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Kriminalkommissar Surendra Sinha, zu Besuch in Hechingen, begegnet auf der Burg Hohenzollern einem stummen Mädchen, Linnea. Sie spricht nicht mehr, seit sie mit ansehen musste, wie ihr Vater in den Flammen seiner Villa ums Leben kam. Der Brandstifter sitzt hinter Gittern, aber die Hauptbelastungszeugin wurde kurz nach dem Prozess ermordet. Sinha findet eine Verbindung der toten Frau zu Linneas Mutter. Und es geschehen weitere Verbrechen ...
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Seitenzahl: 326
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Ingrid Zellner wurde 1962 in Dachau geboren. Nach ihrem Theaterwissenschafts-, Literatur- und Geschichtsstudium in München war sie am Stadttheater Hildesheim und zwölf Jahre an der Bayerischen Staatsoper München Dramaturgin. Heute lebt sie als Übersetzerin (Schwedisch) und Schriftstellerin, Regisseurin und Theaterschauspielerin wieder in Dachau. Sie hat bereits Romane, ein Kinderbuch, Kurzgeschichten und Theaterstücke veröffentlicht.
www.ingrid-zellner.de
INGRID ZELLNER
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1. Auflage 2020
© 2020 by Silberburg-Verlag GmbH, Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen. Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Andrea Longerich, César Satz & Grafik GmbH, Köln.
Coverfoto: © ER_09 – Shutterstock.
Satz und Layout: Sabine Düde, César Satz & Grafik GmbH, Köln.
Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.
Druck: CPI books, Leck.
Printed in Germany.
eISBN 978-3-8425-2283-1
ISBN 978-3-8425-2246-6
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Danksagung
Als sie wieder zu sich kam, war es Nacht um sie.
Ein unangenehm kalter Wind strich über ihre Haut. Sie spürte, wie die Haare an ihren Armen sich aufrichteten, und merkte, dass sie fror.
Wo immer sie gerade war – hier wollte sie nicht bleiben.
Rasch stand sie auf … und merkte verwundert, dass der Stuhl, auf dem sie saß, mitkam. Sie wollte nach ihm greifen und stellte fest, dass ihr das nicht möglich war. Etwas schnitt bei jeder Bewegung in ihre Arme, ihre Brust und ihre Beine.
Stricke. Sie war an diesen Stuhl gefesselt.
Was war bloß passiert? Wie war sie hierhergekommen?
Panik stieg in ihr hoch. Ein hämmerndes Pochen und ein ziehender Schmerz in ihrem Kopf machten sich bemerkbar, und erst jetzt begriff sie, dass die Dunkelheit, die sie umgab, von einer Augenbinde herrührte. Ein Tuch war in ihren Mund gestopft worden, sodass sie statt des Angstschreis, den sie ausstoßen wollte, nur ein Winseln von sich geben konnte.
»Gaaanz ruhig!«
Eine leise, scharfe Stimme hinter ihr ließ sie schockartig zusammenfahren, und dann legten sich zwei Hände auf ihre Schultern und drückten sie mitsamt dem Stuhl wieder hinunter. Protestierend wand sie sich in ihren Fesseln. Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?, wollte sie fragen, brachte aber wieder nur unverständliche Würgelaute hervor.
»Spar dir die Mühe!«, zischelte die Stimme jetzt direkt neben ihrem Ohr. »Kein Mensch hört dich hier.«
Sie bemühte sich verzweifelt, ihre Panik niederzukämpfen. Wer um alles in der Welt war das?
»So ist’s brav.« Eine Hand tätschelte ihren Kopf. »So werden wir die Sache schnell und problemlos zum Abschluss bringen, wir zwei.«
Sie hörte Schritte, die sich entfernten, wenn auch offensichtlich nicht sehr weit. Ein paar Sekunden lang war es völlig still, dann vernahm sie ein Klappern und ein kurzes, seltsames Schwappgeräusch. Im nächsten Moment ergoss sich ein gewaltiger Schwall kalten Wassers über sie und durchnässte sie von Kopf bis Fuß. Sie gab einen erstickten, gurgelnden Schrei von sich – und erst, als der erste Schreck sich gelegt hatte, nahm sie den beißend-scharfen Geruch wahr und begriff, dass das kein Wasser war.
Das war Benzin.
Erneut bäumte sie sich in ihren Fesseln auf, jetzt in jäher Todesangst. Eine weitere Ladung ergoss sich über ihren Kopf, lief über ihr Gesicht und durch die langen Haare. Selbst der Knebel war mittlerweile von Benzin durchtränkt; die starken Dämpfe stiegen ihr in die Nase, und für ein paar entsetzliche Momente bekam sie keine Luft mehr und glaubte, qualvoll zu ersticken.
»Ich sagte doch: ganz ruhig!« Da war die Stimme wieder, flüsternd, fremd, seltsam rau. »Du willst doch sicher diese Welt nicht verlassen, ohne vorher noch zu erfahren, warum.«
Es war, als hätten sämtliche Kräfte sie mit einem Schlag verlassen. Die schwere, beißende Nässe legte sich wie eine eiserne Haut über sie und machte selbst kleinste Bewegungen unmöglich. Sie war wie erstarrt.
»Weil du ein böses Mädchen warst.« Jetzt war die Stimme direkt vor ihrem Gesicht. »Weil du gelogen und damit ein schweres Unrecht begangen hast. Aber das weißt du, nicht wahr?«
Wie denn? Sie war schon zu oft ein böses Mädchen gewesen, um zu wissen, welche ihrer vielen Eskapaden ihr diesmal zum Verhängnis wurde.
»Und ich sorge jetzt für Gerechtigkeit.«
Ein leises Klicken drang an ihr Ohr. Sie wusste instinktiv, was das war, auch ohne es zu sehen … wusste es mit grauenvoller, tödlicher Sicherheit.
