Störfall in Reaktor 1 - Wolfram Hänel - E-Book

Störfall in Reaktor 1 E-Book

Wolfram Hänel

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Beschreibung

Hochaktuell, kontrovers, packend

Als Lukas, Jannik und Alex eines Nachts einen Störfall im nahe gelegenen Atomkraftwerk vortäuschen, wollen sie eigentlich nur ein Zeichen setzen und die Menschen aufrütteln. Doch am nächsten Tag stehen plötzlich zwei Typen vor Lukas‘ Tür, die wissen wollen, wie sie von dem Störfall erfahren haben. Hat es tatsächlich einen solchen Fall gegeben? Warum weiß niemand etwas davon? Wild entschlossen, hinter die Machenschaften des AKWs und die verdächtig vielen Leukämiefälle in der Stadt zu kommen, hackt sich Lukas' Freundin Hanna in die Betriebsdaten des Kraftwerkbetreibers – und gelangt auf eine heiße und gefährliche Spur …

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Seitenzahl: 301

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Wolfram Hänel • Störfall in Reaktor 1

Wolfram Hänel

Störfall in Reaktor 1

cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Originalausgabe April 2012

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2012 cbt Verlag, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagbilder: Plainpicture/Harald Braun

Umschlaggestaltung: init. Büro für Gestaltung, Bielefeld

kg · Herstellung: AnG

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-07386-2

www.cbt-jugendbuch.de

Verhalten bei Strahlenalarm

Bleiben Sie im Gebäude.

Schließen Sie Fenster und Türen.

Schalten Sie Ventilatoren und Klimaanlagen aus, verkleben Sie die Fensterrahmen.

Vermeiden Sie unnötigen Sauerstoffverbrauch durch Kerzen oder Ähnliches.

Schalten Sie zu Ihrer Information das Radio oder den Fernseher ein.

Telefonieren Sie nur in Notfällen.

Benutzen Sie beim Eindringen radioaktiver Partikel einen Mundschutz wie z. B. eine OP-Maske oder feuchte Tücher.

Bundesamt für Bevölkerungsschutz

und Katastrophenhilfe,

Verhalten bei Radioaktivität (gekürzt)

Prolog

Die Katze ist schwarz. Ein lautloser Schatten in der Nacht. Als sie hinter dem Müllcontainer hervorkommt, spiegeln ihre Augen für einen kurzen Moment das Licht der nächsten Straßenlaterne wider. Die Katze macht einen Buckel, dann streckt sie sich. Als wolle sie die Muskeln testen, die unter dem Fell darauf warten, den ganzen Körper in einer einzigen fließenden Bewegung nach vorne schnellen zu lassen. Aber noch ist es nicht so weit. Noch versuchen die Ohren, das Geräusch zu orten, das da eben war. Ein leises Rascheln nur, eher die Ahnung eines Geräuschs als wirklich ein Hinweis auf eine Bewegung im hohen Gras. Die Katze verharrt reglos, den Schwanz steil aufgerichtet, den Kopf gestreckt, die rechte Vorderpfote emporgehoben. Dann kommt der Sprung: ansatzlos. Ohne zu zögern. Zielsicher. Die Maus hat keine Chance.

Der erste Schlag erwischt sie im Nacken und schaltet ihren Gleichgewichtssinn aus. Fiepend dreht sie sich hilflos im Kreis, als sie der nächste Schlag auf die Seite wirft. Noch einmal versucht sie zu entkommen, doch die Katze ist schon wieder über ihr, schleudert sie vor und wieder zurück, von einer Pfote zur anderen, hin und her, ohne Erbarmen, ohne Gnade. Das Recht des Stärkeren, der Lauf der Natur.

Der Jäger lässt seine Beute zappeln, bis sie zu müde ist, um sich noch länger zur Wehr zu setzen. Bis er selber des grausamen Spiels müde ist und es beendet. Mit einem Biss, der das Rückgrat durchtrennt wie ein frisch geschärftes Messer ein Stück dünnes Papier. Jetzt! Die Katze schnellt vor, aber im gleichen Moment dringt ein Quietschen durch die Stille der Nacht, ein Türscharnier, das dringend geölt werden müsste, das Klappern einer Kette, Schritte und Stimmen – Menschen! Irritiert verfehlt die Katze ihr Ziel um wenige Zentimeter und faucht verärgert, bevor sie von der sicher geglaubten Beute ablässt und in der Dunkelheit verschwindet. Zum ersten Mal ist das Spiel anders ausgegangen, als die Regel es verlangt. Die Maus versucht, sich mit gelähmten Hinterbeinen davonzuschleppen, aber sie erreicht das schützende Schlupfloch nicht mehr. Der Stollenreifen des Mopeds zerquetscht sie zu einem dunklen Fleck blutiger Fetzen aus Fell und Knochensplittern im Gras.

Irgendwo im Ort heult ein Hund den Mond an.

Eins

»Verdammter Köter!«, quetscht Jannik zwischen den Zähnen hervor. »Wenn der die anderen Hunde aufweckt, haben wir gleich das schönste Konzert hier. Genau das, was wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen können!«

»Bleib cool, Mann«, erwidert Lukas. »Die Hunde bellen nachts öfter mal wegen irgendwas, das kriegt doch schon gar keiner mehr mit. Eure Schuppentür eben war schlimmer. Habt ihr eigentlich kein Öl im Haus?«

»Nerv mich jetzt nicht, Alter! Sag mir lieber, wie weit ich das Ding noch schieben soll …«

»Bis zur Kreuzung, das haben wir doch besprochen! Da sind nur der Supermarkt und die Tankstelle und kein Wohnhaus. Bist du dir sicher, dass es überhaupt anspringt?«

»Es springt an! Ich hab heute Morgen extra noch mal die Kerze sauber gemacht, der Motor kommt sofort, keine Panik.«

Die nächsten hundert Meter legen sie schweigend zurück. Sie haben beide schwarze Kapuzenpullis über ihren T-Shirts an. Schwarze Jeans, schwarze Sneakers. Das Kennzeichen des Mopeds ist mit schwarzem Klebeband verändert. HE statt HI. Und aus der 3 haben sie eine 8 gemacht. Für einen flüchtigen Blick muss das reichen. Falls ihnen überhaupt jemand begegnen sollte, der nachher tatsächlich noch die Nerven hat, auf ihr Kennzeichen zu achten!

