totreich - J.P. Conrad - E-Book

totreich E-Book

J.P. Conrad

0,0

Beschreibung

Wenn Macht keine Grenzen kennt ...Der überraschende Suizid des Industriellen Byron Moore stellt Inspektor Hubert Macintosh von der Hertfordshire Constabulary vor ein Rätsel: Ein Motiv für seinen Freitod fehlt ihm ebenso wie die Information, wo sich Moore kurz vor seinem Tod zehn Tage lang aufgehalten hat.Einzig Moores guter Freund, der hitzköpfige Journalist Jack Calhey, versucht, den Inspektor aus persönlichem und beruflichem Ehrgeiz zu unterstützen.Während ihrer Recherchen stoßen die beiden auf immer neue Ungereimtheiten und letztendlich auf eine Wahrheit, die sie an die Grenzen ihres Verstandes bringt ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 638

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



»Totreich«

© 2013 J.P. Conrad, alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung und Satz: Perpicx Media Design, www.perpicx.de

Veröffentlichung:

© 2024 Suspense Verlag

Höhenstraße 18, D-61267 Neu-Anspach

E-Mail: [email protected] Printed in Germany

ISBN: 978-3-910463-01-1

Prolog

Zögernd öffnete Jack die Augen und sofort war er wieder da, der stechende Schmerz, der ihm mittlerweile durch den ganzen Körper fuhr. Er hatte bereits zum zweiten Mal das Bewusstsein verloren und noch immer war kein Ende seines Martyriums in Sicht. Wieder lag sein Körper auf den kalten, weißen Metallplatten. Vorsichtig bewegte er seine Arme, versuchte sich in eine aufrechte Position zu stemmen. Die Metallringe, die um seine Hand- und Fußgelenke gelegt waren, hingen bleiern an seinen Gliedern und sie schienen von Minute zu Minute schwerer zu werden.

»Wollen Sie nicht endlich mit mir reden?«, dröhnte die Stimme seines Peinigers durch den Lautsprecher direkt in seinen hämmernden Schädel.

Jack ließen seine Worte kalt, sie verhallten ohne jede Reaktion. Nun, da er das große Geheimnis kannte, wegen dem mehrere Menschen hatten sterben müssen, würde er ohnehin ebenfalls bald das Zeitliche segnen. Er war bereits körperlich am Ende. Sein Geist würde in Kürze folgen, auf die eine oder andere Weise. Dann war sowieso alles egal. Sollte er sich den Mund fusselig reden, der Kerl im Lautsprecher.

»Fahr zur Hölle!«, schmetterte Jack mit schmerzverzerrter Stimme in den leeren Raum, während er vergeblich versuchte, sich die aufgeschürften Handgelenke unter den Klammern zu reiben. Auch die Wunde auf seiner Stirn schmerzte nun das erste Mal seit vielen Tagen wieder. Die Naht war aufgeplatzt und Jack spürte das Blut daraus über seine Wange laufen.

»Wirklich bedauerlich«, kam die blechern klingende Antwort der körperlosen Stimme. »Aber was wollen Sie mir mit Ihrer Sturheit beweisen, Mister Calhey? Dass Sie dumm genug sind, zuzulassen, jetzt und hier zu sterben?«

Endlich hatte er es ausgesprochen, das Unvermeidliche und Jack bereitete sich innerlich auf sein Ende vor. Wie lange würde es wohl noch dauern? Wann würde auch sein Peiniger die Lust verlieren und es zu Ende bringen? Jack schloss die Augen und dachte an Grace.

Plötzlich wurde er mit einem gewaltigen Ruck nach oben gezogen. Er glaubte Knochen in seinem Körper brechen zu hören. Sein schweres Keuchen erfüllte den weißen Raum, Schweiß rann von seiner Stirn und tropfte zu Boden, vermischte sich mit seinem Blut. Alles um ihn drehte sich und er spürte, wie seinem Körper langsam die Kraft versagte, um weiter zu kämpfen. Die Schwerkraft zog sein ganzes Gewicht zu Boden, doch er konnte nicht nachgeben, war regungslos gefangen. Minutenlang passierte nichts. Dann, kurz bevor er erneut ohnmächtig wurde, hörte er noch, wie das unterschwellige Brummen, das der weiße Raum die ganze Zeit ausgestrahlt hatte, plötzlich verstummte. Dann fiel er.

Dienstag, 06. April

9.03 Uhr

Als der unausgeschlafene Detective Inspector Hubert Macintosh den vom morgendlichen Sonnenlicht durchfluteten Salon des alten Herrenhauses betrat, glaubte er, die einsetzende Erleichterung der Anwesenden förmlich spüren zu können. Es war ein gutes Gefühl, wenn auch mit viel Verantwortung verbunden. Sobald er auftauchte, vertraute jeder darauf, dass er das Bindeglied zwischen Verbrechen und Verbrecher sein würde und bisher hatte er auch meistens diese Erwartungen erfüllen können. Heute begann eine neue Runde.

Bevor er zu den beiden Polizisten gehen würde, die bereits seit etwa einer halben Stunde die Stellung hielten und nun sehnsüchtig zu ihm herüberschauten, sah er sich erst einmal im Raum um.

Der Salon des großzügigen Anwesens machte einen gediegenen Eindruck und zeugte von edlem und vor allem teurem Geschmack. Es schien, als sei jedes einzelne Möbelstück und jedes noch so kleine Accessoire mit großem Bedacht ausgesucht worden, um eine perfekte Harmonie zu erzeugen. Die Einrichtung war modern, aber keineswegs kalt. Die Sonnenstrahlen, die durch die fast deckenhohen Fenster an der Längsseite des Raumes fielen, und in denen kleine Staubkörner tanzten, unterstrichen diesen Eindruck nochmals. Es war eine trügerische Stimmung, wie Hubert bereits wusste.

Zu seiner Rechten befand sich, einen breiten, inaktiven Kamin aus schwarzem Marmor einrahmend, eine große Sitzgarnitur mit zwei cremefarbenen Ledersofas und einem Sessel. Auf dem der Fensterfront abgewandtem Sofa saß eine ältere Frau; sie war kreidebleich und stand offensichtlich unter Schock. Ihrer Kleidung nach zu urteilen musste sie die Haushälterin sein.

Dicht an sie gedrängt saß ein Mann um die siebzig in einem, selbst für Macintoshs Geschmack, altmodisch grob karierten Jackett, der die Frau sanft am Arm hielt und offenbar sowohl als seelische als auch physische Stütze fungierte. Vor ihm, auf dem ovalen Glastisch, stand eine geöffnete, abgewetzte bauchige Ledertasche. Der Mann war der Hausarzt, schlussfolgerte Hubert.

Die beiden jungen Beamten standen auf der anderen Seite des Raumes, an einem glänzenden schwarzen Konzertflügel und beobachteten die Szenerie schweigend und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen. Als Hubert sich ihnen näherte, nahmen sie sofort eine steife Haltung an.

»So, Jungs. Macintosh, Hertfordshire Constabulary«, sagte er, ohne einen guten Morgen zu wünschen. Wenn er gerufen wurde, konnte es ohnehin kein guter Morgen sein. Er ließ die Männer einen kurzen Blick auf seinen Dienstausweis erhaschen. »Klärt mich mal auf. Was ist hier los?«

Der linke der beiden Männer, ein hagerer Kerl mit kantigem Grübchenkinn, der Hubert fast um einen Kopf überragte, war augenscheinlich der etwas Ausgeschlafenere. »Mrs Keller ist die Haushälterin von Mister Moore. Sie hat ihn wohl heute Morgen gefunden.« Er nickte in Richtung der Frau auf dem Sofa.

»Hat sie die Polizei gerufen?«

»Nein, das war Dr. Drake, der Mann neben ihr. Sie hat zuerst ihn verständigt. Anscheinend dachte sie, es wäre noch was zu retten.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass dem nicht so war.

Hubert beobachtete die Frau und den Arzt durch den Raum. Drake flüsterte Mrs Keller, so schien es, gerade aufmunternde Worte zu.

»Okay! Was muss ich noch wissen, bevor ich mir den Toten anschaue?«

Die beiden Polizisten wechselten einen stummen Blick, als würden sie ausknobeln, wer jetzt antworten sollte. Wieder war der linke Bursche schneller. Er warf einen kurzen, entschuldigenden Blick auf seinen Kollegen und räusperte sich.

»Doktor Rainard hat gesagt, dass alles auf Selbsttötung hindeutet.«

Auch wenn Hubert die ihm bekannten Wagen auf dem Hof bereits bemerkt hatte, entfuhr ihm ein innerlicher Fluch. Rainard, der Rechtsmediziner, war samt seinem Team vor ihm eingetroffen. Es schien, als seien an diesem Morgen alle schneller gewesen, als er selbst. Er überlegte kurz und sah die beiden Männer prüfend aus den Augenwinkeln an.

»Und was meint ihr?«

Jetzt würde sich zeigen, ob diese Staatsbediensteten tatsächlich etwas im Köpfchen hatten, oder doch eher, dem Klischee entsprechend, als Dorfpolizisten nur zur Verwarnung von Parksündern geeignet waren.

»Ja, also ...«, begann jetzt der andere der beiden, ein Rotschopf mit käsiger Haut und vielen Sommersprossen, zu Macintoshs Verwunderung mit einem Erklärungsversuch. »Moore liegt hinter seinem Schreibtisch, mit einem Dolch in der Brust.« Seine Stimme klang nasal, als hätte er Schnupfen.

