World On Fire - Wolfram Hänel - E-Book

World On Fire E-Book

Wolfram Hänel

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Beschreibung

Kampf um unsere Zukunft

Es gibt keinen Planeten B - tut was! Lukas und Marie wissen, dass sie nicht länger nur zusehen dürfen. Sie selbst müssen etwas verändern. Und zwar jetzt, bevor es zu spät ist. Vor allem Lukas will mehr als immer nur diskutieren. Er bewundert die Umweltaktivisten der Gruppe OFF und ihre spektakulären Aktionen. Doch als er mitbekommt, was die Leute von OFF als Nächstes planen, ist ihm nicht wohl bei der Sache. Ist angesichts der drohenden Klimakatastrophe wirklich jedes Mittel erlaubt? Wie weit darf man gehen, um sein Ziel zu erreichen? Gleichzeitig erkennt Lukas, dass Marie nicht die ist, für die sie sich ausgibt. Er muss versuchen, etwas zu verhindern, was nur in einer Sackgasse enden kann …

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Seitenzahl: 218

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Für Ezra und Chaya

WOLFRAM HÄNEL

WRLD ON FIRE

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Erstmals als cbt Taschenbuch August 2022

© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign GbR

Umschlagmotive © Trevillion Images Ltd. (220881)

ck · Herstellung: aw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27859-5V001www.cbj-verlag.de

Wer wird die neue Welt bauen, wenn nicht du und ich?

(Ton Steine Scherben)

Warnung! Einige der im Roman beschriebenen Aktionen sind nicht zur Nachahmung geeignet. Sie verstoßen gegen geltendes Recht, erfüllen den Strafbestand der Sachbeschädigung und könnten Menschenleben gefährden.

1. I want you to panic

Lukas will die Leute aufrütteln. Die Aktion im Supermarkt läuft nicht wie geplant. Lukas macht eine geheimnisvolle Bekanntschaft.

Es ist schwieriger, als er dachte. Viel schwieriger. Obwohl er zu Hause geübt hat. Aber es ist ein Unterschied, ob so ein dämliches Grillhähnchen vor einem in der Spüle liegt oder im Kühlregal vom Supermarkt. Er hat Angst, die Nadel abzubrechen, aber er muss die Farbe bis tief ins Fleisch spritzen, sonst kann er die ganze Aktion vergessen …

Bei dem Probelauf, den er gemacht hat, war der Effekt verdammt gut. Keine fünf Minuten hat es gedauert, bis sich die Lebensmittelfarbe in den Fleischfasern überall verteilt hatte. Bis in die Beine und das stumpfe Loch am Hals, wo eigentlich der Kopf hingehört. Bei lebendigen Hühnern jedenfalls.

Er hat verschiedene Farben ausprobiert, bis er sich für Tartrazin entschieden hat. E 102. Mit dem klein gedruckten Hinweis »Kann Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen«. Was immer das nun bedeuten soll. Auf jeden Fall war das Zeug problemlos im Netz zu bestellen. Und die orangegelbe Verfärbung sah genauso giftig aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Grün wäre noch eine Alternative gewesen, E 142, war ihm dann aber nicht leuchtend genug.

Tartrazin also. Selbst jemand, der blöd genug ist, immer noch irgendwelches Billigfleisch zu kaufen, würde kapieren, dass da was verdammt Ungesundes unter der Plastikfolie steckt!

Mist, er braucht zu lange, um den Scheiß aus dem Regal zu nehmen und jedes Mal so zu tun, als würde er sich den Aufdruck auf der Packung durchlesen, während er heimlich die Spritze durch die Folie jagt. Er muss schneller sein. Bisher hat er gerade mal drei Päckchen mit Grillfleisch geschafft. Pikant gewürzt nach altdeutschem Rezept. Und ein paar Hamburger. Das reicht nicht. Und wenn er noch länger vor dem Kühlregal rumsteht, wird garantiert einer von den Angestellten auf ihn aufmerksam.