Ihre Turnschuhe machen so gut wie kein Geräusch auf dem Asphalt, nur das Vorderrad des Mopeds schleift ein bisschen. Der Hund hat aufgehört zu heulen.

Ein plötzlicher Windstoß trägt den leisen Summton vom Atomkraftwerk herüber, den sie alle seit Jahren kennen und kaum noch wahrnehmen. Zwischen zwei Häusern hindurch haben sie freien Blick auf die Silhouette des Kraftwerks unten am Fluss. Die beiden Kühltürme werden auch bei Nacht angestrahlt, das Firmenlogo des Energiekonzerns ätzt höhnisch eine stilisierte Sonnenblume über dem Schriftzug in die Dunkelheit. Die dichten qualmenden Wolken über den Kühltürmen reflektieren das Licht der roten Begrenzungsleuchten am oberen Rand, das Ganze sieht aus wie die gemalte Kulisse in einem Science-Fiction-Film. In einem schlechten Science-Fiction-Film.

Für einen kurzen Moment denkt Lukas, dass heute auffällig viel Betrieb auf dem Gelände herrscht, mehr jedenfalls als sonst. Aber bevor er noch weiter darüber nachdenken kann, sagt Jannik: »Du glaubst gar nicht, wie ich das Teil hasse!« Eilig schiebt er das Moped weiter, als wollte er das Kraftwerk auf keinen Fall noch länger im Blickfeld haben.

Lukas gibt keine Antwort. Wozu auch? Jannik ist nicht der Einzige, dem es so geht. Deshalb machen sie die Aktion hier ja überhaupt!

Hinter ein oder zwei Fenstern flackern noch bunte Fernsehbilder über Decken und Wände, sonst scheint ganz Wendburg im Tiefschlaf zu liegen. Nicht mehr lange, denkt Lukas. Der Schock wird sie aus ihren Betten reißen und den Albtraum wahr werden lassen, den jeder hier schon tausend Mal geträumt hat. Er streicht mit der Hand über das Megafon unter seinem Arm, als wollte er sich vergewissern, dass es noch da ist.

»Okay.« Schwer atmend bleibt Jannik stehen. »Das reicht jetzt, oder?«

Lukas nickt.

Links von ihnen ist der Supermarkt mit der Tankstelle davor, gegenüber geht die Sackgasse zum Sportplatz und zur Grundschule ab. Weiter die Straße hinunter kommen nur noch Wiesen und Felder.

Jannik blickt auf seine Uhr. »Zwanzig vor. Sauber getimt, würde ich mal sagen. Wenn wir in zehn Minuten starten, haben wir noch mal genau zehn Minuten für unsere Nummer. Länger brauchen wir nicht.«

»Länger dürfen wir nicht brauchen! Wenn die Sirene mit dem Alarm loslegt, bleibt uns nicht mehr viel Zeit, bevor hier die Hölle los ist. Dann müssen wir weg sein! Wir machen es genauso, wie wir geplant haben: Einmal die ganze Hauptstraße hoch, eine Runde um den Marktplatz und dann durch die Gasse hinter der Kirche – und weg.«

»Hauptsache, Alex versemmelt nicht noch irgendwas. Bist du dir sicher, dass wir uns auf ihn verlassen können? Mann, wieso meldet der sich nicht? Er muss doch längst da sein, sonst können wir’s vergessen! Wenn er nicht …«

Lukas hebt die Hand. Das Handy in seiner Hosentasche vibriert. Genau zwei Mal.

»Das ist er«, sagt Lukas. »Es geht los. Wirf die Karre an, nun mach schon!« Er merkt, wie nervös er plötzlich ist.

Jannik tritt den Kickstarter. Ein kurzes Knattern, sonst nichts. Und noch mal. Wieder nichts.

»Der Benzinhahn!«, ruft Lukas.

»Mist, Mann! Ich bin echt fertig, tut mir leid, Alter …«

Jannik bückt sich und legt den Benzinhahn um. Beim nächsten Versuch kommt der kleine Motor sofort. Jannik reißt den Gashebel auf. Der Auspuff spuckt eine stinkende Benzinwolke über den verlassenen Parkplatz.

»Ganz ruhig, Mann«, sagt Lukas. »Jetzt nicht die Nerven verlieren!«

Sie ziehen sich die Kapuzen über den Kopf. Lukas klettert hinter Jannik auf den Sitz. Als Jannik schließlich mit einem Ruck anfährt, hebt das Vorderrad kurz vom Boden ab. Lukas kann sich gerade noch festhalten.

Knatternd biegen sie ohne Licht auf die Hauptstraße ein. Im gleichen Moment dringt auch die Sirene vom Rathaus herüber. Ein fieser Ton, der durch Mark und Bein geht. Fünfzehn Sekunden. Aber die sollten reichen, um jeden braven Bürger von Wendburg aus dem Schlaf zu reißen. Hoffentlich.

Als sie kurz vor der Dorfkneipe sind, nimmt Lukas das Megafon hoch und hält es vor seinen Mund. Mit dem Daumen drückt er den Einschaltknopf. Seine Stimme klingt krächzend aus dem Lautsprecher, er gibt sich Mühe, einen offiziellen Tonfall hinzubekommen.

»Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei! Im Kernkraftwerk hat sich ein Störfall ereignet. Schließen Sie Fenster und Türen und bleiben Sie in Ihren Wohnungen. Achtung, Achtung! Das ist keine Übung! Schalten Sie unverzüglich Lüftungen und Klimaanlagen aus. Bewahren Sie unbedingt Ruhe und warten Sie auf weitere Anweisungen! Es besteht kein Anlass zur Panik. Wir haben alles unter Kontrolle. Achtung, Achtung! Im Kernkraftwerk hat sich ein Störfall ereignet …«

Sie sehen, wie in einem Haus nach dem anderen das Licht angeht. Vereinzelt können sie Menschen hinter den Fenstern erkennen, die aufgeregt versuchen, den vermeintlichen Polizeiwagen auf der Straße auszumachen. Jannik und Lukas passieren den Videoladen, die Post, das Friseurgeschäft, die Fleischerei. Jetzt sind sie mitten im Ortskern. Jannik lenkt das Motorrad zum Marktplatz hinüber.

Ein Mann kommt vom Kriegerdenkmal neben der Kirche auf sie zugetorkelt. Er ist so betrunken, dass er sich nur hilflos im Kreis dreht, als Jannik gerade noch einen Schlenker machen kann, um den Zusammenstoß zu vermeiden.

Lukas nimmt wieder das Megafon. »Achtung, Achtung! Schließen Sie Fenster und Türen! Bleiben Sie in Ihren Wohnungen! Schalten Sie Fernseher und Radios ein und unternehmen Sie nichts, bis Sie weitere Anweisungen erhalten. Der Ort wird umgehend evakuiert. In den Sammelstellen bekommen Sie Jodtabletten zugeteilt. Die Vorräte sind ausreichend. Personen über fünfzig Jahren dürfen keine Jodtabletten einnehmen. Ich wiederhole: Warten Sie die Anweisungen ab! Achtung, Achtung …«

Schräg vor ihnen ist jetzt das Rathaus. Im ersten Stock brennt noch Licht. Im Schatten der Seitenstraße parkt irgendein großer Wagen. Aus dem Polizeirevier gegenüber kommen zwei Polizisten gerannt und setzen sich im Laufen die Dienstmützen auf. Lukas lässt schnell das Megafon zwischen sich und Jannik verschwinden.

Im gleichen Moment heult wieder die Sirene los, diesmal mit einem an- und abschwellenden Dauerton: Strahlenalarm!

Die Polizisten zeigen auf das Moped, dann springen sie in den Streifenwagen, der vor dem Gebäude geparkt ist.

»Zurück zur Kirche!«, brüllt Lukas. »Die Bullen haben uns gesehen!«

Jannik reißt den Lenker herum. Knatternd wühlt sich das Moped durch die Blumenrabatten, über die weiß getünchte Kirchenwand zucken blaue Lichtblitze. Dann sind sie in der schmalen Gasse, die hinter der Kirche zwischen den alten Fachwerkhäusern hindurchführt. Auf dem holprigen Kopfsteinpflaster kommt das Moped ins Schlingern. Haarscharf brettern sie an einer Hausmauer vorbei.

»Bleib cool, Alter!«, brüllt Lukas. »Hier kommen die Bullen nicht durch! Wir haben sie abgehängt! Alles easy! Fahr langsamer, Mann!«

Aber Jannik reagiert nicht. Im Gegenteil, er scheint völlig weggetreten zu sein. Als sie aus der Gasse herauskommen, biegt er nach rechts auf die Hauptstraße ein und reißt den Gashebel bis zum Anschlag auf. Lukas klammert sich jetzt mit beiden Armen an ihm fest. Das Megafon drückt sich schmerzhaft in seinen Brustkorb. Sie haben mindestens sechzig Stundenkilometer drauf, und die enge Kurve, die zum Wald hinaufführt, muss jeden Moment vor ihnen auftauchen. Aber Jannik macht immer noch keine Anstalten, vom Gas zu gehen. Immerhin schaltet er jetzt das Licht ein und fast sofort reflektiert das rotweiß gestreifte Kurvenschild warnend den Scheinwerferkegel des Mopeds. Noch zehn Meter, noch fünf. Lukas macht die Augen zu und drückt sein Gesicht gegen Janniks Rücken, automatisch legt er sich mit in die Kurve, als wären sie ein Körper, und er spürt, wie das Hinterrad unter ihm wegrutscht, aber dann passiert das fast Unmögliche – das Moped richtet sich wieder auf, sie sind durch, sie haben es tatsächlich geschafft. Jannik hat die Maschine auf der Straße gehalten, es wird kein neues weißes Holzkreuz am nächsten Baum geben …

Vor Angst hat er Janniks Sweatshirt vollgesabbert, aber er hält sein Gesicht weiter auf die nasse Stelle gedrückt, bis Jannik auf einen Feldweg abbiegt und nach ein paar Metern den Motor ausschaltet. Mit weichen Knien steigt Lukas vom Sitz, seine Hände zittern unkontrolliert, das Megafon rutscht ihm aus den Fingern und poltert zu Boden. Und mit dem Scheppern kommt die Wut. Er packt Jannik am Arm und brüllt: »Bist du noch ganz dicht? Wolltest du uns eben umbringen, Mann? Was sollte das?«

»Über fünfundsechzig«, antwortet Jannik unbeeindruckt. »Wahnsinn! Das habe ich noch nie geschafft!«

Erst als Lukas mit voller Kraft gegen das Vorderrad tritt und sich dann wortlos abwendet, lenkt Jannik ein: »Okay, was willst du? Ich bin ausgeflippt, stimmt schon, war nicht so gut, aber … Mann, erst der Besoffene da plötzlich und dann die Bullen und …« Er zuckt hilflos mit der Schulter. »Aber ist ja noch mal gut gegangen, also … He, redest du noch mit mir?«

Lukas hat ihm den Rücken zugewandt und blickt ins Tal hinunter. Im Dorf gibt es kaum ein Haus, das inzwischen nicht hell erleuchtet ist, überall flackern die Fernsehbildschirme. Wendburg ist aufgeschreckt, vorbei ist die Ruhe! Die Zufahrt zum AKW ist jetzt mit Flutlicht ausgeleuchtet, über den Zugängen zu den Gebäuden rotieren gelbe Warnlampen, und Lukas meint, Menschen zu erkennen, die aufgeregt hin und her laufen. Viele Menschen, mehr als normalerweise um diese Zeit im AKW sein dürften.