Und dann spürte sie nur noch die jähe Hitze, die Sekunden später überall glühend an ihr hochzüngelte, sie ringsherum einhüllte und schließlich mit flackerndem Lodern über ihr zusammenschlug.
Der An Sibin Irish Pub in Backnang war nicht sonderlich groß, und wer an einem Samstagabend dort einen Tisch bekam, hatte entweder vorher reserviert oder schlichtweg Glück gehabt. Auch an diesem Samstag Anfang November war der Laden brechend voll, und die Gäste genossen das gemütliche irische Ambiente ebenso wie das dunkle Bier, das reichhaltige Whiskey-Angebot und den berühmten Flammkuchen des Hauses.
An einem der Tische saßen zwei Männer einander gegenüber, die neugierige Blicke auf sich zogen. Der eine, weil man ihn als den Kriminalkommissar Malte Jacobsen von der Kripo Waiblingen erkannte, der hier vor vier Jahren den Mord an dem allseits beliebten Leiter des Pfadfinderbundes Impeesa aufgeklärt hatte und mittlerweile auch in Backnang wohnte. Und der andere, weil buchstäblich niemand ihn kannte … abgesehen davon, dass er mit seiner bronzefarbenen Haut, den braunen Augen und dem dunklen, fast schwarzen Haar ziemlich gut und zudem reichlich exotisch aussah.
Surendra Sinha war solche Blicke gewohnt. Als Sohn indischer Eltern wurde er bereits sein Leben lang meist automatisch als Ausländer beziehungsweise Mensch mit Migrationshintergrund eingestuft, und dass man ihm mit Zurückhaltung, Misstrauen oder gar mit offener Feindseligkeit begegnete, hatte er schon zu oft erlebt, als dass er sich noch ernsthaft darüber wunderte. Nicht selten glaubte man ihm seine deutsche Staatsangehörigkeit erst, wenn er seinen Ausweis vorzeigte, dem ganz klar zu entnehmen war, dass seine Wiege nicht etwa in New Delhi oder Mumbai gestanden hatte, sondern in Stuttgart. Er war in zwei Kulturen aufgewachsen, sprach Deutsch ebenso fließend und akzentfrei wie Hindi und Punjabi, verehrte als Hindu den Gott Ganesha und begegnete allen anderen Religionen mit Respekt. Und er hatte den gleichen Beruf gewählt wie der Mann, der ihn an diesem Abend in das An Sibin eingeladen und soeben zwei Guinness bestellt hatte.
»Irgendwie entbehrt es ja nicht einer gewissen Ironie«, meinte er, als der Kellner zum Tresen ging, um das Gewünschte zu holen.
»Was?«, wollte Jacobsen wissen.
»Dass du uns in ein An Sibin ausführst.« Sinha grinste. »Ich hab vorhin mal kurz gegoogelt und dabei entdeckt, dass das die gälische Bezeichnung für einen ›illegalen Trinkplatz‹ ist, wo man verbotenerweise Schnaps destilliert. Genau das Richtige für zwei gesetzestreue Kriminalkommissare, was?«
»Na ja …« Um den Mund von Jacobsen zuckte es belustigt. »An solchen ›Trinkplätzen‹ gab es keinen richtigen Whiskey, sondern Poteen. Und der war nicht nur verboten, der schmeckt auch so.«
»Ach ja?« Sinhas Augenbrauen stiegen vielsagend in die Höhe. »Kippst du öfter so etwas freiwillig in dich rein? Oder hast du das mal dienstlich testen müssen?«
»Nein. Höchstens im Zuge von … äh … volkskundlichen Studien. Und ein ehrlicher Whiskey ist mir lieber. Poteen ist ein ziemlicher Rachenputzer.«
»Na gut, an ehrlichem Whiskey herrscht hier ja offensichtlich kein Mangel.« Sinha warf einen Blick hinüber zu den gut gefüllten Regalen hinter dem Tresen. »Vielleicht, wenn ich nett bin, spendier ich dir nachher einen. Das Guinness geht auf dich, das hab ich ja noch gut bei dir.«
»Versprochen ist versprochen.«
Jacobsen nickte ihm zu. Sie hatten einander vor zwei Monaten kennengelernt, als Sinha der Waiblinger Polizei einen Leichenfund gemeldet und Jacobsen ihn zunächst ernsthaft als möglichen Täter ins Visier genommen hatte. Zumal, als er erfuhr, dass gegen Sinha am Bodensee derzeit intern ermittelt wurde, weil er im Verdacht stand, einer mutmaßlichen Mörderin die Flucht in die Schweiz ermöglicht zu haben. Zum Glück war es Sinha schließlich gelungen, einen entscheidenden Hinweis zur Aufklärung des Waiblinger Mordfalles zu liefern, wofür Jacobsen versprochen hatte, ihm zum Dank einen auszugeben.
Ihre Blicke begegneten sich, und spontan lächelten sie einander an. Mittlerweile verstanden sie sich ausgesprochen gut. Dass sie anfangs geradezu wie Hund und Katz aufeinander losgegangen waren, war nur noch eine Randnotiz, die sie in bestem Einvernehmen abgehakt hatten.
»Und?«, meinte Jacobsen nach einer Weile. »Irgendwelche Neuigkeiten von der internen Ermittlung?«
Sinha gab ein sarkastisches Schnauben von sich. »Der Witz war gut. Seit wann haben die Brüder es eilig?«
»Wohl wahr«, versetzte Jacobsen seufzend. »Das heißt, du hängst weiterhin in der Luft. Oder weißt du schon, was du als Nächstes tun wirst?«
»Beruflich, meinst du?«, erwiderte Sinha. »Keine Ahnung. Meine Sehnsucht nach Friedrichshafen hält sich in Grenzen, zumal ich gar nicht wissen möchte, auf welchen Pissposten die mich versetzen, sobald ich mich wieder zum Dienst melde. Andererseits kann ich es mir nicht leisten, auf Dauer beurlaubt zu bleiben. Vielleicht sollte ich mir einen Arzt suchen, der mir ein ausgewachsenes Burn-out bescheinigt.«
»Das wäre angesichts der Umstände ja wohl kaum gelogen.« Jacobsen musterte ihn mit offenkundigem Mitgefühl. »Ich meine, erzähl mir nicht, dass du die ganze Geschichte mit Pierre Meyer und Vidya schon so ohne Weiteres weggesteckt hast. Ganz zu schweigen von diesem Vollpfosten von Kriminalkommissar, der dir das Leben noch zusätzlich schwer gemacht hat.«
Sein Gesicht verzog sich zu einer ironischen Grimasse, und Sinha gluckste. Immerhin saß der Vollpfosten, von dem sein Kollege sprach, ihm direkt gegenüber.
