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Aber das Fleisch ist schwach ...Jessie ist jung, attraktiv und gerade in ihr erstes eigenes Apartment im Londoner Stadtteil Ealing gezogen. Ausgerechnet dort treibt seit Kurzem ein sadistischer Frauenmörder sein Unwesen. Er vergewaltigt und erdrosselt seine weiblichen Opfer mit äußerster Brutalität.Aber Jessie versucht, nicht daran zu denken. Auch nicht daran, dass sie genau in das Beuteschema des ›Ealing Stranglers‹ zu fallen scheint. Das zumindest behauptet ihr Nachbar, Mister Forsythe.Aber warum weiß dieser unheimlich wirkende Mann überhaupt so viel über die Methoden des gesuchten Killers? Ist er am Ende vielleicht selbst die Bestie?
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Seitenzahl: 335
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»Frischfleisch«
© 2014 J.P. Conrad, alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung und Satz: Perpicx Media Design, www.perpicx.de
Veröffentlichung:
© 2024 Suspense Verlag
Höhenstraße 18, D-61267 Neu-Anspach
E-Mail: [email protected]
Keine Illusionen
Er hatte fieberhaft und mit kindlicher Ungeduld dem Abend entgegen gesehnt. Nun war er endlich da und Greg rutschte, unruhig vor Freude, auf seinem Stuhl hin und her. Sie saßen gemeinsam, in absoluter Harmonie vereint, am Esstisch, in dessen Mitte die prächtige Gans auf einem blitzblank polierten Silbertablett thronte. Ihre üppige Füllung aus Salbei, Zwiebeln und Brot verbreitete ihren unverwechselbaren Duft im Raum und dem ganzen, festlich geschmückten Haus. Greg lief das Wasser im Mund zusammen. Aber noch mehr als die Vorfreude auf das bevorstehende Festmahl, überwog das Glücksgefühl in ihm, als er in die strahlenden Gesichter seiner Eltern sah, die seinen Blick mit unendlich viel Güte und Liebe in den Augen erwiderten. Er wollte jede Sekunde dieses Augenblicks genießen, als wäre es die letzte. Das alte Radio, das noch von seinem Großvater stammte, untermalte die Stimmung mit leisen Weihnachtsklängen. Es war perfekt.
Greg überlegte, wann er jemals zuvor in seinem Leben ein solches Gefühl der Zufriedenheit verspürt hatte. Es war lange, her, sehr lange. Es war zu Weihnachten gewesen. Damals. Als seine Eltern noch lebten.
Erschrocken von dieser Erkenntnis, sah Greg auf. Die Bilder von Mutter und Vater, die auf der anderen Seite des Esstischs, für ihn so nah und doch unerreichbar, saßen, verblassten. Ebenso die warmen, weihnachtlichen Farben und Lichter. Der Duft der Gans wich einem feuchten, stickigen Geruch von Moder. Die Musik blieb, doch sie war plötzlich gar nicht mehr weihnachtlich. Greg stand auf und taumelte benommen, rückwärts. Messer und Gabel fielen scheppernd zu Boden.
Ein Geräusch weckte ihn aus seinem unruhigen Schlaf. Es war das Klimpern von Schlüsseln. Er vernahm jetzt außerdem die mit stetigem Rauschen durchsetzte Musik. Gerade spielten die letzten Takte der ›Baker Street‹ von Gerry Rafferty. Greg blinzelte. Das Licht im Raum war angegangen; das bedeutete, man wollte wieder etwas von ihm. Er würde jetzt sicher kein Essen bekommen, denn das hatte er schon erhalten, bevor er eingeschlafen war. Eine Portion Spaghetti mit Fleischbällchen aus der Dose war es diesmal gewesen. Die Verpflegung war ebenso schlecht, wie die Situation, in der er sich befand: gefangen in einem schalldichten Raum, in dem es nicht mehr gab, als ein altes Radio, das hier nur mit Mühe einen Sender empfangen konnte; eine chemische Toilette und eine dünne Matratze auf dem klammen Kellerboden. Seit zehn Wochen hockte er nun schon in diesem Loch und war von einem aufrecht gehenden Individuum zu einem am Boden kauernden Tier verkommen.
Die schwere Feuerschutztür wurde geöffnet und ein, das Zwielicht der schwachen Glühbirne überlagernder, künstlicher Lichtschein legte sich auf den Boden. In dessen Mitte warf eine Person ihren harten, schwarzen Schatten, der sich bis auf Gregs Gesicht legte.
»Es gibt Arbeit für dich!«, sagte die ihm vertraute Stimme, die ihn mit jeder Silbe erschaudern ließ.
Greg wusste inzwischen, was ›Arbeit‹ hier unten bedeutete. Er blinzelte erneut. Seine Augen waren das helle Licht nicht mehr gewöhnt und so konnte er das Gesicht vor sich nur als dunklen Fleck wahrnehmen. Ihm wurden pro Tag fünf Stunden elektrisches Licht zugestanden, die mittels einer Zeitschaltuhr geregelt waren. Es war aber so diffus und seine triste Umgebung ihm mittlerweile so vertraut, dass es kaum lohnte, überhaupt die Augen zu öffnen.
Das Tablett wurde vor ihm auf den Boden gestellt; wieder einmal, und er besah sich die Dinge, die sich darauf befanden. Es war alles da. Und auch ein neues Magazin. Greg zögerte.
Die Person vor ihm stemmte die Hände in die Hüften.
»Ich warte!«, sagte die Stimme scharf.
»Wie lange wollen Sie mich noch hier behalten?«, fragte Greg, inzwischen wie aus einem Automatismus heraus. Nach über zehn Wochen hatte er im Grunde kaum noch Hoffnung, jemals wieder das Tageslicht zu erblicken.
»So lange, wie es eben dauert. Und jetzt los!«
Er wusste, dass es keinen Sinn machte, sich zu sträuben oder zu versuchen, eine Diskussion zu beginnen. Er hatte sich beim ersten Mal geweigert. Und das hatte schmerzhafte Konsequenzen gehabt: Mit einer Beißzange war ihm der linke kleine Finger gebrochen worden. Er war unter höllischen Schmerzen schief wieder zusammengewachsen und Greg würde ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr richtig bewegen können; vorausgesetzt, er würde überhaupt wieder ein richtiges Leben führen können. Sein Dahinvegetieren in diesem dunklen Keller war nicht mal einer Ratte würdig. Nach seiner Verkrüppelung hatte er sich dem Willen seines Entführers gefügt. Und er würde es jetzt auch wieder tun. Noch ein paar Tage möglicherweise; dann würde er ernsthaft darüber nachdenken, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Vielleicht, indem er kräftig mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Eine andere Möglichkeit sah er nicht. Hungerstreik fiel für ihn als Option aus; sein Peiniger würde perfide Mittel und Wege finden, ihn am Leben zu erhalten. Damit er seine Aufgabe erfüllen konnte.