»Ein Brieföffner!«, korrigierte ihn sein Kollege sogleich tadelnd.

Hubert empfand das kleine Duell zwischen den Beamten irgendwie drollig. Sicherlich bekamen die beiden nur selten etwas so spektakuläres wie einen Mord vorgesetzt und sie versuchten sich nun in einem Kompetenzkampf.

»Ja, ein Brieföffner. Die Spurensicherung ist da schon seit zwanzig Minuten am Werkeln. Bisher gibt es keine Anzeichen für einen Einbruch oder ähnliches.«

Hubert ging ein paar Schritte in die Richtung, in welche die beiden Polizisten mehrmals unbewusst geschielt hatten. Dort grenzte ein weiterer Raum an den großen Salon an. Das Arbeitszimmer des Hausherrn.

In diesem Moment betrat Doktor Rainard, aus eben diesem Zimmer, den Salon. Als er Macintosh sah, lächelte er freundlich und zog sich die Kapuze seines Schutzanzugs vom Kopf.

»Ah, guten Morgen, Chef.«

Sie gaben sich die Hand. Rainard trug einen Plastikhandschuh. Hubert nickte und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. Der junge Arzt war zweifelsohne einer der fähigsten Männer auf seinem Gebiet, den er je kennengelernt hatte. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen er mit ihm zusammen arbeitete, zeigten ihm allerdings, dass er sehr ehrgeizig war. Zu ehrgeizig, um sympathisch rüberzukommen.

»Morgen, Doktor. Was haben wir denn da drin?«, fragte Hubert und ignorierte damit bewusst die bisherigen Informationen, die ihm die beiden Beamten gegeben hatten.

»Tja ...« Rainard drehte sich nochmals nachdenklich um und befingerte den Mundschutz, der an seinem Hals hing. »Sieht mir ganz nach Suizid aus. Keine Kampfspuren, keine Fingerabdrücke und die Lage des Körpers ist so, als hätte er sich selbst gerichtet.«

»Mit einem Brieföffner«, ergänzte Macintosh.

Rainard nickte. »Sieht aus wie Elfenbein, jedenfalls ein ganz edles Ding. Na ja, eigentlich so wie alles hier.« Er blickte durch den Raum.

»Ja, der Mann lebte wohl nicht schlecht«, stimmte Hubert gleichgültig zu und zog dabei sein Smartphone aus der Manteltasche. Sofort formierte sich in seinem Kopf die erste Frage: Wie viel Überwindung und seelische Zerrüttung musste ein Mensch aufbringen, sich selbst zu erdolchen? Es gab wahrhaftig einfachere und schmerzfreiere Methoden, sich das Leben zu nehmen.

Na ja. Es gibt auch Dummköpfe und Masochisten. Hubert ließ sich ebenfalls einen Einweg-Schutzanzug geben und zog ihn über. Dann betrat den Ort des Geschehens.

Das Arbeitszimmer stellte stilistisch einen Gegensatz zum Salon dar, denn es war wesentlich altmodischer eingerichtet. Es passte mehr zu dem, was man erwartete, wenn man das Herrenhaus von außen sah. Schweres Holz, Messing und Goldbeschläge bestimmten das Bild. Und der Raum war deutlich kleiner als der Salon, aber immer noch sehr großzügig dimensioniert, wie Hubert neidvoll feststellte. Er hatte zwei hohe Fenster, aber aufgrund der Lage des Raums fiel zu dieser Tageszeit nur indirektes Licht hinein. Die Beleuchtung kam von der Decke und von drei Halogen-Stativlampen, die ihr Licht auf den Boden hinter dem ausladenden und reich verzierten Schreibtisch warfen, der bestimmt dreimal so groß war, wie der von Hubert. An den seitlich gegenüberliegenden Wänden standen hohe Regale, die von einem Ende des Zimmers zum anderen reichten und mit hunderten von Büchern vollgestopft waren. Sie wirkten, als würden sie den Raum erdrücken; zumindest empfand Hubert es so. Hinter dem Schreibtisch erhob sich gerade ein Mann, der wie er vollständig in einem weißen Polypropylenanzug vermummt war. Hubert erkannte ihn an seinen zusammengewachsenen Augenbrauen als Becker, Rainards tüchtigen, wenn auch, für seine Arbeitsauffassung, etwas zu lässigen Assistenten. Er bemerkte Hubert sofort.

»Guten Morgen, Sir«, begrüßte er seinen Vorgesetzten mit einer knappen Handbewegung.

Hubert grüßte zurück und trat um den Schreibtisch herum. Er sah zu Boden und dort den leblosen Körper eines Mannes um die vierzig Jahre liegen. Byron Moore. Er lag auf dem Rücken, sein leichenblasses Gesicht zur Decke gerichtet. Er wirkte mit seinem weichen, aber sehr männlichen Profil und seinem vollen schwarzen Haar recht attraktiv, soweit Hubert das beurteilen konnte. Selbst jetzt noch.

Der Tote trug glänzende schwarze Maßschuhe, eine Nadelstreifenhose und ein feines Seidenhemd. Aus seiner linken Brust, etwas unterhalb des Herzens, ragte der verschnörkelte Griff eines Brieföffners. Die obere Partie des Hemdes war völlig von getrocknetem Blut durchtränkt und auch der schwere Teppich, auf dem die Leiche lag, hatte dunkle Flecken.

Nicht wirklich angenehm. Obwohl ihm Anblicke dieser Art keineswegs fremd waren, schauderte Hubert innerlich. Eigentlich war er vor über zehn Jahren von Scotland Yard weggegangen, um nicht mehr solchen Bildern ausgesetzt zu sein.

Und um der Quengelei seiner Frau Patricia Rechnung zu tragen. Mit Verärgerung dachte er daran, dass er in einer Woche schon mit ihr in der Dominikanischen Republik sein würde. Sich den etwas zu rundlichen Bauch bräunen und Cocktails mit Zuckerrand am Glas trinken. Hätte Mister Moore nicht bis dahin mit seinem Abgang warten können, damit sich ein anderer mit dem Fall rumschlagen durfte?

Hubert konzentrierte sich wieder auf den Tatort und begutachtete das Stillleben eine Weile ohne Fragen zu stellen, um das aufzunehmen, in seinem Geist und auf elektronischem Weg im Smartphone speichernd, was der erste Blick ihm zeigte. Becker kannte diese Methode des Inspektors und sagte nichts, während er sich die Handschuhe abstreifte und langsam Richtung des Salons ging.

Die Augen des Toten waren geschlossen oder von einem der Anwesenden geschlossen worden. Wie Rainard gesagt hatte, lag der Körper in einer Position, in die man geraten konnte, wenn man sich selbst auf diese Weise das Leben nahm. Er musste zusammengesackt und dann auf den Rücken gekippt sein. Der linke Arm Moors ruhte auf dem Drehkreuz seines Schreibtischsessels und der hochgerutschte Hemdsärmel legte den Blick auf eine goldene Rolex frei. Das linke Bein war leicht verdreht und angewinkelt. Über der Rückenlehne des Sessels hing Moores Jackett.

Der Schreibtisch, den er als nächstes in Augenschein nahm, bot ein normales und geordnetes Bild: Eine lederne Schreibunterlage, ein Telefon, ein aufgeklapptes Notebook, aber keinerlei Papiere, die offen herum lagen.

Hubert mutmaßte, dass Byron Moore auch auf seinem Computer keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Sein Bauch sagte ihm, dass die Entscheidung des Mannes, sich selbst ins Jenseits zu befördern, ein Kurzentschluss gewesen sein musste. Vielleicht hatte er kurz zuvor eine schlimme Nachricht erhalten?

»Die Fotos will ich spätestens um eins haben«, sagte der Detective Inspector, ohne von der Leiche aufzusehen.

»Na klar,«, bestätigte Becker und verließ den Raum.

Nun war Hubert alleine. Er trat etwas zurück, hinter den Toten und ließ nochmals seinen Blick aus dieser anderen Perspektive schweifen. Sein Smartphone hielt er weiterhin fest umklammert. Er würde es bald brauchen, denn er musste sich über die Person Byron Moore näher informieren; insbesondere über sein Verhalten am Abend vor seinem Tod. Gestern. Mit Unbehagen dachte Hubert an das bevorstehende Gespräch mit der Haushälterin. Er hätte ihr eine sofortige Befragung gerne erspart, aber es war wichtig, sie zu vernehmen, solange ihre Erinnerungen noch frisch waren. Langsam umrundete er den Arbeitsplatz; weitere Auffälligkeiten konnte er jedoch zunächst nicht finden. Vielleicht würden die Ergebnisse der Spurensicherung ja noch etwas aufzeigen. Er machte noch ein paar Schnappschüsse mit dem Handy.

Als er wieder in den Salon kam, war die Haushälterin verschwunden, das Sofa leer. Grummelnd stieg er aus dem Schutzanzug und warf ihn samt der Plastikhandschuhe auf einen Ohrensessel in der Ecke. Der Mann, den die Polizisten als Doktor Drake identifiziert hatten, kam auf Hubert zu und lächelte zaghaft.

»Sie sind Inspektor Macintosh, richtig? Doktor Timothy Drake.« Sie gaben sich die Hand.