»Stimmt«, stellte er fest. »Wenn das nicht für ein Attest erster Klasse reicht, dann weiß ich’s auch nicht. Scherz beiseite – manchmal überlege ich schon, ob ich nicht besser einen sauberen Schnitt machen und kündigen soll.« Seine Mundwinkel kräuselten sich leicht. »Ich könnte zum Beispiel auf Privatermittler umsatteln. Das Privatschnüffeln soll ja eine Spezialität von mir sein. Angeblich.« Er zwinkerte Jacobsen zu. »Hat man mir gesagt.«
»Solltest du jemals ein Zeugnis dafür brauchen, dann wende dich vertrauensvoll an mich«, gab Jacobsen trocken zurück und grinste. »Ach, übrigens – ich soll dich von Melanie grüßen.«
Sinha lächelte. Melanie Brendel war Jacobsens Kollegin bei der Kripo Waiblingen – und einer der Gründe, warum es anfangs zwischen ihnen zu handfesten Spannungen gekommen war. Weil Melanie und Sinha vom ersten Moment an einen guten Draht zueinander gehabt hatten (den Jacobsen prompt in den falschen Hals bekam) – und weil Melanie sich beharrlich geweigert hatte, ihn für schuldig zu halten. Um ein Haar wäre es deswegen zwischen dem eingespielten Ermittler-Duo zu einem irreparablen Zerwürfnis gekommen.
»Gruß zurück«, entgegnete Sinha. »Und sag ihr, ich hab nicht vergessen, dass ich ihr noch eine Vase schulde, nachdem mein kleines Monster die ihre vom Fensterbrett runtergefegt hat.«
»Ach was«, meinte Jacobsen gelassen. »Deiner Mieze verzeiht Melanie doch alles. Sie war richtig traurig, als du Saleti nach deinen zwei Wochen in Indien wieder abgeholt hast. Sie findet, ohne deine Katze fühlt sich ihre Wohnung ziemlich leer an.«
In Sinhas Augen blitzte der Schalk auf. »Dabei hat sie doch mittlerweile einen eigenen und sehr viel größeren Schmusekater in ihrem Leben. Wie läuft’s denn mit euch beiden?«
»Gut.« Jacobsen lächelte. »Erstaunlich gut – wenn man bedenkt, wie ich mich aufgeführt habe. Sie muss mich wirklich gernhaben.«
»Sag ich doch.« Sinha lehnte sich zurück, breitete die Arme aus und grinste. »War ja auch wirklich nicht zu übersehen.«
»Für jemanden mit deinen Röntgenaugen vielleicht.« Jacobsen schnaubte leise. »Ich hab viel zu lange auf dem Schlauch gestanden und gar nichts gesehen. Mit einer Prise von deinem Scharfblick wäre mir wahrscheinlich eine Menge Ärger erspart geblieben.« Er brach ab, dann fuhr er etwas leiser fort: »Und Melanie auch.«
Bevor Sinha antworten konnte, kam der Kellner und stellte zwei Pintgläser mit samtdunklem Guinness auf den Tisch. Sinha wartete, bis der Mann wieder verschwunden war, dann neigte er sich leicht nach vorne und sah Jacobsen an.
»Vielleicht habt ihr genau das gebraucht, um zueinanderzufinden«, sagte er ernst. »Vielleicht habt ihr euch viel zu lange für selbstverständlich genommen, und es hat einfach mal richtig krachen müssen, damit euch die Augen aufgehen und ihr merkt, was ihr aneinander habt. Und da die Sache für euch beide gut ausgegangen ist, würde ich mir an deiner Stelle jetzt nicht mehr unnötig einen Kopf machen.«
Er hob sein Glas und lächelte.
»Auf dich und Melanie!«
Jacobsen grinste schwach. »Sláinte!« Er nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. »Bleibst du noch eine Weile in Waiblingen? Bei deinen Eltern?«
Sinha schüttelte den Kopf. »Nein. Bei aller Liebe zu maaji und pitaahji, aber auf Dauer werd ich kirre in dem Haus. Ich brauch Tapetenwechsel, dringend. Nächste Woche schau ich mal wieder kurz in Friedrichshafen vorbei, ob meine Wohnung noch steht und was sich alles an Post angesammelt hat. Und dann pack ich Saleti in den Wagen und fahr zu meinem Freund Frank Hasemann auf die Schwäbische Alb. Ich hab vorgestern mit ihm telefoniert, und er hat mich eingeladen, ihn zu besuchen. Mitsamt meiner Samtpfote.« Er lächelte leise. »Und das ist genau das, was ich im Moment brauche – Abstand und einen Ratgeber, der mich kennt und mir vielleicht wieder zurück auf die Gleise hilft.«
»Freut mich für dich«, sagte Jacobsen. »Grüß ihn von mir; wir haben ja schon zweimal miteinander telefoniert. Ein ausgesprochen sympathischer Mann.«
»Das ist er«, bestätigte Sinha. »Aber das heißt jetzt nicht, dass ich demnächst aus der Welt bin, ja? Sollte mein Typ in der nächsten Zeit hier in irgendeiner Form gefragt sein – Anruf genügt, und ich komme. Zum Beispiel, wenn ihr auf die Schnelle einen Dolmetscher für Hindi oder Punjabi braucht. Oder falls es zwischen Melanie und dir doch noch mal knallt.«
Jacobsen schüttelte den Kopf. »Keine Sorge – ich bin viel zu froh darüber, dass Melanie mit mir Frieden geschlossen hat. Den werd ich ganz bestimmt nicht noch einmal aufs Spiel setzen.«
»Brav«, sagte Sinha lächelnd. »Du weißt, auf Melanie lasse ich nichts kommen, und wer gemein zu ihr ist, der kriegt es mit mir zu tun. Aber ebenso lasse ich mittlerweile auch auf dich nichts mehr kommen. Also seid immer schön nett zueinander, ja?«
Er prostete Jacobsen zu und nahm einen tiefen, genussvollen Zug von seinem Guinness. Dabei kam ihm eine Idee.