War das die Strafe für seine Sünden? Immer und immer wieder hatte Greg sich das gefragt. Er war kein gläubiger Mensch, hatte seit seiner Kindheit, seit den sonntäglichen Andachten in Begleitung seiner Eltern, nie wieder einen Fuß in eine Kirche gesetzt. Aber er hatte damals gelernt, dass Gott alle Sünden bestraft. War es also Gott, der ihn in diese Lage gebracht hatte; als Vergeltung für seine Gier? Oder war es einfach nur ungeheures Pech? Zumindest bereute Greg das, was er getan hatte, inzwischen zutiefst. Doch wen kümmerte das schon hier in seinem Verlies?
Er rutschte etwas nach vorne, so dass die Glieder der mächtigen Metallkette leise klirrten, die sein rechtes Bein über eine Eisenmanschette mit einem Ring an der Mauer verband. Die beiden großen Vorhängeschlösser, die sein Verbleiben sicherstellten, waren so unnachgiebig, wie sein Peiniger selbst. Greg nahm das Magazin und betrachtete es sich. Unter normalen Umständen wäre es ihm sehr leicht gefallen, die ›Arbeit‹ zu verrichten, die von ihm verlangt wurde, und er hätte es nicht gebraucht. Aber unter Zwang, nur mit dem Funken Hoffnung, sich dadurch aus seinem Gefängnis befreien zu können, war das eine gänzlich andere Sache.
»Drehen Sie sich weg!«, forderte er erschöpft.
»Wie du willst. Wenn es dann schneller geht.«
Greg begann mit zitternden Händen mit dem Ritual; es war das vierte Mal für ihn. Es war mühsam und alles andere als schön; einfach nur ein mechanischer Akt. Und trotz des ihm großzügig zugestandenen Hilfsmittels dauerte es fast zehn Minuten, bis er soweit war.
»Fertig«, sagte er und rutschte schnell auf seiner Matratze beschämt an die Rückwand des Kellerraums zurück. Greg kam sich so unendlich erniedrigt vor. Aber das kümmerte hier niemanden. Er tauchte seine Hände in die kleine mit Wasser gefüllte Schale neben sich, die man ihm zum Waschen zugestanden hatte, und rieb sich die Finger sauber. Es war mehr ein symbolischer Akt der Reinigung; gegen seinen eigenen Gestank konnte er damit nichts ausrichten, auch wenn er einigermaßen saubere Sachen trug. Er erhielt, neben der Möglichkeit, sich einmal wöchentlich zu rasieren, auch frische Wechselkleidung, während die anderen Stücke gewaschen wurden. Aber auch wenn sie Greg verhüllen, fühlte er sich trotzdem nackt und bloßgestellt.
Ohne wirklich Notiz davon zu nehmen, beobachtete er mit glasigen Augen, wie das schmale, transparente Plastikgefäß mit einem Schraubdeckel versehen und anschließend in der kleinen Styroporbox verstaut wurde.
»Heute Abend gibt es dafür eine Scheibe Brot extra.« Die Worte klangen in ihrer überschwänglichen Güte wie eine schallende Ohrfeige.
Mit dem Tablett in der Hand, entfernte sich die durch das Licht scherenschnitthaft wirkende Gestalt wieder und schloss die Tür.
Männer!
Was machte sie bloß jedes Mal wieder falsch? Es konnte doch nicht immer nur an den Männern liegen, dass Hannah sich so unzufrieden fühlte und ständig den Wunsch hatte, sich zu verbessern. Waren ihre Ansprüche derart hoch, dass jeder Kerl, der nicht von selbst das Handtuch warf, von ihr in den Wind geschossen wurde?
Hannah hörte ihm schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu, aber Kenny redete weiter auf sie ein. Sein Ton und seine Gesten waren aggressiv. Hatte sie das nötig? Musste sie sich das gefallen lassen? Sie war doch ein freier Mensch, der über sich selbst bestimmen konnte.
»He, hör mir gefälligst zu!«, fauchte Kenny erregt.
»Ich habe keine Lust dazu«, entgegnete Hannah mit provozierender Gleichgültigkeit. »Es ist alles gesagt! Also verschwinde endlich!« Sie deutete ein weiteres Mal auf die Wohnungstür.
Kenny rührte sich nicht vom Fleck. »Du kannst mich nicht einfach rausschmeißen.«
Sie lachte humorlos. »Oh, doch, das kann ich. Jetzt verzieh dich, bevor ich dir in deine kleinen Eier trete!« Sie schrie nun. Er hatte es tatsächlich geschafft, dass sie die Fassung verlor, obwohl sie sich auf das Spiel eigentlich nicht hatte einlassen wollen.
»Du bist nichts weiter als eine billige Schlampe!«, brüllte er zurück. Eine Ohrfeige traf ihn gegen Wange und Nase. Wie aus einem Reflex heraus holte Kenny sofort mit seiner Hand zum Gegenschlag aus, hielt aber inne.
»Na los, schlag zu! Dann wären wir ganz unten angekommen«, sagte Hannah und beugte sich provokativ nach vorne. »Du bist ein so erbärmlicher Schlappschwanz.«
Kennys Kopf war feuerrot. »Besser ein Schlappschwanz, als eine quer durch alle Betten vögelnde Bitch! Jetzt sag mir schon seinen Namen!«
»Das geht dich nichts an. Schon längst nicht mehr. Was genau hast du an ›Es ist aus‹ nicht verstanden?«
Er erwiderte nichts und begann erneut, aufgebracht vor ihr auf und ab zu laufen.
»Ich habe mehr als ein halbes Jahr Geduld bewiesen, Kenny, wirklich. Aber ein Mann muss für mich mehr können, als gut im Bett sein.«
Er blieb stehen und sah sie aus dünnen Augenschlitzen an. »Zum Beispiel?«
»Er muss verantwortungsbewusst sein. Und eine Familie ernähren können.«
Kenny lachte verächtlich. »Du klingst, als wärst du schon vierzig oder so!«
»Besser, als sich mit Mitte zwanzig noch wie ein pubertierendes Kind aufzuführen«, konterte sie und wischte sich eine der blonden Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht.
»Hör auf, so mit mir zu reden, sonst …,Er hob wieder drohend die Hand.