»Es ist einfach schrecklich«, kommentierte der Arzt mit dem vertrockneten Gesicht, den tief hängenden Tränensäcken und buschigen Augenbrauen unvermittelt und schüttelte schockiert den Kopf. »Ich kann mir überhaupt nicht erklären, was Mister Moore nur dazu gebracht hat. Es ist einfach unfassbar.«

»Suizid ist oftmals ein großer Schock für die Hinterbliebenen.« Er machte eine kurze Pause und sah dann Doktor Drake direkt in die Augen. »Die Haushälterin hat zuerst Sie verständigt, nicht wahr?«, fragte er und öffnete die Organizer-App seines Smartphones.

»Ja, das stimmt. Sie war völlig aufgelöst, ja fast hysterisch. Ich habe sie am Telefon erst gar nicht richtig verstanden. Natürlich bin ich sofort rüber gefahren und als ich Mister Moore dann in seinem Arbeitszimmer liegen sah ...« Er machte eine kurze Pause und starrte mit leeren Augen in Richtung des Fundorts. »Da vermutete ich gleich, dass jede Hilfe zu spät kam. Ich habe dann die Polizei in Sawbridgeworth verständigt.«

Hubert formte in seinem Kopf eine geografische Karte. Sawbridgeworth war der Ort, der dem Anwesen Moores am nächsten lag. Mit flinken Bewegungen tippte er einige Stichworte zu Drakes Aussage in sein Smartphone. Er mochte dieses kleine Ding, aber dem war nicht immer so. Als es ihm seine Frau im letzten Jahr zu seinem achtundfünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte, war er noch ein absoluter Verfechter von Block und Bleistift gewesen. Er hatte ihr auf seine charmante Art klar gemacht, dass er das Ding nicht wollte und ihr vorgehalten, dass sie damit nur auf sein fortgeschrittenes Alter und die damit einhergehende Vergesslichkeit anspielte. Außerdem war es winzig, brauchte Strom und konnte leicht kaputt gehen. Aber mit der Zeit und dank seines technisch versierten Assistenten hatte Hubert neben der Telefonfunktion seine weiteren Vorzüge kennengelernt und inzwischen hatte das Gerät einen festen Platz in seinem Arbeits- und Privatleben eingenommen.

»Wann haben Sie Mister Moore zum letzten Mal untersucht? Ich gehe davon aus, dass Sie sein Hausarzt waren?«

Drake nickte. »Das ist richtig. Ich kenne ihn schon seit seiner Kindheit. Sein Vater und ich waren recht gut befreundet. Aber der ist jetzt auch schon seit über fünfzehn Jahren unter der Erde. Zu Ihrer Frage: Ich mache bei ihm normalerweise einmal pro Jahr einen kompletten Check-up. Der letzte war kurz vor seinem Urlaub. Das war erst vor etwa eineinhalb Monaten. Bis auf leichte Stresserscheinungen war er topfit.«

Hubert brummte etwas Unverständliches und überlegte einen Moment. Dabei fuhr er sich mit Daumen und Zeigefinger über die Konturen seines Schnauzbarts. »Stresserscheinungen?«, fragte er dann.

Doktor Drake suchte nach den richtigen Worten. »Nun ja. Er ist, Pardon, er war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Und ich habe ihn eigentlich immer als einen Workaholic eingeschätzt. Da stellt sich Stress natürlich automatisch ein, egal ob man seinen Job liebt oder nicht. Er liebte ihn.«

Macintosh nickte stumm und machte sich wieder ein paar Notizen. »In welcher Branche war er tätig?«

»Elektronik. Seine Firma stellt Bauteile für Computer her, glaube ich.«

Hubert sah sich nun in seiner Annahme bestätigt, dass der Tote der Gründer der Moore Enterprises, einem Konzern aus London, sein musste.

»Glauben Sie, dass er sich selbst getötet hat?«

Drakes Miene verfinsterte sich. »Ich hätte es, ehrlich gesagt, nicht für möglich gehalten. So wie ich ihn kannte, war er nicht der Typ Mensch, der sich in ein emotionales Loch stürzen würde.«

Huberts fragender Blick verriet Drake, dass er noch weiter ausholen musste. »Nein, ich finde es tatsächlich sehr ungewöhnlich für einen Mann seines Charakters, sich etwas anzutun. Er war eine Führungsperson, jemand zu dem andere automatisch aufblicken, sich leiten lassen. Aber wie ich durch die Gespräche Ihrer Kollegen mitbekommen habe, deutet ja alles darauf hin, dass es keine andere Erklärung für seinen Tod gibt.«

»Ich möchte da keine voreiligen Schlüsse ziehen. Mir fehlt noch ein ganzer Haufen an Informationen. Apropos…« Er sah sich suchend im Raum um. »Wo ist Mrs Keller?«

»Sie bat mich, sie in die Küche gehen zu lassen. Sie wollte sich etwas mit Hausarbeit ablenken«, antwortete Drake.

Wut stieg unwillkürlich in Hubert hoch. »Hey ihr!«, rief er fingerschnippend den beiden Polizisten zu, die noch immer tuschelnd und untätig am Klavier standen, und winkte sie zu sich.

»Wozu steht ihr hier eigentlich rum?«, fuhr er die Männer in gedämpftem Ton an. »Hier sollte doch niemand den Raum verlassen.«

Dick und Doof sahen sich fragend an. Macintosh verkniff sich einen weiteren Kommentar und wandte sich wieder Doktor Drake zu.

»Wo ist die Küche?«

Drake zeigte mit dem Finger in Richtung der Halle. »Da durch und dann links.«

Der Detective Inspector nickte dankend und verließ den Salon. Er fand die Küche sehr schnell und dort Mrs Keller, die mit dem Rücken zu ihm an der Anrichte vor dem Fenster stand und Gemüse klein schnitt.

Für wen bereitet sie jetzt noch das Essen zu? Er trat näher.

»Sie werden mir jetzt sicher einige Fragen stellen«, sagte die Frau zu seiner Verwunderung, noch ehe sie sich umgedreht oder er einen Ton gesagt hatte. Weiterhin widmete sie sich dem Gemüse; Lauch, glaubte Hubert zu erkennen. Er räusperte sich.

»Das ist richtig Mrs Keller. Ich bin Detective Inspector Hubert Macintosh und leite die Ermittlungen in diesem Fall.« Insgeheim glaubte er allerdings nicht, dass wirklich ein Fall daraus werden würde. Suizide wurden in der Regel schnell zu den Akten gelegt.

»Zunächst möchte ich Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen.«

Jetzt drehte sich die Haushälterin um und sah ihn mit roten Augen an; sie hatte geweint. Langsam trat sie näher, die Hände an einem Geschirrtuch reibend. Martha Keller war fast einen Kopf kleiner als er. Sie war vierundsechzig Jahre alt, wie Hubert bereits wusste und sie hatte schwarzgrau melierte Haare, die sie in einer rundlichen Dauerwelle trug. Ihre Wangen wirkten, sicher noch als Folge des erlittenen Schocks, eingefallen.

»Ich war nur eine Angestellte, nicht seine Frau«, entgegnete sie und es klang fast wehmütig.

»Aber Sie waren doch hier sicher eine der Personen, die er immer um sich hatte? Da halte ich eine Beileidsbekundung für angebracht oder hatten Sie kein gutes Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber?« Der Inspektor deutete Mrs Keller, sich an den Tisch zu setzen. Sie steckte das Handtuch in die Tasche ihrer blauen Schürze und kam seiner stummen Aufforderung zögernd nach. Er selbst nahm über Eck Platz.

»Doch, es war sehr angenehm, für ihn da zu sein. Er war immer freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit. Wissen sie, wenn man ein so großes Haus in Schuss halten muss, ist das schon eine Menge Arbeit.«

»Gibt es keine weiteren Bediensteten?«

»Nein, ich bin die Einzige hier. Für handwerkliche Dinge und den Garten lassen wir immer Leute aus Sawbridgeworth kommen.«

»Wie lange arbeiten Sie schon für Mister Moore?«

Sie überlegte einen Moment, drehte aufgelöst eine kleine Zuckerdose zwischen Ihren Händen.

»Seit beinahe zehn Jahren. Er war gerade mal siebenundzwanzig, als ich hier anfing. Anfangs hatte ich das Gefühl, es mit einem verwöhnten und verzogenen Jungen zu tun zu haben, aber das hat sich schnell geändert. Er war zwar immer sehr zielstrebig und, na ja, karrieresüchtig ist vielleicht das falsche Wort, aber alles in allem ein guter Arbeitgeber.« Interessiert beobachtete Mrs Keller, wie Hubert mit seinen breiten Fingern über das spiegelnde Display seines Telefoncomupters fuhr. »So was hat wohl wirklich jeder heute, oder?«, sagte sie kopfschüttelnd.