»Sag mal, Malte … hast du in deiner Wohnung eigentlich im Notfall Platz für einen ungeplanten Übernachtungsgast?«
»Klar – wenn es dir nichts ausmacht, auf dem Sofa zu schlafen.«
»Überhaupt nicht.« Sinhas Augen leuchteten auf. »Aber das heißt, wir können uns hier tatsächlich noch einen Whiskey genehmigen. Oder zwei. Oder auch noch ein weiteres Guinness – worauf du Lust hast. Die nächste Runde geht in jedem Fall auf mich.«
»Man soll den Abend immer mit Whiskey abschließen, nicht mit Bier.« Jacobsen trank sein Glas aus. »Wir sollten uns außerdem noch was zu essen bestellen, sonst haben wir nachher Schlagseite – und bis zu mir nach Hause sind es gut zwanzig Minuten zu Fuß.« Er langte nach der Speisekarte und winkte nach dem Kellner. »Pizza oder Flammkuchen?«
*
Es war kurz vor elf Uhr am nächsten Vormittag, als Surendra Sinha seinen hellblauen Opel Corsa aus Backnang hinaus und in Richtung Waiblingen-Neustadt lenkte. Der Himmel war grau von schweren Regenwolken; ein unangenehm stürmischer Wind pfiff durch die Baumkronen und ließ buntes Herbstlaub wirbelnd durch die Luft tanzen.
Aus den Lautsprechern klang der schlichte, muntere Song Kya Karoon aus dem Hindi-Film Wake Up Sid. Sinha trällerte gut gelaunt mit. Obwohl es am Abend zuvor spät geworden und auch nicht bei dem einen Guinness beziehungsweise nur einem Whiskey danach geblieben war, ging es ihm überraschend gut; er hatte auf Malte Jacobsens Sofa ausgezeichnet geschlafen, war ohne eine Spur von Kater aufgewacht und von seinem Waiblinger Kollegen noch mit Kaffee und Frühstück bewirtet worden, bevor er sich auf den Heimweg gemacht hatte.
Er lächelte in sich hinein, als er den Vorabend Revue passieren ließ. Jacobsen hatte sich als versierter Whiskeykenner entpuppt und ihm ein paar wirklich ausgezeichnete Abfüllungen empfohlen. Später hatten sie es sich in Jacobsens Wohnung gemütlich gemacht und bis in die frühen Morgenstunden hinein geredet; Malte hatte ihm unter anderem von seiner Heimatstadt Hamburg erzählt (in der Sinha, wie er zu seiner Schande gestehen musste, noch nie gewesen war), und im Gegenzug hatte Sinha ihm den Punjab beschrieben – den Bundesstaat im Norden Indiens, aus dem seine Eltern stammten und den er eben erst wieder gemeinsam mit ihnen besucht hatte.
Für einen flüchtigen Moment verdüsterte sich sein Gesicht. Natürlich hatte es sich dabei nicht vermeiden lassen, dass auch der Grund für diese jüngste Indienreise der Sinhas zur Sprache gekommen war. Vidya Kapoor. Die Tochter von Vaters altem Freund aus Jalandhar, die in Deutschland hatte studieren wollen und bei ihnen zu Gast gewesen war. Die fröhliche, lebenslustige Frau, die Sinha geliebt und mit der er sich heimlich verlobt hatte. Und die nur wenige Stunden später brutal vergewaltigt und ermordet worden war – von einem Mann, der Sinha bittere Rache geschworen und diesen Schwur nun auf grausame Weise erfüllt hatte, bevor ihn kurz darauf selbst sein Schicksal ereilte.
Sinha biss sich auf die Lippen. Kein Wunder, dass Malte ihn damals erst mal spontan unter Mordverdacht gestellt hatte. Der Gedanke, er könnte in einem Anfall von Mordshass das Gesetz in die eigenen Hände genommen und Vergeltung für Vidya geübt haben, war schließlich naheliegend gewesen. Er hatte sich seitdem sogar schon mehrmals bei der Überlegung ertappt, ob er, hätte sich die Gelegenheit ergeben, womöglich tatsächlich dazu imstande gewesen wäre.
Er hielt an einer roten Ampel an und atmete tief durch. Einmal mehr – wie so oft in jüngster Zeit – fragte er sich, ob er als Gesetzeshüter überhaupt noch tragbar war. Zwar stand er auch nach mittlerweile vier Jahren immer noch zu seiner damaligen Entscheidung, die junge, tränenüberströmte Witwe Nina Berner in Friedrichshafen nicht zu verhaften und sie stattdessen mitsamt ihrem Baby auf die Fähre hinüber in das schweizerische Romanshorn entkommen zu lassen – weil er ihr glaubte, dass sie ihren todkranken Mann nicht heimtückisch ermordet, sondern ihm die erbetene Sterbehilfe geleistet hatte. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er damit gegen das Gesetz gehandelt hatte. Und nun zerbrach er sich auch noch allen Ernstes den Kopf darüber, ob er unter gewissen Umständen zu einem Akt von Selbstjustiz fähig wäre. Alles meilenweit entfernt von dem, was er einst über die Ethik und Werte seines Berufs gelernt und verinnerlicht hatte.