»Sonst was? Schlägst du mich? Wie meine Vorgängerin?«, fragte sie anstachelnd. »Sind das deine Argumente? Mehr fällt dir nicht ein?«
»Ich würde an deiner Stelle lieber das Maul halten!«
»Verpiss dich endlich! Und lass dich nie wieder hier blicken!« Ihr fiel etwas ein. Sie ging zum Tisch und nahm die kleine Schachtel mit der teuren Markenuhr, die Kenny ihr mitgebracht hatte. Sie drückte sie ihm barsch in die Hand.
»Da! Die kannst du zurück bringen. Du wirst das Geld sicher brauchen!« Noch so eine Dummheit von Kenny. Das Ding hatte sicher an die fünfzig Pfund gekostet und sie hatte sich gefragt, wie er die überhaupt hatte aufbringen können. Ohne Job würde er diese unsinnige Ausgabe so schnell nicht kompensieren können. Aber was kümmerte sie das jetzt überhaupt noch?
Kenny blieb stumm. Er spuckte ihr vor die nackten Füße auf den Teppich. Dann drehte er sich um und stapfte zur Wohnungstür. Mit einem lauten Knall ließ er sie hinter sich zu fliegen.
Gott sei Dank! Hannah ließ sich erleichtert auf ihr Bett sinken. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und atmete tief durch. Nein! Wehe, du weinst jetzt! Nicht wegen diesem Arschloch.
Natürlich lag Kenny mit seiner Vermutung richtig, dass sie ihn hintergangen hatte. Sie hatte sich bereits zweimal mit diesem Typen getroffen, den sie auf einer Party kennengelernt hatte. Er war zwar kaum weniger frech und flippig als Kenny, hatte aber zumindest etwas auf dem Kasten und eine feste Arbeitsstelle. Und er war längst nicht so leicht reizbar.
Hannah war versucht, ihn gleich anzurufen, entschied sich aber dagegen. Noch war der Typ nur ein Flirt und nicht von ihr auf die Stufe gehoben worden, auf der er sich ihre Sorgen und Nöte anhören durfte. Sie entschied stattdessen, ihre beste Freundin Violet anzurufen. Mit ihr konnte sie über alles sprechen und sie war auch schon über ihren Plan, Kenny in den Wind zu schießen, im Bilde.
Hannah hielt Ausschau nach ihrem Handy. Sie fand es auf ihrem Schminktisch und wählte Violets Nummer. Doch sie erreichte sie nicht; es ging nur ihre Mailbox dran. Scheiße, sie arbeitet ja noch, fiel ihr ein, als sie auf die Uhr sah. Es war kurz vor sechs. Noch einmal schaute sie auf das Display und die Liste mit den zuletzt angewählten Nummern. Eine davon war von ihm, dem Flirt. Ach was soll‘s, dachte sie sich und rief ihn an.
Das Gespräch mit ihrem Flirt hatte Hannah überraschenderweise sehr gut getan. Er hatte es geschafft, sie zum Lachen zu bringen. Und das war in ihrer aktuellen Gemütsverfassung gar kein leichtes Unterfangen.
Vielleicht ist er der Richtige? Wie oft hatte sie sich diese Frage schon gestellt! Es war naiv, sie immer wieder zu stellen und zu erwarten, sie schon nach ein paar Wochen mit einem eindeutigen ›ja‹ beantworten zu können. Aber was erwartete sie wirklich von einer Beziehung? ›Glücklich bis ans Lebensende‹ klang gleichfalls reizvoll und vollkommen unrealistisch. Über ihre Grübelei, den Groll auf Kenny und die Vorfreude auf das nächste Treffen mit ihrem Flirt, war Hannah müde geworden. Sie verbrachte den Rest ihres freien Tages im Bett, sah fern und stopfte ungesundes Essen in sich hinein. Irgendwann schlief sie dann ein.
Als Hannah aufwachte, fiel ihr erster Blick auf die leuchtend roten Digitalziffern ihres Radioweckers. Sie bildeten drei Nullen und eine vier. Benommen setzte sie sich auf und spürte den Druck auf ihrer Blase. Schwerfällig stieg sie aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Dabei bemerkte sie, dass sie es nicht einmal geschafft hatte, ihre Klamotten auszuziehen. Was für ein Leben!
Als sie gerade auf der Toilette hockte und drohte, wieder einzuschlafen, durchbrach ein leises Geräusch die Stille. Hannah sah zur geschlossenen Badezimmertür. Sie glaubte, einen elektrischen Bohrer oder etwas Ähnliches zu hören. Der surrende, helle Ton schien seinen Ursprung hinter der Tür zu haben. Quatsch, das muss der Nachbar von gegenüber sein.
Nachdem sie die Spülung betätigt hatte, betrachtete sie sich kurz im Spiegel. Igitt! Das bis doch nicht du! Sie stellte zudem fest, dass sich noch etwas Schokolade von ihrem Frustgelage in ihrem Mundwinkel befand.
Als das Rauschen des sich mit Wasser füllenden Spülkastens verstummte, hörte Hannah ein neuerliches Geräusch. Eines, das ihr den Atem stocken ließ. Wieder wanderte ihr Blick, wie in Zeitlupe, zur Badezimmertür. Dahinter waren Schritte zu vernehmen; ganz deutlich. Sie hörte die Dielen knarren. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie lauschte gebannt. Nein, sie irrte sich nicht. Da waren Schritte direkt hinter der …
Die Badezimmertür sprang auf. Hannah taumelte erschrocken rückwärts und stieß gegen das Regal mit den Parfums und Pflegeprodukten. Einige davon fielen um und schepperten auf die Glasböden. Im selben Augenblick stürzte eine schwarze Gestalt auf sie zu. Hannah hatte keine Zeit mehr, zu schreien.
Jessie
Es waren beunruhigende Zeiten. In Ealing, im gleichnamigen Londoner Borough, trieb ein sadistischer Mörder sein Unwesen. Er hatte bereits drei junge Frauen vergewaltigt und erdrosselt. Die Polizei stellte alles auf den Kopf, fand aber keine brauchbaren Spuren. Die Angst in der Nachbarschaft der Blaneystreet wuchs gleichermaßen, wie ihr Vertrauen in die Behörden schwand.
