrieb, würde die Macht aus ihm herausschießen und sich in einer unkontrollierten, zerstörerischen Explosion entladen. Genau wie es dem armen Dorf im Norden zugestoßen war. Innerhalb eines Wimpernschlages für immer ausgelöscht, von der Landkarte radiert. Wie viele Buchstaben hatte es gebraucht? Und wer hatte sie geschrieben? Wir würden es niemals erfahren.

Ich mochte das System verabscheuen, das uns durch den Dreck zog, aber ich verstand es. Es gab einen Grund, weshalb es keinem von uns je gewährt wurde, die Wunder des Lesens und Schreibens zu erlernen. Ohne die Blutlinie, die es uns ermöglichte, die Macht zu kontrollieren, war es einfach zu gefährlich. Nur ein kleiner Fehler und …

Plötzlich flog die Tür auf, was uns alle zusammenzucken ließ.

Thomas, der Junge, der gelegentlich im Laden aushalf, seit Jasper gegangen war, lehnte keuchend am Türrahmen.

»Tom, was ist los?«, fragte Vater.

»Probleme«, keuchte er. »Probleme im Laden. Es geht um diese Magier.«

2

Wir sahen einander mit großen Augen an, dann war Vater zur Tür raus, und ich dicht auf seinen Fersen. Wir liefen nebeneinander her, rannten so schnell wir konnten. Der kurze Weg in die Stadt erschien endlos, aber sobald die Straße den Dorfrand erreichte, konnten wir den Aufruhr vor uns sehen, trotz des schwindenden Tageslichts. Mehrere Männer hatten sich vor dem Laden versammelt. Und sie trugen Fackeln.

Irgendwie schafften wir es, noch schneller zu laufen.

Vater sprang zwischen sie, stieß und schob sie mit seinen Ellbogen auseinander und zur Seite. Ich hingegen lief um die Männer herum und positionierte mich direkt zwischen der verschlossenen Eingangstür unseres Ladens und der kleinen Gruppe.

Ich brauchte nicht länger als ein paar Sekunden – und einen einzigen Atemzug –, um zu wissen, dass sie getrunken hatten. Darauf hätte ich ohnehin gewettet. Sonst würden sie sich nicht so aufführen. Sie kannten meine Eltern, mochten sie sogar. Und jeder von ihnen war Kunde unseres Ladens.

Aber irgendetwas hatte sie aufgebracht und es war nicht schwer zu raten, was. Schreie von »Magier« und »lesen« erklangen immer wieder in dem Tumult.

»Ihr werdet uns alle umbringen«, sagte einer von ihnen zu meinem Vater, der ihn mit einem verständnislosen Blick betrachtete. »Wovon redest du da, Murphy?«, fragte er gereizt, als hätte er die ganze Geschichte nicht erst vor wenigen Minuten von mir gehört.

»Die Magier werden sich auf uns stürzen und ihre Wachen mitbringen«, entgegnete Murphy stur, doch in seiner Stimme schwang Angst mit. »Sie dulden es nicht, wenn jemand versucht, sich selbst das Lesen beizubringen.«

»Und das aus gutem Grund«, sagte eine andere Stimme. »Ich will nicht bei lebendigem Leib in meinem Bett verbrennen, nur weil irgendein Narr Wahnvorstellungen hat. Lesen führt zum Schreiben. Das wissen wir alle.«

»Niemand in Kingslee versucht, das Lesen zu erlernen, da bin ich mir sicher«, sagte Vater, seine Stimme klang inmitten des Chaos wie eine ruhige Oase. »Und was hat das überhaupt mit meinem Laden zu tun?«

»Sie waren hier«, sagte Murphy und blickte ihn finster an. »Wir haben sie alle gesehen, wie sie mit euch gesprochen und euch bezahlt haben. Es muss etwas mit ihnen zu tun haben.« Jetzt runzelte er die Stirn, als müsse er die Geschichte in seinem Kopf selbst noch zusammenzusetzen. »Ich bin mir sicher, dass der Junge genau das gesagt hat. Sie haben Worte in eurem Laden zurückgelassen, und jetzt werden sie gelesen.«

Ein Chor aus wütenden Stimmen unterstützte ihn, wodurch er sich seiner Sache sicherer wurde, obwohl er keine Ahnung hatte, was genau geschehen war. Aber die Erwähnung eines Jungen reichte aus. Ich knirschte mit den Zähnen. Samuel. Zweifellos war er in der Taverne gewesen, um sich seine Sorgen von der Seele zu reden. Und er hatte es geschafft, einen Haufen betrunkener Männer anzustacheln. Er hatte ihre Ängste entfacht und ihnen die verworrene Idee in den Kopf gesetzt, dass unser Laden Worte beherbergte.