Er merkt, wie sich Jannik neben ihn stellt. Als der Freund ihm die Zigarettenschachtel hinhält, greift Lukas zu, ohne nachzudenken. Jannik gibt ihm Feuer. Schon nach dem ersten Zug wird Lukas schwindlig. Er lässt die Zigarette fallen und tritt sorgfältig die Glut aus.

»Alles okay mit dir?«, fragt Jannik. Gleichzeitig erstirbt das Sirenengeheul mit einem letzten, klagenden Jaulen, Janniks Frage bleibt viel zu laut in der plötzlichen Stille hängen. Wie ein verzweifelter Ruf nach Hilfe, denkt Lukas, bevor er eine Antwort gibt.

»Ich mach mir gerade Sorgen, ob Alex wirklich ohne Probleme wieder aus dem Rathaus rauskommt. Wenn sie ihn erwischen, sind wir dran.«

»Dein Handy ist eingeschaltet?«

Lukas nickt. Dann holt er das Handy aus der Tasche. Die SMS muss gekommen sein, als sie noch auf dem Moped waren und er das Vibrieren nicht gemerkt hat. Er öffnet die Nachricht, in der nur ein einziges Wort steht: »Bingo!«

Jannik blickt über Lukas’ Schulter auf das Display. »Alles klar. Wahrscheinlich ist er schon wieder zu Hause.« Er boxt Lukas mit dem Ellbogen gegen den Arm. »Mann, Alter, wir haben es geschafft! Wir haben ihnen echt die Hölle heißgemacht! Es wird eine Weile dauern, bis sie merken, dass das Ganze nur ein Fake war und sie sich wieder einkriegen können. Au Mann, was ist das?«

Jannik deutet zur Landstraße hinüber, von wo sich eine Kolonne schwerer Fahrzeuge nähert, die Scheinwerferkegel bohren sich gespenstisch in die Nacht. Feuerwehr, denkt Lukas, vielleicht auch das Technische Hilfswerk. Oder die Bundeswehr? Aber das kann nicht sein, die können so schnell noch nicht hier sein. Das passt nicht. Gleichzeitig taucht plötzlich ein Hubschrauber am Himmel auf …

»Hammer«, stößt Jannik hervor. »Wo kommen die so schnell her? Das sieht aus wie ein Armee-Hubschrauber, was soll das?«

Als die Fahrzeugkolonne den Ort passiert und dann zum AKW abbiegt, werden bereits die ersten Autos zwischen den Häusern gestartet.

»Hammer«, wiederholt Jannik. »Da versuchen schon welche, abzuhauen. Von den Feriengästen wahrscheinlich. Voll die Panik! Mann, stell dir mal vor, was los wäre, wenn es wirklich einen Ernstfall gäbe!«

»Lieber nicht«, sagt Lukas leise. »Los, komm, wir sollten zusehen, dass wir nach Hause kommen. Bevor unsere Alten mitkriegen, dass wir gar nicht da sind.«

»Haben sie wahrscheinlich längst. Aber wir bleiben bei unserer Geschichte: Als die Sirene losging, sind wir rausgerannt, um zu gucken, was passiert ist. Und dann haben wir uns zufällig getroffen …«

Sie steigen auf das Moped und rollen ohne Licht den Feldweg hinunter, der hinter dem Grundstück von Janniks Eltern endet. Fünf Minuten später steht die Maschine wieder im Schuppen, das Megafon verstecken sie in dem ausrangierten Kühlschrank, den Janniks Vater immer noch nicht zur Müllkippe gebracht hat. Als sie die Kette mit dem Vorhängeschloss wieder angebracht haben, huscht ein schwarzer Schatten an ihnen vorüber. Sie zucken unwillkürlich zurück.

»Nur eine Katze!«, sagt Jannik leise.

»Schon klar«, meint Lukas.

Von den Häusern herüber dringt aufgeregtes Stimmengewirr, alle Fernseher laufen, aber statt der erhofften Nachrichten gibt es nur eine Comedy Show mit Mario Barth und Atze Schröder. Eine Spielfilm-Wiederholung aus dem Abendprogramm: Steven Seagal. Einen Softporno. Und einen Naturfilm über die Eisbären in der Arktis, denen die Schollen unter dem Hintern wegschmelzen.

Die Hunde im Dorf bellen ohne Unterlass. Auf der Straße schiebt sich eine hupende Kolonne an Fahrzeugen vorbei, ein Polizeiwagen überholt mit gellendem Martinshorn, um sie am Ortsausgang zu stoppen. Aus der Gegenrichtung kommt ein Krankenwagen.

Zwei

Eigentlich war das Ganze Janniks Idee gewesen. Die Leute noch mal aufrütteln. Sie eiskalt erwischen. Sie genau da treffen, wo es wehtut, wo es ans Eingemachte geht. Vor allem die Touristen.

