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Nichts ist tödlicher als die Wahrheit. Hat der unscheinbare Buchhalter Oliver seine Frau bei lebendigem Leib eingemauert? Scotland-Yard-Ermittler Hubert Macintosh ist fest davon überzeugt. Doch der Verdächtige wartet mit einer bösen Überraschung auf. Drei Jahre später stößt Skandalreporter Jack Calhey bei Recherchen zu einer Story über diesen seltsamen Fall - und auf die Spur einflussreicher Personen, die über Leichen gehen, um Olivers grausiges Geheimnis zu bewahren …
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Seitenzahl: 480
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Deckblatt
J.P. Conrad
DER LETZTE TERMIN
Thriller
Suspense Verlag
Impressum
»Stirb für uns«
© 2024 J.P. Conrad, alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung und Satz: Perpicx Media Design, www.perpicx.de
Veröffentlichung:
© 2024 Suspense Verlag
Höhenstraße 18, D-61267 Neu-Anspach
E-Mail: [email protected]
Prolog
Die Welt lag auf der Seite. Zumindest hatte Keira kurz den Eindruck, bis sich ihr verschwommener Blick allmählich klärte. Sie lag auf dem Teppich, ihr Kopf ruhte auf der rechten Wange. Was war nur passiert? Wie war sie in diese unnatürliche Lage geraten? Ihr Verstand lief auf Sparflamme, ihre Gedanken bildeten eine zähe Masse. Nur mit großer Anstrengung konnte sie ihre Augen offen halten. Sie schaute direkt auf das geschwungene Bein des runden Esstisches. Ja, dort hatte sie gesessen. Oliver und sie hatten Tee getrunken und geredet. Dann war irgendetwas vorgefallen. Keira wusste noch, dass er den Raum verlassen hatte. An dieser Stelle endete ihre Erinnerung abrupt.
Sie vermutete, dass sie ohnmächtig geworden war. Es konnte ja nur so gewesen sein. In diesem Moment kehrte auch wieder die Erinnerung an dieses merkwürdige Gefühl, das sie plötzlich überkommen hatte, zurück. Müdigkeit und Schwindel waren, wie aus dem Nichts, aufgetaucht. War sie vielleicht krank? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, sich in den letzten Tagen körperlich schlecht gefühlt zu haben. Es hatte eine Menge Wirbel um ihre Person gegeben, an dem sie selbst nicht unschuldig gewesen war. Das hatte sie aber keineswegs aus der Bahn geworfen; so wie die Male zuvor auch nicht. Nach dem Motto: ›Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker‹ hatte sie weiter ihre Ziele verfolgt.
Aber jetzt war sie an einem Punkt angekommen, der sie absolut erschreckte. Was ist das nur? Was passiert mit mir? Sie spürte Lähmungserscheinungen in ihren Extremitäten. Der Versuch, sich mit den Armen in eine aufrechte Position zu stemmen, scheiterte; sie plumpste unsanft zurück auf den Teppich. Panik erfasste sie, wie ein Fisch, der ans trockene Ufer geworfen worden war. Ihr Geist war dem eigenen Körper vollkommen ausgeliefert. Er reagierte nicht auf das, was sie wollte.
Wo war Oliver nur? Rief er gerade den Krankenwagen? Das tut er ganz bestimmt. Hilfe wird gleich kommen, Keira, dann wird alles wieder gut! Sie würde die Augen schließen und einfach abwarten. Und irgendwann später, wenn man sich um sie gekümmert hatte, würde sie einfach aufstehen und wäre wieder vollkommen okay.
Sie lauschte in den Raum und hörte zunächst nur ihren eigenen Atem, den sie, auf dem Bauch liegend, mit großer Anstrengung aus den Lungen pressen musste. Dann, allmählich, nahm sie, in einiger Entfernung, dumpfe Stimmen wahr. Sie versuchte, sich auf sie zu konzentrieren. Eine erkannte sie als die von Oliver.
»Ja, äh, sag mal, was führt dich denn hier in unsere Gegend?«
Die Frau, die Keira stimmlich nicht einordnen konnte, erwiderte: »Ich habe meine Schwester besucht. Und da dachte ich mir, schau ich spontan mal bei euch vorbei.«
»Das ist sehr lieb. Ich würde dich ja auch gerne rein bitten. Aber du erwischst mich leider auf dem völlig falschen Fuß. Ich muss gleich zu einem Termin.«
Welcher Termin? Davon hat er nichts erwähnt. Und warum ist er so ruhig? Er hat doch mitbekommen, dass ich kollabiert bin. Oder nicht?
»Oh, schade. Aber na ja, ich wollte nicht vorher anrufen. Sollte eine Überraschung sein. Deine bessere Hälfte ist demnach nicht da?«
»Die, äh, hat sich mit Freundinnen in der Stadt getroffen«, antwortete Oliver.
Was erzählt er denn da? Das ist nicht wahr!
In Keira keimte ein fürchterlicher Verdacht auf. Hatte sie ihren desolaten Zustand etwa ihm zu verdanken? Hatte er ihr vielleicht ein Schlafmittel in den Tee getan? Oder war das alles nur ein Hirngespinst? Warum hätte er das tun sollen?
»Hm, tja, das ist Pech«, entgegnete die Frau. »Und, wie geht es Tommy?«
»Unverändert.«
»Oh, das tut mir leid. Ich denke oft an euch. Ihr habt es wirklich nicht leicht.«
»Danke. Ja, wir kämpfen uns durch.«
Keiras Verdacht war keine Einbildung. Sie erinnerte sich jetzt wieder, dass Oliver gesehen hatte, wie sie zusammengebrochen war. Erst dann hatte er das Zimmer verlassen. Sie versuchte, sich bemerkbar zu machen, wollte um Hilfe rufen. Sie öffnete den Mund. Doch es kam nur heiße Luft aus ihrer Kehle; ihr Brustkorb war wie abgeschnürt.
»Ihr seid so tapfer. Ich wüsste nicht, ob ich die Kraft hätte«, sagte die Frau bedauernd. Dann seufzte sie. »Na gut, dann mache ich mich wieder auf den Weg.«
Hallo? Ich bin hier! Ich brauche Hilfe!
»Lass uns doch einfach telefonieren, dann machen wir für demnächst was aus.«
Telefonieren ... Keira fiel etwas ein. Ihr eigenes Telefon steckte in der Jacke an der Garderobe. Aber sie hatte vorhin eines gesehen, auf dem Beistelltisch neben dem Sofa. Vielleicht war es noch da. Unter größter Anstrengung drehte sie den Kopf.
»Gute Idee«, sagte die Frau. »Dann machen wir zu viert was aus.«
Ja, da ist es! Eine kleine Spitze des Smartphones ragte über die Kante. Er war keine zwei Meter entfernt; in ihrem Zustand jedoch unendlich weit weg.
»Ja, das klingt doch super«, meinte Oliver.
Keira versuchte, ihre ganze Kraft in ihren Beinen zu bündeln. Nach mehreren Versuchen gelang es ihr, ein Bein anzuwinkeln und dann wieder auszustrecken. Doch sie brauchte beide und noch ihre Arme, um sich vom Fleck bewegen zu können.
»Robert hat übrigens den Job gewechselt«, plauderte die Frau weiter.
»So. Was macht er jetzt?«
»Na, immer noch Verlagswesen. Aber er ist zu Marmot gewechselt. Kennst du sicher.«
Während sie sich auf ihre Gliedmaßen konzentrierte, verfolgte sie mit einem Ohr weiter der Unterhaltung an der Haustür. Sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit haben würde.
»Marmot, äh ja. Die machen Kinderbücher, richtig?«
»Ja. Die bringen doch unter anderem die von Pamela Ashcroft raus.«
»Ashcroft?«
»Die hat Tommy sicher auch gelesen. Zumindest hatten wir ihm zum fünften oder sechsten Geburtstag mal eins geschenkt.«
Die halbe Strecke hatte Keira bewältigt, flach auf dem Boden robbend. Sie spürte, wie sich durch die Anstrengung Schweiß auf ihrer Stirn bildete. Es fehlte nur noch ein kleines Stück, dann würde sie den Arm ausstrecken können. Wenn sie konnte.
»Oh, ja. Stimmt«, erwiderte Oliver beschämt. »Du, sei mir nicht böse, aber ich muss mich gleich fertigmachen.«
»Ja, entschuldige. Ich will dich nicht aufhalten. Sonst alles okay?«
»Hm?«
»Du wirkst etwas nervös.«
Kann ich mir gut vorstellen! Keiras Hirn fuhr Karussell mit ihr. Sie hatte große Mühe, noch die Orientierung zu behalten, ihr Blick war verzerrt. Jeder Zentimeter, den sie sich vorwärts bewegte, bedeutete maximale Anstrengung für sie.
»Ja, äh ... ich muss zum Zahnarzt.«
»Oh, du Armer«, sagte die Frau bedauernd. »Und das auch noch am Samstag?« Etwas verwundert fragte sie: »Wer macht denn am Wochenende Termine?«
»Ich ... ich meine, wir kennen den ganz gut.«
Keira hob den rechten Arm. Es kam ihr in diesem Moment wie die schwerste Aufgabe vor, die sie jemals in ihrem Leben zu bewältigen hatte.