Er hatte gehofft, während der beiden Wochen in Indien den Kopf endlich wieder freizubekommen. Seine Eltern und er hatten Vidya »nach Hause gebracht«; sie waren mit der Urne im Gepäck zu den Kapoors nach Jalandhar gefahren und hatten dort der zeremoniellen Übergabe der Asche an einen Fluss beigewohnt. Danach hatte er sich weitgehend abgeseilt, um abschalten zu können und Zeit zum Nachdenken zu finden. Stundenlang war er durch Jalandhar und Umgebung gestreift, hatte in verschiedenen Mandiren zu den Göttern gebetet und Ausflüge zum Goldenen Tempel von Amritsar und ins benachbarte Kaschmir gemacht. Und dabei immer wieder die entscheidende Frage gewälzt, wie es nun beruflich für ihn weitergehen sollte.
Ohne Ergebnis. Wie Jacobsen es am Vorabend so schön formuliert hatte, hing er in diesem Punkt nach wie vor in der Luft.
Die Ampel schaltete um auf Grün; er trat leicht auf das Gaspedal und ließ den Wagen weiterrollen. Seine ganze Hoffnung ruhte nun auf seinem alten Freund Frank Hasemann, der als Kriminalhauptkommissar bei der K1 Friedrichshafen jahrelang nicht nur sein Vorgesetzter gewesen war, sondern auch sein Vorbild und Mentor. Hasemann war sowohl mit Berufserfahrung als auch mit Lebensweisheit reich gesegnet und kannte sich mit den Optionen, die zur Diskussion standen, besser aus als Sinha selbst. Wenn jemand ihm helfen konnte, sich endlich für den einen oder anderen Weg zu entscheiden, dann er.
*
Wenig später erreichte Sinha das Haus seiner Eltern in Waiblingen-Neustadt und stieg sofort die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo er in den vergangenen Monaten während seiner Beurlaubung Zuflucht im Gästezimmer gefunden hatte. Dort empfing ihn seine kleine graue Katze Saleti mit einem so hungrigen wie entrüsteten Dauermaunzen.
»Ja, hallo, Saleti!«, sagte er sanft, hob die Katze auf seinen Arm und streichelte sie. »Guten Morgen! Hast du denn noch nichts bekommen? Lass sehen …« Er warf einen Blick auf den leeren Futternapf und kraulte die Mieze zwischen den Ohren. »Hm. Ich gehe jetzt mal davon aus, dass du nicht dein komplettes Frühstück schon verputzt hast und mir lediglich eine zweite Portion abluchsen willst, ja? Komm, schauen wir mal, was wir noch dahaben.«
Er setzte Saleti auf dem Fußboden ab und ging stirnrunzelnd zu dem Schrank, in dem er seinen Katzenfuttervorrat verwahrte. Er hatte am Vorabend extra noch seine Mutter angerufen und sie verständigt, dass er in Backnang übernachten würde – verbunden mit der Bitte, seine Stubentigerin am nächsten Morgen zu füttern. Was sie ihm auch fest versprochen hatte. Komisch. Es sah maaji gar nicht ähnlich, so etwas zu vergessen.
Während Saleti ungeduldig um seine Beine strich und ein forderndes Miauen nach dem anderen von sich gab, füllte er ein Fischmenü in Gelee in den Napf und servierte es an dem angestammten Futterplatz seiner Katze, die sich sofort heißhungrig darüber hermachte.
»Tut mir leid, pyaari, Liebes«, sagte er leise und strich ihr über den seidig grauen Rücken. »Das war keine böse Absicht.«
Liebevoll sah er zu, wie seine kleine Hausgenossin mit ihrem verspäteten Frühstück kurzen Prozess machte. Er hatte sie vor zwei Monaten in Waiblingen gefunden, in einem leeren Brunnen nahe dem Hochwachtturm (und nur wenige Minuten, bevor er dann auch noch über die Leiche von Vidyas Mörder gestolpert war). Damals war sie gerade mal etwa drei Monate alt gewesen und offensichtlich ausgesetzt; jedenfalls hatte sich auf seine späteren Aufrufe in der lokalen Presse und auf Facebook niemand gemeldet, der die Kleine vermisste. Also hatte er sie kurzerhand adoptiert und Saleti genannt, was auf Hindi grau bedeutete. Und inzwischen war ihm die Samtpfote derart ans Herz gewachsen, dass er sich nicht vorstellen konnte, sie jemals wieder herzugeben.
Er ging ins Bad und nahm den Trinknapf mit, um ihn bei der Gelegenheit mit frischem Wasser zu füllen. In Jacobsens Wohnung hatte er sich nach dem Aufstehen nur flüchtig gewaschen; jetzt gönnte er sich eine ausgiebige Dusche und absolvierte sein komplettes Morgenprogramm einschließlich Rasur. Mit dem vollen Wassernapf kehrte er zurück in sein Zimmer, stellte das Gefäß neben dem fast völlig leer geschleckten Futternapf ab und schlüpfte in Jeans und ein frisch gewaschenes Sweatshirt, während Saleti zunächst etwas unschlüssig um ihn herumschlich und dann auf das Fensterbrett sprang, um ins Freie zu schauen.
Sinha lächelte.
»Bis gleich, Süße«, sagte er weich und hauchte ihr von hinten einen Kuss zwischen die Ohren. »Ich geh nur mal schnell nachsehen, was mit der Maharani los ist.«
Er verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter. Die Küche war leer, aber im Wohnzimmer traf er seinen Vater an, der mit einem Buch in der Hand im Lehnsessel neben dem Bücherregal saß.
»Guten Morgen, pitaahji«, grüßte er und neigte aus altgewohnter Höflichkeit kurz den Kopf vor seinem Vater. »Wo ist denn maaji?«
Praveer Sinha blickte auf, schloss das Buch und legte es beiseite.