Ausgerechnet während dieser Zeit zog Jessie in ein möbliertes Apartment in der Nummer neunundsiebzig. Sie hatte den Mietvertrag bereits unterschrieben, als die erste Leiche gefunden wurde; aber ihr Vertrag sah keine Klausel vor, nach der sie aufgrund eines Nachbarn tötenden Irren aus ihm wieder aussteigen konnte. Außerdem war die Wohnung genau das, was Jessie gesucht hatte: Nicht zu weit vom Stadtzentrum entfernt, aber auch nicht zu nah. Nicht zu klein und nicht zu groß. Mit Möbeln, die weder alt und spießig, noch hypermodern und kalt waren. Und mit einer tollen Aussicht über die Dächer der Nachbarhäuser, die alle etwas niedriger zu sein schienen, als die Nummer neunundsiebzig.
In ihrem Haus wohnten insgesamt sieben Parteien; zwei auf jeder Etage, und eine unter dem Dach. Diese Partei war sie, Jessie Walsh. Sie stammte aus Loughton, einem kleinen Ort, etwa eine halbe Stunde von London entfernt. Eine Stadt der Pendler. Eine Stadt der Langweiler. Die größte Errungenschaft, die Loughton zu bieten hatte, war eine eigene Tageszeitung; der Loughton Courier. Ansonsten gab es dort nichts, das vierundzwanzigjährige Frauen wie Jessie Walsh dort hielt. Sie wollte nahe am pulsierenden Leben der großartigen Stadt sein, in der sie nun endlich eine feste Stelle als Fitnesstrainerin in einem kleinen, aber feinen Club ergattert hatte.
»Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte Thomas Walsh seine Tochter, während er die nächste Zimmerpflanze aus dem Kofferraum seines Vans hievte.
Eine überflüssige Frage. Sie waren bereits seit fast einer Stunde dabei, Jessies Habseligkeiten in den vierten Stock zu schleppen und jetzt kam ihr Vater wieder mit Grundsatzentscheidungen.
»Dad!«, zischte sie gespielt wütend.
»Sorry, Liebes. Aber nach alledem, was in der Zeitung stand …«
»Wir hatten das doch jetzt schon die ganze letzte Woche besprochen. Ich bleibe hier und fertig!«
»Du sitzt hier auf dem Präsentierteller für diesen Perversen«, raunte ihr Vater und versuchte, die Erde, die er gerade versehentlich auf den Gehweg gekippt hatte, mit den Händen aufzufegen.
»Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen. Und wenn du mir erst das tolle, supersichere Vorhängeschloss eingebaut hast, das du ja unbedingt noch im Baumarkt kaufen musstest, kann mir gar nichts mehr passieren.«
Sie liefen erneut hintereinander die breiten Stufen der alten Holztreppe nach oben. Sie knarrten leise bei jedem Schritt. Die neunundsiebzig war zwar schon in die Jahre gekommen, aber gut in Schuss gehalten worden. Die rotbraune Fassade mit ihren verzierten, weiß getünchten Steinsimsen und den kleinen Rundbögen über den Fenstern, zeugte stolz von einer Zeit, in der Architektur nicht nur zweckmäßig, sondern auch ästhetisch ansprechend war. Die Flure und das Treppenhaus waren in hellen, warmen Farben gestrichen, die schwarz-weißen Fliesen im Eingangsbereich strahlten einen von stetiger Pflege erhaltenen Glanz aus. Die wuchtige Treppe aus Eichenholz mit ihren breiten Stufen und dem schweren bordeauxroten Läufer gab dem einfachen Mietshaus einen ehrwürdigen Touch. Die Zargen der Wohnungstüren waren mit geschwungenen Intarsien verziert; etwas, für das sich heute niemand mehr die Zeit nehmen, geschweige denn Geld ausgeben würde. Die messingfarbenen Klingelschilder waren penibel mit den Namen des jeweiligen Mieters oder der Mieter graviert.
Man hätte die Atmosphäre durchaus als spießig bezeichnen können; aber der Eindruck täuschte, das wusste Jessie bereits von der Maklerin. Neben alteingesessenen Mietern wohnten auch mehrere junge Leute im Haus. Aber Jessie hatte auch nichts gegen ein bisschen Spießigkeit. Sie würde ihr vielleicht etwas bei dem von ihr geplanten Lebenswandel von der jungen Partygöre zur erwachsenen Arbeitnehmerin helfen. Und wenn sie sich richtig ins Zeug legte, würde sie bald die Miete alleine finanzieren können; ohne Zuschuss ihrer Eltern.
Die Wohnung im Dachgeschoss der Nummer neunundsiebzig, in der sie nun einzog, war schließlich auch kein hypermodernes Loft. Auf ihren knapp fünfzig Quadratmetern herrschte ebenso die altbackene Spießigkeit in Form alter Holzböden, klobiger Rippenheizungen und überhoher Decken vor, wie im Rest des Hauses.
Jessie trug einen Wäschekorb mit Bettzeug vor sich und ihr Vater den Ficus, der nun mit weniger Erde auskommen musste, als noch in ihrem Zimmer in Loughton. Jessies Blick fiel im Vorbeigehen auf die Briefkästen. Ihr eigener war inzwischen repariert und ein neues Schloss eingebaut worden, wie sie feststellte. Die Maklerin hatte ihr während der Besichtigung erzählt, dass er von einem unbekannten Rowdy aufgebrochen worden war.
»Das Schloss baue ich dir auf jeden Fall heute noch ein. Sonst hat deine Mutter keine ruhige Nacht«, sagte Thomas Walsh.
Ja, klar. Mum hat keine ruhige Nacht. Lügner. »Okay, von mir aus.«
Sie waren wieder vor ihrer Wohnung angekommen und Jessie hörte ihren Vater stöhnen. Sie selbst war absolut fit; auch noch, nachdem sie nun bereits neunmal diesen Weg gegangen war.
»Willst du dich nicht vielleicht mal einen Moment hinsetzen?«, bot sie an, doch ihr Vater schüttelte, sich den Schweiß von der Stirn wischend, den Kopf.
»Erst machen wir das hier fertig. Ich will das Auto nicht offen stehen lassen.«
»Wie du willst, Dad.« Sie machte sich wirklich Sorgen um ihren Vater. Er war zwar erst zweiundfünfzig, hatte aber schon einen recht ordentlichen Bauchansatz von zu wenig Sport und zu viel gutem Essen. Seine Kondition hätte in jedem Fall viel besser sein können. Jessie hatte ihm sogar mehrfach angeboten, mit ihm zu trainieren. Aber die Trägheit hatte hämisch lachend über Thomas Walsh triumphiert. Das einzig Positive, das ihr Vater für seinen Körper tat, waren die langen Spaziergänge und Wanderungen mit ihrer Mum an den Wochenenden.
Sie liefen den Weg durchs Treppenhaus noch zweimal, dann war, nach dem Anhänger, die große Ladefläche des Vans ebenfalls leer geräumt.