»Das ist praktisch«, meinte die Frau an der Haustür und sagte dann: »Wegen Tommy ... meinst du, wir können ihn auch mal besuchen?«
Keiras Zeigefinger berührte die Tischkante. Es waren nur noch zwei Zentimeter bis zu ihrem Ziel.
»Das ist sehr lieb«, sagte Oliver. »Aber das müsst ihr wirklich nicht. Obwohl er sich sicher freuen würde.«
»Dann können wir das ja verbinden, wenn wir uns demnächst treffen.«
»Das machen wir!«
»Dann richte deiner Frau schöne Grüße aus.«
»Mache ich auf jeden Fall. Mach’s gut! «
Keira hörte, wie die Tür uns Schloss fiel. Dann ein Aufstöhnen von Oliver. Sie war sich sicher, dass sie mit ihrem verzweifelten Plan scheitern würde.
1
»Warum brummst du so missgelaunt?«
Jack Calhey, der in Jeans und fleckigem Arbeitshemd mit dem Laser-Messgerät auf dem nackten Betonboden kniete, sah über die Schulter. »Die haben uns beschissen!«
Grace seufzte, stellte den Wäschekorb ab und betrat mit angestrengtem Gesichtsausdruck den Kellerraum. »Wer jetzt schon wieder?«
»Die Maße auf dem Plan stimmen alle nicht. Der Raum ist auch kleiner, als angegeben.«
»Ist doch nur ein Keller, was solls?«, entgegnete seine Frau achselzuckend und pustete sich eine der blonden Strähnen aus dem Gesicht.
»Nur ein Keller?« Er stand auf, wobei seine Knie ein lautes Knackgeräusch von sich gaben.
Grace verzog amüsiert das Gesicht. »Uh, das klang aber nicht gut, alter Mann!«
»Sweety. Das hier ist eine Investition fürs Leben.« Er deutete um sich. »Da muss alles perfekt sein!«
Sie wohnten nun bereits seit fast vier Wochen in dem kleinen Haus in New Addington, im Süden Londons, das sie sich, nach langer Suche, gekauft hatten.
Jack war mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus Loughton weggezogen, wo er über zwölf Jahre gelebt und für das Lokalblatt Loughton Courier bis zu dessen Einstellung gearbeitet hatte. Seiner Frau, die Lektorin bei einem namhaften Buchverlag war, war der Abschied dagegen wesentlich leichter gefallen; insgeheim hatte es sie immer wieder zurück in ihre Heimatstadt London gezogen. Kurz bevor ihr gemeinsamer Sohn George geboren wurde, waren sie von einer Drei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines Hauses ohne Fahrstuhl in ein geräumigeres Apartment, nur ein paar Straßen weiter, umgezogen. Doch beide wussten, dass das keine endgültige Lösung sein konnte. Graces Vater, Inhaber eines der größten Maklerbüros Londons, zeigte ihnen schließlich das Haus, für das sie sich entschieden hatten. Es war nicht übermäßig groß, verfügte jedoch über einen kleinen Garten und befand sich in der ruhigen Lage einer reinen Anwohnerstraße.
»Fakt ist, hier fehlen auch ganze dreißig Zentimeter«, grummelte Jack. »Im Heizungsraum vierzig und hier dreißig. Das summiert sich!« Er ging zur Wand und klopfte mit dem Finger dagegen. Es verursachte ein hohl klingendes Geräusch. »Da hat jemand eine Gipskartonwand eingezogen.«
»Wozu?«, fragte Grace stirnrunzelnd.
»Tja, keine Ahnung. Laut Grundriss ist dahinter die Außenwand. Vermutlich ist eine Dämmung dazwischen.«
Sie ließ die Schultern hängen. »Oh, nein. Heißt das, der Keller ist feucht?« Direkt widersprach sie sich: »Das hätte uns mein Dad aber gesagt.«
»Hm.« Er nahm die Kopie des Bauplans von dem als Tisch fungierenden, umgedrehten Umzugskarton und kniff die Augen zusammen. »Wenn die Zahlen auf den Plänen stimmen, nimmt diese Wand dreißig Zentimeter Platz weg.«
»Aber ist doch besser, als ein feuchter Kellerraum, oder?«, hielt seine Frau dagegen.
Jack ließ den Plan sinken. »Wer baut denn bitte eine so dicke Dämmwand? Da müssten ja die Niagarafälle dahinter sein.«
Sie kam zu ihm, klopfte ihm auf den Rücken und sagte mit einem süffisanten Lächeln: »Das wird jemand gemacht haben, der genauso viel Ahnung von handwerklichen Dingen hat, wie du.« Dann gab sie ihm einen Kuss auf die unrasierte Wange.
Jack zog eine Grimasse. »Reizend, Sweety.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Schei... nbar ist es ja schon fast eins. Ich muss gleich zum Kindergarten!«
»Dein kindgerechtes Fluchen wird immer besser. Ich kann Georgie aber auch abholen, wenn du hier noch beschäftigt bist.«
»Nein, schon gut.« Er faltete das Papier zusammen. »Sind ja nur zehn Minuten.«
»Wie der gnädige Herr wünschen.« Grace deutete einen Knicks an. »Dann kann ich mich ja weiter der Reinigung der herrschaftlichen Unterkleider widmen.« Sie nahm den Wäschekorb und verschwand hinter der gegenüberliegenden Tür.
Mit in die Hüften gestemmten Armen stellte sich Jack vor die Gipskartonwand und atmete tief durch. »Was mache ich jetzt mit dir?« Es juckte ihn in den Fingern, mit der Aussicht auf nachträgliche Kaufpreisminderung, Vorschlaghammer und Kreissäge zu holen, und die dünne Wand einzureißen. Aber besser, ich rede erst noch mal mit Schwiegerpapa. Bevor sich ihm mein Ruf als Hitzkopf wieder bestätigt.
Jacks Handy meldete sich mit der Melodie von ›Rule Britannia‹. Er nahm es aus seiner Gesäßtasche und sah auf das Display. Seine Miene erhellte sich sofort.
»Hey, lange nichts von dir gehört!« begrüßte er seinen guten Freund Steven Highsmith. »Alles klar?«
»Nein, nicht wirklich«, kam die bedrückt klingende Antwort.
Jacks Miene wurde starr. »Was ist los?«
»Der Alte ist tot.«
Drei Jahre zuvor
»Unglaublich! So ein beschissenes Timing kann einfach nicht wahr sein.« Oliver fluchte äußerst selten, und wenn, dann meistens nur mit sich selbst, wenn sonst keiner zugegen war. Er fuhr sich angestrengt mit der leicht zittrigen Hand durch das lichte Haar. Tagelang hatte sich kein Mensch blicken lassen; nicht einmal der Postbote hatte geklingelt. Und ausgerechnet heute tauchte Victoria, die alte Freundin der Familie, zu einem spontanen Besuch auf. Unbedingt jetzt, als das Schlafmittel bei Keira zu wirken begonnen hatte. Zumindest war er sich ziemlich sicher, es nicht zu niedrig dosiert zu haben. Man hatte ihm gesagt, dass es idiotensicher und auch von einem medizinischen Laien wie ihm problemlos anwendbar sei. Keira hatte beim gemeinsamen Teetrinken plötzlich über Müdigkeit geklagt; dann war ihr schwindelig geworden. Als sie aufgestanden war, hatten ihr die Beine den Dienst versagt, und sie war in sich zusammengesunken.
Auf dem Weg zurück zum Wohnzimmer hielt Oliver auf der Höhe des Garderobenspiegels an und betrachtete sich darin. Der Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Sicher hatte Victoria ihn deshalb gefragt, ob alles in Ordnung sei. Er hoffte nur, sie nicht zu unsanft abserviert zu haben. Den Arzttermin, den er vorgeschoben hatte, hatte sie zumindest geschluckt. Doch wenn alle Stricke reißen würden, hätte ihn diese Lüge sicher als Indizienbeweis belasten können.
Dumm, so dumm! Aber es hilft nichts, es ist passiert.
Jetzt war noch so viel zu tun, und er durfte keine Zeit verlieren. Oliver schloss kurz die Augen. Sein Herzschlag blieb konstant hoch, denn das war ja nur der erste Akt. Und auch der leichteste. Er atmete tief durch und öffnete dann die unterste Schublade des Schranks unter dem Spiegel. Dort lag das Paar Lederhandschuhe, das er aus der Wintergarderobe geholt und dort deponiert hatte. Er zog sie an. Zum Glück wusste er, wo sich Keiras Handy befand. Er griff zielsicher in die linke Außentasche ihres blauen Mantels am Haken. Dann öffnete er, mit bis zum Hals klopfendem Herzen, die Tür zum Wohnzimmer.
Keira lag noch dort, wo sie kollabiert war, zumindest annähernd. Hat sie sich bewegt? Oliver beobachtete sie für ein paar Sekunden, doch sie regte sich nicht. Aber sie atmete noch, wie er deutlich am Heben und Senken ihres Rückens erkennen konnte. Ich muss mich beeilen! Was hatten sie gesagt? Eine Stunde, bis die Wirkung nachlassen würde? Er lief an ihr vorbei, ohne den Blick von ihr abzuwenden, bis er an der gegenüberliegenden Seite des Raums angekommen war. Dort schob er den Vorhang etwas zur Seite und öffnete die Terrassentür einen Spalt. Ein kühler, aber belebender Wind kam ihm entgegen. Er schaute sich kurz um, nur zur Sicherheit. Das Grundstück war von außen dank hoher Hecken nicht einsehbar. Nun warf er das Telefon mit Schwung über die Hecke zu seiner rechten und schloss die Tür wieder.
