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Sylt im Ausnahmezustand: Brutale Mordfälle und mutwillig zerstörte Baustellen halten die Sylter Kripo in Atem. Alles deutet auf eine Bürgerinitiative hin, die sich mit radikalen Mitteln gegen den Ausverkauf ihrer Heimat zur Wehr setzt. Doch als Journalist Robert Benning ein Skalp samt Bekennerbrief zugestellt wird, nimmt der Fall eine Wendung, mit der Benning und Kriminalkommissar Hinrichs niemals gerechnet hätten … Nach "Juli.Mord." legt Erfolgsautor Bodo Manstein mit "Strand.Blut." einen weiteren hochklassig spannenden und atmosphärisch dichten Ermittler-Roman vor. Die geschickt konstruierte Geschichte mit der beliebtesten deutschen Ferieninsel Sylt als Schauplatz bietet perfekte Urlaubslektüre.
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Seitenzahl: 343
Bodo Manstein
Strand.Blut.
Sylt-Krimi
Knaur e-books
Sylt im Ausnahmezustand: Brutale Mordfälle und mutwillig zerstörte Baustellen halten die Sylter Kripo in Atem. Alles deutet auf eine Bürgerinitiative hin, die sich mit radikalen Mitteln gegen den Ausverkauf ihrer Heimat zur Wehr setzt. Doch als Journalist Robert Benning ein Skalp samt Bekennerbrief zugestellt wird, nimmt der Fall eine Wendung, mit der Benning und Kriminalkommissar Hinrichs niemals gerechnet hätten …
Nach seinem ersten Sylt-Krimi »Juli.Mord.« legt Erfolgsautor Bodo Manstein mit »Strand.Blut.« einen weiteren hochklassig spannenden und atmosphärisch dichten Ermittler-Roman vor. Die geschickt konstruierte Krimi-Geschichte mit der beliebtesten deutschen Ferieninsel Sylt als Schauplatz bietet perfekte Urlaubslektüre.
Für Dirk
053° 58,0'N 008° 30,5'E
Sein Blick wanderte langsam den hohen Kran hinauf, der sich wie ein drohender Finger vor ihm in den Sylter Nachthimmel reckte. Dennis Meister schluckte. Da sollte er rauf? Er dachte noch einmal an das verächtliche Grinsen seines Bruders. »Feigling« und »Memme« hatte Arne ihn genannt. Wie schon so oft. Wenn er jetzt nicht beweisen würde, dass er eben nicht nur der kleine Bruder war, wann dann?
Im matten Licht der Straßenlaternen warf der schiefe Bretterzaun einen langen Schatten auf die Baustelle an der Ecke Schützenstraße und Dr.-Roß-Straße. Vor Dennis erhob sich der Umriss eines Rohbaus an einer Stelle, die ihm nicht unbekannt war. Früher hatte hier ein Einfamilienhaus gestanden, in dem eine Sylter Familie über Generationen gelebt hatte. Torben, einer seiner besten Freunde aus der Grundschule, hatte hier gewohnt. Wie oft er mit Torben zusammen durch den Garten getobt war, vermochte er nicht zu sagen, doch wo jetzt Paletten mit Dachziegeln und roten Klinkersteinen standen, hatten sie noch vor einigen Jahren fröhlich geschaukelt und im Sandkasten gebuddelt.
Nun war Torben weg. Wie so viele seiner Freunde, deren Eltern die ins Uferlose gestiegenen Mieten auf Sylt nicht mehr aufbringen konnten. Nach und nach waren sie aufs Festland gezogen und gingen nun dort zur Schule und hatten neue Freunde. Torbens Mutter kam, wie viele Sylter, die zu ihren Arbeitsstellen pendeln mussten, jedes Wochenende herüber, um Ferienappartements zu reinigen. Vielleicht ja bald auch in dem Ferienhaus, das hier entstehen sollte, just an dem Platz, der einst ihr Zuhause gewesen war.
Viele Freunde waren Dennis nicht geblieben. Irgendwie schien es ihm, als drohte die Insel auszusterben. Sein Blick fiel auf die Balken des Dachstuhls, die wie die Rippen eines riesigen Skeletts anklagend emporragten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er spürte, wie seine Knie zu zittern begannen. Ganz fest drückte er sich mit dem Rücken an den Zaun und blickte noch einmal zu dem Ausleger des Krans hinauf. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Die Aufregung, dachte er. Noch vor einer knappen Stunde hatte er in seinem Bett gelegen und darauf gewartet, dass seine Eltern endlich schlafen gehen würden, doch ausgerechnet heute waren sie noch lange aufgeblieben. Etwas lag in der Luft, das spürte er. Sie stritten in letzter Zeit häufiger als früher.
Irgendwann war es dann still im Haus geworden, und er hatte sich durch ein Kellerfenster hinausgeschlichen. Anschließend war er am Strand entlanggegangen, um nicht durch die Stadt zu müssen und möglicherweise gesehen zu werden. Wie ein Phantom wollte er sein Ziel erreichen und genauso unsichtbar wieder nach Hause gelangen.
Das Motorengeräusch eines näherkommenden Autos riss ihn aus seinen Gedanken. Vorsichtig schob er die losen Bretter, durch die er hineingeschlüpft war, einen Spaltbreit auseinander. Ein Jaguar S-Type mit Hamburger Kennzeichen rollte langsam vorbei und bog nach rechts in die Käpt’n-Christiansen-Straße ab. Dann war es wieder still. Dennis atmete erleichtert aus. Seine Entscheidung, eine Baustelle in diesem Teil Westerlands für sein Vorhaben auszuwählen, war zweifellos goldrichtig gewesen. Hier war es auch während der Saison relativ ruhig. Das Nachtleben tobte einige Querstraßen weiter, zwischen Friedrichstraße und Strandstraße. Dennoch würde seine Aktion genug Aufmerksamkeit erregen.
Dennis schloss die Augen. Für einen Moment lauschte er dem beruhigenden Rauschen der Wellen, das von jenseits der nahen Dünenkette herüberdrang. Er zählte bis drei, bevor er seine Augen wieder öffnete und sich mit einem Ruck vom Zaun abdrückte. Geduckt rannte er zwischen Stapeln von Schalbrettern und leeren Europaletten auf die andere Seite der Baustelle und fand im Schatten des massiven Ausgleichsgewichts, das auf dem Unterwagen des Krans ruhte, erneut Deckung. Ehrfürchtig wanderte sein Blick nach oben. Von hier unten wirkte der Ausleger noch furchteinflößender.