Macintosh sah fragend auf und bemerkte, worauf sie anspielte. »Ach ja, das ist sehr hilfreich«, sagte er und drehte das Gerät kurz hin und her. »Vor allem, wenn man seine eigene Schrift nicht richtig lesen kann.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Haushälterin. »Mister Moore hat selbst beim Essen ständig was in so ein Ding da getippt. Ich fand das furchtbar.« Dann wurde sie sofort wieder ernst. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er nicht mehr da ist. Er war doch noch so jung.« Hubert entgegnete nichts und sie fuhr direkt fort:

»Es war ein so furchtbarer Moment, als ich ihn fand. Das wird mich den Rest meines Lebens verfolgen.«

Entgegen seinem Willen tätschelte der Detective Inspector plötzlich ihre Hand. »Ich bin sicher, dass wir Ihnen helfen können. Wir haben eine Spezialistin, die sich um Menschen, die ein so traumatisches Erlebnis zu verarbeiten haben, kümmert. Ich werde ihr Bescheid sagen, dass sie hierher kommt.«

Mrs Keller schüttelte den Kopf und starrte mit gläsernen Augen auf die Tischplatte. »Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe in meinem Leben schon viel ertragen - den Tod meines Mannes und unseres Sohnes. Das jetzt werde ich auch durchstehen.«

»Hat Mister Moore Verwandte? Jemanden, den wir benachrichtigen sollen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, zumindest keine, von denen ich wüsste. Er hat nie jemanden erwähnt.«

Huberts Magen verkrampfte sich etwas. »Ich weiß, dass ich jetzt sehr viel von Ihnen verlange«, sagte er und zog seine Hand wieder zurück. »Aber ich muss Ihnen ein paar Fragen zu dem Unglück stellen.«

Die Frau sah ihn angstvoll an, obgleich sie wusste, was ihr bevorstand. »Sie meinen, darüber, wie ich ihn gefunden habe«, schlussfolgerte sie. Noch ehe er etwas erwidern konnte, begann sie zu erzählen. Sie wollte wohl die Gedanken, die sich in den letzten Stunden in ihrem Kopf geformt hatten, endlich laut aussprechen und damit vielleicht vergessen.

»Gestern Abend habe ich ihm das Essen im Speisezimmer zurecht gestellt. Er sagte mir, dass er mich nicht mehr brauche, da habe ich mich zurückgezogen. Ich kam erst heute Morgen wieder hinunter, um das Frühstück zuzubereiten. Normalerweise pflegt Mister Moore es gegen sieben Uhr einzunehmen. Als er nicht kam, habe ich zuerst an seine Schlafzimmertür geklopft, aber das Bett war unbenutzt. Dann bin ich in sein Arbeitszimmer und ...« Sie stockte kurz. »Da lag er. Er trug noch immer die Sachen vom Vortag. Also hat er sich irgendwann am Abend ...«

Hubert nickte verstehend. »Den genauen Todeszeitpunkt wird die Obduktion zeigen. Was taten Sie, als Sie ihn fanden?«

Sie überlegte kurz und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Zuerst wurde mir schwindelig und übel. Ich bin fast umgekippt. Dann habe ich mich wieder gefangen und mich über ihn gebeugt. Ich wollte wissen, ob er tatsächlich ... dann habe ich sofort Doktor Drake angerufen.«

»Von welchem Apparat?«

»Dem hier in der Küche.« Sie deutete auf ein Telefon an der Wand zwischen der Anrichte und einer niedrigen Tür, die auf den Hof zu führen schien.

»Was haben Sie Doktor Drake gesagt?«

Noch eine Träne rann über Mrs Kellers Wange. Sie zog ein zerknülltes Papiertaschentuch aus ihrer Schürzentasche und wischte sich über die Nase.

»Ich war sehr aufgeregt. Ich habe nur gesagt, dass er schnell kommen solle, weil es Mister Moore nicht gut geht.« Die Aussage deckte sich mit dem, was ihm der Arzt gesagt hatte.

»Was haben Sie getan, bis Doktor Drake eintraf?«, hakte er weiter nach, während er die neuen Stichworte in das Gerät schrieb.

»Hier gesessen und gezittert. Es waren schlimme Minuten.«

Becker betrat den Raum. Er hielt etwas in seiner behandschuhten Hand. »Verzeihung, Sir ...« unterbrach er taktlos das sensible Verhör und reichte Hubert das Objekt; ein Smartphone, ähnlich dem, das er selbst benutze. »Wir haben Mister Moores Handy gefunden.«

Macintosh sah Becker fragend an. »Und?« Er wusste nicht so genau, was ihn jetzt erwarten würde. Moore hatte sicher keinen Abschiedsbrief auf diesem kleinen Gerät hinterlassen, wo man ihn nur durch Zufall finden würde.

»Da drin sind seine letzten Termine verzeichnet.«

Hubert nahm das Gerät, drückte einen Knopf und der Bildschirm erhellte sich. Er las die tabellarischen Eintragungen: Bis Anfang März hatte Moore täglich mehrere Meetings, Telefonkonferenzen und sonstige Geschäftstermine vermerkt, die als erledigt gekennzeichnet waren. Macintosh bedauerte den Mann um seine offensichtlich spärliche Freizeit und fragte sich unwillkürlich, ob dies nicht schon alleine ein Grund sein konnte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er scrollte weiter. Erst Anfang April setzten die Eintragungen, jedoch wesentlich weniger umfangreich, wieder ein. Dann stieß Hubert auf den jüngsten Termin. Er stammte vom vergangenen Sonntag.

»Wer ist Jack Calhey?«, fragte er Mrs Keller.

Sonntag, 04. April

17.22 Uhr

Nach zwei recht unbeständigen Apriltagen mit viel Regen hatte sich das Wetter vorübergehend zum Positiven gewandelt. Jack Calhey heizte in seinem alten Mustang mit offenem Verdeck über die nur mäßig befahrene Landstraße. Der Wind wehte ihm immer wieder eine seiner Haarsträhnen, von denen seine Freundin immer behauptete, sie gehörten auf den Boden eines Friseursalons, vor die Augen. Er genoss diesen Augenblick der Freiheit, der sich in ihm regte. Es hatte etwas nahezu rebellisches. Im Radio lief ›Hot Stuff‹ von den Stones, Jacks Lieblingsband. Es passte alles einfach zusammen und ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht.

Alles in allem hatte er es wirklich gut. Er besaß einen angenehmen, abwechslungsreichen und vor allem nicht allzu stressigen Job als Journalist und Redakteur bei einem kleinen Tageblatt, eine attraktive und kluge Freundin, die obendrein noch von Haus aus wohlhabend war und – seinen weißen Mustang.

Jack drehte die Lautstärke noch etwas auf, wodurch die Bässe ihr Äußerstes gaben und dieses besondere Gefühl in ihm seinen Höhepunkt erreichte. Ja, es ging ihm wirklich gut. Hier und jetzt, in diesem Augenblick spürte er es und dieses positivste aller Gefühle konnte durch nichts getrübt werden. Er dachte mit Vorfreude an den Besuch, den er gleich seinem besten Freund abstatten würde und den er so lange nicht gesehen hatte.

Nachdem er die Ortschaft Sawbridgeworth passiert und die letzte der wenigen Kurven auf der Straße genommen hatten, kam das Ziel seiner Fahrt in Sicht: Das großzügige Anwesen von Byron Moore mit dem Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert. Als er sich dem reichlich verzierten, massiven Eisentor näherte, öffnete sich dieses wie von Geisterhand. Jack ließ es sich nicht nehmen, nochmals zu beschleunigen und den Motor laut aufheulen zu lassen.

Mehr als sieben Monate war es nun her, seit er das letzte Mal diesen Weg gefahren war, um Byron zu besuchen. Sieben Monate waren zwar nichts im Vergleich zu manch anderen langen Jahren oder Jahrzehnten, die gute Freunde durch Wiegen des Schicksals getrennt waren, aber für Jack war es lange genug. Die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach und mit kaum einem anderen Menschen konnte er sich stundenlang so angeregt unterhalten, wie mit Byron. Was ihn an dieser Freundschaft immer wieder faszinierte, war die Tatsache, dass sie trotz der so unterschiedlichen Lebenswege, die sie nach der gemeinsamen Schulzeit gegangen waren, und den daraus resultierenden gegensätzlichen gesellschaftlichen Stellungen, glänzend funktionierte. Er, Jack, war ein mittelmäßiger Journalist bei einer mittelmäßigen Zeitung mit einem mittelmäßigen Gehalt, der als Quereinsteiger ohne richtige Ausbildung einfach Glück gehabt hatte. Byron hingegen hatte nach der Schule studiert, hart geschuftet und war ins Big Business eingestiegen. Jack wusste gar nicht mal genau, in wie vielen Geschäftszweigen er überall seine Finger im Spiel hatte. Man konnte Byron Moore durchaus als Workaholic bezeichnen. Dass er trotz dieser fast 24-Stunden-Arbeitstage und unzähligen Geschäftsreisen pro Jahr ab und zu Zeit fand, sich mit seinem alten Freund zu treffen, war für Jack ein großes Lob. Immerhin hätte er sich genauso gut für eine Familie oder kostspielige Freundinnen Zeit nehmen können.

Familie. Etwas, das für Byron, trotz seiner Genialität und seiner Bildung ein Buch mit sieben Siegeln war, wie er selbst zugegeben hatte; ein Thema, zu dem er nichts Geistreiches sagen konnte, da es ihm an Erfahrung mangelte. Seine Mutter war früh gestorben. Krebs. Und sein Vater, die Leitfigur in seinem Leben, war ihr einige Jahre später gefolgt. Danach hatte sich Byron nur noch in die Arbeit gestürzt. Sich hier und da mal sexuelle Eskapaden geleistet. Mehr aber nicht. Jack hatte oft das Gefühl gehabt, dass die Einsamkeit Byrons einziger, ständiger Begleiter war. Vielleicht war aber auch einfach nur die Lebensweise, für die er sich entschieden hatte, Jack so fremd und nicht nachvollziehbar, war er doch selbst in einer Familie mit drei Brüdern und zwei Schwestern groß geworden und hatte er nun seit mehr als zwei Jahren, nach einer gescheiterten Ehe und einigen, mehr oder weniger amüsanten Affären, seine Grace. Er war niemals einsam. Und er war auch nicht traurig darüber.