Er zieht sich das Hoodie noch weiter über den Kopf und hält die Tür mit der Schulter auf, jetzt kann er die Spritze direkt in die Packungen rammen, die vorne liegen. Kotelett, Schweinelende, Filetsteak, Bratwürstchen, Rollbraten. Wie am Fließband. Immer eine Ampulle für zwei Packungen. Neue Spritze und weiter.

Aus den Augenwinkeln sieht er den Typen im blauen Kittel, der vom Mittelgang aus auf ihn zusteuert. Mit einem Anzugträger im Schlepptau, Anzug, Krawatte, Brille und Glatze. Wahrscheinlich der Filialleiter höchstpersönlich.

Und die ersten Packungen, die er präpariert hat, schillern schon giftig gelb. Keine Chance, jetzt noch zu behaupten, dass er damit nichts zu tun hat. Dumm gelaufen, war ja aber eigentlich fast klar. Es wäre besser gewesen, das Ding zu zweit durchzuziehen. Mit einem, der die Fuzzis im Laden ablenkt, solange er am Kühlregal beschäftigt ist. Nur dass er Bennie dabei nicht gebrauchen konnte. An einen Typen im Rollstuhl würden sie sich garantiert erinnern. Und von den anderen wollte er keinen fragen. Die Sache war ganz allein sein Ding. Seine Idee. Sein Job. Seine Visitenkarte gewissermaßen.

Die Tür mit dem Schild NOTAUSGANG ist keine zehn Meter vom Kühlregal entfernt. Wenigstens das hat er sich vorher eingeprägt. Als Fluchtweg. Mit einem kurzen Spurt sollte er das schaffen, bevor sie ihm den Weg versperren können.

»He! Bleiben Sie mal da stehen!« Die Glatze! Höchste Zeit, sich abzusetzen. Nur dass der Typ im blauen Kittel jetzt die Richtung wechselt und jeden Moment beim Notausgang sein wird. Auf jeden Fall noch vor ihm, egal wie schnell er rennt. Als könnte der Typ Gedanken lesen!

»Ganz ruhig! Wir wollen nur wissen, was Sie da die ganze Zeit machen.«

Die Glatze kommt mit langen Schritten auf ihn zu. Garantiert der Filialleiter! In der Hand hat er ein Smartphone, wahrscheinlich hat er schon die Bullen angerufen …

»Kuckuck! Hier bin ich!« Der Ruf kommt so unerwartet, das der Filialleiter tatsächlich stoppt. Fast gleichzeitig stürzt die Dosenpyramide hinter ihm mit einem ohrenbetäubenden Scheppern in sich zusammen. Tomaten. Bohnen. Erbsen. Sonderangebot. Jede Dose 0,99 Euro.

Als die erste Dose durch den Laden fliegt, geht der Filialleiter hinter der Tiefkühltruhe in Deckung. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Bohnen neben ihm gegen die Wand knallen. Die nächste Dose fliegt in Richtung Blaukittel und verfehlt ihn nur um Haaresbreite.

Für einen Moment ist Lukas wie gelähmt, er kennt die Frau mit der Skimaske, er hat sie schon mal gesehen. Sie ist schneller als jeder, den er jemals beim Parkourlaufen getroffen hat. Schneller und vor allem besser. Als würde sie kein Risiko kennen. Aber er hat keine Ahnung, wer sie eigentlich ist. Er kennt sie nur mit der Maske. Schwarze Klamotten, schwarze Maske. Dass sie kein Typ ist, hat er an ihrer Figur gesehen. Aber er weiß noch nicht mal, ob sie blond oder dunkel ist.

Jetzt setzt sie mit einem einzigen Sprung über die Tiefkühltruhe hinweg, während sie gleichzeitig eine Packung Pommes auf den Filialleiter schleudert. Und ihn auch trifft, was ihr genug Zeit verschafft, um zu rufen: »Pennst du, Mann? Los komm, bleib dicht hinter mir!«

Wie auf Knopfdruck setzt sich sein Körper in Bewegung, er denkt nicht, er folgt nur der Frau vor sich. Die wie ein Schatten in Richtung Kasse läuft, über einen vollgepackten Einkaufswagen flankt, dann zur Kundentoilette abbiegt, die Tür aufreißt, am Waschbecken und den zwei Kabinen vorbeistürmt. Daneben ist noch eine Tür, die nur angelehnt ist und nach draußen führt. Eine Verkäuferin steht rauchend in der Sonne und schreit erschreckt auf. Dann quer durch den Hof und über die Mauer.