Oliver atmete ein paarmal tief durch. Das, was jetzt kam, war der unangenehme Teil. Er bückte sich zu der schlafenden Keira herunter, nahm sie an den Handgelenken und begann, sie über den Boden zu ziehen. Die Armreife an ihrem Handgelenk klimperten leise. Der Widerstand auf dem Teppich war deutlich höher, als er gedacht hatte. Er zog Keira langsam, begleitet von einem schabenden Geräusch, in Richtung Flur. Dort, auf den Fliesen, konnte er sie wesentlich leichter bewegen. Er brachte sie bis kurz vor die Haustür, denn er brauchte Platz, um die Kellertür zu öffnen. Im Nachhinein betrachtet wäre es vielleicht klüger gewesen, den letzten gemeinsamen Tee mit ihr in der Küche einzunehmen. Dann hätte er sich das umständliche Rangieren im schmalen Flur sparen können. Beim nächsten Mal, dachte er bei sich, auch wenn er wusste, dass es sicher kein nächstes Mal geben würde.
Oliver schaltete das Licht für die Kellertreppe ein, ging dann wieder zu der betäubten Keira und nahm sie erneut bei den Handgelenken. Er drehte ihren Körper auf der Stelle, dabei stießen ihre Füße an den messingfarbenen Schirmständer. Das metallisch scheppernde Geräusch ließ ihn kurz zusammenfahren. Nun zog er sie, rückwärts laufend, zum Absatz der Kellertreppe. Die Stufen hinunter wollte er sie unter den Achseln greifen, damit ihr Kopf nicht auf den Betonstufen aufschlug. Er würde zwar später ohnehin alles gründlich reinigen, aber weder wollte er ihr unnötige Schmerzen zufügen noch ihr Blut sehen. Oliver konnte schon den Anblick seines eigenen bei der ärztlichen Blutabnahme kaum verkraften.
Ächzend und stöhnend zog er Keira die Treppe hinunter. Auf der Hälfte des Weges verlor sie einen ihrer roten Sneaker. Er blieb auf der Stufe liegen. Den hole ich gleich. Eins nach dem anderen! Seine größte Sorge war, dass Keira aufwachte, bevor alles erledigt war. Noch zeigte sie aber zum Glück keinerlei Anzeichen dafür; sie schlief tief und fest. Er beförderte ihren schlaffen Körper um die Ecke, über den schmalen Korridor, vorbei am Heizungskeller, um in der Enge rangieren zu können. Er legte sie vor der Tür zum Hobbyraum ab. Dieser war sein Heiligtum; hierher zog er sich fast jeden Abend vor dem Schlafengehen zurück, um noch etwas zu lesen, seine geliebten Jazz-Platten zu hören und eine heiße Milch zu trinken. Doch jetzt würde er, zur Umsetzung des Plans, auch einen Teil dieses Raums opfern.
Am Vorabend hatte Oliver die Wand freigeräumt, den Boden gesäubert, dann den Fugenmörtel angerührt und begonnen, eine neue Wand aus Ziegelsteinen parallel zur Außenmauer hochzuziehen. Dabei hatte er eine Lücke von fünfunddreißig Zentimetern freigelassen. Mittig in der Wand hatte er zwei schmale Trennwände im rechten Winkel errichtet; gerade breit genug, dass er Keira dort hineinzwängen konnte. Inzwischen waren alle Wandteile fertig verfugt, bis auf den schmalen Schacht, der Keiras letzte Ruhestätte sein würde. Hier hatte er einen Meter hoch gemauert, den Rest hatte er frei gelassen, um sie hineinzulegen - oder besser zu stellen.
Nachdem er sie vor der Mauer abgelegt hatte, wischte sich Oliver mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß von der Stirn. Ihm stand jetzt noch weitere körperliche Arbeit bevor, die er nicht gewohnt war, und er durfte keine Zeit verschwenden. Er rollte die schwarze Abdeckplane aus, hob nacheinander Oberkörper und Beine an und legte Keira auf ein Ende der Plane. Während er das tat, schimpfte er mit sich selbst. Warum hast du das nicht schon oben gemacht? Die ganzen Spuren auf der Treppe hätten gar nicht sein müssen.
Nun begann er, sie mit der Folie zu drehen und sie darin wie ein Würstchen im Schlafrock einzuschlagen. Das erinnerte ihn daran, wie gerne Tommy die immer gegessen hatte; insbesondere wenn seine Mutter sie gemacht hatte. Oliver schüttelte die sentimentalen Gedanken ab; er musste sich auf das hier und jetzt konzentrieren.
Nach drei Rotationen war Keira vollständig eingewickelt. Nun musste er das Paket noch möglichst luftdicht verschnüren. Hierfür hatte er eine Rolle mit Seil aus Polypropylen gekauft, die er nun abwickelte.
Nach zehn Minuten hatte er Keira verzurrt. Nicht so stramm, wie er es sich gewünscht hätte, aber es würde sicher reichen. Aus diesem Grab würde es kein Entkommen für siegeben.
Er fasste Keira an ihrer Hüfte, drehte sie und schwang sie sich unter großer Kraftanstrengung über die Schulter. Dann positionierte er sich vor der Wandöffnung und ließ sie vorsichtig, die Füße voran, in den Schacht gleiten. Ihr Körper stand aufrecht, hatte gar keinen Platz, nach unten zu sinken; die Wände hielten sie von drei Seiten eingezwängt.
Als er sich sicher war, dass sie nicht wegrutschen konnte, lief er schnell zurück zur Treppe, um den Schuh und ihre Jacke von der Garderobe zu holen. Nachdem er diese ebenfalls in das senkrechte Grab gestopft hatte, zog Oliver die Lederhandschuhe aus und legte sie auf den Sims des kleinen Glasbausteinfensters. Er nahm den Eimer und begann mit dem Anmischen des neuen Mörtels. Er hatte inzwischen schon einige Übung darin; immerhin hatte er bereits den größten Teil der Mauer erfolgreich hochgezogen. Am Metallwaschbecken füllte Oliver das Gemisch nach und nach mit Wasser auf. Er rührte alles gleichmäßig durch, bis die Konsistenz stimmte. Zwischendurch schielte er immer wieder zu Keira, die wie eine Ölsardine in der Büchse in dem gemauerten Schacht hing. Er war fest davon überzeugt, dass sie erst einige Zeit, nachdem der letzte Stein verfugt war, aufwachen würde.
2
Nicht nur die äußeren Umstände lasteten schwer auf Jack, auch die Tatsache, dass er gerade einen guten, fast väterlichen Freund zu Grabe trug, schmerzte ihn zutiefst.
»Nicht zu fassen. Erst seine Frau, und jetzt er.«
»So etwas passiert oft«, flüsterte sein bester Freund Steven Highsmith, der mit vor dem Körper verschränkten Händen der Zeremonie lauschte. »Nach so vielen Jahren kann der Tod des Partners den eigenen beschleunigen.«
»Wie ging es ihm zuletzt?«
Stevens Blick wurde leer. »Vor ein paar Wochen haben wir zusammen gegessen. Er wirkte ausgemergelt und hatte kaum Appetit.« Seine Stimme klang belegten. »Die Pensionierung hatte ihn stark mitgenommen. Und dann Patricia ...«
Jack schüttelte den Kopf. »Eine Schande. Der alte Griesgram wird mir fehlen.«
»Und mir erst«, stimmte Steven zu. »Zehn Jahre haben wir zusammengearbeitet. Er war mein Mentor.«
»Ihr wart ein großartiges Team.« Jack klopfte seinem Freund aufmunternd auf die Schulter. »Ohne euch wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben.«
Steven lachte trocken. »Ganz sicher sogar.« Dann wechselte er das Thema: »Habt ihr euch schon eingelebt?«
»Vieles ist noch in Kisten. Aber das Gröbste ist geschafft. Ihr müsst uns unbedingt bald mal besuchen kommen!«
»Auf jeden Fall«, stimmte Steven zu. »Ich habe euren Kleinen ja auch schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie alt ist er jetzt?«
»George wird vier«, antwortete Jack mit stolzgeschwellter Brust.
»Wow! Mit einem Kind hat man echt eine Uhr auf zwei Beinen um sich, oder?«
»Oh, ja. Ich merke jetzt täglich, wie ich altere.«
»Pssst!« Grace warf den beiden einen ermahnenden Blick zu und nickte voraus. »Es geht los!«
Der Geistliche begann seine Rede vor den annähernd fünfzig allesamt in Schwarz gekleideten Gästen. Darunter waren auch der Commissioner von Scotland Yard und weitere hochrangige Beamte. Der Himmel war wolkenverhangen, und es wehte ein rauer Wind über den Friedhof. Grace suchte Jacks Hand und drückte sie. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.
»Das ist alles so traurig«, flüsterte sie. »Ich mochte ihn.«
Die Rede des Pfarres dauerte fast eine Viertelstunde und setzte die Anwesenden über den Menschen Hubert Macintosh und seine Verdienste bei der Polizei in Kenntnis. Anschließend nahmen die Gäste einzeln am offenen Grab Abschied und warfen etwas Erde und auch einzelne Rosen hinunter auf die Urne. Nach Beendigung der Zeremonie, zu der auch ein Dudelsackspieler gehörte, der ›Amazing Grace‹ zum Besten gab, löste sich die Veranstaltung allmählich auf. Kleinere Gruppen blieben zurück, darunter auch Grace, Steven und Jack.