In zehn Metern Höhe und ungefähr in der Mitte des Auslegers baumelte träge eine Tischkreissäge an dem schweren Lasthaken des Krans. Dennis schluckte und nahm seinen Rucksack von der Schulter.
»Total bekloppt«, sagte er leise zu sich selbst und angelte ein schweres Bügelschloss hervor. »Die Säge abschneiden. Die haben sie doch echt nicht alle.« Erneut wanderte sein Blick hinauf. Wie hätte er das denn schaffen sollen? So eine blöde Idee konnte ja nur von Arne kommen. Zum Glück hatte Odin andere Pläne gehabt. Ein Bügelschloss sollte auf halbem Weg zur Laufkatze so an dem Ausleger angebracht werden, dass diese sich bei der nächsten Inbetriebnahme des Krans verkeilen würde, so und nicht anders sollte es gemacht werden. Arnes hämisches Grinsen war ihm bei dem Befehl ihres Anführers aus dem Gesicht gewichen und Dennis ein Stein vom Herzen gefallen. Odin widersprach man nicht. Zu dem Zeitpunkt hatte Dennis noch gedacht, die Sache mit dem Bügelschloss sei machbar. Jetzt, so kurz vor dem Ziel, war er sich dessen nicht mehr so sicher.
»Du musst es schaffen«, sagte er leise zu sich selbst und atmete noch einmal tief durch, bevor er aus seinem Versteck sprang. Wieselflink stieg er auf den Unterwagen, schob sich das Schloss in den Hosenbund und griff entschlossen nach der ersten Querstrebe des Gittermastes. Das kalte, feuchte Metall ließ ihn erneut innehalten. Er taxierte den vor ihm liegenden Weg. Die ersten drei Meter musste er außen hochklettern, da die untersten Sprossen der innen angebrachten Kranleiter mit einer Holzplatte gesichert waren, um Unbefugten den Aufstieg zu verwehren.
Also los, dachte er und zog sich mit einer entschlossenen Bewegung an der Strebe hoch. Hektisch tastete sein linker Fuß nach einem Halt, rutschte jedoch jedes Mal wieder auf den zickzackförmig angeordneten Querstreben ab. Schwer atmend und nur mit der Kraft seiner Arme hing er zweifelnd an dem blanken Metall. Niemand wusste, dass er hier war. Selbst Arne nicht. Skeptisch blickte Dennis nach oben.
Wenn ich da runterklatsche, dann war’s das.
Du weißt doch, dass Lebensversicherungen bei Selbstmord nicht zahlen!«, rief Silvia Steinmann und sah Hans Weyde verzweifelt an.
»Zumindest nicht innerhalb der Karenzzeit«, sagte Weyde. »Das hätte Rolf sich aber auch denken können, bevor er …« Er verstummte. Mit einer Mischung aus gespieltem Mitleid und echtem Vorwurf erwiderte er ihren Blick.
Niedergeschlagen saß Silvia Steinmann vor seinem Schreibtisch. Den Tränen nahe, senkte sie den Kopf.
»Ich brauche das Geld aber bis Freitag«, sagte sie leise. Noch einmal blickte sie auf den überdimensionalen Taschenrechner, der vor ihr auf dem Tisch lag. Weydes Angebot entsprach nicht annähernd dem, was sie erwartet hatte. Und sie hatte wirklich nicht viel erwartet. Nicht bei ihm.
»Einhundertdreißigtausend? So viel haben wir doch schon vor zehn Jahren bezahlt.«
Zaghaft blickte sie zu ihm auf, während sich ihre Finger in das zerknüllte Taschentuch krallten, das sie in ihren Händen hielt.
»Mehr ist beim besten Willen nicht drin«, erwiderte Weyde knapp und lehnte sich in die Lederpolster seines Bürosessels zurück.
»Aber das Haus ist doch inzwischen viel mehr wert.« Silvia Steinmann tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Es könnte mehr wert sein«, sagte Weyde, dabei schwang ein leicht vorwurfsvoller Unterton in seiner Stimme mit. Er beugte sich über den ausladenden Designerschreibtisch zu ihr hinüber und nahm seine randlose Lesebrille ab. »Vergiss aber bitte nicht, liebe Silvia, was noch alles in euer Haus reingesteckt werden muss.« Er musterte sie mit einem schulmeisterlichen Blick, bevor er sich mit einer ausholenden Bewegung die Brille wieder aufsetzte. Mit hochgezogenen Augenbrauen blätterte er in der Mappe, die aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag.
»Eine neue Heizung, neue Fenster und, wie ich das sehe …«, erneut blätterte er bedeutsam hin und her, »… ist das Dach auch bald fällig. Das sind alles Kosten, die auf den neuen Eigentümer zukommen. Das kann ich nicht einfach so aus Gefälligkeit beiseiteschieben. Bei allem Verständnis für eure Situation.«
Silvia Steinmann nickte und presste die Lippen aufeinander. Sie dachte an die vielen Kostenvoranschläge der Handwerker, die sich seit langem in ihrer Küchenschublade sammelten. Aber ihre kleine Witwenrente reichte auch so schon hinten und vorne nicht. Und ohne die wöchentlichen Appartementreinigungen … Sie durfte gar nicht daran denken.
»Aber, Hans«, sagte sie. »Das kostet doch keine 100000 Euro.« Sie kannte die aktuellen Sylter Immobilienpreise, da sie sich sehr genau im Internet informiert hatte, bevor sie sich an Weyde gewandt hatte. Selbst unter Berücksichtigung der unstrittigen Renovierungskosten blieb sein Angebot immer noch weit hinter dem wirklichen Wert zurück. Dieses Wissen gab ihr noch einmal etwas Kraft. Sie richtete sich auf und sah ihm fest in die Augen. Mit gelassener Miene erwiderte Weyde ihren Blick.
»Du weißt doch selbst, was derzeit auf der Insel los ist«, sagte er. »An jeder Ecke wird gebaut.«
»Bei deinen Kontakten dürfte das ja wohl kein Problem sein«, unterbrach sie ihn beherzt. Sie spürte, wie langsam die Wut in ihr aufstieg. Wie konnte er ihre missliche Lage nur derart ausnutzen? Sie hatte nie viel auf Gerüchte gegeben, doch »Lister Immobilienhai«, wie man Weyde hinter vorgehaltener Hand im Dorf nannte, schien dann doch nicht so weit hergeholt zu sein.