»Sie hatte heute früh starke Kopfschmerzen und ist im Bett geblieben«, sagte er ruhig. »Ich habe ihr eine Tablette gegeben. Jetzt schläft sie.«
»Verstehe.« Sinha runzelte die Stirn. »Hast du dann überhaupt schon ein Frühstück gehabt? Oder soll ich dir etwas machen?«
»Nicht nötig, danke, ich habe mich selbst versorgt. Und du?«
»Ich hab bei Malte gefrühstückt.«
Praveer Sinha nickte bedächtig. »Ein guter Mann. Wir sind ihm und seiner Kollegin sehr dankbar dafür, dass sie sich deiner angenommen und deine Unschuld bewiesen haben. Das hast du ihm hoffentlich gesagt.«
»Natürlich, pitaahji.«
Sinha verkniff sich jeden weiteren Zusatz. Von dem anfänglichen Ärger und den zum Teil handfesten Streitereien zwischen Malte und ihm wussten seine Eltern nichts. Er hatte keinen Grund gesehen, ihnen wie ein kleines Kind vorzujammern, wie gemein und ungerecht die Welt zu ihm war – zumal sie sich seinetwegen ohnehin schon mehr als genügend Sorgen machten. Die internen Ermittlungen in der Sache Nina Berner hingen wie ein Damoklesschwert nicht nur über ihm selbst, sie bedrohten auch den Seelenfrieden seiner Eltern, die immer so stolz auf ihren einzigen Sohn gewesen waren.
»Gut.« Praveer Sinha taxierte ihn mit seinen ernsten dunklen Augen. »Setz dich doch einen Moment zu mir, mein Junge.«
Gehorsam zog Sinha einen Stuhl heran, ließ sich seinem Vater gegenüber nieder und faltete abwartend die Hände im Schoß.
»Wie geht es dir?«, fragte Praveer Sinha nach einer Weile, immer noch mit dem gleichen prüfenden Blick.
»Wieso fragst du?«, entgegnete Sinha unwillkürlich, obwohl er nur zu gut wusste, warum sein Vater diese Frage stellte. Und dass es sich eigentlich nicht gehörte, mit einer Gegenfrage zu antworten.
»Ich kenne dich, mein Sohn«, erwiderte Praveer Sinha schlicht. »Du hast es derzeit nicht leicht, schon seit Monaten nicht. Aber ich hatte gedacht, nachdem sich zumindest diese Sache in Waiblingen geklärt hat, würde es dir wenigstens ein bisschen besser gehen. Offenbar habe ich mich geirrt. Ich beobachte dich sehr genau, und ich merke, dass du noch immer große Lasten mit dir herumschleppst. Lasten, über die du nicht redest. Jedenfalls nicht mit uns.«
Sinha senkte den Blick zu Boden und schwieg betreten. Sein Vater schaute wirklich verdammt genau hin. Keine Frage, wo er selbst das herhatte.
»Versteh mich richtig«, fuhr Praveer Sinha fort. »Das ist dein gutes Recht; schließlich ist es deine Sache, wie du dein Leben meisterst. Ich möchte nur sichergehen, dass du nicht eigentlich doch gerne mit uns reden würdest, es aber nicht tust – aus Gründen, die wir ohne Weiteres gemeinsam aus der Welt schaffen könnten, wenn sie erst einmal angesprochen sind.«
»Es ist nicht so, dass ich euch nicht vertraue – falls du das meinst«, entgegnete Sinha leise. »Aber mit gewissen Dingen muss ich einfach allein fertigwerden. Auch weil ich … euch nicht damit belasten will.«
Wieder das bedächtige Nicken. »Genau so etwas dachte ich mir. Und es ehrt dich, dass du uns schonen möchtest. Aber damit schadest du wiederum dir selbst, Surendra. Je mehr du in dich hineinfrisst, desto geringer sind deine Chancen, wieder klar im Kopf zu werden.«
Sinha seufzte. »Das stimmt. Wobei ich ja hoffe, dass sich der Knoten demnächst auf der Schwäbischen Alb löst.«
Die Augen seines Vaters zwinkerten. »Bei Frank Hasemann, nicht wahr?«
Sinha spürte, dass er rot wurde. »Nun ja, er … er ist mein bester Freund, und …«
»… und zugleich eine Art Ersatzvater, ich weiß«, sagte Praveer Sinha mit einem wissenden Lächeln. »Schau nicht so schuldbewusst drein, mein Sohn – das ist völlig in Ordnung; man kann doch gar nicht genug Vertrauenspersonen haben. Und dieser Hasemann ist ein guter Mensch. Er wird dich leiten, wo ich es nicht vermag.«
»Es liegt nicht an dir, pitaahji«, versicherte Sinha hastig. »Es ist nur so, dass …« Er stockte und senkte erneut den Blick. »Ich möchte euch einfach niemals enttäuschen. Dich und maaji.«
Praveer Sinha runzelte die Stirn. »Du meinst, du könntest in unserer Achtung sinken, wenn du auch mit siebenunddreißig Jahren immer noch Hilfe bei deinen Eltern suchst? Oder du könntest insgesamt für uns zur Enttäuschung werden?«
Sinha biss sich auf die Lippen und schwieg. Beides, pitaahji. Beides.
Dann spürte er, wie eine warme Hand sich über die seine legte, und sah hoch in das freundliche, würdevolle Gesicht seines Vaters.
»Sei versichert, Surendra«, sagte Praveer Sinha, »du hast mich noch nie enttäuscht. Selbst diese internen Ermittlungen, die jetzt gegen dich laufen, hindern mich nicht daran, stolz auf meinen Sohn zu sein. Du magst gegen das Gesetz verstoßen haben – aber du hast sich dabei als Mensch erwiesen. Und das zählt für mich mehr als alles andere. Was immer das Leben noch für dich bereithält – ich stehe zu dir, mein Junge.« Er lächelte leicht. »Und deine Löwenmutter sowieso.«
Unwillkürlich gluckste Sinha leise und erwiderte das Lächeln seines Vaters. »Dann werde ich jetzt mal nachsehen, wie es der Löwenmutter geht – ob sie inzwischen aufgewacht ist und ob ich ihr etwas Gutes tun kann.«
Dann wurde er noch einmal ernst, nahm die Hand seines Vaters und führte sie respektvoll an seine Stirn.