»So, das hätten wir«, sagte Jack fußwippend, die kalten Hände in den Manteltaschen vergraben.
Grace seufzte. »Schade, dass Milly nicht dabei war.«
»Sie muss arbeiten«, erklärte Steven. »Die stellen heute ein großes Bauprojekt vor und da müssen alle dabei sein.«
»Lass uns doch fürs Wochenende mal was ausmachen«, schlug Jack vor. »Sonst wird wieder nichts draus. Und der Kleine freut sich auch, euch endlich mal wiederzusehen!«
»Ich frage Milly, aber ich denke, das sollte sich einrichten lassen.« Ein Achselzucken. »Wenn nicht auf der Arbeit was dazwischen kommt.«
Jack stöhnte. »Auch ein Chief Inspector braucht etwas Freizeit!«
Steven lachte bitter. »In der Theorie, ja.«
Sie hörten ein Räuspern und drehten sich um. Ein Paar mittleren Alters, das ebenfalls an der Trauerzeremonie teilgenommen hatte, stand eingehakt vor ihnen und lächelten freundlich.
»Guten Tag. Wir waren uns nicht sicher, aber sind Sie nicht Mister Highsmith?«
»Ja«, antwortete dieser irritiert. »Und Sie ...?«
»Oh, Entschuldigung. Wir sind Tracy und Barton Macintosh.«
Die Stimme des schlanken Mannes hatte ein angenehmes, warmes Timbre. Er war eine gepflegte Erscheinung und Jack konnte gewisse Gesichtszüge erkennen, die auf die Verwandtschaft mit Hubert hindeuteten. Seine Frau war im Vergleich recht klein, sicher nicht mal ein Meter fünfundsechzig. Sie hatte ein rundliches, gütig lächelndes Gesicht mit einer Stupsnase.
Steven streckte ihnen, positiv überrascht, die Hand zum Gruße aus. »Hallo. Sie sind der Bruder des Chief Inspectors, richtig?«
»Ja. Wir hatten ja nicht viel Kontakt«, schränkte er ein. »Aber er hat immer in den höchsten Tönen über Sie gesprochen.«
Steven schaute etwas verschämt.
»Wir sind extra aus Birmingham gekommen«, erklärte die Frau, diskret leise. »Wir kümmern uns um den Nachlass.«
»Ah, ich verstehe.«
»Sie haben ja so lange mit Hubert gearbeitet und ich wollte Ihnen anbieten, seine Sachen durchzusehen«, sagte Barton Macintosh freundlich. »Vielleicht gibt es ja das eine oder andere Erinnerungsstück, das Sie vielleicht gerne, nun ja, retten möchten?«
Steven hob die Brauen. »Oh, ich weiß nicht. Das ist sehr nett, aber ...«
Jack fasste ihn am Arm und drängte sich dazwischen. »Er ist sehr bescheiden, unser Steve«, sagte er mit einem dezenten Lachen. »Sicher würde er sich gerne mal umschauen, wenn Sie schon so nett fragen.« Er spürte wie er von Grace einen leichten Tritt gegen seine Wade erhielt.
»Gerne«, entgegnete Macintosh. »Wir sind noch bis Samstag hier. Warten Sie!« Er holte seine Brieftasche aus dem Mantel und zog eine Visitenkarte daraus hervor. »Unter der Mobilnummer bin ich jederzeit erreichbar. Wenn es Ihnen passt, treffen wir uns in Huberts Wohnung. Aber vermutlich sind wir ohnehin die meiste Zeit dort. Da sind ja so viele Sachen. Dieser ganze Nippes von Patricia ...«
Jack erinnerte sich gut an die Sammelwut von Macintoshs vor einem knappen dreiviertel Jahr verstorbener Frau. Er hatte sich in der Wohnung des Inspektors immer etwas erdrückt gefühlt.
Steven nahm die Karte. »Gut, ich werde mal vorbeischauen. Danke.«
»Dafür nicht! Sie waren ein guter Freund für Hubert und, nun ja, Sie gehören sozusagen zur Familie. Viel davon ist ohnehin nicht mehr übrig.« Er seufzte melancholisch. »Würde ihnen vielleicht Samstag passen?«
Nach kurzem Nachdenken antwortete Steven: »Ja, ich denke, das lässt sich einrichten.«
»Rufen Sie einfach kurz durch, wir sind ja da!«
Jack klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Wenn du willst, begleite ich dich gerne.«
Barton Macintosh schaute leicht irritiert. »Verzeihung. Und Sie sind ...?«
»Das ist Jack Calhey, ein guter Freund und auch ein langjähriger Bekannter von Hubert.«
»Freut mich.« Er schüttelte die Hände der beiden Macintoshs. Der Griff der Frau war kaum spürbar.
»Wir müssen jetzt los, Schatz«, sagte die nach einem Blick auf ihre Uhr.
»Oh, ja. Der Tag ist streng durchgetaktet heute. Es gibt noch so viel zu erledigen. Hat uns gefreut!« Er deutete das Lüften eines Hutes an. Dann verabschiedeten sie sich.
Die drei sahen ihnen noch einen Moment nach.
»Eine gewisse Ähnlichkeit im Gesicht ist vorhanden«, stellte Grace fest und ihr Mann murmelte nachdenklich:
»Irgendwie merke ich jetzt, dass ich so gut wie nichts über Hubert weiß.«
»Von dem Bruder wusste ich«, sagte Steven. »Aber bin ihm nie begegnet. Ich glaube, die standen sich auch nicht besonders nahe.«
»Sowas ist traurig«, meinte Grace.
Steven wandte sich an Jack. »Warum willst du, dass ich in Huberts Sachen rum wühle?«
»Das will er gar nicht«, klärte Grace seufzend auf. »Er will in seinen Sachen wühlen.«
Jack zuckte grinsend mit den Achseln. »Berufsbedingte Neugier.«
Seine Frau sah auf ihr Handy. »Wir sollten dann auch langsam los. Georgie wartet im Kindergarten.«
»War schön euch getroffen zu haben«, sagte Steven.
»Warte!« Jack zog sein Smartphone aus der Innentasche seiner schwarzen Lederjacke, die er, trotz des Protestes seiner Frau, zur Beerdigung angezogen hatte. »Ich schicke dir unsere neue Adresse.«
Wenige Sekunden später piepte es in Stevens Mantel und er griff hinein.
Das amüsierte Jack. »Du weißt schon, dass ich das war?«
»Ach, das ist ein Reflex. Wir sind doch alle schon ferngesteuert von den Dingern.« Er sah auf das Display und seine Miene wurde starr.
»Alles okay? Ich weiß, ist nicht die nobelste Gegend, aber ...« Stevens entgeisterter Blick traf ihn.
»Ich kenne diese Adresse!«
Drei Jahre zuvor
Der Mann, der sich als Detective Chief Inspector Hubert Macintosh legitimiert hatte, öffnete seinen Mantel und nahm Oliver gegenüber am Esstisch Platz. Sein deutlich jüngerer Kollege, Detective Inspector Steven Highsmith, zog es vor, stehenzubleiben.
Oliver schätzte Macintosh auf Anfang sechzig. Er hatte eine grau melierte Halbglatze und ein rundliches Gesicht, das einen buschigen Schnauzbart unter einer leicht knubbeligen Nase zierte. Auf diese schob er nun seine Brille, ein einfaches Kassengestell. Anschließend holte er ein kleines, blaues Notizbuch aus seiner Manteltasche, klappte es auf und blätterte darin.
»Mister Larson«, begann er mit sonorer Stimme, ohne von seinem Büchlein aufzusehen. »Sie haben Ihre Frau vor drei Tagen als vermisst gemeldet.« Jetzt hob er den Kopf. »Ist das richtig?«
Oliver nickte. »Ja.« Seine vor Aufregung schwitzenden Hände hatte er zwischen seinen Oberschenkeln vergraben, unsichtbar für die anderen.
»Hat sie sich inzwischen gemeldet?«
»Nein, immer noch nicht. Ich mache mir wirklich große Sorgen.« Beunruhigung musste er nicht vorgeben, denn er fühlte sie wirklich; allerdings weniger wegen der Besorgnis um seine Frau als aus Angst, etwas Falsches zu sagen.
»Unsere Kollegen haben sich Ihrer Vermisstenanzeige natürlich angenommen«, erklärte Macintosh ruhig. Er verzog unzufrieden den Mund. »Sie sind allerdings bei ihren Befragungen auf etwas gestoßen, das jetzt uns auf den Plan ruft.«
Oliver schluckte. »So?«
»Ihr Nachbar, Mister ...« Der Beamte schaute in sein Büchlein und suchte die entsprechende Information.
»Rubinek«, warf DI Highsmith ein. Oliver schätzte den Assistenten auf etwa vierzig Jahre. Er war schlaksig, mit stoppeligem, rotbraunem Haar und einem schmalen Gesicht, das deutliche Spuren einer früheren Akne trug.