»Aber, Silvia«, sagte er. Sein gelassener Gesichtsausdruck wich jetzt einem leidenden. »Normalerweise wäre es auch kein Thema. Aber du ahnst ja nicht, was hier los ist, seit der Bund seine Häuser und Grundstücke versilbert. Die Auftragsbücher der Handwerker sind randvoll. Da helfen auch noch so gute Kontakte nichts. Ich würde dir ja wirklich gerne mehr entgegenkommen, schon allein wegen Rolf. Aber …«
Silvia Steinmann bebte innerlich. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Aus Wut. Aus Hilflosigkeit. Aus Verzweiflung. Doch sie riss sich zusammen. Die Jahre nach Rolfs Tod hatten schon zu viel Kraft gekostet. Weiß Gott, sie hatte doch nun wirklich alles versucht, um das Haus zu halten. Allerdings ließen sich ihre Gläubiger nicht noch länger hinhalten. Das Ultimatum, das sie letzte Woche erhalten hatte, war unmissverständlich. Mit einem tiefen Seufzer ergab sie sich ihrem Schicksal und kehrte in die Rolle der Bittstellerin zurück.
»Kannst du wirklich nichts mehr machen? Du weißt doch, dass ich mich so kurzfristig an niemand anderen mehr wenden kann.«
»Auch dann würdest du kaum ein wesentlich besseres Angebot bekommen«, sagte Weyde mit sanfter Stimme.
Silvia Steinmann nickte schwach. Sie wagte nicht aufzusehen. Stattdessen stopfte sie sich umständlich das nasse, zerfledderte Papiertaschentuch in die Hosentasche und beugte sich zu ihrer City Bag hinunter. Schniefend kramte sie auf der Suche nach frischen Taschentüchern darin herum.
»Bitte.« Weyde hielt ihr eine offene Packung Tempos hin, die er einer der Schreibtischschubladen entnommen hatte.
Silvia Steinmann sah kurz zu ihm auf, während sie im gleichen Moment ihre eigenen ertastete. Ohne sein Angebot zu beachten, richtete sie sich wieder auf, zupfte ein Tuch hervor und schneuzte sich die Nase.
»Schau mal«, sagte Weyde und warf seine Tempos mit einer gleichgültigen Geste in die Schublade zurück. »So ist es wirklich das Beste. Mit einem Schlag wärst du alle deine Sorgen los.«
»Aber unser Haus«, schluchzte sie.
Sie dachte an Rolf.
»Unser ganzes Leben haben wir für diesen Traum gespart. Wo sollen Hauke und ich denn hin? Bei dem bisschen, was wir verdienen. Und bei den Mieten.«
»Geht doch aufs Festland. Hauke kann doch von dort nach Westerland pendeln. Er müsste sich nicht mal einen neuen Job suchen. Das ist doch kein Problem. Weißt du eigentlich, wie viele ehemalige Insulaner das inzwischen so machen?«
Ohne auf seine Frage einzugehen, startete sie einen letzten Versuch.
»Und du kannst wirklich überhaupt nichts mehr am Preis machen?« Sie sah ihn flehentlich aus rotgeränderten Augen an.
Weyde runzelte nachdenklich die Stirn. Abermals blickte er prüfend in die Mappe und blätterte hin und her, während er abwägend mit dem Kopf wippte. Schließlich nahm er die Brille ab und warf sie vor sich auf die Unterlagen.
»Weil du es bist«, sagte er und fixierte sie mit gehobenen Augenbrauen. »Ich könnte dir eine kleine Nachzahlung anbieten. Schwarz natürlich. Vorausgesetzt, ich kriege das Haus gut verkauft. Wenn du heute noch unterschreibst, könnte ich sicher noch was nachschießen. Sagen wir so … zehntausend.«
»Du bist so ein Schwein!«, platzte es jetzt aus Silvia Steinmann heraus. Diese Unverschämtheit war einfach zu viel für sie. Letzte Chance hin oder her, so ließ sie nicht mit sich umgehen. Wütend sprang sie auf. In ihren Ohren rauschte es. Eine riesige Welle, die alles mit sich trug, was sich in den letzten Jahren in ihr aufgestaut hatte, schien wie in Zeitlupe auf sie zuzurollen und drohte ihr die Beine wegzureißen. Halt suchend sah sie sich um. Ihr Blick fiel auf das massive Modell eines Stockankers, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand und Weyde als Briefbeschwerer diente. Leicht schwankend griff sie danach, und obwohl die Ankernachbildung nur lose auf dem Tisch lag, vermittelte ihr das schwere, kalte Metall zumindest das Gefühl, einen Halt gefunden zu haben. Für einen Moment starrte sie wie gebannt auf das glänzende Messing. Ein Anker, das Symbol der Hoffnung, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Blick wanderte langsam weiter. Jetzt war sie es, die von oben herabblickte. Mit offenem Mund und sichtlich irritiert sah Weyde zu ihr hinauf. Silvia Steinmann durchflutete ein seltsames Gefühl von Macht. Wie in Trance hob sie den Arm und schwang den Anker hoch über den Kopf. Mit einer unsicheren Geste hob Weyde zögernd die Hände. Silvia Steinmann genoss diese Mischung aus Verwunderung und Angst, die nun aus seinem Blick sprach. Da staunst du, dachte sie. Sie hob den Arm noch ein Stückchen höher. Im gleichen Moment wich das Rauschen in ihren Ohren einem rasenden Getöse, als sich von einer Sekunde auf die andere die Welle brach.
»Alles auf!«
Die Mitglieder der kleinen Gruppe, die eben noch um einen alten abgestoßenen Holztisch gesessen hatten, sprangen von ihren Stühlen auf. Sie rissen die rechte Faust in die Höhe und riefen wie aus einem Mund: »Heil Odin! Heil Mjöllnir!« Dabei richteten sie ihre Blicke ehrfürchtig auf ihren Anführer, der an der Stirnseite des Tischs saß und sich nun ebenfalls langsam erhob. Odin, wie alle ihn hier nannten, erwiderte den Gruß mit einem gebieterischen Nicken.
»Nächste Woche, wieder hier! Zur gleichen Zeit! Und zwar pünktlich! Ist das klar?«
»Jawohl, Odin!«, folgte sofort die Bestätigung.