»Wenn die Touris Panik kriegen, ist es das Beste, was uns passieren kann«, hatte Jannik gesagt. »Das spricht sich rum. Dann müssen sie hier was machen, sonst sehen sie alt aus.«

Und die Touris haben wirklich Panik gekriegt. Die, die nicht in derselben Nacht noch abgehauen sind, haben am nächsten Morgen ihre Koffer gepackt. Auch wenn die Gemeinde alles versucht hat, um die Sache wieder runterzukochen. Eiligst gedruckte Handzettel wurden verteilt:

Böser Streich von Unbekannten. Alles gelogen. Es hat nie einen Störfall gegeben. Es hat zu keinem Zeitpunkt ein Risiko bestanden. Das AKW Wendburg zählt zu den sichersten der Welt. Genießen Sie weiterhin sorglos Ihre Ferien in dem idyllischen Landstädtchen Wendburg.

Und einen Gutschein zur kostenlosen Nutzung des Schwimmbads gab es auch noch dazu. Außerdem ein Fläschchen Sekt für jeden treuen Feriengast zur Abholung im Rathaus, vom Bürgermeister persönlich überreicht.

Aber mehr als nur ein paar Frühstücksbuffets sind in den Pensionen unbenutzt wieder abgeräumt worden. Und den Sekt muss der Bürgermeister nun selbst trinken oder für eine neue Gelegenheit aufheben. Die Touristen haben buchstäblich die Flucht ergriffen.

Trotzdem ist sich Lukas gerade nicht mehr so sicher, was ihre Aktion gebracht hat. Oder ob sie überhaupt was gebracht hat. Außer dem Chaos letzte Nacht und der allgemeinen Empörung, die jetzt herrscht.

Die Kommentare heute Morgen, als er beim Bäcker frische Brötchen geholt hat, waren eindeutig: Irgendwelche Chaoten, die sich einen dummen Witz erlaubt haben. Und die umgehend eingesperrt werden sollten. So was tut man doch nicht! Das heißt ja geradezu, das Unglück heraufbeschwören! Aber wenn die erwischt werden, dann können sie sich auf was gefasst machen! Noch haben wir hier Gesetze, die solchem Unfug einen Riegel vorschieben. Und zwar ein für alle Mal.

Es gab niemanden, der vielleicht einfach mal gesagt hätte: Verdammt, Leute, kapiert ihr es eigentlich wirklich nicht? Macht euch doch nichts vor, nur weil plötzlich der Ausstieg aus der Atomkraft beschlossene Sache zu sein scheint, ist es noch lange nicht vorbei. Das, was da letzte Nacht gelaufen ist, hätte genauso gut der Ernstfall sein können! Und dann würden wir hier nicht mehr stehen und jammern, dass wir unsere Brötchen nicht verkauft kriegen, weil sich die Touristen vom Acker gemacht haben. Dann wären wir wirklich am Arsch! Aber nein, kein Wort davon. Null. Niente. Nada.

Mit Jannik hat Lukas noch nicht wieder gesprochen. Auch nicht mit Alex. Den Ball erst mal schön flach halten, haben sie vereinbart, es ist besser, wenn sie nicht zusammen gesehen werden. Heute Abend in der Disco ist immer noch Zeit genug, um ganz zufällig an der Theke mal ein paar Worte miteinander zu wechseln. Wobei er noch nicht weiß, ob er überhaupt hingeht … Karlotta hat einen neuen Schub gehabt. Seine kleine Schwester, die an Leukämie erkrankt ist. Heute Vormittag war sie so schwach, dass sie nicht aufstehen wollte und er ihren Kopf stützen musste, um ihr beim Trinken zu helfen. Er hat dann noch an ihrem Bett gesessen und ihr eine Geschichte vorgelesen. Bis sie wieder eingeschlafen ist. Ihr Gesicht war bleich, wächsern. Mit tiefen schwarzen Ringen unter den Augen …

Lukas merkt, wie ihm die Tränen in die Augen schießen. Er lässt sich rücklings aufs Bett fallen und tastet blind mit der Hand nach dem CD-Player. Bevor er die Lautstärke hochdreht, zieht er sich den Kopfhörer über die Ohren. Goldfrapp. Hannah hat ihm die CD geliehen. Hannah, die echt cool ist, auch ziemlich schräg drauf, aber immer gut für eine Antwort, mit der keiner rechnet. Weder die Lehrer noch einer von ihnen. Dass sie so was wie Goldfrapp hört, hätte Lukas nicht im Traum erwartet. Passt irgendwie nicht zu ihr. Ziemlich kitschig, viele Geigen und so was. Aber eine Melodie, die sich für immer im Kopf festsetzt. Und eine Frauenstimme, die einem echt die Schuhe auszieht: »She’s like a little bird, she flies from a to b, to see what she can see, she’s far away from me …« Jetzt heult er wirklich. Aber es ist egal. Er lässt die Tränen einfach laufen. Es sieht ihn ja keiner …

Er weiß nicht mehr, wann er zum ersten Mal angefangen hat, über das verdammte AKW nachzudenken. Als immer mehr Kleinkinder in Wendburg krank wurden? Als dann plötzlich auch bei seiner kleinen Schwester Leukämie diagnostiziert wurde und er miterleben musste, wie sehr ihr die erste Behandlung im Krankenhaus zu schaffen machte? Oder vielleicht als sein Vater und seine Mutter nur noch abwechselnd geheult und geschrien haben und seine Mutter dann kurze Zeit später mit Karlotta in die Gästewohnung in ihrem Haus umgezogen ist und gar nicht mehr mit seinem Vater reden wollte? Oder als sie auch mit ihm nicht mehr reden wollte, weil er sein Schulbetriebspraktikum im Kernkraftwerk gemacht hat? »Im Werk«, wie die Leute hier nur sagen, als wollten sie unter allen Umständen vermeiden, die Worte »Atom« oder »Kernkraft« laut auszusprechen.