Wenn ich ihn das nächste Mal sah, würde ich ihm den Hals umdrehen. Ich war nur froh, dass er scheinbar nicht in der Lage gewesen war, ihnen Josephs oder Isadoras Namen zu nennen. Besser, sie legten sich mit meinem Vater und mir an als mit einer verängstigten Frau und einem Kleinkind.

Doch meine Zuversicht schwand, als ein weiterer lauter Chor ertönte. Mehrere von den Männern drängten sich nach vorn, näherten sich dem Laden und widersetzten sich den Anstrengungen meines Vaters. Er konnte sie nicht alle zurückhalten.

Angst durchfuhr mich. Diese Männer waren verängstigt worden – genau wie ich, weshalb ich verstand, wie sehr einen das erschüttern konnte – und suchten nach einem physischen Ventil. Ich konnte es in ihren Augen sehen. Und die waren fest entschlossen, dass unser Laden das Gefährlichste im ganzen Königreich beherbergte – geschriebene Worte.

Unser Laden. Die einzige Einnahmequelle unserer Familie – für mindestens drei weitere Jahre, bis Jasper sein Studium abgeschlossen hatte.

Mein Vater stieß ein lautes Brüllen aus, das sie für einen Augenblick erstarren ließ.

»Seid keine Narren!«, rief er. »In unserem Laden gibt es keine Schriften. Geht nach Hause zu euren Familien, bevor ihr noch echten Ärger auf uns lenkt.«

Für einen Moment dachte ich, seine Worte würden Wirkung zeigen. Doch dann rief jemand von hinten etwas Unverständliches, und sie alle drängten sich wieder vorwärts. Mein Vater griff nach Murphys Arm, woraufhin dieser stehenblieb und ihm etwas zurief. Aber die anderen Männer schoben sich auf beiden Seiten an ihnen vorbei und kamen auf mich zu.

Einer von ihnen holte aus – in seiner Hand hielt er eine Fackel – und fixierte eines der Ladenfenster mit seinem Blick. Feuer.

Energie durchflutete mich und ich erhob mich auf meine Zehenspitzen. Ich verspürte dasselbe berauschende Gefühl, das sich über mich gelegt hatte, als ich auf die geschriebenen Worte hinuntergeschaut hatte, ihre verschlungenen Formen schwebten vor meinem inneren Auge. Dann schüttelte ich meine Gedanken frei und schrie so laut ich konnte: »Stopp!«

Für eine halbe Sekunde wanderte sein Arm noch immer weiter zurück, unbeeindruckt von meinem Schrei, doch dann pulsierte die Macht als gewaltige Druckwelle aus mir heraus. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich konnte sie fühlen, als sie auf die Menge vor mir traf und ihre Fackeln löschte. Sie alle erstarrten, waren offensichtlich genauso schockiert wie ich.

Doch sie blieben regungslos, als wären sie an Ort und Stelle eingefroren. Der Griff meines Vaters war immer noch um Murphys Arm geschlossen, obwohl sein Gesicht jetzt mir zugewandt war. Und der Mann vor mir hielt nach wie vor seine gelöschte Fackel über seinen Kopf, als wollte er sie werfen. Ich schluckte und starrte sie an. Sie alle starrten zu mir zurück. Aber es bewegte sich weiterhin niemand. Es war fast so, als hätte mein einzelnes Wort sie alle dazu gezwungen … zu stoppen.

Ich machte einen zitternden Schritt zurück und traf gegen die geschlossene Ladentür. Und dann brach die Macht – oder was auch immer es war – aus, explodierte nach außen hin und ließ das Glas des Schaufensters zersplittern.

Ich duckte mich, hob meine Arme, um mein Gesicht zu schützen, obwohl die Druckwelle die meisten Scherben in den Laden fallen ließ. Als ich mich wieder aufrichtete, bewegten sich die Männer. Sie sprachen weiter wild durcheinander, doch ich konnte ihren Gesichtern ansehen, dass der Schock sie genauso wachgerüttelt hatte wie ein kaltes Bad.

»Was war das, Elena?«, fragte Murphy, seine Stimme erhob sich über die der anderen.

Ich schüttelte meinen Kopf, drückte mich immer noch mit dem Rücken an die Tür. »Ich weiß nicht. Ich habe nur gerufen, dass ihr alle aufhören sollt, und dann …«

»Einer von ihnen muss noch hier sein«, rief eine nervöse Stimme aus der Mitte der Gruppe. »Einer dieser Magier.«

Bei diesem Gedanken blickten mehrere Männer erschrocken auf.