Byrons Anwesen bot wie immer ein recht üppiges Bild, was von den idealen Wetterverhältnissen und einem geradezu perfekten Sonnenstand noch unterstrichen wurde. Moores historisches Herrenhaus, das er nach dem Tod seines Vaters von seinem selbst verdienten Geld einem verarmten Lord abgekauft hatte, war wirklich eine Augenweide. Es wirkte als Behausung für einen einzelnen Mann vielleicht etwas protzig mit den Steinsäulen vor dem Treppenaufgang, den mit schwerem Efeu bewachsenen, bräunlich-grau schimmernden Wänden und den Bogenfenstern in den kleinen Seitenflügeln links und rechts. Aber wenn man es sich leisten konnte, warum nicht? Jack hätte sich auch nicht zweimal bitten lassen.

Auf der obersten Stufe der breiten Treppe sah er aus der Ferne eine Person stehen, die ihm zuwinkte. Es war Byron. Direkt unterhalb des Aufgangs brachte Jack seinen Wagen zum Stehen und stieg aus. Sein Freund nahm flink die letzten Stufen und kam direkt auf ihn zu.

»Was ist denn das?«, fragte er amüsiert und nickte in Richtung des Mustangs. Die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben. »Das letzte Mal hattest du doch noch diesen Geländewagen.«

Jack verzichtete ebenfalls drauf, zunächst »Hallo« zu sagen und antwortete stattdessen: »Mit der Karre hab’ ich doch immer nur Probleme gehabt. Und dann tauchte plötzlich dieses Schmuckstück im Netz auf. War ein Wink des Schicksals. Ist zwar ein Linkslenker, aber man gewöhnt sich an alles.«

Byron nickte anerkennend und schritt begutachtend um den Wagen herum. »Baujahr fünfundsechzig, oder?«

»Vierundsechzig.«

»Kompliment, du hast einen guten Geschmack. Wenigstens, wenn es um Autos geht.«

Jack ignorierte diese kleine Spitze, denn er wusste genau, dass Byron auf seinen eher schlampigen Look anspielte. Aber warum sollte er sich, wie sein Freund, immer in einen unbequemen Anzug zwängen? In seinem Job benötigte er äußerst selten einen und das war ihm auch sehr recht.

»Hallo, alter Junge«, sagte Byron nun freudig und eine feste, maskuline Umarmung folgte. Dann packte er seinen Gast am Arm und schob ihn sanft die Treppe hinauf ins Haus. »Jetzt trinken wir aber erst mal einen, was?«

Jack nickte. »Hätte ich nichts dagegen. Ist ja auch immer eine elende Fahrerei, bis man bei dir ist.«

»Jaja, hast du dich mal wieder aufgerafft, alter Mann.« Loughton lag gerade einmal 14 Meilen von Sawbridgeworth entfernt. »Wie lange warst du jetzt schon nicht mehr hier?«

»Sieben Monate.«

Die beiden Männer durchschritten die Eingangshalle und betraten den Salon mit den großen Fenstern, durch die man in den sorgsam gepflegten Park sehen konnte, und mit dem großen Kamin aus schwarzem Marmor. Byron ging direkt zur Bar und bereitete die Drinks vor.

»Sieben Monate. Kommt mir länger vor.«

Jack trat an die Theke und verschränkte die Arme darauf. »Ich glaube, das liegt daran, dass du ständig woanders bist. So ab und an versuche ich ja, dich mal an den Apparat zu kriegen. Da heißt es dann immer: Er ist in Tokio; oder in Paris; oder in New York. Wenn ich immer vom einen Ende der Welt zum anderen jetteten würde, wüsste ich bestimmt auch bald nicht mehr, wann Weihnachten und wann Ostern ist.«

Byron rang sich schwerfällig ein Grinsen ab. »Die letzten Monate waren auch wirklich ziemlich hart. Es kriselt hier und da etwas in meinem Imperium.«

Jack schüttelte innerlich den Kopf. Da stand er einem Mann gegenüber, seinem besten Freund, der gerade zwei Drinks eingoss und der gleichzeitig, wie beiläufig, von ›seinem Imperium‹ sprach. Es wirkte einfach absurd.

»Die Probleme kenn ich«, entgegnete Jack trocken. »Ist bei mir genau das gleiche.«

Byron sah ihn an und sofort begannen beide zu lachen.

»Klar, ich meine, da sind mein Job, Grace, die Wohnung, der Mustang und – nicht zu vergessen – ein Schwiegervater in spe. Das kann einen auch ganz schön fordern.«

Byron reichte Jack seinen Scotch. »Apropos, habt ihr beiden denn schon übers Heiraten gesprochen? Grace und du, meine ich.«

»Mehr als einmal.«

Es schien für Byron ein interessantes Thema zu sein, denn er hakte weiter nach. »Und? Will sie nicht oder willst du nicht?«

Jack setzte zum Trinken an, hielt aber inne und überlegte kurz.

»Ich würde sagen, wir haben beide Vorbehalte. Ich bin ja bereits vorbelastet und wie du weißt, war meine Scheidung nicht gerade ein Vergnügen.«

»Von der Ehe ganz zu schweigen«, fügte Byron mit einem Augenzwinkern bestätigend hinzu.

»Und Grace ist heiraten noch nicht so wichtig. Sie meint, sie fühle sich dann alt.«

»Neben dir kann sie doch immer nur jung aussehen«, entgegnete Byron amüsiert. Dann wich das Lachen aus seinem Gesicht. »Aber macht es einfach. Sonst endest du noch wie ich.«

»Verzeihung.«

Die beiden Männer fuhren herum. Im Eingang stand Martha, die gute Seele des Hauses Moore. Sie hielt ein Tablett mit Gurkensandwichs vor sich.

»Ah!« Byron strahlte plötzlich bis über beide Ohren und trat hinter der Bar hervor auf seine Haushälterin zu. »Vielen Dank, liebste Martha. Das wird unserem Freund bestimmt gefallen.« Er nahm ihr das Tablett ab und stellte es auf den großen Glastisch inmitten der Sitzgruppe.

»Guten Tag, Mister Calhey. Es freut mich, Sie wieder einmal bei uns zu sehen. Wie geht es Ihnen?«

»Sehr gut, Martha. Vielen Dank. Und mit einem ihrer berühmten Sandwichs wird es mir gleich noch viel besser gehen.« Er schnappte sich eines der dreieckigen belegten Brote, während er sich schwungvoll auf die Couch sinken ließ. Mit seinem Whiskey prostete er ihr stumm zu. Und so leise, wie sie gekommen war, zog die Haushälterin die Türflügel hinter sich zu und war wieder verschwunden.

»Ich gebe zu«, sagte Jack, während er noch den ersten Bissen des Sandwichs kaute und das Brot zwischen den Fingern drehte. »Dass diese Dinger der wahre Grund sind, warum ich überhaupt immer wieder zu dir in die Pampa fahre.«

Byron hatte inzwischen in seinem Sessel gegenüber dem Kamin Platz genommen. »Das weiß ich doch. Aber du kennst auch die Gegenleistung, die du dafür erbringen musst. Lass uns quatschen.«

Jack nickte und schob sich bereits den letzten Zipfel des Gurkensandwichs in den Mund. Natürlich würde er sich mit Byron unterhalten. Der einsame Millionär, der zwar viele Feinde und Neider, aber eben keine echten Freunde hatte, außer Jack, sehnte sich geradezu nach diesen gelegentlichen, von keinerlei gesellschaftlichen oder politischen Zwängen geprägten Unterhaltungen. Und Jack wusste das genau. Mehr als einmal hatte er sich dabei ertappt, sich in der Rolle eines Psychiaters zu sehen, der einfach nur zuhörte, aber gerade damit besonders gut einen Schmerz heilen konnte. Der Schmerz der Einsamkeit musste sehr wehtun.

Doch diesmal war es anders. Jack hatte Byron genau aus den Augenwinkeln beobachtet und dem Ton seiner Stimme gelauscht. Etwas an seinem Freund hatte sich verändert. Er konnte nur nicht genau ausmachen, was es war. Aber er war ja auch erst seit zwanzig Minuten dort. Vielleicht würde er im Laufe des Abends noch dahinter kommen.

»Also, Junge, jetzt erzähl mal. Was gibt’s Neues beim Loughton Courier?« Byron schlug die Beine übereinander und machte es sich offensichtlich für eine längere Abhandlung Jacks über das aufregende Leben in dem kleinen Zeitungsverlag gemütlich. Natürlich gab es da nicht wirklich viel zu erzählen.

»Tja, was gibt’s Neues?«, wiederholte Jack und schaute kurz zur Decke. »Wir haben seit letztem Herbst einen neuen Verlagschef. Newton Starling. Ein richtiger Sklaventreiber.«

»Heißt das, dass du jetzt zum ersten Mal in Deinem Leben richtig arbeiten musst?« Sie lachten. »Was ist denn aus dem alten geworden? Wie hieß er noch? Bowers?«

»Bowlers. Henry Bowlers«, korrigierte ihn Jack und griff nach einem weiteren Sandwich. »Hat von heute auf morgen aufgehört.«

Byron zog verwundert eine Augenbraue nach oben. »Oh, besserer Job?«

»Er ist gestorben. Herzinfarkt.« Ihr Gelächter hallte in den hohen Mauern des Salons.

»Ich hab’s doch gewusst. Das hektische Treiben bei euch schlägt auf die Gesundheit«, sagte Byron ironisch. »Das ist nichts für altersschwache Rentner. Da müssen so harte Kerle wie Jack Calhey ran!« Er schwang heroisch mit der Faust in der Luft.