Der Inspektor nickte. »Ja, Mister Rubinek. Er hat uns erzählt, dass Sie mit Ihrer Frau am Abend vor ihrem Verschwinden einen Streit gehabt haben sollen. Einen recht heftigen und vor allem lauten, wie er betonte.« Der fordernde Blick des Mannes bohrte sich in Oliver. Dessen Miene verfinsterte sich.
»So. Das hat Leopold also erzählt.« Er spürte, wie seine Kehle sich immer weiter zusammenschnürte. Theorie und Praxis waren eben doch nicht dasselbe.
»Leopold?«, wiederholte Highsmith. »Sind Sie befreundet?«
»Wir waren früher Kollegen, bis zu seiner gesundheitsbedingten Frührente. Er hat schwere Arthritis. Seitdem ist er ziemlich schrullig geworden.«
»Jeder Bürger tut gut daran, der Polizei die Wahrheit zu sagen«, brummte Macintosh. »Außerdem war er nicht der Einzige, der unseren Kollegen von dem Tumult erzählt hat.« Er tippte mit dem Zeigefinger in sein Büchlein. »Die Aussagen decken sich mit denen von zwei weiteren Anwohnern.«
»Es stimmt ja auch«, gab Oliver zu und ließ die Schultern hängen. »Es ist etwas eskaliert.«
Macintosh und Highsmith sahen sich kurz an.
»Hm. Sie verstehen sicher, dass das ein etwas anderes Licht auf die Angelegenheit wirft«, erklärte der Inspektor. »Von einem Streit hatten Sie kein Wort erwähnt bei Ihrer Vermisstenmeldung.«
Oliver zeigte ein naives Achselzucken. »Ich dachte nicht, dass es etwas damit zu tun haben könnte.«
Der Inspektor hob irritiert eine Braue.
»Sie sollen Ihre Frau mit den Worten: ›Das wird dir noch leid tun‹ beschimpft haben«, sagte Highsmith, der mit verschränkten Armen am Fensterbrett lehnte.
Der alte Beamte nickte beipflichtend. »Also entweder haben Ihre Nachbarn alle sehr gute Ohren oder Sie waren wirklich ziemlich laut.« Er beugte sich etwas weiter über den Tisch. »Was sollte ihr denn leid tun? Oder streiten Sie ab, das gesagt, beziehungsweise geschrien zu haben?«
»Nein, ich streite es nicht ab.« Angestrengt strich sich Oliver über die schweißglänzende Stirn. »Normalerweise bin ich ein sehr ruhiger Mensch. Aber sie hat so lange gestichelt, immer und immer wieder, bis mir der Kragen geplatzt war.« Er atmete einmal durch und fuhr dann, wesentlich gemäßigter fort: »Das mit dem ›Es wird dir noch leid tun‹ war einfach so eine Floskel, wie man sie eben bei einem Streit sagt.«
Das überzeugte Highsmith wohl nicht, denn er zog die Augenbrauen zusammen. »Hm. Und Sie haben wirklich nicht einen Moment geglaubt, dass Ihre Frau aufgrund des Streits das Haus verlassen haben könnte?«
»Das war nicht unser erster Disput dieser Art. So etwas kommt durchaus öfters vor, wenn auch sonst nicht annähernd so heftig. Und wir waren beide immer der Meinung, dass es doch hundertmal besser ist, als den Ärger stumm herunterzuschlucken. Auch wenn es oft an die Substanz geht.«
»Das ist allerdings wahr«, stimmte ihm Macintosh zu. Das Gehörte schien ihm nicht fremd zu sein. »Worüber haben sie beide denn überhaupt gestritten?«
Oliver wich dem Blick des Alten aus. »Darüber möchte ich nicht so gerne sprechen.«
»Wenn Sie schweigen, müssen wir das als Behinderung zur Aufklärung des Vermisstenfalles werten«, erklärte der Assistent des Inspektors mit leichter Schärfe.
Der fügte, wesentlich milder, hinzu: »Ich kann Ihnen versichern, dass Ihre Aussage absolut vertraulich behandelt wird.«
»Ja, ich möchte natürlich kooperieren«, gab Oliver sofort klein bei. Er seufzte. »Wir ... stritten uns um Geld.«
»Können Sie das etwas präzisieren?«
Verschämt senkte Oliver den Kopf. »Ich hatte einen neuen Fernseher gekauft. Für meinen Hobbykeller.«
»Verstehe. Und Sie hatten mit Ihrer Frau vorher nicht über diese Kaufabsicht gesprochen?«
»Ja, genau. Sie hat gesagt, wir müssten sparen.«
»Haben Sie finanzielle Probleme, Mister Larson?«, fragte der Beamte.
Oliver nickte. »Wir haben einen kranken Sohn.«
»Oh, das tut mir leid.« Es klang aufrichtig.
»Er ist in einer Spezialklinik. Seine Behandlung verschlingt eine Menge Geld.«
»Und Ihre Frau hat Ihnen übel genommen, dass Sie, in dieser finanziell angespannten Situation, einen neuen Fernseher gekauft haben«, fasste Macintosh stirnrunzelnd zusammen. »Für sich. Nicht etwa für Sie beide.«
»Egoistisch, ich weiß.« Oliver biss sich auf die Lippen.
»Wir werden uns darüber kein Urteil erlauben.« Doch das hatte der Mann aufgrund der Art seiner Formulierung bereits getan. »Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«
»Ich arbeite in der Buchhaltung bei HMR.«
»Human Medical Research?«, hakte Highsmith nach.
»Ja.«
Der Chief Inspector brummte. »Ziemlich große Nummer. Zumindest nachdem, was man so in den Zeitungen liest.«
»Nicht frei von Skandalen«, ergänzte Highsmith und sagte weiter: »Soweit ich weiß, sind die doch Mitte des Jahres von radikalen Tierrechtsaktivisten angeprangert worden. Die sollen illegale Tierversuche gemacht haben.«
Oliver schüttelte genervt den Kopf. »Das ist alles Blödsinn! Die wollten nur auf sich aufmerksam machen und haben dafür einen Sündenbock gesucht.«
»Demnach arbeitete Ihr Nachbar Mister Rubinek früher auch für diese Firma?«, kombinierte Highsmith.
»Ja, schon. Viele hier in der Straße tun das. Das Vierteil wurde vor über achtzig Jahren für die Arbeiter gebaut. Es wurde damals scherzhaft ›Pill Ville‹ genannt.« Inzwischen waren jedoch nur noch wenige der sechsundzwanzig Häuser von HMR-Mitarbeitern bewohnt.
Der Chief Inspector blätterte wieder in seinem Büchlein. »Sie haben ausgesagt, dass Ihre Frau nichts mitgenommen hat. Keinen Koffer, keine Reisetasche?«
»Nein, zumindest ist mir nichts aufgefallen. Nur ihre Handtasche und das Handy. Aber das habe ich ja vor vier Tagen schon alles auf der Wache erzählt.«
»Die Handy-Ortung hat leider bisher nichts ergeben«, meldete Highsmith wie aufs Stichwort. »Die letzte Funkzelle, in der sie eingeloggt gewesen ist, war die, in der Ihr Haus steht.«
»Was kann man daraus schließen?«, fragte Oliver, Unwissenheit vortäuschend.
Der Alte ihm gegenüber zuckte mit den Schultern. »Vermutlich, dass sie es ausgeschaltet hat, bevor sie das Haus verließ. Das ist zumindest eine der Möglichkeiten.«
»Welche gibt es denn noch?«
»Auf Anhieb fallen mir zwei ein.« Macintosh streckte den Daumen in die Luft. »Zum einen könnte sie entführt worden sein.«
Oliver tat erschrocken. »Oh, Gott! Von wem denn?« »Keine Ahnung. Aber ich denke, wenn dem so wäre, hätte man sich schon wegen einer Lösegeldforderung bei Ihnen gemeldet.«
»Da wären die auch bei uns an der völlig falschen Adresse«, erklärte Oliver. »Wie gesagt, wenn wir etwas nicht haben, ist es Geld.«
»Darf ich fragen: Ist Ihr Haus auch belastet?«, wollte Highsmith wissen.
Er nickte. Zuzugeben, dass er eine Hypothek aufgenommen hatte, wäre ihm unter normalen Umständen mehr als peinlich gewesen. Doch jetzt spielte ihm jeder Fakt, der die finanzielle Misere, in der er steckte, hervorhob, in die Karten. »Was ist Ihre andere Theorie, was mit meiner Frau passiert ist?«
»Dazu möchte ich mich noch nicht äußern«, wiegelte der Chief Inspector ab und knickte den Daumen wieder ein. Er nickte Richtung Fenster. »Erklären Sie mir: Was hat es mit den Sachen in Ihrem Vorgarten auf sich?«
»Hm? Ach, Sie meinen die Holzreste? Die muss ich noch entsorgen. Ich, äh, habe im Hobbyraum renoviert.«
Erneut brummte Macintosh missgestimmt. »So. Das auch noch, trotz des finanziellen Engpasses?«
»Das war leider notwendig. Eine Außenwand hatte Feuchtigkeit gezogen.« Oliver bemerkte, wie es hinter der Stirn des Chief Inspectors zu rattern begann. Aus der Mimik des Assistenten hingegen konnte er nur eine grundlegende Skepsis ablesen, die er schon die ganze Zeit wahrgenommen hatte.
»Dürfte ich diesen neuen Fernseher, den Sie gekauft haben, vielleicht mal sehen?«, fragte Macintosh.