»Sie schleichen hier herum und beobachten uns!«, sagte ein anderer.

»Nun, wenn das der Fall ist«, sagte Vater, der es inmitten von all dem irgendwie schaffte, die Ruhe zu bewahren, »dann solltet ihr besser alle nach Hause gehen. Bevor sie euch markieren oder etwas Ähnliches unternehmen.«

Mehr Ermutigung brauchten die Männer nicht, um sich zu zerstreuen – einige gingen zurück in die Taverne, aber die meisten verschwanden in andere Richtungen, um in die Sicherheit ihrer eigenen vier Wände zu gelangen.

»Bevor sie euch markieren?« Ich wünschte mir wirklich, nicht so zittrig zu klingen, doch ich spürte immer wieder das Gefühl, als würde die Macht aus mir hinausströmen.

»Wer weiß schon, was diese Magier alles können?« Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Immerhin hat es funktioniert, nicht wahr? Sie sind alle verschwunden.« Er sah sich um, bevor er seine Stimme erhob. »Sie sind weg und Euch gilt unser Dank, wer auch immer Ihr seid. Ihr könnt jetzt herauskommen.«

Jetzt hatte sich die Nacht vollständig über uns gelegt, und sie wurde von keiner anderen Stimme durchbrochen. Niemand erschien, um sich zu uns zu gesellen.

»Nun denn.« Meine Worte überschlugen sich. »Ich denke, wir sollten auch nach Hause zurückgehen.«

Mein Vater runzelte die Stirn und starrte noch immer in die Dunkelheit, also nahm ich seinen Arm und zerrte ihn in Richtung der Straße. Plötzlich erschien ein schwankendes Licht vor uns, doch es war nur meine Mutter, die uns mit einer Laterne entgegenlief.

»Was soll denn die Aufregung?«, fragte sie und sah sich auf der leeren Straße um. Dann fiel ihr Blick auf den Laden. »Das Schaufenster!«

Ich spähte über meine Schulter. Das Fenster hatte ich ganz vergessen.

»Keine Sorge«, sagte Vater. »Ich werde mit ein paar Brettern zurückkommen und es gleich wieder verschließen. Obwohl ich bezweifle, dass sich heute Nacht noch jemand in den Laden traut.«

»Ach?« Mutter wirkte skeptisch.

»Es ist ein Magier in der Nähe«, sagte Vater. »Und aus irgendeinem Grund hat er sich entschieden, uns zu helfen. Murphy und seine Männer aus dem Pub wollten den Laden in einem angetrunkenen Tobsuchtsanfall in Brand stecken.«

»Den Laden in Brand stecken? Ein Magier?« Mutter sah zwischen meinem Vater und mir hin und her, aber ich schüttelte hilflos den Kopf.

Während wir langsam zurück nach Hause gingen, erzählte er ihr die ganze Geschichte und erntete erschütterte Ausrufe, bis sie schließlich nach Luft schnappte.

»Das klingt, als hätten wir Glück gehabt, nicht mehr als ein Fenster zu verlieren«, sagte sie letztendlich, und mein Vater grunzte zustimmend. Doch er schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Noch immer spähte er verstohlen in die Dunkelheit, als erwartete er, dass der unbekannte Magier plötzlich auftauchen würde, um mit uns zu sprechen.

»Clemmy wollte auch mitkommen, aber ich konnte sie davon überzeugen, hierzubleiben. Deshalb hat es so lange gedauert.« Mutter hielt mit der Hand auf unserer Haustür inne. »Sie wird es kaum erwarten können zu erfahren, was passiert ist.« Ihre Augen legten sich auf mich. »Ich bin froh, dass du dir nichts getan hast, Elena. Oder … Einen Augenblick …«

Sie hob die Laterne an. »Es sieht aus, als hättest du dort einen Schnitt. Der muss von einem Glassplitter stammen. Zum Glück war es nur ein kleiner.« Noch während sie sprach, schob sie die Tür auf und eilte los, um Wasser und einen sauberen Lappen zu holen.

Ich wischte über den Blutstropfen, der aus einer kleinen Wunde auf meiner Stirn drang, doch sie schlug meine Hand weg. Ich hatte gar nichts gespürt.

Clementine eilte auf uns zu und forderte eine Erklärung ein, woraufhin Vater die Geschichte wiederholte.

»Ein Magier hat uns gerettet?« Clementine klatschte ihre Hände zusammen und strahlte übers ganze Gesicht. »Wie schrecklich aufregend.« Dann warf sie unserer Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du hättest mich mitkommen lassen sollen.«

»Das war kein …« Die Worte drangen kaum durch meine zugeschnürte Kehle.