»Wegtreten!«
Mit einem Schlag fuhren die immer noch erhobenen Hände herab, und es begann ein geschäftiges Treiben. Zügig und routiniert machte man sich daran, die Spuren der Anwesenheit zu verwischen: Einer aus der fünfköpfigen Gruppe löschte die Petroleumlampen, die ihnen notdürftig Licht gespendet hatten, und verstaute sie im Schein einer Taschenlampe in einem ausgebeulten Umzugskarton. Ein anderer wuchtete die massive Eichenholzplatte vom Tisch. Auf ihr war ein mächtiger Fäustel, als Symbol für den Thorshammer, über einer angelaufenen Messingplatte angebracht, in die mit altdeutschen Buchstaben »Mjöllnir« eingraviert war. Zwei dreieckige Ösen an einer der Längsseiten zeugten davon, dass die Eichenplatte ursprünglich an einer Wand gehangen haben musste. Im Zurückgehen wäre der junge Mann beinahe mit der Platte in den Händen über einen der zurückgeschobenen Stühle gestürzt.
Odin schüttelte missbilligend den Kopf und wandte sich einem der beiden Männer zu, die abwartend an den mit schwarzer Folie versiegelten Fenstern standen.
»Fertig, Thor?«, fragte er und warf nach einem kurzen Nicken des Angesprochenen noch einmal einen prüfenden Blick in die Runde, bevor er das Kommando »Licht aus!« gab.
Auf einen Schlag erloschen die eben noch emsig durch den Raum tanzenden Lichtstrahlen der Taschenlampen. Ein mechanisches Geräusch durchdrang die Dunkelheit, als die Fenster entriegelt wurden und die im Rahmen eingeklemmte Verdunklungsfolie freigaben.
Das fahle Licht des Mondes flutete den Raum und verlieh den Gesichtern ein wächsernes Aussehen. Ein Luftzug wehte durch die offenen Fenster herein und ließ die beiden Klapptüren, die die Galerie, auf der sie sich befanden, von dem darunter befindlichen Saal trennten, erbärmlich in ihren Scharnieren quietschen.
»Hermanns Geist«, flüsterte Bergelmir. Mit einem breiten Grinsen blickte er in die Runde. Jeder von ihnen trug hier einen Namen aus der nordischen Mythologie. Odin hatte sie ihnen feierlich verliehen, nachdem sie zuvor eine Aufnahmeprüfung hatten bestehen müssen. Bergelmirs Prüfung hatte darin bestanden, auf einer Westerländer Baustelle Zucker in den Tank eines Baggers zu schütten.
Zu der kleinen Gruppe gehörten noch Fjalar und Bergelmirs Bruder Galar. Dieser trat jetzt an das eiserne Geländer der Galerie und blickte ehrfürchtig in den Saal hinunter. Mit siebzehn Jahren war er nicht nur der Jüngste der Gruppe, sondern auch erst seit kurzem dabei. Unsicher sah er sich um.
Der Mond warf ein gespenstisches Licht in den leeren Saal, der dadurch noch unheimlicher wirkte. Die schweren Vorhänge an der großen Fensterfront waren halb heruntergerissen und hinterließen bizarre Schatten auf dem stumpfen Parkett. An den mächtigen Leuchtern, die von der holzgetäfelten Kassettendecke hingen, waberten zarte Schleier von Spinnweben im Luftzug.
»Welcher Hermann?«, fragte Galar.
»Na, Goebbels«, rief Bergelmir und versetzte seinem Bruder eine Kopfnuss. »Hab ich dir doch erklärt. Der Luftwaffenboss.« Verlegen grinste er in Richtung ihres Anführers und zuckte mit den Schultern.
»Schluss jetzt«, rief Odin gereizt. Die Fenster wurden eilends geschlossen, und die Folie verschwand zusammen mit dem Umzugskarton hinter einem dicken Filzvorhang in einer Nische. Odin musterte die Gruppe im Halbdunkel des Raums noch einmal, bevor er mit einer herrischen Kopfbewegung in Richtung Tür deutete.
»Alle raus hier. Und passt auf, dass euch niemand sieht!«
Ohne ein weiteres Wort verließ einer nach dem anderen den Raum. Bis auf Thor.
Odin sah seinen Stellvertreter an.
»Das sind nicht mehr die Jungs von früher«, sagte er mit unverhohlenem Bedauern in der Stimme.
»Wenigstens halten sie uns und unser Anliegen in den Schlagzeilen«, sagte Thor.
»Pff«, schnaubte Odin verächtlich. »Meinst du die lächerlichen Sabotageaktionen auf den Baustellen? So viel haben die auch noch nicht bewirkt. Der Ausverkauf der Insel geht munter weiter. Und bei unseren Dumpfbacken ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis einer von ihnen erwischt wird. Nur gut, dass keiner der Burschen unsere wahre Identität kennt.« Odin legte väterlich die Hand auf Thors Schulter. »Es müsste mal was ganz Besonderes passieren. Etwas ganz, ganz Großes …«
Thor nickte skeptisch.
»Nur was? Außerdem schafft etwas Großes auch große Aufmerksamkeit. Vielleicht am Ende zu viel. Wir müssen auch an unsere eigene Sicherheit denken. Eben wegen dieser Dumpfbacken.«
Er hob die Hand und wandte sich zum Gehen.
»Ich muss dann los. Bis morgen.«
In der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte mit einem Augenzwinkern: »Dann bin ich aber wieder der Boss!«
Ein Geräusch aus dem Nebenraum ließ Hans Weyde zusammenzucken. Hatte er etwa vergessen, die Eingangstür hinter Silvia Steinmann abzuschließen? Er rieb sich über die schmerzende Stelle an seinem Unterarm, an der sich inzwischen ein blauer Fleck gebildet hatte. Zum Glück hatte er sich nichts gebrochen, als er in letzter Sekunde ihren Schlag abgewehrt hatte. Er hätte tot sein können, wenn sie ihn mit der Wucht am Kopf getroffen hätte.
Erneut vernahm er dieses klackende Geräusch. Ich muss endlich mal das Schloss reparieren lassen, dachte er. Jeder kleine Windstoß drückte mittlerweile die Tür auf. Und er konnte ja nun wahrhaftig nicht ständig zur Tür springen, um einem Kunden aufzuschließen. Wenn diese Verbrecher von Handwerkern doch nur nicht so unverschämte Preise verlangen würden. Anscheinend waren sie der Auffassung, dass einem auf Sylt pauschal ein saftiger Inselzuschlag zustand.