»Und pitaahji – danke.«
Frank Hasemann sah sich kritisch in seinem Gästezimmer um. Der Parkettfußboden glänzte, überall war Staub gewischt, und die Sonne schien durch das streifenfrei polierte Fenster. Das Bett war mit frischer Wäsche bezogen, die ebenso leicht nach Lavendel duftete wie die hellen, luftigen Gardinen. Hasemann rückte den kleinen Flickenteppich vor dem Bett mit der Fußspitze gerade und nickte zufrieden. Das Zimmer erfüllte hundertprozentig die Ansprüche, die er als passionierter Hausmann an sich selbst und den Zustand seines Hauses stellte, wenn er Besuch erwartete. Auch wenn der Gast in diesem Punkt nicht ganz so anspruchsvoll war wie er selbst. Hasemann schnitt eine Grimasse bei der Erinnerung an die Zeiten, in denen es ihn gelegentlich in Surendra Sinhas Domizil in Friedrichshafen verschlagen hatte; Hausarbeit war für seinen dreißig Jahre jüngeren Kollegen ein lästiges und, Zitat, »überbewertetes« Übel, und manchmal fragte er sich ernsthaft, ob Sinha so etwas wie Staubsauger und Schrubber überhaupt besaß.
Er ging in die Küche, warf einen kontrollierenden Blick in den wohlgefüllten Kühlschrank und stieg dann hinunter in seinen Weinkeller, der in puncto wohlgefüllt dem Kühlschrank in nichts nachstand. Es war ein zwar freundlicher, aber doch ziemlich kühler Herbsttag, also inspizierte er das Rotweinregal und wählte, eingedenk der Vorlieben seines ehemaligen Kollegen, zwei Flaschen Trollinger, die er zum Temperieren nach oben trug. Wenn er jetzt noch eine Flasche Mineralwasser und eine kleine Obstschale im Gästezimmer platzierte, dann hatte er so weit alles vorbereitet, und Surendra konnte kommen. Mitsamt seiner kleinen grauen »Lebensgefährtin«.
Hasemann gluckste amüsiert, während er sich aus seinem chromblitzenden Kaffeevollautomaten eine Tasse Cappuccino zog. Lebensgefährtin. Er erinnerte sich daran, wie Surendra bei ihrem vorigen Telefonat diese beiläufig hingeworfene Bezeichnung für Saleti mit einem staubtrockenen Lachen quittiert hatte. Bring das mal meiner maaji bei, hatte er gesagt, die trifft der Schlag. Hasemann, der die unermüdlichen Bemühungen der kleinen, energischen Zenobia Sinha um eine Heiratskandidatin für ihren Sohn jahrelang halb belustigt, halb mitleidsvoll mitverfolgt hatte, konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Ich werde sie daran erinnern, dass vor ein paar Jahren in Indien eine Frau eine Königskobra geheiratet hat, hatte er erwidert. Vielleicht kommt ihr dann eine Katze als Schwiegertochter ja nicht mehr ganz so abwegig vor. Surendras Reaktion war ein leises Prusten gewesen, gefolgt von der lapidaren Bemerkung, wenn maaji danach endlich aufhören würde, ihn mit allem verkuppeln zu wollen, was weiblichen Geschlechts, jung und bei drei nicht auf dem Baum war, dann wäre das einen Versuch sogar glatt wert.
Immer noch in sich hineinschmunzelnd nahm Hasemann die Tasse und ging in das Wohnzimmer. Im Kachelofen prasselte ein gemütliches Feuer, und aus dem Radio erklang Roundabouts von Michael Patrick Kelly. Er durchquerte den großzügig geschnittenen hellen Raum und blieb vor der breiten Glastür stehen, die auf die Veranda hinausführte. Die Holzplanken waren jetzt im Spätherbst leer geräumt, nass vom Regen der Nacht zuvor und wenig einladend; wehmütig erinnerte er sich an die vielen schönen Sommerabende, die er dort draußen verbracht hatte, mit einem Glas Wein und unverstelltem Blick auf die Burg Hohenzollern, die sich fast zum Greifen nahe auf dem Zollerberg über ihm erhob. Unzählige Besucher, Surendra Sinha eingeschlossen, hatten diesen Ausblick bereits bewundert und manchmal auch unverhohlen ihren Neid bekundet auf die – zugegeben – Traumlage des Einfamilienhauses in dem kleinen Hechinger Stadtteil Boll, das Hasemann vor einigen Jahren von seinen Eltern geerbt hatte.
Er nippte an seinem Cappuccino und schaute hinauf zu der weltberühmten neugotischen Burganlage. Für ihn war sie nichts Besonderes mehr. Der Anblick gehörte seit frühester Kindheit ganz selbstverständlich zu seinem Leben, auch wenn er zwischendurch viele Jahre lang nicht mehr im Schatten der Hohenzollernburg gewohnt hatte; seine Polizeikarriere hatte ihn von Reutlingen über Freiburg bis zum Bodensee geführt, und er war erst nach seiner Pensionierung vor knapp drei Jahren wieder nach Boll zurückgekehrt. Da war er bereits seit einiger Zeit Witwer und alleinstehend; seine Frau Stefanie war kurz nach der Silberhochzeit an Krebs gestorben, und ihre gemeinsame Tochter Tamara war nach Beendigung ihres Medizinstudiums ihrem Verlobten, den sie an der Uni kennengelernt hatte, in die USA gefolgt. Seitdem bereitete Hasemann sich notgedrungen seelisch auf den Tag vor, an dem er zur Hochzeit seines einzigen Kindes über den großen Teich würde fliegen müssen. Die Staaten hatten ihn noch nie sonderlich gereizt (erst recht nicht jetzt mit diesem Twitterrüpel im Weißen Haus); ihm hatten es schon immer eher die Länder und die Kultur Asiens angetan, und seine Reisen führten ihn bevorzugt nach Indien, Nepal und Sri Lanka.