»Hier trennen wir uns, du nach links, ich nach rechts.« Und schon ist sie weg, wie ein Spuk. So wie beim letzten Mal, als er ihr begegnet ist.

2. Make capitalism history

Lukas denkt an die fremde Frau im Supermarkt. Er wünscht sich, dass Marie so wäre wie die andere. Seit Bennies Unfall ist nichts mehr so, wie es sein soll.

Irgendwie hatte er es sich anders vorgestellt. Den Tag nach seiner Aktion im Supermarkt. Die fast schiefgegangen wäre, aber das muss er ja keinem erzählen. Schlimm genug, dass die Frau Bescheid weiß, die ihn da rausgeholt hat. Es nervt ihn, dass er keine Ahnung hat, wer sie ist. Und dass er null Ideen hat, wie er das rauskriegen könnte. Auch beim Parkourlaufen hat er sie ja nur einmal kurz gesehen. Als wäre sie nur zufällig auf seiner Strecke unterwegs gewesen. Genauso zufällig, wie sie im Supermarkt aufgetaucht ist. Aber es sieht verdammt so aus, als hätte sie ihn beobachtet! Wahrscheinlich hält sie ihn jetzt für eine ziemliche Niete.

Stimmt ja auch ein bisschen, das war nicht gerade eine Glanzleistung, was er da abgeliefert hat. Zu wenig durchdacht, die Nummer. Ohne die Frau mit der Maske wäre er am Arsch gewesen, das steht mal fest. Bleibt die Frage, ob sie überhaupt was von ihm wissen will, falls er sie irgendwie aufspürt.

Er muss mit Bennie darüber reden, ob dem was einfällt. Kleine Raster-Fahndung im Netz oder so. Wird aber schwierig werden, selbst für Bennie mit seinen Hacker-Tricks. Wenn er weiter keine Informationen kriegt, kann er auch nur auf gut Glück ein bisschen rumsurfen: Frau mit Skimaske. Schwarze Klamotten. Ziemlich geile Figur, was er so gesehen hat. Und eine verdammt gute Parkourläuferin …

Es ist saublöd, dass die Zeitung wieder nichts als den üblichen Scheiß geschrieben hat. War aber eigentlich klar. Immerhin ist das Foto von der Überwachungskamera, das sie abgedruckt haben, echt der Hammer: Er und die fremde Frau, wie sie dicht hintereinander von der einen Tiefkühltruhe auf die andere rüberspringen. Bisschen unscharf, weil voll in der Bewegung, und von hinten. Zwei Typen, die ungefähr gleich groß sind. Einer mit Hoodie, einer mit Maske. Mehr ist nicht zu erkennen. Ist auch besser so, sonst hätten ihn vielleicht die Sneaker verraten. Hat nicht jeder solche Dinger mit dem Hanfblatt als Logo. Bescheuert, dass er nicht vorher daran gedacht hat.

Eigentlich war der Plan, dass er am nächsten Tag in der Schule zu Marie sagen kann: »Schon von der Aktion gestern gehört? Was glaubst du, wer der Typ war, der das gemacht hat? Du kennst ihn! Willst du einen kleinen Tipp?« Die Überraschung wäre ihm mit Sicherheit gelungen. Und Marie hätte kapiert, dass er mehr draufhat, als nur große Reden zu schwingen oder irgendwelche Sprüche zu machen. Aber jetzt mit dem Foto wird sie sofort wissen wollen, wer der zweite Typ ist.

»Kann ich dir nicht sagen«, wäre vielleicht keine schlechte Antwort. »Je weniger du weißt, umso besser für dich. Und auch für uns, für die ganze Gruppe, verstehst du?«

Ist aber Quatsch, weil Marie genau weiß, dass es keine Gruppe gibt. Und dass der zweite Typ unmöglich Bennie sein kann, weil jemand, der im Rollstuhl sitzt, nun mal nicht zwischendurch über Tiefkühltruhen springt.