»Hast du einen Kaffee für deinen alten Herren?«, fragte Thomas Walsh, nachdem er sich erschöpft auf das noch mit Folie stramm umwickelte Sofa hatte fallen lassen.
Jessie verzog peinlich berührt das Gesicht. »Oh, die Maschine ist hier noch irgendwo in einer der Kisten.« Sie sah sich im Wohnzimmer um, wo ein Dutzend Pappkartons darauf wartete, von ihrem Inhalt befreit zu werden. »Und ich glaube, Pulver und Filtertüten muss ich erst noch besorgen.«
Ihr Vater nahm die Flasche Mineralwasser vom Couchtisch und trank einen großen Schluck daraus. Dann sagte er: »Mum und ich schenken dir so eine Kapselmaschine.«
»Oh, cool. Danke.«
Thomas Walsh klopfte sich voller Tatendrang auf die Schenkel. »So. Dann wollen wir uns mal um das Schloss kümmern!« Er befreite das fabrikneue Vorhängeschloss aus seiner transparenten Plastikverpackung und faltete den kleinen Zettel mit der Einbaueinleitung auseinander. »Aha. So wollen die das haben. Na ja.«
Er wirkte unzufrieden und Jessie musste grinsen. Nach Meinung ihres Vaters waren immer alle Einbau- und Bedienungsanleitungen blödsinnig formuliert.
»Gib den Leuten von Master Security eine Chance, Dad!«
Er ging zur Wohnungstür und öffnete sie. Prüfend nahm er Zarge und Türblatt in Augenschein. »Hm. Ja, das müsste gehen. Huch!«
Jessie fuhr herum.
»Oh, entschuldigen Sie! Ich wollte Sie nicht erschrecken!«
Eine Frau, Jessie schätzte sie auf Anfang dreißig, stand vor der Tür.
»Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«, fragte Thomas Walsh. Seine Tochter kam näher.
Die dunkelhaarige, Brille tragende Frau mit auffallend heller Haut lächelte zaghaft. »Ich bin Mila Potter, die Nachbarin unter Ihnen«, stellte sie sich vor. Sie war nicht eben hübsch, zumindest nicht nach Jessies Maßstäben, aber ihr Gesicht strahlte etwas sehr sympathisches aus. Ihre Erscheinung wirkte äußerst seriös. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug, eine weiße Bluse und graue Spangenpumps.
»Oh, hallo. Kommen Sie doch rein«, bat Jessie freundlich, woraufhin ihr Vater zur Seite trat.
»Danke.« Mila Potter sah sich sofort im Raum um. »Ach herrje, ich störe Sie ja noch mitten beim Auspacken.«
Jessie winkte ab. »Das macht doch nichts.« Sie gaben sich die Hand. »Hallo, Jessica Walsh. Freut mich. Und das ist mein Vater.«
Dieser trat ein Stück vor, nahm das Schloss in die linke Hand, wischte sich die rechte am Hosenbein ab und reichte ihr sie. »Hallo. Walsh.«
»Ich hatte gehört, dass Sie hier einziehen. Aber ich dachte, Sie wären schon weiter.« Als sie ihre eigenen Worte hörte, legte sie sich peinlich berührt die Hand vor den Mund. »Oh, Verzeihung«, sagte sie und wurde leicht rot. »So war das natürlich nicht gemeint.«
Jessica entkräftete die Verlegenheit mit einem Lächeln, als ihr Vater kommentierte:
»Mehr als arbeiten können wir nicht.«
»Dad!« Jessie stampfte leicht mit dem Fuß auf und warf ihm einen rügenden Blick zu.
»Ja, also, jedenfalls wollte ich Sie hier in der Nummer neunundsiebzig herzlich willkommen heißen!«
»Wo ist denn der Kuchen?«, fragte Thomas Walsh bierernst. »Normalerweise bringen doch die Nachbarn bei solchen Gelegenheiten immer was mit. Meistens einen Kuchen.«
Jessie schüttelte den Kopf. »Sie müssen meinen Vater entschuldigen. Er hat wohl seine Manieren unten im Auto gelassen.«
»Hat er nicht. Aber er hat Hunger«, kam seine brummende Antwort.
Mila schien das alles sehr peinlich zu sein. Sie sah verschämt zu Boden. »Na ja, ich wollte ja eigentlich auch was vorbei bringen. Aber mit den ganzen Allergien, die die Leute heute haben, weiß man ja nie.«
»Oh, mein Vater hat so was nicht. Allergien waren noch gar nicht erfunden, als er geboren wurde. Der kann alles essen. Und tut es meistens auch.«
Angesichts dieser Spitze gegen ihn, streckte Thomas Walsh seiner Tochter die Zunge raus, was die Nachbarin aber nicht sehen konnte.
»Nur ich darf keine Nüsse essen«, erklärte Jessie dann schulterzuckend. »Sonst kann man mich gleich in die Notaufnahme fahren.«
»Ah, gut zu wissen. Dann werde ich schon mal keinen Nusskuchen backen«, entgegnete Mila lächelnd.
»Sie brauchen sich für uns überhaupt keine Mühe zu machen, wirklich nicht.«
»Ach, ich denke schon, dass ich Ihnen zum Einzug etwas backen werde. Ihr Vater hat da schon recht, das gehört dazu.« Sie sah Thomas Walsh freundlich an; dieser nickte zustimmend.
»Welches Vögelchen hat Ihnen denn eigentlich gezwitschert, dass meine Tochter hier einzieht?«, wollte er dann wissen. Ein Hauch von Argwohn lag in seiner Stimme.
»Das war Mrs Brixton.«
Jessie nickte verstehend. »Ah, die Maklerin.«
»Ja. Wir sind befreundet. Sie glauben gar nicht, was man so alles von ihr erfährt. Die kommt viel rum hier in der Gegend.«
Eine Tratschtante, soso, dachte Jessie.
Thomas Walsh sah sich um. »Wer hat denn eigentlich vorher hier gewohnt?«
Die Frau wurde plötzlich ernst. »Ach, das wissen Sie gar nicht?«
Jessie zuckte mit den Schultern. »Nein. Ich weiß nur von Mrs Brixton, dass das Apartment recht kurzfristig frei geworden ist.«
Mila Potter verzog das Gesicht. »Das kann man wohl sagen. Ihr Vormieter ist nämlich spurlos verschwunden.«
Robin
Robin Gibb war nicht der Robin Gibb, den man sofort mit diesem Namen assoziierte. Er war weder Sänger bei den Bee Gees, noch sonst irgendwie berühmt. Er war Webdesigner und betrieb eine kleine Zwei-Mann-Agentur, die er sich gemeinsam mit seinem Kompagnon Dean aufgebaut hatte. Sie hatte ihren Sitz in Robins Apartment im zweiten Stock der Blaneystreet neunundsiebzig, für die Robin das Wohnzimmer zu einem Büro umfunktioniert hatte.