»Was denn, Elena Liebling?«, fragte Mutter, die sich immer noch auf meinen Schnitt konzentrierte.

Ich atmete tief durch und versuchte es erneut, doch die Worte klangen noch immer zittrig.

»Ich glaube nicht, dass ein Magier dort war.« Ich sah auf und begegnete dem Blick meines Vaters. »Das … Was auch immer es war … Es kam von mir.«

* * *

»Unmöglich«, wiederholte Vater bestimmt zum hundertsten Mal. Schon gestern Abend hatte er es oft genug gesagt, doch bei den ersten Sonnenstrahlen hatte er wieder von vorne angefangen.

Ich kauerte auf meinem Stuhl, ohne das Frühstück vor mir anzurühren. Ich wollte nachgeben und sagen, dass ich mich vielleicht geirrt hatte und es gar nicht von mir ausgegangen war. Aber das konnte ich nicht. Ich war den Moment so oft in Gedanken durchgegangen, dass ich mir mittlerweile vollkommen sicher war. Was auch immer das für eine Welle gewesen war, die diese Männer hatte stillstehen lassen, ich war ihr Ursprung gewesen.

Natürlich konnte ich seine Zweifel verstehen. Und seine Ängste. Ich teilte sie mit ihm. Denn das, was dort passiert war, war vollkommen unmöglich, genau wie er sagte. Und dennoch war es geschehen.

Clementine kniete sich vor mich, und die Angst in ihren Augen erschütterte mich sogar noch mehr als der Schrecken meines Vaters.

»Bist du dir sicher, Elena?« Sie studierte mein Gesicht.

Ich konnte ihren forschenden Blick nicht ertragen und wandte mich ab, bevor ich nickte.

»Also gut«, sagte Mutter. »Entweder warst du es oder nicht. Doch es scheint mir, als könnten wir es ohnehin nicht beweisen. Es gibt nichts, was wir deswegen unternehmen können.«

»Aber …« Vaters Protest ebbte ab, als er ihrem stechenden Blick begegnete. »Ich nehme an, du hast recht. Es gibt nichts, was wir tun können, außer abzuwarten und zu sehen, was passiert.«

Niemand fragte ihn, worauf wir warten sollten, weil wir es alle wussten – er musste es nicht aussprechen. Wir warteten auf die Magier und die Soldaten. Wenn ich wirklich einen Stoß wilder Macht freigesetzt hatte, dann würden sie noch heute nach Kingslee kommen. Es gab Magier und ganze Truppen, deren einzige Aufgabe es war, nach Zeichen zu unkontrollierter Macht zu suchen. Und nach Hinweisen darauf, dass jemand versuchte, zu lesen. Die Grauen. Sie waren es auch gewesen, die die Ermittlungen geleitet hatten, nachdem das Dorf in einem gigantischen Feuerball untergegangen war.

Verfolgten sie das noch immer? Sie hatten versagt, und zu viele hatten den Preis dafür bezahlen müssen. Aber natürlich keiner von ihnen. An jenem Tag war kein einziges Mitglied einer Magierfamilie gestorben. Also hatte es ihnen vielleicht doch nicht so viel ausgemacht. Abgesehen von einem Fehler auf professioneller Ebene.

Mir war bewusst, dass ich nur versuchte, mich von dem abzulenken, was mir die größte Angst bereitete. Ich hatte das Wort Stopp gerufen, und diese Männer waren erstarrt. Die Macht war instabil gewesen und sofort auf mich zurückgeprallt. Aber es war nicht unkontrolliert gewesen, nichts war wahllos explodiert. Niemand war gestorben – stattdessen hatten sie getan, was ich befohlen hatte. Und das war sogar noch unmöglicher, als dass ich die Macht überhaupt ausüben konnte.

»Immerhin gibt es Zeugen«, sagte Mutter mit einem leichten Zittern in der Stimme. »Sie stand direkt vor all den Leuten, hast du gesagt. Sie haben alle gesehen, dass sie nichts geschrieben hat.«

Mein Vater nickte, aber ich konnte sehen, wie er das Gesicht zu einer Grimasse verzog.

Ich seufzte, mein Kopf fühlte sich vor Erschöpfung ganz schwer an. Die ganze Nacht über war ich immer nur kurz eingenickt.