»Natürlich, aber wozu?«
»Ich plane selbst, mir einen neuen zuzulegen und lasse mich momentan von allen Seite inspirieren.« Der Inspektor schob den Stuhl zurück und stand auf. »Wenn Sie also nichts dagegen hätten?«
Oliver erhob sich ebenfalls. »Nein, kein Problem.«
»Ich folge Ihnen unauffällig.« Macintosh wandte sich an seinen Kollegen. »Steve, kommen Sie mit?«
Mit einem flauen Gefühl im Magen ging Oliver voraus in den Flur. Er öffnete die Kellertür und schaltete das Licht im Treppenabgang an. Gleich würde sich rausstellen, ob er einen Fehler gemacht hatte. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er die Tür zu seinem Hobbyraum öffnete. Er hatte sie, seit er Keira eingemauert hatte, erstmals abgeschlossen. Nichts erregt bei der Polizei mehr Verdacht auf Geheimnisse, als verschlossene Türen.
Klick. Das Licht im Raum ging an. Oliver deutete den Kriminalbeamten, hineinzugehen. »Da steht das gute Stück«, sagte er und nickte in Richtung der gegenüberliegenden Wand.
Macintosh lief voran und betrachtete sich den ausladenden Flachbildfernseher. »Aha. Ziemlich großes Teil.«
Während sein Assistent sich das Gerät nun eingehender betrachtete, ließ der Chief Inspector ihn sehr schnell links liegen und schaute sich stattdessen gründlich im Raum um. Seinem geschulten Blick schien nichts verborgen zu bleiben.
»Ich muss gestehen, dass mich Ihr Hobbykeller noch mehr interessiert hat, als der Fernseher«, sagte er.
Oliver, der neben der Tür an der Wand lehnte und seine unruhigen Hände hinter dem Rücken verborgen hielt, hob eine Braue. »So?«
»Na ja, ich wollte doch zu gerne wissen, was ich mir unter Ihrem kleinen Refugium hier vorzustellen habe. Fernseher und Sessel, eine Dartscheibe, Bücher.« Er lief zu der alten Stereoanlage und zog eine der Schallplatten aus dem Ständer daneben. »Musik. Gute Musik, sogar.« Er sah Oliver an. »Sie mögen Jazz?«
»Ja, definitiv.«
Macintosh nickte anerkennend. »Nicht schlecht.« Er zeigte die Platte seinem Kollegen, es war eine von Miles Davis. Der zuckte nur unwissend mit den Schultern.
Nun erregte etwas anderes die Aufmerksamkeit des Alten und er ließ die Hülle wieder in den Ständer gleiten. Er schritt an Oliver vorbei und starrte auf die weiß gestrichene Wand. Der Mann kam ihm wie ein Spürhund vor, der die Witterung aufgenommen hatte.
Der Chief Inspector trat ganz nah an die Wand heran, den Kopf zur Seite gedreht. »Frisch gestrichen«, stellte er fest und schaute nun wieder Oliver an.
»Ja, da habe ich die Zwischenwand eingezogen. Die Mauer war feucht.«
»Verstehe.« Macintosh klopfte prüfend dagegen,was ein hohl klingendes Geräusch erzeugte.
Ungeduldig verschränkte Oliver die Arme. »Wie wird es denn jetzt weitergehen? Ich meine, die Suche nach meiner Frau?«
»Wir werden Sie noch mit ein paar Fragen behelligen und schauen, ob wir ihr irgendwie auf die Spur kommen können«, antwortete der Chief Inspector, kratzte sich am Kopf und zog eine unzufriedene Miene. »Ich muss zugeben, das mit dem Streit sitzt mir etwas quer.« Er schaute seinen Kollegen an, der zustimmend nickte.
»Wieso?«, fragte Oliver.
»Weil ich Sie für einen intelligenten Mann halte. Aber Sie sahen keinen Zusammenhang zwischen dem heftigen Disput und dem Verschwinden Ihrer Frau. Mich hätte das sofort angesprungen.«
»Sir, ich kenne meine Frau nach einundzwanzig Jahren doch recht gut«, erklärte Oliver und gab sich äußerlich um Ruhe bemüht. »Sie hat niemals zuvor die Flucht ergriffen, sondern sich immer der Konfrontation gestellt.« Er seufzte. »Ich gebe zu, manchmal wäre mir ein lautes Türknallen lieber gewesen.«
»Ich verstehe. Das habe ich hingegen bei mir zuhause«, grummelte Macintosh. »Dennoch hätten Sie den Streit unseren Kollegen gegenüber erwähnen sollen.«
»Für dieses Versäumnis entschuldige ich mich«, tat Oliver geläutert.
Nach einem Moment der Stille fragte DI Highsmith ihn: »Wissen Sie, ob Ihre Frau Bargeld dabei hatte?«
»Wenn, dann sicherlich nicht viel. Wieso?«
»Weil sie bisher weder ihre Bank- noch Kreditkarte benutzt hat. Wir haben das gecheckt.«
Macintosh ergänzte: »Das bedeutet, dass sie auf Bargeld angewiesen ist oder ihr jemand Unterschlupf gewährt.«
»Auch diese Möglichkeiten habe ich ja schon auf der Polizeiwache erörtert«, erwiderte Oliver. »Ich habe alle Freunde und auch ihre Mutter angerufen. Keiner von denen hat sie gesehen.« Diese Anrufe waren ihm ziemlich unangenehm gewesen. Insbesondere seine Schwiegermutter, die weit über achtzig war, hatte sich, verständlicherweise, sehr besorgt gezeigt.
»Wie gut ist denn Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwiegermutter, Mister Larson?«, fragte Highsmith wie aufs Stichwort.
»Sehr gut.«
»So. Auch keine Selbstverständlichkeit«, murrte der Chief Inspector, anscheinend aus eigener leidiger Erfahrung.
Oliver ahnte, worauf die Frage abzielte. »Denken Sie, ich hätte nicht auch schon daran gedacht, dass sich meine Frau vielleicht verleugnen lässt?«
»Wir dürfen nichts ausschließen.« Macintosh vergrub seine Hände in den Taschen seines Mantels und wanderte durchs Zimmer. »Ich sehe das so: Entweder ist Ihre Frau, als Reaktion auf Ihr ... Fehlverhalten oder aus einem anderen Grund freiwillig gegangen und will nicht gefunden werden. Oder ...«
Oliver schluckte. »Oder?«
»Sie wurde Opfer eines Verbrechens.« Wieder erhielt er durch ein Nicken Beistand von seinem Assistenten. Nach ein paar Sekunden andächtigen Schweigens sagte Macintosh: »Ich denke, ich habe hier alles gesehen, was ich sehen wollte.«
Oliver ließ die beiden Beamten hinaus, schaltete das Licht aus und schloss die Tür.
»Was haben wir hier?« Der Chief Inspector deutete auf die nächste Tür, direkt gegenüber der Treppe.
»Da ist der Heizungskeller«, erklärte Oliver.
»Darf ich?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete der Alte die Tür. Seine Hand tastete nach dem Lichtschalter und betätigte ihn. Highsmith trat hinter seinen Vorgesetzten und sah ihm über die Schulter.
Oliver wusste, dass sie jetzt die zwei unbenutzten Gipskartonplatten und den Eimer mit weißer Farbe an der gegenüberliegenden Wand sehen würden. Unter normalen Umständen ein harmloses Bild. Aber die Umstände waren alles andere als normal.
Macintosh brummte nur ein leises »Hm«, das Oliver nicht deuten konnte. Ohne ein weiteres Wort schaltete der Mann das Licht wieder aus und schloss die Tür. Er und sein Assistent sahen sich kurz an; es war fast so, als ob sie in einer lautlosen Sprache miteinander kommunizierten.
Sie gingen zurück ins Erdgeschoss. Der Chief Inspector lief direkt zur Haustür. Dort drehte er sich um und lächelte freundlich. »Dann möchten wir Sie nicht länger aufhalten. Sobald Ihre Frau gefunden wurde oder sich etwas Neues ergibt, werden sich die Kollegen melden.«
Oliver bedankte sich und ließ die beiden hinaus. Auf dem Treppenabsatz blieb Macintosh stehen und betrachtete sich die Reste der Gipskartonplatten, die an der Hauswand lehnten. Er brummte registrierend, sah kurz zu seinem Kollegen und setzte sich dann in Bewegung.
Oliver war mehr als zufrieden mit der Entwicklung. Seine grobe Fahrlässigkeit am Vortag war wohl, zumindest bei der Polizei, unbemerkt geblieben. Jetzt war er bereit für den nächsten Schritt.
3
Es regnete bereits seit Stunden in Strömen und die Wettervorhersage hatte für den Freitagabend auch noch ein schweres Gewitter über London angekündigt.
Jack stand, die Hände in den Taschen seiner Jeans versenkt, am Fenster und beobachtete, wie der Wind die schweren Tropfen gegen das Fenster schleuderte. »Es wird nicht besser«, stellte er fest. »Eher im Gegenteil.«
Grace und Milly, die am Esstisch saßen, ließen ihre Weingläser zusammenstoßen.
»Kann uns doch egal sein«, sagte Grace heiter. »Wir machen es uns einfach gemütlich.«
Stevens Lebensgefährtin pflichtete ihr mit einem »Cheers!« bei.