Nebenan war es wieder still. Also doch nur der Wind, dachte er beruhigt. So konnte er noch schnell das Geld, das er zum Tagesabschluss gezählt hatte, im Tresor verschließen, ehe er nach Hause gehen würde. Weyde legte die beiden letzten Geldbündel, die er noch in seiner Hand hielt, in den Geldschrank. Ein wenig schmerzte ihn der Anblick des knapp um die Hälfte geleerten Fachs. Normalerweise hatte er immer einen sechsstelligen Geldbetrag als Handgeld in seinem Geldschrank. Von dem fehlte jetzt der Betrag, den er Silvia Steinmann für ihr Haus gezahlt hatte. Dennoch lächelte er zufrieden. Schließlich hatte er ihr für den missglückten Angriff satte 20000 Euro abziehen können. Quasi als Schmerzensgeld. Und damit war sie, wie er fand, mehr als gut weggekommen, jeder andere hätte sie nach so einer Aktion hochkantig rausgeschmissen. Doch warum die goldene Gans schlachten, wenn noch ein lukratives Schnäppchen daran klebte? Bei dem Gedanken an den fetten Gewinn, der ihn erwartete, lachte sein Herz. Was war dagegen schon ein harmloser blauer Fleck?
Ein lauter Schlag ließ ihn zusammenzucken.
»Dieser verdammte Wind«, fluchte Weyde leise. Was war das nur wieder für ein Sommer? Gut, dass er nicht im Tourismusgeschäft tätig war, da ließ sich dieses Jahr wirklich kein Blumentopf gewinnen. Er verschloss den Tresor, zog den Schlüssel ab und suchte mit gesenktem Kopf an seinem Schlüsselbund nach dem Schlüssel für die Eingangstür, während er langsam nach nebenan ging. Im Türrahmen hielt er kurz inne und tastete nach dem Lichtschalter, als er aus dem Augenwinkel einen Schatten wahrnahm. Erschrocken riss er den Kopf hoch, und im Lichtschein des Tresorraums, wie er den kleinen Nebenraum gerne nannte, erkannte er eine Gestalt, die jetzt unmittelbar vor ihm stand.
»Du?«, fragte er überrascht und ließ erleichtert die Schultern sinken. »Musst du einen so erschrecken?«
Anstelle einer Antwort hob sein Gegenüber den Arm, und zum zweiten Mal an diesem Tag blickte Weyde auf eine Hand, die einen schweren Gegenstand durch die Luft schwang. Diesmal handelte es sich allerdings nicht um einen Briefbeschwerer, sondern um einen vergoldeten Golfpokal, den er erst letztes Jahr bei dem Pfingstturnier des Sylter Golf-Klubs gewonnen hatte. Nicht einmal die Putzfrau durfte ihn berühren, geschweige denn aus der Glasvitrine nehmen.
»Was soll das?«, rief er aufgebracht. »Gib den sofort …«
Odin hatte noch gewartet, bis auch die letzten Schritte im Treppenhaus verklungen waren. Er wollte absolut sicher sein, dass ihm niemand folgte, wenn er zu seinem Auto ging. Bis auf das Ächzen des Dachgebälks über ihm regte sich nichts. Der Wind hatte offenbar noch einmal an Stärke zugenommen. Im schnellen Wechsel der vorwärtsgetriebenen Wolken verdunkelte sich immer wieder das in den Raum einfallende Mondlicht. Vorsichtig tastete er sich zunächst bis zur Tür vor und von dort weiter zur ersten Treppenstufe.
Langsam stieg er die Treppe hinab und schaltete seine Taschenlampe erst ein, als er sicher war, dass ihr Licht von außen nicht mehr entdeckt werden konnte. Im Keller folgte er ohne Eile einem langen Gang, an dessen Ende sich eine schwere Eisentür befand. Um sie zu öffnen, musste er sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegenstemmen.
Frische Seeluft schlug ihm ins Gesicht und verdrängte den muffigen Geruch des alten Kellers, der noch aus dem letzten Krieg stammte und damals als Schutzraum für die Offiziere der in List stationierten Seeflieger gedient hatte.
Odin atmete tief ein und schloss die Tür hinter sich, schob den mächtigen Riegel vor und sicherte ihn zusätzlich mit einem schweren Vorhängeschloss. Schwerfällig stieg er die ausgewaschene Betontreppe hinauf und blickte sich um. Von den anderen war nichts mehr zu sehen. Wenigstens das schienen sie verstanden zu haben, dachte er und schlich nachdenklich auf die Südseite des ehemaligen Offiziersheims, das erhaben auf einer Düne über List thronte. Dort drückte er sich in eine windgeschützte Ecke der riesigen Terrasse, die sich fast über die gesamte Länge des großen Saals erstreckte. Das ausladende Reetdach bot, trotz seiner Höhe, zusätzlichen Schutz. Odin blickte hinaus auf die dunkle See, auf der sich hier und da das Mondlicht spiegelte. In der Ferne zog ein schmaler Lichtstreifen, einem leuchtenden Wurm gleich, durch das Dunkel der Nacht. Er blickte auf seine Uhr. Das musste der letzte Zug vom Festland sein, der sich dort hinten auf dem Hindenburgdamm der Insel näherte. Ohne den Blick abzuwenden, angelte er eine zerdrückte Zigarettenpackung aus der Jackentasche und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm einen tiefen Zug und betrachtete anschließend die flimmernde Glut. Über zehn Jahre hatte er nicht geraucht. Aufgehört hatte er damals, als seine Frau sich immer mehr hatte gehenlassen. Nicht nur, dass sie wie ein Hefekuchen auseinandergegangen war, mit der äußeren Verwandlung war auch eine innere einhergegangen. Ständig schlecht gelaunt, hatte sie keine Gelegenheit ausgelassen, um auf ihm herumzuhacken. Der kleinste Anlass hatte schon gereicht, um diesen Fleischberg, der mal die Frau gewesen war, in die er sich auf den ersten Blick unsterblich verliebt hatte, zum Beben zu bringen. Und dann ewig diese Kippe in ihrem Mundwinkel …
Ihn schauderte. Allein der Gedanke war schon Grund genug dafür, das Rauchen wieder aufzugeben.
Im letzten November war Sabine dann plötzlich umgefallen. Vor dem Frühstück. Vor seine Füße. Ohne Vorankündigung. Mit Zigarette im Mundwinkel.
Er erinnerte sich, wie sie nach dem schweren Schlaganfall auf der Intensivstation der Nordseeklinik gelegen und er das erste Mal seit langer Zeit etwas anderes als Hass für sie empfunden hatte. Die vielen Schläuche, die überall in und aus ihrem Körper führten, hatten tatsächlich Mitleid bei ihm hervorgerufen.