So viel zu seiner Idee, Marie zu beeindrucken. Klar ist er verknallt in Marie. Wäre ja wohl jeder, der nicht nur mit ihr geknutscht, sondern noch ein paar ganz andere Sachen mit ihr gemacht hat. Oder vielmehr sie mit ihm. So war es nämlich!

Er hätte sich nie getraut, sie einfach so zu fragen, ob sie mit ihm ins Bett will. Aber sie hat genau das getan. Wenn sie dann auch nicht zusammen im Bett gelandet sind, sondern …

Egal. Es ist ja sowieso nur dieses eine Mal passiert! Nach der Demo, als sie sich in der Kirche versteckt hatten. Oben auf der Empore, neben der Orgel. Wo dann leider genau im falschen Moment der Pfarrer aufgetaucht ist. Zum Glück hat er auf der Treppe zu ihnen hoch so laut gekeucht, dass sie ihn gerade noch rechtzeitig gehört haben.

Lukas wird nie vergessen, wie Marie kackfrech behauptet hat, dass sie sich nur deshalb heimlich in die Kirche geschlichen hätten, weil sie einmal in ihrem Leben Orgel spielen wollte. Und bevor der Pastor noch mitgekriegt hat, dass ihr Slip keine zwei Meter vor ihm auf dem Boden lag, hatte Marie sich schon auf die Orgelbank gesetzt und angefangen zu spielen. Alle Register bis zum Anschlag, volles Gebrause und so, ziemlich überzeugend. Johann Sebastian Bach, wie sie ihm hinterher erzählt hat. Und natürlich war es nicht das erste Mal, dass sie Orgel gespielt hat! Ihre Mutter ist Organistin. Und spielt auch Keyboard in einer Band. Er wusste, dass Marie auch Klavier spielen kann, aber da in der Kirche hat er zum ersten Mal gehört, was sie draufhat.

Der Pastor war geplättet. Zu Recht! Weshalb er auch erst fünf Minuten später argwöhnisch gefragt hat, ob sie nicht vielleicht doch zu den Chaoten von der Demo gehören würden.

»Wir?«, hat Marie empört gerufen und sich ihre Dreadlocks nach hinten geschleudert. »Sehen wir etwa so aus?« Dann hat sie sich gebückt und in aller Seelenruhe ihren Slip eingesteckt. Und dann sind sie die Treppe runter und weg. Raus aus der Kirche und über den Friedhof bis zum Fluss.

Lukas weiß noch, dass er gedacht hat, Marie würde sich wie eine gute Parkourläuferin bewegen. Als er gesehen hat, wie sie die Mauer angegangen ist, über die sie rüber sind. Er hat sie auch gefragt. Ihre Antwort war nicht so ganz eindeutig: »Hab ich mal eine Weile gemacht, ja, war aber irgendwie nicht mein Ding.«

Vielleicht kennt nur er diese andere Marie. Die da offensichtlich noch ein ganz anderes Leben hatte, bevor sie zu ihnen an die Schule gekommen ist. Anderes Leben, andere Stadt, andere Leute. Sie redet nicht viel darüber. Und in der Schule ist sie mit keinem sonst wirklich befreundet. Die meisten halten sie auch für zu ernst oder arrogant. Dabei ist sie cool und schlau und sieht gut aus und alles, aber es scheint, als wollte sie niemanden zu dicht an sich ranlassen. So was Ähnliches hat sie auch zu Lukas gesagt. Nach der Sache hinter der Orgel, einen Tag später oder so: »He, du bist echt okay, aber wir lassen es besser bei einer Freundschaft. Alles andere macht nur Probleme. Vergiss einfach, dass wir miteinander rumgemacht haben, es kommt nicht wieder vor.«

Erst hat Lukas gedacht, dass es wahrscheinlich noch einen anderen gibt. Von früher. Inzwischen ist er sich ziemlich sicher, dass er sich geirrt hat. Da ist keiner weiter. Aber es scheint, als hätte Marie Angst davor, dass jemand sie zu sehr einschränken könnte. Dass sie dann nicht mehr einfach machen kann, was sie will.