»Ich kann es immer noch nicht glauben: Jetzt seid ihr beide doch noch Londoner geworden«, sagte Steven. Er hockte auf dem Boden und spielte mit dem kleinen Georgie Bauklötze.
»Unsere erste gemeinsame Wohnung war viel zu klein« , erklärte Jacks Frau der unwissenden Milly. »Und sie lag im obersten Stock. Ohne Fahrstuhl.«
Milly zog eine Grimasse. »Uh. Am Anfang geht das ja vielleicht noch, wenn sie so klein und ... leicht sind. Aber später ...«
»Sobald ich schwanger war, haben wir uns nach was Neuem umgeschaut. Und eine schicke Vier-Zimmer-Wohnung gefunden. Die war nicht mal zehn Gehminuten entfernt. Hochparterre, freundlich und hell.«
»Da habt ihr aber wirklich Glück gehabt«, sagte Milly.
Jack lachte und setzte sich wieder an seinen Platz. »Ja, Glück in Form meines Schwiegervaters.«
Sie nickte verstehend und sah Grace an. »Stimmt. Dein Vater ist ja Makler.«
»Um Himmels Willen, nein«, erwiderte Jack gespielt entrüstet und wedelte mit dem Zeigefinger. »Ihm gehören die Martins Real Estates, das drittgrößte ...«
»Zweitgrößte!«, korrigierte Grace, ebenfalls mit erhobenem Finger.
»Pardon, zweitgrößte Maklerbüro in London.«
»Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte Milly unsicher.
»Du hast meinen Vater Makler genannt«, erklärte Grace augenrollend. »Jack zieht mich immer damit auf, weil mein Dad sich tatsächlich jedes Mal auf den Schlips getreten fühlt, wenn man ihn nur als Makler tituliert. Er sagt dann immer, dass die Zeit, in der er mit Aktenkoffer von Termin zu Termin gerannt ist, schon lange hinter ihm liegt und er sich seine Position hart erarbeitet hat.«
»Das wäre so, als wenn du Elon Musk als Elektronikbastler bezeichnen würdest«, erklärte Jack.
»Aha.« Verlegen trank Milly noch einen großen Schluck vom Rotwein.
»Ich mag Opa und Oma«, sagte Georgie. Im selben Moment stürzte sein Bauklötzeturm ein.
»Ja, sie sind die besten«, pflichtete ihm sein Vater bei und nippte an seinem Glas.
»Wann gehen wir wieder hin?«
»Bald, mein Schatz«, antwortete Grace.
»Und was hat euch dann dazu gebracht, von Loughton nach London zu ziehen?«, griff Milly das Thema Umzug wieder auf.
»Sie hatte Heimweh«, sagte Jack lächelnd und streichelte Graces Oberarm. »Außerdem hatte ich lange damit geliebäugelt, mich als freier Journalist zu betätigen. Die Zeit beim Loughton Courier war schön, aber man muss auch irgendwann mal weiter ziehen.«
»Und die Tatsache, dass der Verlag pleite war, hatte damit nichts zu tun?«, fragte Grace spitz.
»Doch, klar. Das Blatt war ein Dinosaurier.«
Georgie hob den Kopf und bekam leuchtende Augen. »Dinosaurier!«
Steven deutete mit angelegten Armen Klauen an und versuchte sich an einem Dino-Brüllen.
»Du bist aber kein böser Dino«, stellte der Junge kritisch fest. »Musst du noch üben!«
Alle lachten.
»Die treue Leserschaft ist mit dem Courier gestorben«, fuhr Jack fort. »Ich meine, die hatten nicht mal eine digitale Ausgabe. Ohne die geht heute nichts mehr.«
»Ja, ja, du redest dir wieder alles schön.« An Milly gewandt sagte seine Frau: »Aber Jacks Mundwinkel waren wochenlang im Keller deswegen.«
»Apropos Keller.« Steven, der noch immer auf Knien auf dem Laminat hockte, sah sich um. »Es ist schon irgendwie seltsam, wieder in diesem Haus zu sein.«
»Stimmt, du hattest so etwas angedeutet«, erinnerte sich Jack. »Wann warst du denn schon mal hier?«
»Das ist so etwa drei Jahre her. War eine merkwürdige Geschichte.«
Grace winkte hektisch ab. »Nein, bitte benutze nicht die Trigger-Wörter!«
»Ignoriere sie einfach«, sagte Jack, in ihre Richtung abwinkend. Er beugte sich vor. »Los, erzähl!«
»Der Vorbesitzer hatte seine Frau als vermisst gemeldet«, begann er, ihm merklich unangenehm, zu erzählen. »Die Kollegen sind dabei auf Ungereimtheiten gestoßen. Durch den Tipp eines Nachbarn.«
»Oje, sind wir hier in einer Überwachungszelle gelandet?«, fragte Grace entsetzt.
Steven stand auf und streckte seine Beine. »Ich denke, da kann ich euch beruhigen. Nachdem, was ich gesehen habe, wohnt dieser Mann nicht mehr nebenan.« Er deutete in eine Richtung.
»Hier, das Haus links?«, fragte Jack. »Da wohnt eine Familie mit zwei Kindern. Aber auch noch nicht sehr lange.«
»Sehr nett, übrigens«, fügte Grace hinzu. »Die Kinder sind leider schon etwas älter. Also keine Spielkameraden für Georgie. Die Mutter hat mir erzählt, der Vorbesitzer sei aus gesundheitlichen Gründen in ein Wohnheim gezogen.«
Jack winkte seinen alten Freund zu sich an den Tisch. »Jetzt sag schon: Was waren das für Ungereimtheiten bei der Vermisstenmeldung?«
Steven nahm neben ihm, gegenüber seiner Freundin, Platz. »Wir hatten die Vermutung, dass der Mann seine Frau getötet haben könnte«, flüsterte er.
»Oh.«
»Aber die Details erspare ich euch besser.« Steven trank einen Schluck von seinem Wasser.
Grace beugte sich vor, ihre Augen geweitet. »Soll das heißen, dass in unserem Haus eine Frau ermordet wurde? Steve?«
Drei Jahre zuvor
Das Gespräch mit Oliver Larson hatte mehr Fragen aufgeworfen, als beantwortet. Für jemanden, der seine Frau als vermisst gemeldet hatte, verhielt sich der Mann merkwürdig. Hubert Macintosh bemerkte deutlich Larsons Nervosität, doch er war überzeugt, dass sie nicht von der Sorge um seine Frau herrührte. Vielmehr schien er eher Angst zu haben, im Gespräch mit der Polizei einen Fehler zu begehen.
Auf der Rückfahrt ins Büro hatte Hubert mit seinem Kollegen Steven Highsmith ausführlich darüber spekuliert. Zum ersten Mal sprach er laut seine Theorie darüber aus, was mit Mrs. Larson geschehen sein könnte.
»Halten Sie ihn für so leichtsinnig?«, fragte Highsmith, der den Wagen zurück zum Yard lenkte.
Hubert saß auf dem Beifahrersitz und betrachtete die vorbeiziehenden Häuser. »Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich ihn einschätzen soll. Aber falls er es wirklich war, wäre seine Nachlässigkeit in Bezug auf Beweise und Zeugen erstaunlich.«
»Ja, aber eingemauert?« Steven Highsmith war hörbar skeptisch. »Wir haben schon vieles gesehen, aber Einmauern wäre neu.«
»Für uns. Aber wussten Sie, dass das schon in der Antike praktiziert wurde? Als Bauopfer oder Strafe.«
»Oh, Sie kennen sich aus!«
»Etwas. Ich habe mich früher viel mit Kriminalgeschichte beschäftigt.« Wehmütig dachte Hubert an seine Jugendzeit, in der er alles zu dem Thema verschlungen hatte, das es gab. Sein spärliches Taschengeld hatte er nicht selten für Fachbücher ausgegeben, sehr zum Leidwesen seines Vaters.
Er atmete tief durch und resümierte: »Was haben wir hier? Offen ausgesprochene Drohungen gegen seine Frau, die Larson unter den Tisch fallen ließ. Dann ihr Verschwinden in der gleichen Nacht und jetzt eine frisch renovierte Wand im Hobbykeller.«
Es begann zu nieseln und Steven schaltete die Scheibenwischer ein. »Es wäre schon dreist, wenn er sie wirklich dahinter versteckt hätte.«
»Ja, aber das sind nur Indizien«, relativierte Hubert zähneknirschend. »Nichts Handfestes. Also müssen wir uns alle bei der Suche nach Mrs. Larson und einem möglichen Motiv noch mehr ins Zeug legen.« Er spürte den ungeheuren Druck, der auf ihm lastete. Ein Druck, den er sich selbst auferlegt hatte. Er wusste, dass dies vermutlich sein letzter Fall als Detective Chief Inspector bei Scotland Yard sein würde. Seit Monaten legten seine Vorgesetzten ihm, mehr oder weniger subtil, nahe, dass es an der Zeit war, sich pensionieren zu lassen. Seine Frau Patricia lag ihm damit schon seit Jahren in den Ohren. Auch wenn er sich vor dem Moment fürchtete, nur noch ein nutzloser alter Mann mit viel Freizeit zu sein, hatte er sich längst eingestanden, dass sie recht hatten. Ungeachtet seiner Verdienste, mit denen er sich nie gebrüstet hatte, war er ein Dinosaurier in dieser immer schnelllebigeren und voll digitalisierten Welt. Es fiel ihm zusehends schwerer, schrittzuhalten. Gerade fühlte er sich wie einer der vielen kleinen Wassertropfen, die über die Scheibe glitten und vergeblich versuchten, dem Fahrtwind zu trotzen.