Wobei dieses »im Werk« Lukas manchmal vorkommt, als wäre es fast liebevoll gemeint. Nein, liebevoll ist nicht das richtige Wort, überlegt er, aber zumindest spielt so etwas wie Stolz mit hinein. Stolz auf »ihr« Werk. Das ihnen allen gut bezahlte Arbeit verschafft. Das ihnen ermöglicht, ein eigenes Haus zu haben, mit Sauna im Keller und Pool im Garten und mindestens zwei Autos vor der Tür. Das ihnen gerade erst letztes Jahr noch ein neues »Spaßbad« oben am Waldrand beschert hat, außerdem eine Tennishalle und ein Kulturzentrum mit Bücherei und eigener Theaterbühne. Und demnächst soll sogar noch ein Golfplatz angelegt werden, um dann noch mehr Touristen in die Region zu locken, auf dass es ihnen auch in Zukunft gut gehen wird – noch besser als bisher schon – und sie nur müde lächeln können, wenn in den Nachrichten mal wieder erzählt wird, dass alles den Bach runtergeht. Kann schon sein, irgendwo anders vielleicht, aber doch nicht in Wendburg!

»Das Werk tut viel Gutes für uns.« Wie oft hat Lukas den Satz wohl schon gehört? Ein bisschen wie früher, denkt er, im Mittelalter, wenn die Leute zufällig mal einen Burgherrn erwischt hatten, der clever genug war, sie nicht bis aufs Blut auszubeuten, sondern ihnen ab und an auch mal einen Ochsen oder ein paar Fässer Bier für ein ordentliches Zechgelage genehmigte. Woraufhin er erst mal wieder Ruhe hatte, weil sie ihm alle dankbar waren und die nächsten Wochen ohne zu murren aufs Feld wankten, um die gräflichen Vorratskammern zu füllen. Und später dann genauso, als es die ersten Fabriken gab und die Arbeiter stolz darauf waren, dass sie dazugehörten, dass sie ihr Häuschen hatten, ihr eigenes Schwein im Stall, ihren Gemüseacker im Garten, und dass ihre Kinder in eine richtige Schule gehen durften. Dafür haben sie so gut wie alles ertragen, haben den Rücken krumm gemacht, sich zu Tode geschuftet und keine Widerworte gegeben, wenn »der Herr« verlangt hat, Hunderte von Metern unter der Erde in engen Stollen ihr Leben für ihn zu riskieren.

Jannik war der Erste, der in der Schule mal etwas in dieser Richtung gesagt hat. Dass er nicht kapiere, warum jeder ständig so tut, als ob alles in Ordnung sei. Und dass er manchmal Angst habe, ob das AKW wirklich so sicher ist, wie alle immer behaupten. Aber er war auch so ziemlich der Einzige! Klar, die anderen haben ihm sofort vorgeworfen, dass er nicht wirklich dazugehöre und deshalb keine Ahnung habe. Und es stimmt schon, Janniks Vater ist einer der wenigen, die nichts mit dem AKW zu tun haben. Oder die zumindest nicht im AKW arbeiten. Er ist einer der letzten Bauern, die es in Wendburg noch gibt. Und die Wiesen unten am Fluss, auf denen jetzt das AKW steht, waren früher nichts als matschige Kuhweiden, die Janniks Vater dann für gutes Geld an den Energiekonzern verkauft hat. Also in gewisser Weise hat auch ihm »das Werk« viel Gutes gebraucht. Das ist auch einer der Gründe, warum sich Jannik in letzter Zeit immer wieder mit seinem Vater streitet.

»Er hätte ja nicht verkaufen müssen«, hat Jannik mal zu Lukas gesagt. »Dann hätten sie auch das AKW da nicht bauen können! Aber er behauptet einfach, ohne das Geld wäre unser Hof über kurz oder lang platt gewesen. Und was ist jetzt? Jetzt haben wir das Geld und trotzdem Angst! Mein Alter auch, das weiß ich genau. Oder was glaubst du, warum er bei uns gerade einen unterirdischen Bunker im Garten hinter dem Haus bauen lässt? Klasse Idee, echt, da können wir dann die nächsten fünfundzwanzigtausend Jahre sitzen und Tütensuppen fressen, wenn hier alles in die Luft geflogen ist!«

Sie haben alle Angst. Im Geheimen jedenfalls. Nur laut sagt es kaum einer. Aber niemand im Ort ist so blöd, nicht zu wissen, dass es sie jederzeit erwischen kann. Nicht mehr nach Fukushima! Aber es ist, als ob sie mit aller Gewalt an dem festhalten würden, was sie sich einmal als Rechtfertigung ausgedacht haben: Unser AKWist sicher. Bei uns passiert so was nicht. Immer die gleiche Leier. Und in der Schule haben sie sogar eine eigene Unterrichtseinheit zum Thema. Jedes Jahr aufs Neue, pro und contra, mit einem Referenten vom AKW. Womit das Ergebnis des Ganzen von vornherein feststeht: Wendburg ist sicher.

Todsicher, denkt Lukas. Obwohl er zugeben muss, dass er auch ein paar Mal ins Schleudern gekommen ist. Vor allem als es darum ging, dass AKWs im Gegensatz zu jeder anderen Form von Energiegewinnung kein Kohlendioxid produzieren. Also echt sauber sind. Angeblich. Ein einziger Blick ins Internet reicht nämlich schon, um ganz andere Zahlen zu finden! Von wegen kein CO2! Alleine beim Uranabbau für die Brennstäbe wird jede Menge Dreck in die Atmosphäre geballert! Von der Vegetation, die einfach wegrasiert wird, mal ganz zu schweigen. Genauso wie von den Wassermengen, die für die Kühlung des Reaktors gebraucht werden, von dem Wasser, dass dann die Flüsse mit radioaktiven Stoffen belastet, und von dem radioaktiven Müll, von dem keiner weiß, wohin damit.