Zu Sabines Beerdigung waren nur wenige Freunde erschienen, und das wohl mehr aus Anstand ihm gegenüber. Während ihrer Metamorphose hatte seine Frau keine Gelegenheit versäumt, auch die treueste Seele letztlich zu vergraulen. An jenem Tag war er dann zu dem ersten Kiosk hinter dem Friedhof gegangen und hatte sich, wie selbstverständlich, eine Packung seiner alten Zigarettenmarke und Streichhölzer gekauft. Einfach so, aus einer plötzlichen Laune heraus. War es das Gefühl der neu gewonnenen Freiheit, das ihn dazu verleitet hatte?
Eine Böe fegte um die Ecke und riss ihn aus seinen Gedanken. Er zupfte den hochgestellten Kragen der Jacke noch etwas dichter zusammen. Sein Blick fiel auf den für Lister Verhältnisse gigantischen Hotelneubau zu seiner Linken, hinter dem der Lister Hafen lag. Noch vor wenigen Jahren hatte man von hier aus freie Sicht gehabt.
Odin nahm einen kräftigen Zug und blies den Rauch verärgert in die Luft. Überall sprießen die Neubauten wie Pilze aus dem Boden, dachte er. Es war teilweise schon erstaunlich, wo immer wieder Baugrund gefunden oder durch Abriss alter Gebäude kurzerhand neuer geschaffen wurde. Wo sollte das nur enden? Wie sollte er mit seiner Gurkentruppe gegen diesen mächtigen und allgegenwärtigen Gegner ankommen? Aber es waren ja nicht nur die Baulöwen, die sich nach und nach die Insel unter den Nagel rissen. Da gab es ja auch noch die Immobilienmakler und Spekulanten, die sich mit dem Verkauf von Ferienwohnungen und Zweitwohnungen eine goldene Nase verdienten und damit den Lebensraum der Sylter Stück für Stück vernichteten.
Odin schüttelte resignierend den Kopf. Manchmal fragte er sich wirklich, warum er nicht einfach alles hinschmiss. Mit jedem Treffen von Mjöllnir festigte sich sein Eindruck, dass die Jugend eigentlich schon genug mit sich selbst zu tun hatte. Er dachte an die vielen tapferen Männer im Alter von Bergelmir, Galar und Fjalar, die früher, in der guten Zeit, als Volkssturm den Amis mit Panzerfäusten die Hölle heißgemacht hatten oder mit den grauen Wölfen auf Tauchfahrt gegangen waren. Bei seinen Jungs musste man hingegen froh sein, wenn sie sich nicht beim Übersteigen eines Bauzauns die Knochen brachen. Falls sie überhaupt über den Zaun kamen. Doch welche Alternativen blieben ihm auf diesem Fleckchen Geest und Sand?
Mit einem Ruck stieß er sich von der Wand ab, nahm noch einen letzten Zug und trat die Kippe sorgfältig aus. Er vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Jacke und stakste schwerfällig zurück auf die Nordseite des massiven Backsteinbaus. Von dort führte ein schmaler Holzsteg zur Listlandstraße hinunter, wo er seinen Wagen geparkt hatte.
»Verdammt!«
Der letzte Regenschauer hatte die Bretter des Stegs glitschig wie Schmierseife werden lassen, fast hätte es ihn der Länge nach hingehauen. Nur mit Mühe konnte er sich an dem wackeligen Holzgeländer festhalten. Sein Blick folgte dem noch vor ihm liegenden Weg. Am Fuß der Düne, auf der anderen Straßenseite, hatte er wie gewöhnlich sein Auto auf dem Parkplatz der ehemaligen Inseldiskothek abgestellt. Ihre Glanzzeiten hatte die Insel allerdings längst hinter sich gelassen. Heute beherbergten ihre Räumlichkeiten unter anderem die Büroräume eines Immobilienmaklers.
Odin schlitterte vorsichtig auf den glatten Bohlen vorwärts, als er plötzlich eine Gestalt auf dem Parkplatz bemerkte. Sie stand hinter einem kleinen Kombi, der direkt neben seinem Wagen geparkt war, und sah sich um.
Hastig duckte sich Odin hinter einen Syltrosenbusch neben dem Steg. Er hatte sich schon was dabei gedacht, sein Auto stets dort abzustellen. Von hier oben hatte er die Kreuzung Listlandstraße und Dünenstraße immer gut im Blick und konnte so wie jetzt auf unliebsame Überraschungen frühzeitig reagieren.
Odin blickte besorgt zum Himmel. Unermüdlich trieb der Wind die Wolken vor sich her, doch durch die Wolkenlücken brach in regelmäßigen Abständen das Mondlicht.
Trotz seiner Deckung fühlte er sich hier, mitten auf der Düne, wie auf einem Präsentierteller. Vorsichtig reckte er den Hals. Die Straßen waren wie leergefegt, und auch die Gestalt auf dem Parkplatz war plötzlich verschwunden. Dafür stand die Heckklappe des Kombis weit offen.
Merkwürdig, dachte er und versuchte zu ergründen, was dort unten vor sich ging. Die nächste Wolke schob sich vor den Mond, und im gleichen Moment tauchte auch die Gestalt wieder auf. Offenbar hatte sie sich zwischen den Autos geduckt.
»Da will wohl noch jemand unentdeckt bleiben«, sagte Odin leise zu sich selbst. Allmählich machte ihn das seltsame Verhalten der Person, bei der es sich aufgrund der kräftigen Statur vermutlich um einen Mann handelte, neugierig.
Odin beobachtete, wie er jetzt an die geöffnete Heckklappe trat. Er zerrte einen großen Sack, aus dessen oberen Ende etwas Längliches herausragte, an den Rand der Ladefläche, ging kurz in die Hocke und legte ihn sich anschließend umständlich über die Schulter. Tief nach vorne gebeugt, schleppte er ihn mit schweren Schritten zum Haus und verschwand darin.
Odin wechselte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Position. Sein rechtes Bein kribbelte heftig und war teilweise schon richtig taub. Ohne das Haus aus den Augen zu lassen, erhob er sich mühsam und streckte Beine und Rücken durch. Ein Tropfen klatschte unversehens auf seine Schulter und sofort darauf der nächste.
»Scheiße«, fluchte er leise und zog eilig den Kragen seiner Jacke zu, als auch schon ein heftiger Regenschauer einsetzte.
Wo blieb der Kerl nur? Odin blickte verärgert auf den Parkplatz hinunter, wo die Heckklappe des Kombis immer noch sperrangelweit offen stand.
Schön, dass du wenigstens im Trockenen bist, dachte er und erschauerte unter dem ersten Rinnsal, das langsam seinen Rücken hinunterlief.