»Die waren alle betrunken, Mutter. Alle außer Vater und mir. Ich will gar nicht daran denken, was für Geschichten bereits im Dorf kursieren. Wenn sich einer von ihnen noch genau daran erinnern kann, was passiert ist, wäre ich mehr als überrascht. Sie stellen nicht gerade vertrauenswürdige Zeugen da.«

»Vielleicht ist das was Gutes«, sagte Clementine, die als Einzige von uns dazu in der Lage war, etwas zu essen – zweifellos trieb ihr kindlicher Optimismus sie an. »Die Geschichte wird so stark durcheinandergebracht, dass niemand auch nur daran denken wird, es mit Elena in Verbindung zu bringen.«

Meine Eltern tauschten einen Blick aus, aber niemand von uns korrigierte sie. Sollte sie ihren Optimismus so lange wie möglich bewahren. Wenn die Magier kamen, hatten sie wahrscheinlich genauere Methoden zum Bestimmen der Quelle als die Aussagen der betrunkenen Anwohner.

Meine Augen folgten ihr, als sie im Dachgeschoss verschwand, um sich für den Tag anzukleiden.

»Was, wenn …« Ich senke meine Stimme. »Was, wenn sie mich holen kommen? Was, wenn sie denken, dass ich lese und sie … mich mitnehmen?« Die Dummheit dieses Euphemismus ließ mich zusammenzucken, doch ich brachte das Wort hinrichten einfach nicht über die Lippen. »Was wird dann aus Clemmy?«

Der Gedanke hatte mich in der letzten Nacht mindestens genauso viel beschäftigt wie der an mein eigenes Schicksal. Jaspers Chance war dahin – er war vor drei Wochen neunzehn geworden. Wenn er sich jetzt noch meldete, um der Armee beizutreten, wäre er ein freiwilliger Rekrut. Jede Familie musste ein achtzehnjähriges Kind schicken. Wenn die Magier also kamen – wenn sie mich töteten –, dann würden die Soldaten in sechseinhalb Jahren, an ihrem achtzehnten Geburtstag, kommen und sich Clemmy holen. Und die würde in der Armee keine vier Wochen durchhalten. Sie müsste nicht mal dem Feind gegenübertreten. Nicht, wenn sie so anfällig war, jede Krankheit aufzuschnappen, die sich gerade im Dorf ausbreitete.

»Das wird nicht passieren«, sagte Mutter, doch ich konnte hören, dass sie mehr Sicherheit in ihre Stimme legen wollte, als sie tatsächlich verspürte. »Du hast nichts falsch gemacht. Du hast nie auch nur ein Wort in deinem Leben gelesen, geschrieben erst recht nicht.«

Ich nickte, doch meine Gedanken wanderten unaufhaltsam zu dem Pergament und den verführerischen geschwungenen Zeichen darauf zurück. Sie hatte recht, also weshalb sollte ich mich schuldig fühlen? Magier konnten keine Gedanken lesen, oder? Und der Wunsch zu lesen war nicht verboten – solange man es nicht wirklich tat.

Wie als Antwort auf meine schuldbewussten Gedanken, ertönte ein lautes Klopfen an der Tür. Clementine steckte ihren Kopf durch das Loch, das nach oben führte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht spiegelte meine eigene Angst wider.

Mein Vater erhob sich langsam und durchquerte den Raum. Das Klopfen hielt an.

Als er die Tür aufzog, enthüllte sie einen Wachmann, seine Hand war gehoben, um erneut zu klopfen.

»Ja? Kann ich Euch helfen?« Vaters raue Stimme klang ganz und gar nicht wie er selbst. Meine Mutter bewegte sich leicht, brachte sich selbst zwischen mich und die Tür, aber ich stand trotzdem auf. Ich konnte mich vor dem, was kommen würde, nicht verstecken.

Als ich ihn betrachtete, fiel mir auf, dass der Mann kein Abzeichen einer der Elitetruppen trug, die Jagd auf abtrünnige Leser machten. Er war eine Wache, kein Soldat. Aber ich wusste nicht genug, um zu erkennen, was das bedeutete.

Dann drückte sich ein größerer Mann in einer matten roten Robe an ihm vorbei und betrat das Haus. Ich konnte die Verwirrung auf dem Gesicht meines Vaters aufblitzen sehen, als er ihn sah. Die Anwesenheit eines Magiers war nicht unerwartet, doch er trug die Farben der Gesetzesvollstreckung. Seine Robe war rot. Nicht das dunkle Grau, das die Magier trugen, die die besondere Aufgabe hatten, Leser ausfindig zu machen. Diejenigen, die bei einem unkontrollierten Ausbruch der Macht ermittelten.