»Ist doch kein Problem«, hat er zu ihr gesagt. »Wir sehen uns nur, wenn es für dich okay ist. Und ansonsten macht jeder sein eigenes Ding.«

Aber Marie hat nur den Kopf geschüttelt.

Für eine Sekunde wünscht er sich, dass Marie mehr wie die fremde Frau mit der Skimaske wäre. Die hätte bestimmt kein Problem damit, ein bisschen Bonnie und Clyde mit ihm zu spielen. Sie beide gegen den Rest der Welt oder so was. Das wär’s, denkt er. Marie und ich. Und dann aber ein paar Aktionen, über die sie alle reden würden. Und die so schnell keiner vergisst, weil sie einfach verflucht gut sind. Richtig geplant und professionell durchgezogen. Das wär’s.

Lukas ist spät dran. Nur Marie kommt noch nach ihm in die Klasse. So ziemlich zeitgleich mit dem Lehrer. Und sie setzt sich sofort an ihren Platz, ohne ihm auch nur einen Blick zuzuwerfen. Obwohl sie garantiert den Zeitungsartikel gelesen hat. Und normalerweise sind solche Aktionen immer etwas, worüber sie miteinander reden. Weil Marie genauso wie er schon bei den Schlagzeilen ausflippt, wenn die Zeitung mal wieder nichts Besseres hingekriegt hat, als von »linken Chaoten« zu schreiben. Linke Chaoten, Linksradikale, Personen aus dem linksextremen Spektrum. Egal, worum es geht. Alles wird sofort plattgemacht und mit dem Stempel »Verfassungsfeind« versehen. Nicht nur bei jeder Klima-Demo, sondern genauso bei Aktionen gegen Polizeigewalt oder die Flüchtlingspolitik und das Massensterben auf dem Mittelmeer. Oder eben beim Thema Tierhaltung und Billigfleisch:

LINKECHAOTENVERGIFTENFLEISCHIMSUPERMARKT.

Der Lehrer holt die Zeitung aus seiner Tasche und hält sie hoch, sodass jeder die Schlagzeile mit dem Foto sehen kann.

»Ich hoffe, das war niemand von euch«, erklärt er. Sein verkniffenes Grinsen zeigt deutlich, dass er seinen Satz nicht so ironisch meint, wie er klingen soll. »Wir waren uns doch einig, dass Gewalt niemals der richtige Weg sein darf ! Ebenso wenig wie solche illegalen Aktionen …

Und bla, bla, bla, Lukas hört schon nicht mehr hin. Eigentlich ist der Lehrer ganz in Ordnung, Studienrat für Deutsch und Politik. Aber manche Sachen kriegt er einfach nicht auf die Reihe. Und sogar Fridays for Future sind ihm zu radikal. Vielleicht stört es ihn aber auch nur, dass sie die Schule schwänzen. Typisch Lehrer, würde passen, auch wenn er es nie zugeben würde. Professionelle Deformation nennt man das wohl. Nichts mitkriegen, was nicht den Rahmenrichtlinien entspricht.

Aber hey, denkt Lukas, es geht um unser Leben, es ist unsere Zukunft! Extinction rebellion. Klingt drastisch, ist aber so. Wenn sie nicht ausgelöscht werden wollen, müssen sie was tun. Ein paar Dinge verändern, die hier verdammt schieflaufen. Mehr als nur ein paar Dinge! Und es muss jetzt passieren, nicht 2040 oder 2050. Dann wird es zu spät sein, das war’s dann nämlich.