Odin beschloss, die Dunkelheit auszunutzen. Er hatte am Ende des Holzstegs einen Verteilerkasten entdeckt, der ihm eine deutlich bessere Deckung bot. Mit einem Satz sprang er hinter dem Busch hervor, hangelte sich unter dem Geländer durch und schlitterte auf den klitschnassen Holzbohlen, Absatz für Absatz, Stufe für Stufe, den Steg hinab.
Nur wenige Meter trennten ihn noch von seinem Ziel, als plötzlich von links das Licht zweier Scheinwerfer den Regenvorhang durchschnitt und seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Dadurch übersah er den nächsten Absatz, trat ins Leere und stürzte vornüber. Halb rutschend, halb sich überschlagend, landete er schließlich hinter dem Verteilerkasten.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Odin rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das rechte Knie, das er sich während seines Sturzes an einer Kante angestoßen hatte. Er blickte dem Auto hinterher, das, ohne die Geschwindigkeit zu vermindern, in Richtung Hafen davonfuhr. Wenigstens hatte der Fahrer ihn nicht gesehen.
In diesem Moment ließ ihn ein dumpfer Schlag aufhorchen. Die Heckklappe des Kombis. Er presste sich mit dem Rücken dicht an den Kasten und lauschte in die Dunkelheit. Ein Motor wurde gestartet. Vorsichtig lugte er um die Ecke seines Verstecks und sah, wie der Kombi rückwärts aus der Parklücke setzte und langsam auf die Straße zurollte. Dort blieb er kurz stehen, bevor der Motor aufheulte und der Wagen mit quietschenden Rädern auf die Listlandstraße einbog. Erst jetzt schaltete der Fahrer das Licht ein und raste nach links in die Dünenstraße.
»NF-HS 77«, murmelte er. Normalerweise merkte er sich nicht gleich jedes Nummernschild, aber irgendetwas stimmte hier nicht.
Schwerfällig zog er sich an dem Verteilerkasten hoch und blickte dem davonrasenden Wagen hinterher. Er vergewisserte sich, dass er nicht erneut von einem Auto überrascht wurde, und humpelte anschließend auf die andere Straßenseite. Auf halbem Weg zu seinem Wagen wechselte er die Richtung. Die Neugier ließ ihn nicht los. Was hatte der Fremde in dem Sack gehabt? Vielleicht konnte er ja hinter den Fenstern des Gebäudes irgendetwas entdecken, das das merkwürdige Verhalten des Mannes erklärte.
Er trat an das Fenster rechts neben der Eingangstür und schirmte die Augen mit beiden Händen gegen den Regen ab. Krampfhaft versuchte er, etwas hinter der nassen Glasscheibe zu erkennen. Ein erneutes Motorengeräusch ließ ihn herumfahren. Diesmal näherte sich ein Wagen aus Richtung Weststrand.
»Verdammt!«, fluchte er und drückte sich in den Rahmen der Eingangstür. War das etwa wieder der mysteriöse Fremde? Brachte er vielleicht noch eine zweite Fuhre seiner seltsamen Fracht? Eng presste er sich gegen die Tür, die daraufhin unvermittelt nachgab. Wild mit den Armen rudernd, stolperte er rücklings in den Raum und stieß heftig mit den Oberschenkeln gegen die Kante eines massiven Tischs.
»Au, verfluchter Mist!« Nun reichte es aber wirklich! Odin sprang zurück und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt. Durch diesen beobachtete er, wie der Wagen vorbeirauschte und nach rechts in Richtung Westerland davonfuhr.
Erleichtert lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Tür und strich sich die nassen Haare aus der Stirn. Er überlegte. Sollte er die Polizei rufen? Offenbar musste der Fremde hier eingebrochen sein, sonst hätte er die Büroräume nicht mitten in der Nacht unverschlossen zurückgelassen. Doch nahmen Einbrecher für gewöhnlich nicht etwas mit, statt es zu bringen? Hatte es sich also bei dem Fremden womöglich um den Makler gehandelt, der nur vergessen hatte, die Tür hinter sich abzuschließen? Ratlos rieb er sich über die schmerzende Stelle an seinem linken Oberschenkel.
Wenn ich schon mal hier bin, will ich auch sehen, was in dem Sack war, dachte er und zog seine Taschenlampe aus der Jackentasche. Er schaltete sie an und ließ den Lichtkegel langsam über den Schreibtisch wandern. Der Klavierlack des ausladenden Möbels reflektierte das grelle Licht der Lampe und blendete ihn. Odin kniff die Augen zusammen und lenkte den Lichtstrahl auf den Besucherstuhl, der vor dem Tisch stand. Im selben Moment zuckte er erschrocken zusammen. Auf dem Stuhl saß, keine zwei Schritte von ihm entfernt, eine Frau. Sie hatte den Oberkörper weit nach vorne gebeugt, und ihr Kopf ruhte auf der Schreibtischplatte. Vorsichtig leuchtete er ihr ins Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen.
»Hallo, Sie«, krächzte er mit belegter Stimme und machte behutsam einen Schritt auf sie zu. Zögernd beugte er sich zu ihr herunter und streckte unsicher die Hand nach ihr aus. In diesem Moment entdeckte er die klaffende Wunde an ihrem Hinterkopf.
Mit einem zufriedenen Lächeln lehnte sich Hauke Steinmann gegen den aquagrünen Sprinter und verschränkte die Arme vor der Brust. Niemand hatte heute Morgen Notiz von ihm genommen, als er in aller Herrgottsfrühe den blauen Müllsack in den Altkleidercontainer im Sjipwai geworfen hatte. Normalerweise entsorgte er an dem abgelegenen Platz den Müll, der nicht mehr in seine Tonne passte. Doch heute waren wirklich einmal Kleidungsstücke in dem Sack gewesen, und es hatte eigentlich keinen Grund gegeben, ihn heimlich zu entsorgen. Dass er es trotzdem gemacht hatte, lag daran, dass es sein Aus bedeutet hätte, wenn man ihn mit den Klamotten in Verbindung gebracht hätte. Doch diese Gefahr bestand nun nicht mehr.
»Hauke«, rief eine Stimme von der anderen Seite des Wagens nach ihm. »Nun komm endlich. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Steinmann stieß sich von dem Wagen ab und verzog das Gesicht.
»Ich komme ja«, sagte er und warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Schon den ganzen Morgen trieb der Westwind regenschwere Wolken über die Insel, doch außer einem gelegentlichen Schauer waren sie bisher verschont geblieben. Der angekündigte Dauerregen entlud sich, wie gewöhnlich bei dieser Wetterlage, über dem Festland. Dennoch war es für Mitte Juli eindeutig zu kalt.