Es war jemand gekommen, um nach mir zu suchen, aber niemand, den wir erwartet hätten. Ich wollte gerade um meine Mutter herumgehen, als die Stimme des Magiers mich innehalten ließ.

»Wo ist der Magier? Er – oder sie – muss sich einer sofortigen Kontrolle und Überprüfung unterziehen.«

3

»Magier? Hier ist kein Magier.« Mein Vater breitete seine Arme aus, als wollte er den Mann dazu auffordern, sich umzusehen.

»Bitte.« Der Mann klang gelangweilt. »Stellt meine Geduld nicht auf die Probe. Wir haben den Gebrauch von Magie zu diesem Haus zurückverfolgt.« Er ließ seine Blicke durch den Raum schweifen, als würde er unser Heim jetzt zum ersten Mal wahrnehmen. »Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum einer von uns sich hier verstecken wollen würde.«

Ich erstarrte, genau wie meine Mutter, doch keine von uns sagte etwas.

Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was ich Euch sagen soll. Hier ist niemand bis auf meine Frau und meine beiden Töchter.« Er deutete nach oben zu Clementine und dann zu mir.

»Hören Sie. Der Magier ist krank oder verwundet und braucht dringend Hilfe – oder eine Auffrischung der Ausbildung, die genauso dringend sein dürfte. Immerhin war die Rückkopplung noch in der Hauptstadt zu spüren.« Ich konnte seinem Gesicht ansehen, was seiner Meinung nach dafür verantwortlich gewesen sein musste – und dass es ihm nicht gefiel, im ersten Morgengrauen nach Kingslee geschleppt worden zu sein.

»Ich weiß nicht –«

Der Magier schnitt meinem Vater das Wort ab. »Sie wollen mich wirklich nicht dazu bringen, noch mal fragen zu müssen.« Sein Ausdruck war so schnell von verärgert zu gefährlich umgeschlagen, dass ich beinahe nach hinten gestolpert wäre. Aber ich zwang mich, standhaft zu bleiben.

»Die Kraftwelle war so unkontrolliert, dass einige an der Akademie die Grauen losschicken wollten.« Die Abneigung in seiner Stimme war offensichtlich, doch ich konnte nicht sagen, ob sie jenen galt, die die grauen Roben schicken wollten, oder den Magiern, die diese trugen.

»Die Grauen schicken.« Er schüttelte den Kopf. »Selbst der naivste Lehrling konnte spüren, dass Kontrolle darin lag.« Er hob eine Augenbraue. »Wie schwach auch immer sie gewesen sein mag.«

Wir standen alle schweigend da, unsicher, wie wir darauf reagieren sollten. Der Magier schnipste in Richtung der Wachen. Jetzt traten sie ebenfalls ein und verbreiteten sich im ganzen Haus. Clementine sprang die letzten Streben hinunter und drückte sich an meine Seite, als sie sogar nach oben kletterten, um unseren Schlafbereich auszukundschaften.

»Niemand will, dass eine derart schwächliche Kontrolle im Königreich frei herumläuft«, sagte der Magier, während er seine Männer ganz genau im Blick behielt. »Wir werden sicherstellen, dass sich um diesen Magier gekümmert und seine Fähigkeiten wieder verbessert werden. Das ist in unser aller Interesse.« Er drehte sich um und bedachte uns mit einem ernsten Blick. »Nicht nur Blassblüter können Unfälle verursachen. Es gibt einen Grund, weshalb all unsere Kinder die Akademie besuchen müssen. Eine mindere Ausführung hat das Potenzial, erhebliche Schäden anzurichten.«

Blassblüter? Wurden wir normalen Leute so von den Magiern genannt?

»Hier ist niemand, mein Herr«, sagte eine der Wachen und salutierte vor dem Magier.

»Ich habe Euch doch –«

Wieder schnitt der Magier meinem Vater das Wort ab, nur war es diesmal eine verärgerte Geste. Mit finsterem Blick griff er in seine Robe und zog ein kleines eingerolltes Stück Pergament hervor. Unbewusst schwankte ich nach vorn und versuchte, einen Blick auf das zu erhaschen, was darauf geschrieben stand. Doch der Mann riss es durch, noch bevor er es ganz entfaltet hatte, und stopfte eine Hälfte zurück in seine Robe.

Um ihn herum erhob sich funkelnder Staub und hing eine halbe Sekunde lang in der Luft. Dann fing er an, sich zu bewegen, formte einen Strom, der um meine Mutter herumtanzte und sich dann über mich legte. Fasziniert und verängstigt zugleich streckte ich meine Hände aus und drehte sie vorsichtig. Der Staub hatte sich in einem dünnen Film über meine Haut gelegt, sodass ich nun diejenige war, die glitzerte.