Highsmith bog mit hohem Tempo links ab, was Hubert unwillkürlich dazu veranlasste, sich am Seitengriff festzuhalten. Auch nach so vielen Jahren hatte er sich nicht an die ruppige Fahrweise seines Kollegen gewöhnt. Als sie kurz darauf die Einfahrt zum Innenhof des Dienstgebäudes passierten, atmete er erleichtert auf.
Der leichte Nieselregen hatte sich inzwischen zu einem kräftigen Schauer entwickelt. Steven parkte den Wagen und sie stiegen aus. Mit schnellen Schritten, Jackett und Mantel über den Kopf gezogen, eilten sie zum Eingang.
»So ein Dreck«, schimpfte Hubert während er hinter der Tür den Mantel ausschüttelte und die Schuhe ab trat.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl fragte Highsmith: »Denken Sie, er hat sie vielleicht als vermisst gemeldet, um von sich abzulenken?«
Das hatte Hubert auch schon in Betracht gezogen. »Wenn er was mit ihr angestellt hat, auf jeden Fall. Es würde auch ein schlechtes Licht auf ihn werfen, wenn ihr Verschwinden zuerst von ihrem Arbeitgeber gemeldet würde.«
Am frühen Nachmittag saß Hubert in seinem Büro und beantwortete gerade eine Mail des Commissioners, als Steven Highsmith an die offen stehende Tür klopfte. Hubert schob seine Brille nach oben und sah auf.
»Kommen Sie rein!« Am Gesichtsausdruck seines Kollegen erkannte er sofort, dass dieser mit dem Ergebnis seiner letzten Mission nicht besonders zufrieden war.
Er hatte Erkundigungen im Krankenhaus eingeholt, in dem Mrs. Larson arbeitete. Erschöpft ließ er sich auf den Stuhl vor Huberts Schreibtisch sinken. Er seufzte. »Ich hasse Krankenhäuser.«
»Ich hoffe, das ist nicht die einzige Erkenntnis, die Sie gewonnen haben?«, entgegnete Hubert brummig. Seine Stimmung war gerade nicht die beste, da sich die Mail, die er beantwortete, mit dem zeitlichen Ablauf seines Ausscheidens aus dem aktiven Dienst befasste.
»Wenn Mrs. Larson Beziehungsprobleme hatte, wusste dort niemand etwas davon«, erklärte Steven. »Oder sie waren alle einfach nur diskret. Auf jeden Fall ist sie bei ihren Kollegen sehr beliebt. Sie wurde unisono als engagiert und warmherzig beschrieben.«
Hubert fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger durch den grauen Schnauzbart. »Hm. Also keine Kratzbürste, die man um die Ecke bringen wollte.«
»Nicht nach dem, was ich gehört habe, nein. Möglich, dass sie zu Hause eine andere Melodie pfeift.«
»Hätte dann nicht eher er das Haus verlassen, wenn sie die Dominante ist?«, hielt Hubert dagegen. »Und wenn es ein normaler Streit war, wie Larson behauptet, warum sollte sie dann überhaupt Hals über Kopf abhauen?« Er präzisierte mit erhobenem Zeigefinger: »Abhauen und spurlos verschwinden!«
Steven grübelte. »Wenn Ihre Frau nach einem Streit die Koffer packen würde ...«
Hubert brauchte gar nicht zu überlegen, was Patricia in einem solchen Fall tun würde und schüttelte den Kopf. »Würde sie nicht«, grummelte er. »Ich wäre derjenige, der gehen müsste.« Er sah das Grinsen im Gesicht seines Assistenten.
»Okay. Aber wenn, dann würde sie oder würden Sie doch entweder zu Freunden, Verwandten oder notgedrungen in ein Hotel gehen, oder?«
»Sicher.«
»Im Hotel kann sie sich ohne eine Kreditkarte nicht verstecken«, bemerkte Steven. »Es sei denn, sie hat eine Menge Bargeld bei sich.«
»Eher unwahrscheinlich, nach dem, was Larson über ihre finanzielle Lage gesagt hat. Auch auf den Bankauszügen sind keine verdächtigen Transaktionen zu finden.« Hubert verschränkte die Arme auf dem Tisch, und eine tiefe Falte erschien auf seiner Stirn. »Nein, ich vermute eher, dass jemand aus ihrem Bekanntenkreis sie aufgenommen hat.« Das – oder Larson hatte ihr etwas angetan. Und diese Möglichkeit hielt er für wahrscheinlicher.
»Was muss denn da zwischen den beiden vorgefallen sein, dass sie vor ihm flieht und es obendrein noch schafft, sich auch vor der Polizei zu verstecken?«, fragte Highsmith und kam direkt zu dem Schluss: »Das klingt, als hatte sie Angst.« Er hob den Kopf. »Vielleicht schlägt Larson seine Frau?«
»Hm. Er kommt mir nicht gewalttätig vor in seinem spießigen Pullunder. Eher etwas unbeholfen.« Hubert lehnte sich wieder im Stuhl zurück und hob erneut den Zeigefinger. »Und genau das kann ja auch nur eine gute Tarnung sein.«
»Möglich.«
»Abgesehen davon: Haben Sie gesehen, wie er versucht hat, seine nervösen Hände vor uns zu verbergen?«
»Ja, habe ich gemerkt«, antwortete Steven achselzuckend. »Er ist eben neben der Spur wegen des Verschwindens seiner Frau.«
»Nein, wir haben ihn nervös gemacht«, konterte der Inspektor. »Und da frage ich mich natürlich, warum. In seinen Augen müssten wir eigentlich die Guten sein.« Sein Blick wanderte zur Zimmerdecke. »Mein Bauch sagt mir, dass wir Mister Larson tiefer durchleuchten sollten.«
»Und wenn wir eine Hausdurchsuchung beantragen?«, schlug Steven vor.
»Dafür haben wir nichts. Nichts, außer einer kruden Idee«, grummelte Hubert unzufrieden. »Kommen wir dem Magistrates' Cour mit den Wort ›eingemauert‹ , jagen die uns vermutlich zum Teufel.«
Das Telefon im angrenzenden Büro klingelte. Highsmith sprang sofort auf und lief aus dem Raum.
Nach etwa einer Minute, in der Hubert seinen Gedanken nachhing, kam er mit einem Zettel in der Hand zurück.
»Interessant«, murmelte er mit Blick auf seine Notiz.
»Was?«
»Das war einer der Kollegen. Er hatte gestern Nachmittag einen Einsatz bei einem Notruf.«
Der Detective Chief Inspector verdrehte die Augen. Er mochte es gar nicht, wenn seine Geduld auf die Probe gestellt wurde. »Uuund?«
»Er kam aus dem Haus von Larson«, antwortete Steven.
Es klopfte an der Tür und die beiden fuhren herum. Es war ein Beamter aus der Abteilung.
»Ja, Danny?«
»Entschuldigt Leute, da ist ein Typ. Ich glaube, der will zu euch. Er sagt, er hätte Beweise im Fall eurer Vermissten.«
Einen Tag zuvor
Bis er nach einer halben Stunde den letzten Backstein verfugt hatte, war Keira nicht wieder zu sich gekommen. Oliver war erleichtert. Im Grunde hatte er sie nicht wirklich getötet; nicht aktiv. Er hatte nur das Narkosemittel in ihren Tee getan. Zu sich genommen hatte sie es selbst, ohne Zwang. Sie alleine war Schuld an ihrem Ableben. Das zumindest versuchte sich Oliver immer wieder einzureden, um sein Gewissen zu beruhigen. Und es funktionierte nach einer Weile.
Er betrachtete sein Werk. Ja, das war ordentliche handwerkliche Arbeit. Die Do-it-yourself-Videos, die er dutzendfach im Internet angeschaut hatte, hatten tatsächlich geholfen, aus ihm einen semiprofessionellen Maurer zu machen. Fehlte nur noch der Anstrich mit weißer Farbe, um die neue Wand den anderen optisch anzugleichen. Aber das würde er morgen tun. Jetzt wollte er erst einmal alle Spuren beseitigen und die Kellertreppe wischen. Dann würde er vermutlich erschöpft ins Bett fallen.
Während er sauber machte, ihm dabei die Knochen weh taten und ihm der Schweiß lief, fragte er sich, ob es das alles wert war. Die Strapazen, die Angst, Keiras Tod.
Wir wollen doch nur Tommy retten. Sind wir deshalb schlechte Menschen? Weil wir unser Kind nicht sterben lassen wollen? Es waren doch nur Zahlen, nichts weiter. Schnöder Mammon. Er hatte sich nie viel aus Geld gemacht, brauchte keinen Reichtum und wollte einfach nur leben. Sie waren beide immer bescheiden gewesen, hatten sich kaum etwas gegönnt. Und was war der Dank? Eine schockierende Diagnose bei ihrem einzigen Kind.
Oliver dachte an die Wahl, vor die man ihn gestellt hatte. Die Entscheidung war ihm wirklich nicht leicht gefallen. Aber er war sich sicher, die richtige getroffen zu haben. Für Tommy.