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"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.
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Seitenzahl: 49
Siegfried Lenz
Stimmungen der See
Erzählung
Hoffmann und Campe Verlag
Zuerst war Lorenz am Treffpunkt. Er streifte den Rucksack ab und legte sich hin. Er legte sich hinter eine Strandkiefer, schob den Kopf nach vorn und blickte den zerrissenen Hang der Steilküste hinab. Der kreidige Hang mit den ausgewaschenen Rinnen war grau, die See ruhig; über dem Wasser lag ein langsam ziehender Frühnebel, und auf dem steinigen Strand unten war das Boot. Es begann hell zu werden.
Lorenz schob sich zurück, wandte den Kopf und blickte den Pfad entlang, der neben der Steilküste hinlief, in einer Bodensenke verschwand und wieder zum Vorschein kam, dort, wo er in die lichte Schonung der Strandkiefern hineinführte. Er sah aus der Schonung die massige Gestalt eines Mannes mit Rucksack treten, sah den Mann stehenbleiben und zurücklauschen und wieder weitergehen, bis sein Körper in der Bodensenke verschwand und nur noch der Kopf sichtbar war. Der Mann trug einen schwarzen Schlapphut und einen schwarzen Umhang. Er näherte sich sehr langsam. Als er die Bodensenke hinter sich hatte, konnte Lorenz seinen Schritt hören: es war der Professor. Sie gaben sich die Hand, Lorenz klinkte den Karabinerhaken des Rucksacks aus, der Professor legte sich hin, und sie schoben sich wortlos bis zum Steilhang vor und sahen auf das Boot hinab und auf das schiefergraue Wasser, über dem in kurzer Entfernung vom Strand die Nebelwand lag.
»Ich dachte, ich komme zu spät«, sagte der Professor leise, »aber Tadeusz fehlt noch.«
Der Professor hatte ein schwammiges Gesicht, entzündete Augen, sein Haar und der drahtige Walroßbart waren grau wie der kreidige Hang der Steilküste, und sein Kinn und der schlaffe Hals unrasiert.
»Wann kommt Tadeusz?« fragte er leise.
»Er müßte schon hier sein«, sagte Lorenz.
Der Professor legte sich auf die Seite, schlug den Umhang zurück und zog aus der Tasche eine zerknitterte Zigarette heraus, beleckte sie und zündete sie an. Er verbarg die Glut der Zigarette in der hohlen Hand. Das Pochen eines Fischkutter-Motors drang von der See herauf, sie blickten sich erschrocken an, doch das Geräusch des Motors setzte nicht aus, zog gleichmäßig im Nebel die Küste hinauf und entschwand.
»War er das?« fragte der Professor.
»Er fährt erst los, wenn Tadeusz das Haus verläßt«, sagte Lorenz. »Es war ein anderer Kutter.«
Sie warteten schweigend; der Nebel über der See hob sich nicht, es kam kein Wind auf, und im Dorf hinter dem Vorsprung der Steilküste blieb es still.
»In zwei Tagen sind wir in Schweden«, sagte der Professor. Lorenz nickte.
»Die Ostsee ist ein kleines Meer, sie ist verträglich im September.«
»Wir sind noch nicht drüben«, sagte Lorenz.
Unten am Strand schlugen klickend Steine zusammen, die Männer legten sich flach auf den Boden und lauschten, hoben nach einer Weile den Kopf und sahen den Steilhang hinunter: hinter dem Boot kauerte Tadeusz. Er blickte zu ihnen empor, er winkte, und sie standen auf, nahmen die Rucksäcke und gingen zu einer ausgewaschenen Rinne im Hang, in der ein Seil hing. Sie legten die Rucksäcke um und ließen sich am Seil auf den steinigen Strand hinab. Als sie unten standen, warf Lorenz eine Bucht, die Bucht lief das Seil hinauf wie eine gegen den Himmel laufende Welle, bis sie das Ende erreichte und es aus der Schlaufe riß, so daß das Seil zu ihnen hinabfiel. Dann liefen sie geduckt über den Strand zum Boot, warfen die Rucksäcke und das Seil hinein und schoben das Boot ins Wasser.
»Schnell«, sagte Tadeusz, »weg von Land.«
Tadeusz war ein stämmiger Mann; er trug eine Joppe mit Fischgrätenmuster, eine Ballonmütze mit versteiftem Pappschild, sein Gesicht war breitwangig, und seine Bewegungen waren ruckartig und abrupt wie die Bewegungen eines Eichhörnchens. Er ergriff einen Riemen und begann zu staken. Wenn der Riemen zwischen den Steinen auf Grund stieß, knirschte es, und der Mann ließ seinen Blick über den Strand unter der Steilküste wandern und hinauf zu den flach explodierenden Strandkiefern. Er stakte das Boot in tiefes Wasser. Lorenz und der Professor saßen auf ihren Rucksäcken und hielten sich mit beiden Händen am Dollbord fest; auch sie blickten zur Küste zurück, die sich erweiterte und ausdehnte, während Tadeusz zu rudern anfing. Entschieden tauchten die Riemen ein, zogen lang durch und brachen geräuschlos aus dem Wasser. Das Boot glitt stoßweise vorwärts. Es war ein breitbordiges Beiboot, wie Küstenschiffe und Fischkutter es an kurzer Leine hinter sich herschleppen, flach gebaut, mit verstärkten Spanten und nur einer Ducht in der Mitte für den Ruderer. Das Boot lag leicht auf der See, es konnte nur mit den Riemen gesteuert werden.
Als sie in den Nebel hinausfuhren, verloren sie das Gefühl, auf dem Wasser zu sein; sie empfanden nur das stoßweise Vorwärtsgleiten des Bootes und hörten das leichte Rauschen, mit dem der Bug durch die ruhige See schnitt. Tadeusz ruderte, Lorenz und der Professor setzten sich auf die Bodenbretter und lauschten in den Nebel, der quellend an der Bordwand hochstieg, fließend über sie hinzog und sich in lautlosem Wallen hinter ihnen schloß gleich einer flüssigen Wand. Lorenz senkte sein Gesicht, er preßte die Hand auf den Mund, sein Rücken krümmte sich, und er begann zu husten. Sein Gesicht schwoll an, Tränen traten in seine Augen. Der Professor klopfte mit der flachen Hand auf seinen Rücken. Ein Riemen hob beim Ausbrechen treibenden Tang hoch, warf ihn voraus, und der Tang klatschte ins Wasser. Die Küste war nicht mehr zu sehen. »Wie weit noch?« fragte der Professor.
Tadeusz antwortete nicht, er ruderte schärfer jetzt, legte sich weit zurück, wenn er durchzog, ohne auf die knarrenden Geräusche zu achten, auf das Knacken der Dollen. Ein saugender Luftzug, wie das scharfe Gleiten eines riesigen Vogels, ging über sie hinweg, so daß sie die Gesichter hoben und aufsahen, aber es war nichts über ihnen als der fließende Nebel, der alles verdeckte. »Wo wartet der Kutter?« fragte Lorenz, der Jüngste im Boot.