Die Augen des Magiers wurden groß, bevor sich sein finsterer Blick auf meinen Vater richtete.

»Was soll das? Sie sagten, sie wäre Ihre Tochter!«

»Das … Das ist sie.« Meine Mutter stemmte ihre Hände in die Hüften und schaffte es trotz der Angst, die von ihr ausstrahlte, beleidigt auszusehen.

»Unmöglich!«

Das Wort des Magiers hallte wie ein Echo meines Vaters durch den Raum. Unmöglich. Ich war unmöglich.

»Dieses Mädchen ist eine Magierin, meine Schriften lügen nicht. Sie muss erst vor kurzem ein eigenes Werk verfasst haben.« Er marschierte zu mir herüber, griff nach meinem Arm und schüttelte mich leicht. »Was machst du hier? Und warum lügen diese Leute mich an? Ganz offensichtlich bist du nicht ihre Tochter.« Er starrte auf mich herunter. »Kein Wunder, dass deine Ausführung so schwach war. Du bist kaum alt genug, um die Akademie zu besuchen, geschweige denn sie abgeschlossen zu haben. Du solltest es besser wissen, als hier draußen zu üben.«

Dann fing er an, mich grob in Richtung Tür zu zerren.

»Halt!« Meine Mutter eilte zu uns, versuchte, uns aufzuhalten. »Was tut Ihr denn? Wohin werdet Ihr sie bringen?«

Ich schüttelte den Kopf, wollte nicht, dass noch jemand in meiner Familie unter meiner unergründlichen Anomalie litt, doch sie ignorierte mich.

»Natürlich zurück zur Akademie. Dort werden sie sich um alles kümmern. Mich mit widerspenstigen Lehrlingen herumzuschlagen, gehört nicht zu meinem Job.« Sein bedrohlicher Blick wanderte von meiner Mutter zu meinem Vater hinüber. »Ich weiß nicht, was Sie hier für ein Spiel spielen oder was Sie mit Ihren Lügen zu beabsichtigen versuchen, aber ich kann Ihnen versichern, dass die Akademie es schon bald herausfinden wird. Und es wäre denkbar, dass sie mich dann hierher zurückschicken.«

Die Drohung hing bedeutungsschwer in der Luft, aber meine Mutter kam trotzdem auf mich zu und griff nach meinem anderen Arm. Einen verrückten Augenblick lang dachte ich, sie würde den Magier in ein Tauziehen verwickeln wollen, in dessen Zentrum ich stand, doch stattdessen beugte sie sich vor und sprach leise in mein Ohr.

»Was auch immer sie dir erzählen, du bist meine Tochter. Verstehst du mich? Sie haben dich in der Sekunde, in der du geboren wurdest, in meine Arme gelegt, und niemals hätte ich dich danach noch verwechseln können. Du wurdest aus meinem Körper und dem Blut deines Vaters geboren. Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht, aber das weiß ich sehr wohl.«

Ich konnte die brennende Gewissheit in ihren Augen sehen und nickte, da sie sich offensichtlich nach einer Reaktion von mir sehnte. Sobald ich das getan hatte, ließ sie von meinem Arm ab und trat zurück, bevor der Magier mich durch die Tür zerrte.

Ich hatte nichts bei mir, außer der Kleidung, die ich am Leib trug, und bekam nicht mal die Möglichkeit, mich zu verabschieden. Der Magier schob mich in eine Kutsche und schlug die Tür hinter mir zu, bevor er sich auf den Rücken eines Pferdes schwang. Ich schaute aus dem Fenster, als ein Ruck durch das Fahrzeug zuckte und wir losfuhren. Das Letzte, was ich von meiner Familie sah, war Clementines tränenüberströmtes Gesicht, als sie auf die Straße rannte und meinen Namen rief.

* * *

Die Kutsche musste für den Fall mitgebracht worden sein, dass sie tatsächlich einen kranken oder verwundeten Magier gefunden hätten, denn außer mir saß niemand darin. Der Magier in der roten Robe und die Wachen ritten zu meinen beiden Seiten, was sich einfacher gestaltete, sobald wir die gepflasterte Hauptstraße erreichten. Die Südstraße führte von der Südküste Ardanns quer durch das Königreich bis nach Corrin, unserer Hauptstadt. Kingslee mochte das Dorf sein, das Corrin am nächsten war, aber es war nicht groß genug, um eine eigene gepflasterte Straße zu verdienen.