Aber dafür reicht es nicht, jeden Freitag auf die Straße statt in die Schule zu gehen. Genauso wenig wie jede andere Demo mit schönen Parolen und Handzetteln. Sie haben es ja versucht, die Leute ganz sachlich über die Faktoren zu informieren, die für den Klimawandel verantwortlich sind. Dass alles zusammenhängt! Und dass es nicht nur darum geht, ein paar Bäume zu retten oder so, sondern dass die Gesellschaft verändert werden muss: MAKECAPITALISMHISTORY! Die Idee vom Profitwachstum funktioniert nicht mehr. Und es ist auch nicht 5 vor 12, sondern schon lange drüber. Das will aber keiner hören! Solange die Leute scheinbar ohne Probleme weitermachen können wie bisher, will auch niemand seine Gewohnheiten verändern. Oder ganz und gar plötzlich auf etwas verzichten, was er schon immer so gemacht hat. Die tägliche Billigfleischorgie gehört genauso dazu, wie mit dem Auto zum Brötchenholen zu fahren. Der ganze andere Scheiß, der jetzt gerade anfängt, ihnen gewaltig um die Ohren zu fliegen. Deshalb wird es eben nicht reichen, ein bisschen zu demonstrieren.

Fridays for Future machen ja eigentlich nichts weiter, als von der Regierung die Erfüllung der Klimaziele einzufordern, die die Politiker selber vorgegeben haben, mehr nicht. Und trotzdem reicht das schon, um die Leute durchdrehen zu lassen. Lukas hat noch deutlich den Alten mit der Brille vor Augen, der kurz davor war, sie nicht nur zu beschimpfen, sondern zu schlagen. Weil sie gerade im Moment daran schuld wären, wenn das Klima kippt, hat er behauptet und auf die Autoschlange gezeigt, die wegen der Demo nicht weiterkam: »Da stehen die ganzen Autos jetzt und verpesten die Luft – wegen euch Spinnern!«

Es wird sich nur etwas ändern, wenn die Leute Angst kriegen. Und zwar davor, dass ihnen selbst etwas passiert! Deshalb ist er ja auch auf die Nummer mit der Lebensmittelfarbe gekommen. Damit jeder Angst kriegt, dass er sich gerade voll das Gift reinzieht. Als mal rausgekommen ist, dass irgendeine Fertig-Lasagne aus Pferdefleisch bestand, hat es sofort ein paar Tausend Vegetarier mehr gegeben …

Lukas schreckt hoch, als er Maries Stimme hört.

»Die Aktion mit der Farbe war bescheuert«, erklärt sie gerade. »Selbst wenn die Typen nicht so doof gewesen wären, sich fast noch erwischen zu lassen, bringt es doch nichts, wenn das Fleisch schon im Kühlregal so giftig aussieht, dass die Verkäufer es sofort bemerken. Spätestens wenn der erste Kunde was sagt! Und dann brauchen sie es nur auszutauschen und in den Container zu werfen, mehr passiert nicht. Die Fleischfresser kriegen das doch nicht mal mit!«

»Da hat sie recht«, meldet sich Bennie zu Wort. »Um Panik zu machen, reicht das nicht.«

Lukas merkt, dass er wütend wird. Weil ihm plötzlich klar wird, dass die beiden recht haben. Es stimmt ja, was sie sagen! Aber trotzdem, hinterher kann jeder rumlabern und irgendwas besser wissen!

»Ach ja?«, blafft er Bennie an, ohne sich darum zu kümmern, ob noch jemand was sagen will. »Ist ja schön, was du alles weißt. Dann erzähl doch mal, wie du es gemacht hättest.«

»Ganz ruhig, Leute, bleibt bitte sachlich, ja«, mischt sich der Lehrer ein.

»Gerne!«, kommt es sofort von Marie, noch bevor Bennie etwas erwidern kann. »Ganz sachlich, Lukas! Die Idee mit der Farbe ist nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Das könnte nur funktionieren, wenn die Fleischproduzenten ihr Zeug mit Aufrufen in der Zeitung zurücknehmen müssten, weil sie einen Brief gekriegt haben, in dem steht, dass nicht überall nur Farbe reingespritzt wurde, sondern tatsächlich irgendein Gift, was man aber nicht sieht.«

»Stopp!«, sagt der Lehrer. »Das wäre nicht nur höchst kriminell, sondern würde Menschenleben gefährden, also …«