Jack grinste schief. »Danke für das Kompliment«, sagte er und wurde dann ernst. »Aber Bowlers war erst zweiundfünfzig. Das ist doch noch kein Alter, um abzutreten. Selbst unser Chef Butterworth ist älter. Ich möchte jedenfalls noch etwas länger warten, bevor ich ins Gras beiße.«

Byron hielt kurz im Kauen seines Sandwichs inne. »Da hast du Recht.«

Jack wusste, dass sein Freund, der nur ein paar Monate älter war als er selbst, ein stressiges Leben führte. Irgendwann würde auch sein Körper rebellieren. Vielleicht schon früher, als ihm lieb war.

Langsam wurde es dunkel draußen und Martha heizte den Kamin an. Wie Jack es vermutet hatte, hatte Byron am meisten zu erzählen. Von seinen internationalen Geschäften, den Problemen an der Börse, von seinen diversen prominenten Bekannten aus Wirtschaft und Politik, und natürlich den weiblichen Bekanntschaften, die aber nie mehr waren, als Bettgespielinnen oder bei offiziellen Anlässen als Begleiterinnen an seinem Arm hingen. Männersachen. Jack hörte sich all dies immer wieder gerne an und war fasziniert. Ein Leben, so unvorstellbar und unerreichbar für ihn selbst, gelebt von einem Mann, dem er vor fast zwanzig Jahren einmal die Nase blutig geschlagen hatte. Auslöser war eine Meinungsverschiedenheit gewesen, die nach dem Genuss einiger Ales eskaliert war. Heute undenkbar.

Nachdem eine Pause entstanden war, wollte Jack die Chance nutzen, seinen Freund nach etwas auszuhorchen, das ihm schon die ganze Zeit unter den Nägeln brannte.

»Sag mal, als ich neulich hier angerufen habe, sagte mir Martha, dass du im Urlaub wärst. Da bin ich ja fast vom Stuhl gekippt. Stimmt das? Du warst tatsächlich mal privat unterwegs?«

Byron hielt kurz inne und nickte dann zögerlich. »Ja, das stimmt. Mehr oder weniger privat, ja.«

Jack richtete sich etwas auf. Das klang spannend. »Wie lange kennen wir uns jetzt? Zwanzig Jahre? Ich kann mich nicht entsinnen, dass du jemals irgendwo hingeflogen bist, um die Füße hochzulegen. Aber offenbar geschehen noch Zeichen und Wunder. Wo warst du denn?«

Byron antwortete nicht sofort. Wenn Jack es nicht besser gewusst hätte, hätte er gesagt, seinem Freund wäre das Thema unangenehm.

»Ich war ...«, begann er und machte nochmals eine rhetorische, nein, eine verwirrende Pause. »Es war eine spannende Erfahrung. Wirklich.« Er wirkte plötzlich wie in Trance, starrte mit leeren Augen zu Boden.

Jack wusste nicht, wie er reagieren sollte. Hatte er schon früher an diesem Abend ein undefinierbares, seltsames Verhalten an seinem Freund festgestellt, so stand er jetzt vollkommen vor einem Rätsel.

»Mach es doch nicht so spannend«, entgegnete er witzelnd energisch. »Wo warst du?«

Jetzt stand Byron auf und wanderte vor dem prasselnden Kaminfeuer auf und ab, sein Glas in der Hand schwenkend. »Das ist schwer zu erklären. Es war nicht irgend so ein Trip, den man im Reisebüro bucht. Es war eher ...« Wieder unterbrach er sich selbst und blieb mitten vor der Feuerstelle stehen, Jack den Rücken zugewandt. Dann fuhr er plötzlich herum und sah seinen Freund mit einer Mischung aus Verärgerung und Nervosität an. »Vielleicht hätten wir gar nicht mit diesem Thema anfangen sollen. Martha kann einfach nicht ihren Mund halten«, sagte er gereizt.

Jack erwiderte seinen Blick mit Unverständnis. »Entschuldige. Ich war doch nur neugierig, wo es dich hin verschlagen hat. Falls ich dir irgendwie dabei auf den Schlips getreten bin ...« Byron reagierte nicht, sah nur stur an Jack vorbei. »Byron?« Jack wurde energischer. »Was ist denn plötzlich los mit dir? Wenn es so ein Horrortrip war, müssen wir nicht darüber ...«

Sein Freund lachte trocken und schüttelte den Kopf. »Nein, es ist doch besser, wenn wir ... lass uns einfach das Thema wechseln.«

Jack spürte Unbehagen in sich aufsteigen. Die Atmosphäre hatte sich plötzlich um hundertachtzig Grad gedreht. Es war eine seltsame, surreale Stimmung, die sich im Raum ausbreitete. Als suchte er einen rettenden Anker, sah Jack auf seine Armbanduhr. »Oje, es ist ja schon halb eins«, stellte er fest und hätte sich für diese dumme Ausflucht am liebsten selbst geohrfeigt. Die Zeit war jedoch wirklich wie im Fluge vergangen. »Ich glaube, es wird Zeit, dass ich mich verabschiede«, sagte er und stand auf.

Byron schien sichtlich enttäuscht. »Hey, früher hast du aber länger durchgehalten«, spottete er, als hätte es die Minuten zuvor nie gegeben. Dann sagte er mit erhobenem Zeigefinger und einem hintergründigen Lächeln: »Bevor du aber gehst, denk ja nicht, ich hätte es vergessen.«

Jack sah ihn fragend an, doch Byron verschwand ohne ein Wort in seinem Arbeitszimmer, um kurz darauf mit einem kleinen Päckchen zurückzukehren. Er reichte Jack das in braunes Packpapier eingewickelte Etwas.

»Nachträglich noch alles Gute zum Geburtstag, mein Freund.«

Jack nickte dankend. »Hey, das wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte er mit tatsächlicher Überraschung und besah sich sein Geschenk. Es fühlte sich durch das Papier wie ein Buch an.

»Doch, Jack, das war es, denn Lesen bildet«, entgegnete Byron ironisch und zwinkerte Jack zu. Der hatte den kleinen Seitenhieb verstanden. Jack war kein großer Bücherwurm und von seinem Freund schon diversem Male damit aufgezogen worden, dass er jederzeit einen Actionfilm einem guten Roman vorziehen würde.

»Soll das heißen, ich bin ungebildet?«

»Nein, aber es gibt Bücher, die einem die Augen für verschiedene Dinge öffnen.« Byrons Tonfall wurde nachdenklich und leise. »Tu mir nur den Gefallen und lies es, versprochen?«

Jack zuckte mit den Schultern und lächelte. »Ja klar, mach ich. Ich sag dir dann, wie ich’s fand, okay?«

»Okay.«

»Wir sollten aber auch unbedingt bald mal wieder eine Wandertour machen, was meinst du?«

»Klingt toll.«

»Meldest du dich, wenn du Zeit hast? Mein Terminkalender ist ja etwas überschaubarer als deiner.« Jack erwartete ein Lachen oder zumindest ein Lächeln. Nichts.

»Ich melde mich«, sagte er nur und trat vor, um seinem Freund auf die Schulter zu klopfen. Jack tat es ihm gleich. »Komm gut nach Hause.«

»Und du heil ins Bett.« Jack winkte ihm noch vom Treppenabsatz zu, dann setzte er sich in seinen Wagen und fuhr los.

Während er durch die Dunkelheit zurück nach Loughton rauschte, kreisten seine Gedanken immer wieder um Byrons seltsames Verhalten. Warum hatte er nichts von seinem Urlaub erzählen wollen? Er fand keine plausible Antwort. Gerne hätte er das abnorme Benehmen seines Freundes auf sein Alter geschoben, doch damit hätte er sich nur ins eigene Fleisch geschnitten.

Als er spät in der Nacht die Ortseinfahrt von Loughton passierte, hatte er den Vorfall schon fast wieder vergessen.

Dienstag, 06. April

19.57 Uhr

»Ja, Sir. Selbstverständlich. Ich versichere Ihnen, bis Ende der Woche ist die Sache erledigt.«

Hubert schlug den Hörer, entsprechend seinem aktuellen Gemütszustand, unsanft auf die Gabel. Er hatte bereits den ganzen Nachmittag mit dem Anruf von Superintendent Crowe gerechnet. Und wie er es erwartet hatte, wurden ihm von oberster Stelle Steine in den ohnehin knapp bemessenen Zeitrahmen seiner Ermittlungen geworfen. Sein Vorgesetzter wollte sicher gehen, dass Hubert mit dem Fall Moore keine Baustelle hinterlassen würde, wenn er nächste Woche in den Urlaub fuhr. Darüber hinaus hatte sich irgendjemand in seinem Umfeld verplappert, weshalb er am Nachmittag einigen aufdringlichen Pressefritzen Rede und Antwort stehen musste, was seine Laune auch nicht gerade positiv beeinflusst hatte.