»Und, wie sieht sie aus?«, fragte Dean Yeun neugierig.
Robin sah von seinem Mac auf. »Wie sieht wer aus?«
»Na, die neue aus dem Dachgeschoss?«
Robin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, hab sie noch nicht zu Gesicht bekommen.« Ein Gähnen überkam ihn und er hielt sich die Hand vor den Mund.
»Wieder spät geworden gestern, was?«
Robin nickte.
»Mila?«
Dean Yeun erhielt ein neuerliches Nicken als Antwort und schnalzte mit der Zunge. »Dass ihr immer noch so oft zusammen hängt.«
»Wir verstehen uns eben. Man kann echt gut quatschen mit ihr.«
Der junge Asiate überlegte kurz und vollführte dann eine schwungvolle Drehung mit seinem Bürostuhl. »Vielleicht ist sie ja so ein Modeltyp. Was meinst du?«
Robin sah ihn spöttisch an. »Mila?«
»Quatsch. Die neue.«
»Keine Ahnung. Vielleicht sieht sie aber auch aus wie du. Die Arme.«
Dean hob die Hand. »Hey! Ich habe ein klassisches Profil«, konterte er mit gespielter Verärgerung.
»Klassisches Pfannkuchengesicht, vielleicht.«
»Keine Diskriminierung bitte, ja?«
Robin setzte eine ernste Miene auf. »Können wir vielleicht jetzt weiterarbeiten? Diese Website für Headmans & Sprouse baut sich nicht von alleine.«
Doch sein Gegenüber ließ nicht locker. Irgendwie war sein Kompagnon Dean an diesem Tag aufgedrehter als sonst. Ob vielleicht ein Mädchen dahinter steckte? Dann fiel es Robin ein: »Warum eigentlich dieses Interesse an der Neuen? Hattest du nicht gerade neulich erst angedeutet, da würde was mit einer aus der Nachbarschaft laufen?«
Ein Seufzen. »Das zieht sich wie Kaugummi. Sie sieht im Moment in mir nur den Seelentröster.«
»Das tut mir ja so leid für dich, ehrlich«, entgegnete Robin sarkastisch.
Dean stand auf und setzte sich dann auf Robins Schreibtischkante. Dieser bemerkte jetzt erst den strengen Nikotingeruch, den seine Klamotten, wieder einmal, verströmten und verzog das Gesicht.
»Dein Besuch ist immer noch da, wie ich rieche.«
»Ja. Scheiße, der qualmt echt viel. Kann ich ihm aber nicht verübeln. Ich hatte dir ja schon gesagt, dass er viel Stress gehabt hat, in letzter Zeit. Aber Kumpel ist Kumpel.« Er beugte sich etwas vor und drängte sein Gesicht grinsend in Robins Sichtfeld. »Ich will alles über sie wissen okay? Wie sie aussieht, ob sie einen Freund hat, und so weiter.«
Robin schaute bereits wieder auf den noch mit Syntaxfehlern behafteten PHP-Code auf dem Monitor vor sich, als er antwortete: »Du scheinst es ja wirklich dringend nötig zu haben!«
»Na ja, über fünf Wochen kein Sex mehr. Da wird man halt ein bisschen hibbelig.«
»Und wohl auch weniger wählerisch, was? Es könnte genauso gut eine siebzigjährige Oma sein, die in die Wohnung gezogen ist.«
Dean verzog das Gesicht. »Quatsch! Welche siebzigjährige Oma zieht denn freiwillig in den obersten Stock? Es war doch die Dachwohnung, oder?«
»Ja. Dean, bitte, ich muss hier fertig werden!« Robins Ton wurde bestimmter.
Das Telefon klingelte und beide schwangen sich zur Tischmitte, um abzunehmen. Dean war schneller und grinste frech. »Zu langsam, alter Mann«, flüsterte er, die Hand über die Sprechmuschel haltend. Dann begrüßte er den Anrufer.
Dem einseitigen Gespräch, das folgte, konnte Robin entnehmen, dass es einer ihrer Kunden war. Er wollte sich gerade wieder seiner Arbeit widmen, als es an der Wohnungstür läutete. Einen leisen Seufzer ausstoßend, sprang er auf. Als er die Tür öffnete, schaute er in das freundlich lächelnde Gesicht einer jungen, blonden und gut gebauten Frau. Sie trug eine Latzhose aus Jeansstoff, darunter ein weißes Shirt mit ausgefransten Ärmeln.
»Ja?«
»Hallo. Ich bin Jessica Walsh, ihre neue Nachbarin von ganz oben.« Sie deutete mit dem Finger zur Decke.
»Hi. Robin Gibb.«
Sie gaben sich die Hand. Jessica Walshs Händedruck war sanft und weich. Sie schaute ihn leicht verdutzt an.
»Ja, ich weiß. Aber ich bin’s nicht, wie man sieht«, entgegnete Robin locker. Er war belustigte Blicke und dumme Kommentare wegen seines Namens gewöhnt.
Jessica Walsh lachte fröhlich. »Aha, ok. Ich wollte Sie eigentlich einladen, ganz spontan. Für heute Abend. Ich gebe eine kleine Einweihungsparty bei mir.«
»Oh.«
»Wenn Sie Lust haben, zu kommen? Gerne auch mit Begleitung. So ab sieben.«
»Klingt gut. Ich komme gerne«, sagte Robin und überlegte, ob er es riskieren sollte, seinem Kumpel Dean davon zu erzählen.
»Na, dann sieht man sich. Ich freue mich. Bis dann.«
Sie machte kehrt und lief die Treppe mit sportlichen Schritten wieder hinauf. Robin sah ihr noch einen Moment gedankenversunken nach, wobei sein Blick an ihrem Po hängen blieb, der selbst durch die etwas zu weite Latzhose einen guten Eindruck machte. Dann schloss er die Tür.
»War was?«, fragte ihn Dean, der inzwischen das Telefonat beendet hatte, als er wieder das Büro betrat.
Robin sah ihn grinsend an. »Ich habe gute Neuigkeiten für dich«, sagte er.