Und trotz unserer Nähe waren die meisten von uns – mich mit eingeschlossen – nicht wichtig genug, um die Hauptstadt je besucht zu haben. Einige brachten ihre Waren zu den größeren Märkten in der Stadt, aber nur wenige produzierten genug, als dass diese Reise sich lohnen würde. Ein paar der wohlhabenderen Familien besuchten manchmal das ein oder andere Fest, aber solange ich mich zurückerinnern konnte, hatten wir immer gespart. Der Besuch der Königlichen Universität war nicht billig, auch nicht, wenn man clever genug war, um unter ihrer Schirmherrschaft zu stehen. Außerdem war Jasper seit seinem zehnten Lebensjahr – wenn die Schule für die Normalgeborenen endete – immer wieder in die Hauptstadt gefahren, um Nachhilfe zu erhalten. Jeder Aufenthalt hatte mehrere Wochen gedauert und mit den Verpflegungskosten und dem Honorar des Lehrers hatte es jedes Mal ein großes Loch in unserem Geldbeutel hinterlassen.

Oft hatte ich mich danach gesehnt, ihn zu begleiten, einfach nur, um die Stadt einmal mit eigenen Augen sehen zu können. Aber niemand wollte zusätzliches Geld für mich ausgeben – nicht, wenn es schon teuer genug war, ihn dort hinzuschicken –, außerdem wollte meine Mutter nicht, dass ich die Heimreise alleine antreten musste.

Meine Eltern hatten keine Zeit, um zu reisen. Nicht, wenn der Laden jeden einzelnen Tag geführt werden musste. Nur ein einziges Mal waren sie dort gewesen und hatten mich nur widerwillig zurückgelassen, damit ich mich um den Laden kümmern konnte. Jasper hatte sie begleitet, um sie herumzuführen, nachdem er für eine ungewöhnlich lange Zeit zu Hause gewesen war. Damals hatten wir entschieden, die Ersparnisse, die sein letzter Privatunterricht gekostet hätte, stattdessen für Clemmy auszugeben, damit sie ein Sanatorium besuchen konnte.

Ich war so aufgeregt gewesen, als sie von dort zurückgekommen waren, doch es war spät in der Nacht, und sie waren erschöpft und niedergeschlagen gewesen. All die Münzen, die sie sorgsam zusammengespart hatten, hatten kaum ausgereicht, um die Heilung ihrer letzten gewöhnlichen Erkältung zu bezahlen. Clemmys eigentliches Problem ging viel tiefer, war komplex, hatten die Heiler gesagt, und erforderte eine Diagnose und Behandlung eines erfahrenen Heilers. Der genannte Preis war zu hoch, um es überhaupt in Erwägung zu ziehen.

Also waren wir zu unseren alten Gewohnheiten zurückgekehrt. Unser gesamtes Geld ging an Jasper, zusammen mit all unseren Hoffnungen. Und der Rest von uns blieb in Kingslee.

Als die Meilen an mir vorbeizogen, beobachtete ich durch das Fenster, wie unser Bach in den größeren Fluss Overon mündete und der Weg uns über eine breite Brücke führte. So weit war ich noch nie von zu Hause fortgewesen, und doch konnte ich mich nicht richtig darauf konzentrieren. In Gedanken ging ich immer wieder das durch, was in den letzten zwölf Stunden vorgefallen war, und landete immer wieder bei den aufgeregten Worten meiner Mutter und Clementines herzzerreißendem Schrei.

Vorhin hatte ich zu sehr unter Schock gestanden, doch nachdem ich einen Moment darüber nachgedacht hatte, verstand ich die Sorgen meiner Mutter. Der Gedanke, dass ich eine Art Findelkind war oder es eine Verwechslung gegeben hatte – oder sogar, dass meine Mutter meinem Vater gegenüber untreu gewesen war –, waren alles logische Schlussfolgerungen. Aber ich kannte meine Mutter schon mein ganzes Leben und hatte ihr in die Augen gesehen, als sie mir versichert hatte, wessen Blut ich in mir trug. Ich glaubte ihr.

Außerdem konnte ich weder lesen noch schreiben. Selbst wenn ich ein verlorenes Mitglied einer Magierfamilie war, erklärte das nicht, warum die Macht mit einem einzelnen ausgesprochenen Wort aus mir herausgebrochen war. Nein. Irgendetwas Unerklärliches ging hier vor sich. Die einzige Frage war, was passieren würde, wenn die Magier die Wahrheit erkannten.

Jasper brauchte drei Stunden, um zur Hauptstadt zu laufen, aber die Kutsche und die Pferde kamen viel schneller voran als er. Die ersten Gebäude der Stadt erschienen schon vor uns, lange bevor zwei Stunden vergangen waren.