»Also brauchen wir was anderes«, macht Marie weiter. »Vor allem müssen die Leute glauben, dass das Fleisch nicht von irgendwelchen … Chaoten vergiftet wurde, sondern dass wirklich was nicht stimmt mit ihrem Grillhähnchen aus der Massentierhaltung, weil es nämlich scheiße schmeckt. Also nicht Farbe nehmen, sondern irgendein Zeug, das harmlos ist, aber den Geschmack verändert.«

Marie lässt ihn nicht aus den Augen, Lukas überlegt fieberhaft, ob das heißen soll, dass sie bei einer solchen Aktion vielleicht mitmachen würde. Aber das passt nicht zu Marie, sie ist diejenige, die Flugblätter verteilt und auf der Demo ruft: Wenn das Klima eine Bank wäre, ihr hättet es schon längst gerettet! Und: Wir sind hier, wir sind laut! Weil ihr uns die Zukunft klaut! Mehr nicht. Sie wird niemals so sein wie die fremde Frau mit der Maske, die mit Konservendosen und tiefgefrorenen Pommestüten wirft …

Jetzt reden alle durcheinander. Wie üblich gibt es wieder zwei Lager in der Klasse. Irgendjemand will von Marie wissen, ob sie »so was« wirklich machen würde.

»Seh ich so aus?«, fragt Marie und wirft ihre Dreadlocks zurück.

»Ja«, grinst Bennie. »Marie als Staatsfeind Nummer eins. Leichen pflastern ihren Weg und so.«

»Danke, Bennie«, erwidert Marie in das Gelächter hinein. »Ich hoffe nur, dass du dann den Fluchtwagen für mich fährst.«

»Geht klar«, meint Bennie und klopft mit der Hand auf den Greifring des Rollstuhls. »Ich und mein Porsche gehören dir! Fuck all Grillhähnchen!«

Natürlich fängt sich Bennie einen warnenden Blick des Lehrers ein, aber von einem Moment zum nächsten ist die Stimmung nicht mehr so aggressiv. Und zumindest können sie sich alle darauf einigen, dass die letzten Sätze des Zeitungsartikels mehr als haarsträubend sind. Dumm, bösartig, zynisch. Auch der Lehrer ist da auf ihrer Seite. Bei bestimmten Sachen kann er dann doch über seinen Tellerrand gucken. Das spricht für ihn. Obwohl es leider nur dann passiert, wenn er selber sich so veralbert vorkommt, dass er sauer wird …

Der Redakteur hat es tatsächlich fertiggebracht zu behaupten, dass die Politik ja doch längst reagiert hat, dass die gesetzlichen Vorgaben zur Tierhaltung vollkommen ausreichend sind: »Wenn das Tierwohl auch aus ökonomischen Gründen nicht an erster Stelle stehen kann, so wird doch alles dafür getan, eine größtmögliche artgerechte Haltung zu gewährleisten. Womit nochmals deutlich wird, dass Aktionen wie die im Supermarkt aus rein ideologischen Motiven von Leuten durchgeführt werden, die sich jeder sachlichen Argumentation verweigern und versuchen, die Menschen in diesem Land mit völlig haltlosen Behauptungen zu manipulieren.«

»Ja!«, ruft Bennie. »Die Erde ist eine Scheibe, Schweine können fliegen, und die Landwirtschaftsministerin ist die heilige Johanna der Tierrechte.«

Er greift in seine Schultasche und zieht den Laptop hervor, der mit Aufklebern übersät ist. Another world ist possible. FCKNZS. Vegetarier aller Länder vereinigt euch.

»Ich zeig euch was, passt dazu …«

Seine Finger fliegen über die Tastatur, dann poppt ein Foto auf, ein überdimensionales Plakat vor einem Mastbetrieb mit der Überschrift: SIEWILLNICHTSALSIHRE 1,5 QUADRATMETER, SONSTWÄRESIELÄNGSTWEGGELAUFEN. Und auf dem Foto ist eine Sau zu sehen, deren Box so eng ist, dass die Gitterstäbe sich in ihr Fleisch drücken.