Die Party
»Danke noch mal für die Einladung«, sagte Mila, während Jessie die Tür hinter ihr schloss. Sie stellte fest, dass ihre Nachbarin sich umgezogen hatte: Mila trug nun weniger formelle Kleidung; eine Jeans und eine schwarze Bluse.
»Ach, ich dachte mir, ich bringe das mit der Einweihungsfeier gleich hinter mich. Solange die meisten Sachen noch eingepackt sind, kann auch nichts kaputt gehen.« Jessie nahm das Tablett entgegen, auf dem unter Frischhaltefolie braune Muffins zu erkennen waren. »Danke, aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«
Mila winkte ab. »Die waren schnell gemacht. Außerdem hatte dein Vater ja darauf bestanden.« Sie sah an Jessie vorbei. »Wo ist er eigentlich?«
Jessie stellte das Tablett auf den großen Esstisch an der Fensterfront neben die Pappbecher und die Getränkeflaschen. »Der Einbau des Sicherheitsschlosses hat ihn so verausgabt, dass es ihn nach Hause in sein Bett gezogen hat.« Sie trat an Mila heran und flüsterte: »Ist mir auch ganz recht so.«
»Ich fand ihn sehr nett«, entgegnete Mila schulterzuckend, woraufhin Jessie mit den Augen rollte.
»Nett, ja. Wenn man nicht seine Tochter ist, sicher. Was willst du trinken?«
»Was hast du?«
Jessie ging wieder zum Tisch. »Cola, Wasser, Bier. Eigentlich recht übersichtlich für eine Party.«
»Dann nehme ich ein Bier.«
»Setz dich doch, bitte.« Jessie deutete auf das mittlerweile von der Packfolie befreite Patchworksofa, das vor kurzem noch in ihrem Zimmer in Loughton gestanden hatte.
»Ich bin wohl die erste, was?«, fragte Mila, während sie in die Polster sank.
Jessie öffnete eine Bierflasche und gab sie ihrer Nachbarin. »Ja, aber hoffentlich nicht die einzige. Ich habe vorhin bei allen geklingelt und sie eingeladen. Mal sehen, wie spontan und flexibel meine neuen Nachbarn sind.«
Mila machte ein erstauntes Gesicht. »Du hast auch Mister Forsythe eingeladen?« Sie erntete einen fragenden Blick.
»Forsythe war noch mal wer?«
»Wohnt in Apartment drei, zweiter Stock.«
»Nein, da hat niemand aufgemacht«, antwortete Jessie, nahm sich ebenfalls ein Bier und setzte sich dann zu Mila. Sie stießen an. »Auf gute Nachbarschaft!«
»Auf gute Nachbarschaft.«
Jessie trank einen großen Schluck des etwas zu warmen Biers. Dann fragte sie: »Was kannst du mir so über die Leute hier im Haus erzählen? Die meisten wirkten recht nett, als ich sie vorhin überfallen habe.«
Mila strich sich eine ihrer schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Sind sie auch. Nett und hilfsbereit. Ein Vorteil in einem nicht allzu großen Haus. Es ist nicht so furchtbar anonym.« Sie überlegte kurz. »Also im Hochparterre wohnt der Hausmeister, Mister Harris. Er wirkt manchmal etwas grantig, ist aber eigentlich ein ganz Lieber.« Sie beugte sich zu Jessie rüber und fuhr flüsternd fort: »Und wenn ich ihm seine Lieblingsmuffins mache, ist er wie Wachs in meinen Händen.«
Jessie verzog das Gesicht. »Echt jetzt? Wie?«
»Ich meine, wenn mal was zu reparieren ist, was laut Mietvertrag eigentlich von mir zu zahlen ist, dann macht er das auch schon mal für ein paar Schokomuffins.«
Jessie nickte verstehend und etwas erleichtert.
Mila tippte ihr an die Schulter. »Was hast du denn gedacht?«, fragte sie amüsiert.
Ihre neue Nachbarin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Weiß ich doch nicht, was ihr hier im Haus so treibt.« Sie stelle ihre Flasche auf den Couchtisch. »So, okay. Wen gibt es da noch?«
»Ach ja: Gegenüber von Mister Harris wohnt Kenneth Leigh. Ein Dauerstudent. Kriegt nichts gebacken und lebt überwiegend vom Geld seiner Eltern.«
»Was studiert er?«
Mila lachte. »Ich glaube, das weiß er selbst schon nicht mehr.«
»Das war so ein blonder mit wuscheligen Haaren, oder?«
»Ja, das ist Kenneth, der Friseurverweigerer.« Das Lachen der beiden Frauen hallte durch den noch recht leeren Raum.
Es klingelte an der Tür und Jessie sprang auf. »Bin gleich wieder da.« Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie, als sie die Tür geöffnet hatte. »Hi. Komm rein! Schön, dass du da bist!«
Kenneth trug dieselben, etwas schmuddelig wirkenden Sachen, wie noch vor ein paar Stunden: eine verwaschene, viel zu weite Jeans und ein schwarzes T-Shirt, das eine weiße Hand mit erhobenem Mittelfinger zierte und einen deutlich sichtbaren Riss in der Schulternaht hatte. Nur seine rot-weißen Marken-Sneakers schienen nagelneu zu sein.
»Spontane Partys sind die besten!«, sagte Kenneth und drückte Jessie zwei Flaschen Bier in die Hand.
»Danke! Und schön kühl. Besser als das, was ich anzubieten habe.«
»Die hab ich ja auch für mich mitgebracht«, sagte er trocken und erntete einen verdutzten Blick von Jessie. Dann lachte er. »War ein Scherz.«
Jessie stellte das Bier auf die improvisierte Bar. »Ist ja ein Haus voller Komiker, die Nummer neunundsiebzig.«
Kenneth entdeckte Mila auf dem Sofa. »Hi, Mila.«
»Hi, Kenny.«
Ohne Vorwarnung ließ er sich mit Schwung neben ihr auf das Möbel fallen.
»Neue Uhr?«, fragte Mila und zog direkt seinen Arm zu sich heran. »Schick. Sieht teuer aus. Und ich kenne mich aus, wie du weißt.«
Kenny schien das unangenehm zu sein, er zog brummend seinen Arm weg.
»Ein Bier, Kenneth?«, fragte Jessie, um die Situation zu bereinigen.
»Klar, immer. Ein kühles, wenn du hast.« Er zwinkerte ihr zu.
Sie fand ihn, für ihren Geschmack, etwas zu aufgedreht, aber zumindest schien er harmlos zu sein. Sie reichte ihm eine Flache, nahm ihre eigene und zog sich dann einen Stuhl zu den beiden heran.