Die bohrende Frage, wieso sich ein erfolgreicher Geschäftsmann, der sich, laut seinem Hausarzt, bester Gesundheit erfreut hatte und offenbar auch nicht unter Depressionen litt, ohne jedes erkennbare Motiv das Leben nahm, ließ ihn einfach nicht los. Und jetzt lief Hubert auch noch die Zeit davon. Schwermütig sah er zum Kalender an der Wand. Freitag wäre sein letzter Arbeitstag. Er hatte noch drei Tage für diesen Fall. Nein, eigentlich war es kein wirklicher Fall. Es war ein Suizid, das würde sicher auch die Autopsie bestätigen und deshalb nicht dahingehend besorgniserregend, dass ein Mörder sein Unwesen trieb. Trotzdem, die merkwürdigen Umstände kratzten an Huberts kriminalistischer Seele; er wollte für sich selbst einen akzeptablen Grund für Moores Freitod finden. Besonders interessant war für ihn der Punkt, dass der Mann sich, laut der Aussage von Haushälterin Martha Keller, nach der Rückkehr aus seinem Urlaub unerklärlich anders verhalten habe. Er zog mit diesen Gedanken im Hinterkopf die Mappe mit den Niederschriften der Zeugenaussagen aus dem Stapel, öffnete sie und suchte die entsprechende Stelle.

Er hatte das Verhör von Mrs Keller, das er selbst geführt hatte, bereits dreimal gelesen. Und doch weigerte sich sein Magen, das Bild einfach so zu akzeptieren, wie es sich ihm darbot. Das Bild des erdolchten Byron Moore, das in dutzenden Fotografien aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel seinen Schreibtisch bedeckte, ließ sich für ihn mit der Tat eines Selbstmörders einfach nicht überein bringen. Wer würde freiwillig eine solch schmerzhafte und mühsame Methode wählen, sich umzubringen? Und was hatte Mrs Keller mit dem unerklärlich seltsamen Verhalten gemeint? Hubert hatte sie mehrfach ersucht, diese Aussage zu präzisieren, doch sie hatte es nicht gekonnt. Und ein weiterer Punkt, der ihm Kopfschmerzen bereitete, war, dass niemand, nicht einmal seine langjährige Haushälterin, wusste, wo er seinen zehntägigen Urlaub verbracht hatte. Er war plötzlich und ohne ein Wort abgereist, mitten in der Nacht.

Der Inspektor las Zeile für Zeile. Moore hatte nach seiner ebenso plötzlichen Rückkehr das Haus nur ein einziges Mal für eine halbe Stunde verlassen, um zur Bank zu fahren, wie er es auch sonst häufiger getan hatte. Danach war er nicht noch einmal fort gegangen, was Mrs Keller ebenfalls seltsam vorgekommen war. Mit Ausnahme von Mister Calhey, den sie ihm als engen Freund des Toten beschrieben hatte, konnte sie sich an keinen weiteren Besuch in der Villa erinnern. Beim letzten Wort des Textes angekommen, schaute Hubert auf den Aktenstapel und fischte zielstrebig eine weitere Mappe heraus. In ihr hatte sein Assistent die Telefonprotokolle des Moore’schen Anschlusses sowie die seines Handys zusammengestellt. Eine sich über mehrere Seiten erstreckende Liste empfing ihn, nachdem er den Deckel aufgeschlagen hatte. Die detaillierte Aufstellung reichte bis zum Februar zurück. Aber das, was ihn interessierte, musste sich, wenn überhaupt, unmittelbar vor seinem Tod abgespielt haben. Ein Anruf, eine schlimme Nachricht. Das hätte ein Auslöser sein können. Motiv, komm endlich raus.

In weiser Voraussicht hatte sein Assistent, penibel wie er war, bereits zu den letzten Telefongesprächen kurze Notizen gemacht: Büro, Anwalt, Büro und so weiter. Martha Keller hatte nur am Rande mitbekommen, dass er mehrfach mit seinem Stellvertreter in seinem Unternehmen Kontakt gehabt hatte, um Anweisungen zu geben und nach dem Rechten zu hören und dass er eine längere Videokonferenz abgehalten hatte.

Hubert folgte der Liste weiter. Eine der Nummern stammte von Jack Calhey, der Moore zweimal antelefoniert hatte. Zu guter Letzt war da noch, was den Festnetzanschluss betraf, eine unbekannte Nummer. Der Anruf war als unbeantwortet registriert und auch in etwa zu dem Zeitpunkt, den Rainard vorläufig als ungefähre Todeszeit Moores genannt hatte, eingegangen. Wer hatte so spät abends noch versucht, ihn zu erreichen?

Müde trank Hubert den letzten Schluck Kaffee, der mittlerweile nicht mal mehr lauwarm war. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er heute wohl keine großen Durchbrüche mehr erzielen würde. Erst brauchte er die Gewissheit des Autopsieberichts. Ein Klopfen an seine Bürotür riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ja?«

Die Tür schwang auf. Es war Steve Highsmith, sein junger Assistent.

»Sie sind noch da?« fragte Macintosh verwundert.

»Sir, ich habe hier ein paar Informationen über diesen Mister Calhey.« Er trat vor den Schreibtisch und reichte seinem Chef eine weitere Mappe.

Dieser sah ihn verdutzt an. »Woher?«

»Na ja, er ist in ein paar sozialen Netzwerken im Internet angemeldet. Da findet man so einiges.«

»Ja, ja. Die Generation Internet.« Hubert schüttelte den Kopf. »Furchtbar, wie die Leute heutzutage ihre intimsten Details preisgeben. Wann wer wo was macht und mit wem.«

»Aber wenn sich sogar Personalleiter auf diesen Netzwerken über ihre Bewerber erkundigen, können wir das doch auch tun, oder?«

Er hatte Recht, trotzdem fand Hubert die Vorstellung des freiwillig gläsernen Menschen beunruhigend und leichtsinnig. Auch wenn es ihrem Job durchaus entgegen kam. »Okay, Zusammenfassung« brummte er müde und lies die Akte unbeachtet auf den Stapel fallen.

»Ja also, ähm …« begann Highsmith, der darauf eigentlich nicht vorbereitet war. Zwar hatte er die Daten recherchiert, aber sie sich nicht bis ins Detail gemerkt. Mit einer geschickten Bewegung zog er die Mappe vor Macintoshs Nase wieder an sich und klappte sie auf.

»Jackson Alexis Calhey, 37 Jahre alt. Geboren in Harwich, Essex. Eltern Elena und George …«

»Keine Schöpfungsgeschichte, Steve!«, unterbrach ihn Hubert ungeduldig. Highsmith war ihm manchmal doch etwas zu genau.

»Sorry, Chef.« Der junge Beamte wurde von einer Sekunde auf die andere knallrot im Gesicht, was typisch für ihn war. »Also, er ist Reporter und Redaktionsmitglied bei einer kleinen Tageszeitung in Loughton, dem Loughton Courier. Keine Vorstrafen laut Register.«

»Den letzten Punkt haben Sie doch wohl nicht auch aus dem Internet?«, fragte Hubert skeptisch.

Sein Assistent lachte. »Nein, natürlich nicht.«

Der Inspektor nickte brummend. Es war nur geringfügig mehr, als das, was ihm Mrs Keller über Moores besten Freund hatte sagen können. In einem Gespräch mit Calhey sah Hubert aber zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer, seine Suche nach dem Freitodmotiv voran zu bringen. Immerhin war er, laut der Haushälterin, der letzte, der mit Moore von Angesicht zu Angesicht gesprochen hatte. Vielleicht war ja das Treffen von Moore und Calhey der Auslöser für Moores Suizid gewesen? Und wenn nicht, dann wusste dieser Jack Calhey vielleicht wenigstens, wo Moore seinen Urlaub verbracht hatte.

»Danke, Steve. Gute Arbeit.«

»Vielen Dank, Sir.«

»Nächstes Mal aber ohne Hilfsmittel«, fügte Hubert ironisch-trocken hinzu und streckte die Hand aus.

Highsmith zögerte kurz, verstand dann aber und gab seinem Chef die Akte Calhey zurück. Dann verließ er den Raum und Hubert war wieder mit seinen Gedanken allein. Er betrachtete eine Zeit lang nur den braunen Mappendeckel vor sich. Eine enge Männerfreundschaft war sicher eine gute Basis, um durch irgendwelche Zerwürfnisse einen emotionalen Kollaps heraufzubeschwören. Zu dieser Erkenntnis bedurfte Hubert nicht mal eines Psychologen, er hatte es selbst einmal erlebt, wenn auch nicht mit so fatalen Folgen. Noch während er seinen Gedanken nachhing, merke er, wie ihm die Augenlider schwer wurden. Schwerfällig rappelte er sich auf, um sich auf den Heimweg zu machen. Calhey würde er erst morgen einen Besuch abstatten.

Derselbe Tag

Kowalsky schnippte mit den Fingern. »Ach, fast hätt‘ ich’s vergessen Jack. Als du vorhin bei Butterworth warst, hat eine ältere Dame für dich angerufen. Hier ist die Nummer.« Er hielt Jack, der fast hypnotisch auf den Monitor seines Notebooks konzentriert war, einen kleinen Zettel hin. »Sorry, hab’s verschwitzt. Jack?«

Er sah nicht auf.

»Jack?«

Jack las die Zeilen der E-Mail aus der Londoner Redaktion mit dem Betreff ›Eilmeldung für die morgige Ausgabe‹ ein weiteres Mal und die Kehle schnürte sich ihm zusammen. Er konnte nicht glauben, was da stand:

Erfolgreicher Unternehmer Byron Moore

begeht Selbstmord

Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Fragen über Fragen fuhren ihm blitzschnell durch den Kopf: War es der Byron Moore? War er wirklich tot? Wieso sollte er sich selbst umgebracht haben? Während sich in ihm automatisch eine Abwehrhaltung gegen diese Behauptung aufbaute, las er den kurzen Text, den sein Londoner Kollege eingereicht hatte, erneut:

Der Unternehmer und Millionär Byron Moore (38) wurde gestern in seiner Villa in der Nähe von Sawbridgeworth tot aufgefunden. Ersten Ermittlungen zufolge hat er sich das Leben genommen. Die Polizei hat, laut dem zuständigen Ermittler Hubert Macintosh von der Hertfordshire Constabulary, noch keinerlei Hinweise über ein mögliches Motiv für den Selbstmord Moores. Weitere Einzelheiten in Kürze.