Er nahm eine Schaufel von der Ladefläche des Sprinters und folgte seinem Kollegen auf den Kirchhof von St. Martin. Ihr Chef hatte sie heute nach Morsum geschickt, um die einfriedenden Wälle an der Dorfkirche auszubessern.
Auf seinem Weg über den kleinen Friedhof blieb sein Blick an einem unscheinbaren, efeuumrankten Findling hängen. Steinmann blieb stehen, stützte sich auf die Schaufel und betrachtete nachdenklich den Stein. Vor vielen Jahren war er schon einmal hier gewesen. Und obwohl das nun schon fast auf den Tag genau achtzehn Jahre zurücklag, kam es ihm vor, als sei es erst gestern gewesen, dass er an der Grabstätte dieses Fabian von Schlabrendorff gestanden hatte. Am 20. Juli 1994 war es gewesen. Wie das Datum, so hatten sich auch die Bilder von damals unauslöschlich in sein Gehirn gebrannt. Vier Kameraden, wie sie sich damals bezeichneten, und er hatten sich vor dem Grab versammelt. »Verräter, Verräter!« und »Heil Hitler« hatten sie lauthals in ihrem Alkoholrausch gebrüllt. Immer und immer wieder. Er hatte auch gebrüllt. Einfach so. Aus Kameradschaft. Zum Schluss hatten sie die leeren Flaschen des billigen Fusels, den ihr Anführer ihnen spendiert hatte, auf dem Stein zertrümmert und wild schwankend, Arm in Arm, vor den Scherben gestanden.
Ihr Anführer hatte nicht geschwankt. Er hatte auch nicht getrunken. Dafür hatte er sie auf einmal eilig und mit einem kurzen, anerkennenden Schulterklopfen in den Bully geschoben, mit dem sie gekommen waren. Steinmann konnte sich noch dunkel erinnern, wie er vom Rücksitz aus die blitzenden Blaulichter der anrückenden Polizeiwagen gesehen hatte.
An wessen Grab sie da ihre Parolen geschwungen hatten, hatte er erst am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren. Es war irgend so ein berühmter Richter und Widerstandskämpfer gewesen, von dem er noch nie gehört hatte. Er musste irgendwas mit dem Dritten Reich zu tun gehabt haben, so viel wusste er, doch wirklich interessieren tat es ihn bis heute nicht.
»Nun komm endlich! Oder soll ich hier alles alleine machen?«
Aaron Nicolaisens Ruf riss ihn erneut aus seinen Gedanken.
»Von mir aus«, knurrte Steinmann mürrisch und nahm die Schaufel auf. Noch einmal blickte er zu dem Grab zurück. Die Polizei hatte sie in jener Nacht nicht erwischt, ihr Anführer hatte kühlen Kopf bewahrt und war über ein paar Schleichwege den Streifenwagen ausgewichen. Bei seinen Ortskenntnissen hatten die Saisonbeamten keine Chance gehabt.
Ein paar Monate nach ihrem Ausflug zu dem Grabmal hatten seine Kameraden bei einer ihrer Zusammenkünfte erneut »Verräter« gerufen. Anfangs hatte auch Steinmann wieder mitgebrüllt. Einfach so, weil die anderen brüllten. Eben aus Kameradschaft.
Im schummrigen Licht ihres Verstecks, das sich in einem alten Bunker in den Lister Dünen befunden hatte, war ihm eine wesentliche Veränderung erst später aufgefallen: Der große Hammer, der normalerweise in dem fensterlosen Raum auf einer Eichenplatte an der Stirnseite hing, fehlte. Mjöllnir. Thors Hammer. Nach ihm war die kleine Gruppe benannt worden. Mit einem Mal waren die anderen verstummt und hatten ihn angestarrt, als er gerade danach fragen wollte. Und bevor er ein Wort sagen konnte, hatten sie ihn auch schon gepackt und ihm mit Mjöllnir den rechten Arm zertrümmert.
In diesem Moment hatte er seine ganze Stärke, die er in den vorhergehenden Monaten bei Mjöllnir im Kreise seiner Kameraden gefühlt hatte, herausgeschrien. Und als sie ihn kurz darauf im »Urwald« zwischen den Straßen Landwehrdeich und Am Brünk abgelegt hatten, war er wieder der schwache Teenager.
Den nie enden wollenden Wochen im Krankenhaus und in der Reha waren die vielen einsamen Stunden in seinem Zimmer gefolgt. Nachdem er während seines kurzen Zwischenspiels zu Mjöllnir auch den letzten seiner alten Freunde verloren hatte, war er von da an ganz alleine gewesen. Alleine mit den Metallplatten in seinem Arm. Alleine mit seinen Computerspielen.
In dieser Zeit hatte er oft darüber nachgedacht, wie alles wohl verlaufen wäre, wenn sein Vater nicht seine dreckverkrusteten Stiefel gefunden und nach dem Zeitungsbericht über den Vandalismus am Grab Schlabrendorffs eins und eins zusammengezählt hätte. Was, wenn er anschließend nicht im väterlichen Verhör eingeknickt wäre und die Namen der anderen preisgegeben hätte?
»Mensch, Hauke«, rief Nicolaisen ungeduldig. »Was ist denn heute wieder mit dir los? Wäre wirklich schön, wenn wir noch trocken nach Hause kommen würden.«
»Ist ja gut«, sagte Steinmann. »Bin ja schon da!«
»Ich kann das langsam nicht mehr hören«, schimpfte Nicolaisen. »Ich glaube, ich werde heute mal mit dem Chef reden müssen. Kann ja nicht angehen, dass die ganze Arbeit immer an mir hängenbleibt.«
Wortlos trieb Steinmann die Schaufel mit einem kräftigen Tritt in den auszubessernden Friesenwall. Aus dem Augenwinkel blickte er verstohlen zu seinem Kollegen hinüber, der, immer noch schimpfend, einen Findling in den Friesenwall setzte.
Macht doch alle, was ihr wollt, dachte Steinmann. Mich seht ihr hier sowieso nicht mehr lange. Sobald Gras über die Sache gewachsen ist, mach ich mir erst mal ’ne schöne Zeit mit dem ganzen Geld.
Ein Päckchen für Benning!«
Robert Benning fuhr erschrocken von seiner Arbeit hoch, in die er so versunken gewesen war, dass er die Schritte des Postboten vor der offenstehenden Haustür glatt überhört hatte.