»Das ist keine Satire, Leute, das kommt von einem Betrieb in Amerika, wo die Schweinefleischindustrie gerade solche Kampagnen fährt, um ihr Image aufzubessern. Kein Witz!«

Und dann ist die Stunde zu Ende.

»Gutes Timing«, sagt irgendjemand. »Teilt sich einer sein Wurstbrot mit mir?«

Niemand lacht. Es ist einer von diesen Momenten, in denen Lukas denkt, dass sie vielleicht doch etwas bewirken können. Sie sind zwanzig Leute, dreiundzwanzig, um genau zu sein. Und es ist keiner dabei, der behaupten würde, dass alles nur gelogen ist. Sie wissen alle, dass irgendwas passieren muss. Weil sie nämlich auch alle Angst haben, wie es in zehn oder zwanzig Jahren sein wird. Wenn die, die jetzt gerade jede Veränderung verhindern, schon lange im Pflegeheim sitzen und Gedächtnisübungen für Demenzkranke machen.

Fast alle von ihnen haben begriffen, dass es nicht darum geht, irgendwelche neuen Technologien zu erfinden, die die Welt retten werden. Und fast alle tun auch was, essen kein Fleisch mehr, fliegen nicht mehr, fahren Fahrrad, ökologischer Fußabdruck und so. Und wenn sie das durchhalten und andere überzeugen mitzumachen, dann …

Nein, denkt er im nächsten Moment. Das wird nicht reichen. Es werden nie genug Leute mitmachen. Für die meisten ist es okay, nicht mehr dauernd was Neues zu kaufen, kein Plastik, kein Fleisch mehr, nicht mehr fliegen und so was. Für die meisten von uns jedenfalls. Aber spätestens wenn es darum geht, irgendwie Ärger zu riskieren mit den Bullen oder irgendwelchen Behörden, werden sie abspringen. Weil sie nicht kapieren, dass es gar nicht mehr anders geht. Genauso wenig wie irgendeiner kapiert, dass wir eigentlich jetzt schon echt am Arsch sind. Weil das keiner kapieren will, ich selber ja auch nicht!

Aber wir können auch nicht so tun, als hätten wir keine Ahnung davon, was schon in den nächsten Jahren so passieren wird. Also haben wir nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir verkriechen uns jetzt heulend in irgendeiner Ecke und warten darauf, dass es möglichst schnell vorbei ist. We’re fucked. Learn to die!

Oder aber wir machen was. Und wenn es nur darum geht, den Arschlöchern auf dieser Welt zu zeigen, dass sie mit ihrem Scheiß nicht mehr einfach so durchkommen. Sondern dass da Leute sind, die so lange nerven werden, bis man ihnen endlich mal zuhört.

So ähnlich sagt er das dann in der Pause noch mal. Auch Bennie ist jetzt wieder auf seiner Seite. Und sagt: »Wir geben erst Ruhe, wenn man der Welt anmerkt, dass wir da sind.«

Kein schlechter Spruch, denkt Lukas, wo immer Bennie ihn aufgeschnappt hat. Wahrscheinlich irgendwo im Netz, wie alles, was sein Freund so an verblüffendem Zeug weiß.

Bennie grinst und streckt den Arm aus. »Gib mir fünf, Alter!«

Sie klatschen sich ab. Und Bennie zwinkert ihm kurz zu, sie haben später noch eine Verabredung, immer dienstags um fünf. Ist so was wie eine Tradition, selber Tag und selbe Zeit wie früher, nur dass sie nicht mehr auf der S-Bahn surfen. Geht ja nicht mehr, seit Bennie im Rollstuhl sitzt. Aber dafür verhelfen sie jetzt anderen zu ein paar Sekunden »Freiflug«, wie Bennie es nennt. Oder auch wood diving. Wie stage diving, nur mit Bäumen statt Bühne. Und ohne dass unten welche sind, die dich auffangen. Er zwinkert zurück. Sieht, wie Marie unwillig den Mund verzieht. Und sich umdreht und einfach geht.