Jack drehte den Kopf und starrte mit geweiteten Augen ins Nichts. Sein Kollege Kowalsky bemerkte jetzt sein aschfahles Gesicht.

»Jack? Alles okay?«

Er antwortete nicht, schüttelte nur fast unmerklich den Kopf.

Kowalsky lachte unsicher. »Hey, Kumpel. Wieder mal zu viele Angebote über Penisvergrößerungen?« Als er merkte, dass seine lockere Art gerade gar nicht gefragt war, wurde er wieder ernst. Er hielt Jack erneut den Zettel hin, drehte ihn dann kurz noch mal zu sich. »Hier, eine Mrs Keller.«

Jetzt registrierte Jack es, seine Augen waren geweitet. Keller? Martha Keller? Ohne ein Wort stand er auf, griff sich sein Handy aus der Jacke, die über seinem Stuhl hing und ging aus dem Raum. Kowalsky blickte ihm, den Zettel noch immer in die Luft haltend, stirnrunzelnd nach.

Es so zu erfahren! Durch die eigene Zeitung! Wenn es wahr war. Oder war die Meldung nur ein Scherz? Ein Irrtum? Was Jack jetzt unbedingt haben musste, war Gewissheit. Beinahe hätte er den neuen Lehrling überrannt, als er auf das kleine Display fixiert, mit zitternden Fingern Byrons Nummer wählte. Er brauchte den Zettel nicht, er kannte sie auswendig.

Es kam ihm einer Erlösung gleich, als er den oberen Seitenausgang mit der Metalltreppe erreichte und ihm frische Luft entgegen wehte. Als das Telefon endlich zu wählen begann, war sich Jack nicht mehr sicher, ob er dieses Gespräch überhaupt führen wollte. Nervös stieg er die Stufen auf und ab. Dann hörte er plötzlich die Stimme von Martha am anderen Ende.

13.37 Uhr

Zehn Minuten später sah Kowalsky einen völlig fertigen Jack Calhey wieder an seinem Schreibtisch Platz nehmen.

»Jack, was ist denn los, um Himmelswillen?« Er sah, dass sein Kollege sein Handy fest umklammert hielt; seine Knöchel traten weiß hervor. Sein Gesichtsausdruck verriet Kowalsky, dass er jetzt besser keine weiteren Fragen stellen und ihn lieber in Ruhe lassen sollte. Gerade, als er sich wieder seinem Exposé widmen wollte, sagte Jack mit rauer Stimme:

»Mein bester Freund hat sich umgebracht.«

Kowalsky zog sich unwillkürlich seine Brille vom Gesicht und blickte Jack mit geweiteten Augen an. »Was? Wow. Das ... tut mir Leid für dich«, stammelte er unbeholfen. Er konnte zwar herrlich ausschweifend über Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Bürgerkrieg schreiben, aber in diesen persönlichen Dingen war er nicht sehr gut. Sein Job hatte ihn wohl abgestumpft. In diesem Moment erinnerte er sich an die eine E-Mail des Wirtschaftsredakteurs, die vor einer Viertelstunde angekommen war.

»War dein Freund dieser Byron Moore?«, fragte er leise, und hoffte gleichzeitig, Jack würde es erst gar nicht hören.

»Ja.«

Kowalsky kannte Byron Moores Namen nur aus Wirtschaftsmeldungen. Er war kein Mensch, den man als prominent bezeichnen würde, aber er war in gewissen Kreisen eine Größe. Es wunderte ihn etwas, dass dieser Mann Jacks Freund sein sollte. Jedoch arbeitete er erst seit etwa fünf Wochen mit ihm in einem Raum und wusste noch nicht sehr viel von seinem Kollegen.

Jack selbst dachte an Marthas Verzweiflung und an ihre Schilderungen über das, was passiert war. Es war für ihn ein umso größerer Schock, da er doch gerade mal vor 36 Stunden zuletzt mit Byron gesprochen, mit ihm gelacht und ihm freundschaftlich auf die Schulter geschlagen hatte. Als er diese Stunden vor seinem geistigen Auge Revue passieren ließ, kam ihm auch wieder das merkwürdige, undefinierbare Verhalten in den Sinn, das Byron an den Tag gelegt hatte. Zunächst unterschwellig und dann ganz offensichtlich, als Jack ihn nach seiner Urlaubsreise gefragt hatte. Hatte er selbst vielleicht seinen besten Freund auf dem Gewissen? Hatte er mit seiner Fragerei Byron an ein traumatisches Erlebnis erinnert? Schnell wies er diese Gedanken wieder von sich. Nein, er hatte sich sicherlich nichts vorzuwerfen, außer vielleicht, Signale der Hilflosigkeit seines besten Freundes nicht erkannt zu haben. War es doch die Einsamkeit, die letztendlich über ihn gesiegt hatte? Aber warum jetzt? Warum nicht schon früher oder in zwanzig Jahren? In Jacks Kopf drehte sich alles.

Durst. Seine Lippen waren spröde, seine Zunge fühlte sich trocken an. Er öffnete die Schublade seines Aktencontainers, nahm die Flasche Scotch heraus und stellte sie vor sich auf den Tisch. Es war ganz und gar nicht seine Art, während der Arbeitszeit zu trinken. Die Flasche war noch ungeöffnet, ein Geschenk seiner Kollegen zu seinem Geburtstag. Kowalsky beobachtete stumm, wie Jack die Flasche anstarrte und scheinbar abwog, ob er sie öffnen sollte. Er selbst hätte wohl keine Sekunde gezögert. Wie in Zeitlupe griff Jack nach dem Flaschenhals. Er riss die lächerliche kleine, goldene Schleife ab, öffnete den Deckel und setzte die Flasche an den Mund. Ein wenig von dem Whisky rann durch seine Kehle. Dann etwas mehr. Er brannte. Das Zeug brannte. Jack musste husten. Es war ein sehr starker Scotch, den man ihm da geschenkt hatte. Aber er brachte ihn auch durch den brennenden Schmerz, den er in seinem Hals verursachte, wieder zu klarem Verstand. Die Gedanken, die er sich machte, führten zu nichts, das wurde ihm jetzt schnell klar. Er hatte kaum Informationen über Byrons Tod und auch Martha wollte ihm verständlicherweise nicht alles am Telefon haarklein erzählen, zumal er in ihrer Stimme den Schock gespürt hatte, unter dem sie stand.

Es drängte ihn, etwas zu unternehmen. Er wollte zu Byrons Haus fahren, mit Martha sprechen, die Umstände seines Freitods klären und noch so vieles mehr. Zuerst galt es aber, nichts Unüberlegtes zu tun. Er musste professionell bleiben, als Freund Byrons und als Journalist. Irgendwie war es für ihn selbstverständlich, die Umstände von Byron Moores Tod zu klären, Selbstmord hin oder her. Für sich, für Martha und für die Öffentlichkeit. Ja, tatsächlich auch für die Leser seiner Zeitung würde er das Schicksal seines Freundes offen legen, wenn es ihm gelänge. Warum? Auf diese Frage hatte er auch noch keine Antwort, als er Martha Keller wieder gegenüber stand.

20.11 Uhr

Grace Martins saß am Küchentisch und beobachtete Jack, der ihr gegenüber in sich zusammen gesunken hockte, wortlos. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte, außer immer wieder zu beteuern, dass es ihr Leid tat. Noch nie hatte sie ihren Freund so niedergeschlagen erlebt. Zwar hatte sie versucht, einen Vergleich zu seiner momentanen Verfassung zu ziehen, indem sie sich vorstellte, ihre beste Freundin hätte sich das Leben genommen, aber das konnte nicht dasselbe sein. Ihre Freundinnen waren allesamt hochnäsige Zicken, die sich gegenseitig nichts gönnen konnten. Jack trank noch einen Schluck von dem Tee, den sie ihm gekocht hatte und der laut Verpackung eine beruhigende Wirkung versprach. Die ließ noch auf sich warten.

Als er nach Hause gekommen war, sehr viel später als üblich, Überstunden eingerechnet, wusste sie sofort, dass etwas passiert sein musste. Sein Gesicht war aschfahl, seine Stimmung mehr als im Keller und seine Bewegungen müde und schlapp. Dann hatte er ihr die ganze Geschichte erzählt: Vom Selbstmord Byron Moores, den sie selbst nur einmal flüchtig kennen gelernt hatte; von der Weise, wie Jack davon erfahren hatte und von seinem Gespräch mit Moores Haushälterin, von dem er gerade zurück gekommen war. Grace hatte ihn lange fest umarmt, während er ihr die Ereignisse geschildert hatte. Nachdem er fertig gewesen war, saßen sie eine Zeit lang nur so da und ließen das Gesagte auf sich wirken.

»Da hat ein Mann von der Polizei in Hertford für dich angerufen«, sagte Grace dann, nachdem ihr die Stille doch zu unbehaglich wurde und hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt.

Jack sah von seiner Tasse auf, ohne, dass ein wirkliches Erstaunen in seinen Augen zu erkennen war. »Ja, ich weiß. Die haben mich im Büro erreicht.«

»Und?«