»TODSICHER« stand auch auf dem Banner, das die Leute von Greenpeace kurz nach der Katastrophe in Japan an einem der Kühltürme befestigt haben. So ganz nebenbei hätte es da auch jeden stutzig machen müssen, dass die Greenpeace-Aktivisten offensichtlich ohne größere Probleme auf das Gelände marschieren, am Kühlturm hochklettern und sich mit dem Banner wieder abseilen konnten. So viel zum Thema »Sicherheit vor Terroranschlägen«! Aber vielleicht hat es die Leute hier ja auch tatsächlich stutzig gemacht. Nur dass das Ergebnis dann ganz anders war, als man erwarten sollte. Nach der Räumung haben nämlich brave Wendburger Bürger noch am selben Abend einen der Aktivisten fast krankenhausreif geprügelt. Gut, schön blöd von dem Typen, sich ausgerechnet in der Kneipe blicken zu lassen, um mit Leuten zu reden, die ganz bestimmt nichts davon hören wollen, dass sie auf einem Pulverfass sitzen. Weil sie es im Stillen ganz genau wissen und nur nicht wahrhaben wollen. Weil es so einfacher für sie ist.

Aber was Lukas nicht kapiert, dieser offensichtliche Hass, der die Leute sogar gewalttätig werden lässt.

Natürlich hat sich die Situation jetzt verändert, seitdem klar ist, dass alle AKWs abgeschaltet werden. Wobei es genauso gut sein kann, dass der Beschluss auch wieder aufgehoben wird. Wäre nicht das erste Mal, dass so was passiert. Und in jedem Fall bleibt Wendburg bis zum bitteren Ende am Netz. Noch mindestens zehn Jahre! In denen es um nichts anderes mehr geht, als den größtmöglichen Gewinn abzugreifen, solange es die Chance dazu gibt. Sicherheit rechnet sich da eher weniger, Hauptsache, sie verdienen noch mal ordentlich. Jeder weiß, dass die Sache genauso läuft und nicht anders. Aber trotzdem tun alle so, als gäbe es jetzt keinen Grund mehr, sich noch weiter aufzuregen oder irgendwas zu unternehmen. Als sei jetzt alles in Ordnung, wenn nicht »irgendwelche grünen Spinner« immer noch für Panik sorgen würden.

Schon klar, dass nicht alle in Wendburg so denken, und die meisten würden nicht im Traum darauf kommen, irgendjemanden zu verprügeln, der eine andere Meinung vertritt. Aber sie selbst vertreten eben gar keine Meinung!

Lukas’ Vater ist das beste Beispiel dafür. Für die schweigende Mehrheit, für die ewigen Jasager. Das Schlachtvieh. Dabei ist er nur Buchhalter im AKW, einer aus der Verwaltung, der null Interesse an Technik hat. Physik. Kernkraft eben. Er macht einen Job, den er genauso gut irgendwo anders machen könnte. Und wenn das AKW wirklich stillgelegt wird, muss er das ja sowieso. Also warum dann nicht jetzt gleich? Noch ist er nicht zu alt, um was anderes zu finden! Aber die Uhr tickt. Wahrscheinlich ist es genau das, was Lukas nicht versteht. Warum sein Vater nicht wenigstens jetzt noch weggeht, warum sie nicht schon längst irgendwo anders hingezogen sind.Weg aus Wendburg, weg vom AKW.

Bei Janniks Vater ist das vielleicht anders, er will auf dem Hof bleiben, der schon seinem Vater gehörte und davor dessen Vater. Das ist zwar bescheuert, aber irgendwie noch nachvollziehbar. Aber für jemanden, der zufällig in Wendburg gelandet ist, weil er sich in einer größeren Stadt kein eigenes Häuschen leisten konnte, macht das Ganze keinen Sinn. Selbst wenn sie dann irgendwo anders wieder zur Miete wohnen müssten, wäre das ja wohl immer noch besser, als einfach hierzubleiben und den Kopf in den Sand zu stecken. Und bei seiner Mutter ist es eigentlich noch bescheuerter! Sie hat nur noch Angst, und sie sieht jeden Tag, wie Karlotta immer kränker wird, sogar ihre Ehe ist deshalb schon so gut wie in die Brüche gegangen – aber macht sie irgendetwas, um ihre Situation zu verändern? Nein, tut sie nicht. Und die einzige Erklärung, die sie dafür hat, ist: Sie habe ihren Job hier als Lehrerin und so schnell finde sie keine neue Schule. Und jetzt mit Karlottas Krankheit schon gar nicht. Da sei sie darauf angewiesen, dass das Kollegium Verständnis hat, wenn sie mal einen Tag fehlt, weil sie sich um ihr krankes Kind kümmern muss …

Fuck!, denkt Lukas. Wir drehen uns alle im Kreis. Wie ein Goldfisch im Glas, der jeden Tag wieder seine Runden dreht und denkt: Huch! Wie sieht denn das hier aus? Hier war ich ja noch nie! Aber das gefällt mir gar nicht, da schwimm ich doch lieber schnell weiter. Nur dass es leider nichts hilft, weiterzuschwimmen, wenn man in Wirklichkeit immer wieder am selben Punkt ankommt.

Lukas hat es aufgegeben, mit seinen Eltern darüber reden zu wollen. Es kommt nichts weiter dabei heraus, als die immer gleichen Sätze, die er inzwischen schon auswendig kennt: Es gibt keine Alternative. Wir dürfen uns nicht verrückt machen lassen. Wir müssen hoffen, dass alles gut geht. Das Ende ist doch ohnehin absehbar, die paar Jahre werden wir jetzt auch noch überstehen.

Aber Fukushima ist überall, denkt Lukas, was braucht ihr denn noch, um endlich zu begreifen, dass jetzt Schluss sein muss, und nicht erst in zehn Jahren. Wenn überhaupt …

Er schreckt hoch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürt. Seine Mutter steht neben dem Bett und sagt irgendwas.