»Also, wer wohnt auf der zweiten Etage?«, fragte sie an Mila gewandt.
»In Nummer drei, wie gesagt, Mister Forsythe.«
Kenneth verzog das Gesicht. »Der absolute Freak, wenn ihr mich fragt.«
Mila schien nicht überrascht von dieser Aussage, denn sie pflichtete ihm kopfnickend bei.
Das interessierte Jessie. »Warum? Was ist mit ihm?«
Die beiden wechselten einen stummen Blick, dann sagte Kenneth:
»Na ja, es ist nur so ein Gerücht. Aber er soll mal eine vergewaltigt haben.«
Jessies Augen weiteten sich. »Was, echt?«
Mila machte eine relativierende Handbewegung. »Das hab ich auch gehört, aber das ist wirklich nur ein Gerücht.«
»In jedem Gerücht steckt auch ein Funken Wahrheit!«, entgegnete Kenneth mit erhobenem Zeigefinger. »Hat mir Wanda höchstpersönlich erzählt. Und wenn die das sagt, ist das so gut wie verbürgt.«
»Wanda?« Jessie sah die beiden fragend an.
»Mrs Brixton«, klärte Mila auf.
»Ihr kennt sie wohl beide ganz gut, wie?«
»Ja, sie ist okay. Zumindest hat sie immer interessante Geschichten aus der Gegend auf Lager«, sagte Kenneth und Mila ergänzte:
»Sie kommt ja auch in ihrem Maklerjob ziemlich viel rum.«
»Was ist jetzt mit diesem Forsythe? Denkt ihr, er hat wirklich eine Frau vergewaltigt?«
Kenneth nickte sofort. »Da bin ich mir sicher. Wisst ihr was?« Er rutschte auf seinem Platz etwas nach vorne und unwillkürlich kamen auch die beiden Frauen näher. »Die Polizei war neulich bei ihm und hat ihn mitgenommen.«
Mila schaute verdutzt. »Was? Warum weiß ich davon nichts?«
»Wanda war im Urlaub.«
Jessie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Jedenfalls soll er wohl routinemäßig befragt worden sein. Wegen der Morde hier in Ealing.«
»Du meinst die vergewaltigten Frauen?«, fragte Jessie und schluckte. Sie wollte sich eigentlich nicht mit diesem Thema befassen; es hatte ihr vor ihrem Umzug lange genug schwer im Magen gelegen.
Kenneth nickte. »Ja. Und ich wette, dass er es war.«
»Kenny!« Mila gab ihm einen Stoß in die Rippen. »Hör auf, so was zu sagen. Das kann ganz schnell nach hinten losgehen.«
»Hey, wir können doch untereinander offen reden, oder? Ich sag nur, was ich gehört habe. Auf jeden Fall kann er nicht so unschuldig sein, wenn nach diesen Morden plötzlich die Polizei ausgerechnet bei ihm auf der Matte steht.«
Es klingelte erneut. Jessie stand auf und lief zur Tür.
»Guten Abend. Wow!«, sagte der junge, blasse Asiate mit den wild umherstehenden, pechschwarzen Haaren und musterte Jessie von oben bis unten. »Definitiv keine alte Oma!«
»Was?«
Ein weiterer Mann, Jessie erkannte ihn von ihrer vorabendlichen Einladungsrunde wieder, lugte nun hinter dem Asiaten hervor. »Sie müssen Dean entschuldigen, er ist immer so. Aber ansonsten harmlos.«
Das Benehmen seines Freundes war ihm, Jessie erinnerte sich, dass er Robin hieß, ganz offensichtlich peinlich.
»Dean Yeun. Schönen guten Abend«, sagte der junge Mann nun und streckte ihr die Hand entgegen.
»Hi«, entgegnete Jessie etwas perplex, erwiderte seine Geste und trat dann zur Seite. »Kommt doch rein.«
»Ach, die üblichen Verdächtigen«, sagte Kenneth und sprang vom Sofa auf. »Hi, Rob. Hi, Dean.«
»Hi Kenny, alles klar, Mann?«
Dean und Kenneth begrüßten sich mit einer Gettofaust. Sie schienen intellektuell auf einer Welle zu liegen.
»Wow, ihr kennt euch ja echt alle hier, oder?«, fragte Jessie etwas unsicher in die Runde.
Ein Achselzucken von Mila. »Kleines Haus.«
»Wir sprachen gerade über Forsythe«, sagte Kenneth und nippte an seinem Bier.
Dean hockte sich auf die Sofalehne neben ihn.
»Ach, unseren hauseigenen Vergewaltiger?«, fragte Robin amüsiert und verschränkte die Arme.
Jessie zog eine kritische Miene. »Na, der Kerl scheint ja wirklich seinen Ruf weg zu haben. Meine Güte. Was wollt ihr trinken?«
»Für mich ein Bier!«, sagte Dean.
»Wenn du ein Wasser hättest?«, fragte Robin und sah Jessie direkt in die Augen.
Sie mochte sein Gesicht, das stand für sie fest. Das wusste sie schon, seit sie ihn vor ein paar Stunden, an seiner Türschwelle stehend, eingeladen hatte. Und jetzt bestätigte sich ihr Gefühl. Er war von den anwesenden Männern zudem die gepflegteste Erscheinung mit seinen glänzenden Designerschuhen und einem blütenweißen Oberhemd, das er lässig über seiner Jeans trug. Er hat keine weibliche Begleitung mitgebracht, hm. Es war keine wirklich wertfreie Beobachtung. Dann musterte sie kurz seinen Freund, der Dean hieß. Schwul? Nein, glaube nicht.
»Auf jeden Fall ist dieser Forsythe ein übler Bursche«, bekräftige Kenny erneut seine Meinung von dem Nachbarn.
Dean nickte bestätigend. »Bin ihm einmal im Treppenhaus begegnet. Der grüßt ja nicht mal.«
»Hui, ein Vergewaltiger mit schlechten Manieren«, tat Kenneth übertrieben und fuchtelte unheilvoll mit den Händen, wobei das Bier leicht aus der Flasche schwappte.
»Können wir vielleicht jetzt mal das Thema wechseln?« Mila schien genervt.
Jessie stimmte ihr zu. »Genau. Wir wollen doch hier meinen Einzug feiern!«
Kenneth stand auf und erhob sein Bier. Dean und nach kurzen Zögern auch Mila taten es ihm gleich.
»Auf gute Nachbarschaft! Willkommen in der neunundsiebzig!«, sagte Robin. Er war der erste, der mit seinem Wasserglas mit Jessie anstieß. Sie wechselten einen intensiven Blick.