Lukas zieht sich den Kopfhörer von den Ohren. »Was?«

»Da sind zwei Herren für dich, unten, in der Küche. Sie wollen dir ein paar Fragen stellen. Gibt es irgendwas, wovon ich nichts weiß?«

Lukas braucht einen Moment, bis er wieder ganz da ist. »Was?«, fragt er noch mal. »Was für Herren? Wieso bei uns in der Küche?«

»Vom Werk, glaube ich. Sie haben nichts weiter gesagt, nur dass sie dich sprechen wollen.« Seine Mutter beugt sich zu ihm, ganz nah, ihre Stimme zittert ein bisschen. »Geht es etwa um gestern Nacht? Hast du was damit zu tun?«

»Keine Ahnung, was du meinst«, sagt Lukas. Er schwingt die Beine aus dem Bett und steht auf. Aber dann dreht er sich doch noch mal um und nimmt seine Mutter in den Arm. Zum ersten Mal seit einer kleinen Ewigkeit. »Komm, Mama, ganz ruhig. Es ist alles okay, mach dir keine Sorgen. Es wird schon nichts weiter sein. Wahrscheinlich geht es um irgendwas ganz anderes, was weiß ich. Ich wimmele sie schon wieder ab, kein Grund zur Aufregung.«

Gar nichts ist okay, denkt er, während er die Treppe hinunterstolpert. Wieso sind sie so schnell auf ihn gekommen? Waren sie etwa auch schon bei Jannik? Hat sie doch irgendwer erkannt? Sie hätten das nicht machen sollen, die ganze Aktion war total hirnrissig. Und gebracht hat sie ohnehin nichts. Außer dass er jetzt irgendwelche Typen an den Hacken hat, die ihm dumme Fragen stellen wollen. Bleib cool, Alter! Ganz ruhig. Solange du dich nicht verplapperst, können sie dir gar nichts …

Drei

Die beiden Typen sind jedenfalls nicht vom AKW, da ist sich Lukas fast sicher. Aber ihre Antwort auf seine Frage, mit wem er es zu tun habe, glaubt er auch nicht: Umweltministerium, Abteilung für Strahlenschutz. Und auf seine Bitte, dass er gerne mal irgendeinen Ausweis sehen würde, bekommt er nur zwei in Plastik eingeschweißte Kärtchen hingehalten, die sich allerdings jeder im nächsten Copyshop selber basteln könnte. Foto, Landeswappen, unleserliche Unterschrift. Bevor er überhaupt noch die Namen richtig entziffern kann, sind die Karten bereits wieder in den Jackentaschen verschwunden. Und dann die mit aufgesetzter Kumpelhaftigkeit vorgetragene Gegenfrage: »Warum gleich so offiziell? Wollen Sie uns nicht vielleicht erst mal einen Kaffee anbieten und wir unterhalten uns ein bisschen? Wir haben nur ein paar Fragen an Sie, alles ganz harmlos, kein Grund, nervös zu werden. Es sei denn, Sie möchten uns etwas erzählen, was wir noch nicht wissen …«

»Keine Ahnung, was Sie meinen«, sagt Lukas und schiebt die Hände in die Hosentaschen, um zu demonstrieren, dass er jetzt ganz bestimmt keinen Kaffee kochen wird. Polizei, denkt er, das würde passen. Die Typen sehen aus wie die Bullen aus irgendeinem Krimi. Der eine im Anzug mit weißem Hemd und offenem Jackett, der andere mit T-Shirt und Lederjacke. Auf dem T-Shirt ist irgendein Aufdruck einer amerikanischen Universität, die es wahrscheinlich gar nicht gibt. Er hat auffällig lange Haare, glatt nach hinten gegelt, und müsste sich dringend mal rasieren. Keiner, der in einem Ministerium arbeitet, läuft so rum. Staatsschutz, nicht Strahlenschutz …

»Ich weiß nicht, was das soll«, mischt sich jetzt Lukas’ Mutter ein, die nach ihm in die Küche gekommen ist und den letzten Satz noch mitgekriegt haben muss. »Sie können doch nicht einfach …«

»Doch, können wir.«

Der mit der Lederjacke zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich. Der andere streckt Lukas’ Mutter die Hand hin: »Koschinski.« Er deutet mit dem Daumen zum Küchentisch. »Und mein Kollege Müller. Ein Kaffee wäre nicht schlecht, wir sind seit heute Morgen auf den Beinen. Tut mir leid, wenn wir ungelegen kommen, aber es muss sein. Wir machen auch nur unsere Arbeit.«

Lukas’ Mutter zuckt resigniert mit der Schulter, als wäre jeder Widerspruch ohnehin umsonst. Sie greift nach der Dose mit dem Kaffeepulver und füllt wortlos die Espressomaschine.

»Espresso ist klasse«, sagt Koschinski und setzt sich ebenfalls hin. Lukas überlegt, ob er unter irgendeinem Vorwand nach draußen verschwinden und seinen Vater anrufen soll. Der ist zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Aber was soll er ihm am Handy sagen? Komm schnell zurück, hier bei uns sind gerade zwei Typen aufgetaucht, die irgendwie komisch sind? Und wenn sein Vater fragt, was sie wollen, was soll er dann sagen? Weiß ich auch nicht? Er weiß doch, was sie wollen! Jedenfalls glaubt er es zu wissen. Er weiß nur nicht, ob man einfach sagen kann: Nee, passen Sie mal auf, so läuft das nicht. Sie gehen jetzt bitte wieder. Und zwar ohne Kaffee …

»Und Sie sind also Lehrerin?«, wendet sich der Typ mit der Lederjacke an Lukas’ Mutter. »Hier in Wendburg an der Grundschule, ja?« Als ob er das nicht schon längst wüsste! »Kein leichter Job, denke ich mal«, redet er weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Die Kinder sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Obwohl es hier im Ort ja wahrscheinlich recht friedlich zugeht. Verglichen mit der Großstadt, meine ich.«