Vermutlich war das auch einer der Gründe gewesen, warum er sich mit Surendra Sinha vom ersten Moment an so blendend verstanden hatte. Vor neun Jahren hatte Surendra sich auf eigenen Wunsch zur K1 Friedrichshafen versetzen lassen, weil das Dauermobbing seines damaligen Vorgesetzten bei der Waiblinger Kripo ihm endgültig zu viel geworden war. Hasemann, zu jener Zeit bereits Kriminalhauptkommissar, hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, was für ein Glücksfall von Ermittler ihm da quasi in den Schoß gefallen war. Binnen kürzester Zeit waren er und Surendra ein bestens eingespieltes Team und darüber hinaus auch sehr gute Freunde geworden; Hasemann hatte von dem jüngeren Kollegen ein paar Brocken Hindi gelernt, zweimal waren sie sogar gemeinsam nach Indien gereist, und wenn er gelegentlich das Privileg genießen durfte, von Zenobia Sinha bekocht zu werden, dann war das für ihn wie Weihnachten und Ostern an einem Tag. Beziehungsweise wie Diwali und Holi.
Umso heftiger hatte ihn vor ein paar Monaten die Nachricht getroffen, dass gegen Surendra Sinha, den er nie anders als redlich und vertrauenswürdig gekannt hatte, wegen Verdachts der Strafvereitelung ermittelt wurde – gefolgt von einem weiteren, noch schmerzhafteren Tiefschlag, als Surendra ihm gegenüber in einem nächtlichen Telefonat dieses Vergehen tatsächlich einräumte. Und damit ihm, Hasemann, quasi den Schwarzen Peter zuschanzte. Er hatte danach tagelang mit sich gerungen, denn natürlich hätte er dieses Geständnis sofort an die ermittelnden Behörden weiterleiten müssen. Andererseits war Surendra da gerade erst in einen weiteren Schlamassel geraten, nämlich als Verdächtiger im Mordfall Pierre Meyer in Waiblingen. Und irgendwie war das ein bisschen viel auf einmal gewesen, jedenfalls in Hasemanns Augen. Deshalb hatte er beschlossen, Surendras Geständnis so lange für sich zu behalten, bis sein Freund zumindest diesen Mordverdacht vom Hals hatte. Denn dass der nicht mehr war als ein schlechter Witz, daran zweifelte er keine Sekunde.
Auf diese Weise, wie ihm im Nachhinein bewusst wurde, hatte die Zeit für Surendra gearbeitet. Als nämlich Kommissar Malte Jacobsen ein paar Wochen später den Verdacht gegen seinen Kollegen endlich fallen ließ, war Hasemann sozusagen mürbe geworden, und seine Zuneigung zu Surendra hatte die Oberhand über sein Pflichtbewusstsein gewonnen. Das Geständnis, das für seinen Freund fatale Folgen haben konnte, war in seinen vier Wänden geblieben. Auch wenn ihm das nach wie vor Magenschmerzen bereitete.
Auch deshalb hatte er Surendra jetzt zu sich eingeladen. Er musste über diese leidige Angelegenheit noch einmal mit ihm reden. In aller Ruhe. Und Auge in Auge.
Er trank den Rest seines Cappuccinos aus. Im Radio hatte inzwischen Frans übernommen. If I were sorry. Hasemann verzog das Gesicht zu einer ironischen Grimasse. Ob Surendra wohl auch »sorry« war für den Augenblick, in dem er sich mit seiner legendären Empathie quasi selbst ins Knie geschossen hatte?
Dann ging er in die Küche und fing an, ein paar Äpfel, Weintrauben und eine Banane in einer Keramikschale zu arrangieren.
*
Er hat sich kaum verändert, war Hasemanns erster Gedanke, als Surendra Sinha gut eine Stunde später vor seinem Haus aus dem Auto stieg und ihn mit einem herzlichen Lächeln begrüßte. Etwas schmaler ist er geworden … trotz der sagenhaften Küche seiner Mutter. Stress vermutlich. Wäre nur zu verständlich.
Er half seinem Gast, das umfangreiche Gepäck ins Haus zu tragen – Reisetasche, Katzenausrüstung mitsamt einem Dutzend Futterdosen, dazu einen Riesentopf mit Zenobia Sinhas berühmtem Palak Gosht (»maaji lässt grüßen, sie hat nicht vergessen, wie gern du das isst«) und die Transportbox mit, wie Hasemann scherzte, »der neuen Hauptperson des Hauses«. Besagte Hauptperson übte sich jedoch zunächst in vornehmer Zurückhaltung und dachte gar nicht daran, die Box zu verlassen, nachdem Sinha sie in einer Ecke des Wohnzimmers abgestellt und geöffnet hatte.
»Saleti muss erst mal wieder runterkommen; die lange Autofahrt war sicher stressig für sie«, meinte Sinha. »Und an die neue Umgebung muss sie sich auch erst gewöhnen. Lassen wir ihr ein bisschen Zeit.«
Hasemann nickte und ging in die Küche, um seinen Kaffeeautomaten einzuschalten. Dabei konnte er es sich nicht verkneifen, kurz den Deckel von dem großen Kochtopf zu heben und eine Nase voll von dem köstlichen Duft einzusaugen, der daraus emporstieg. Zenobia Sinhas punjabisches Lammcurry mit raffiniert gewürztem Blattspinat, Joghurt und Tomaten. Danke, lieber Gott. Allein dafür hatte es sich schon gelohnt, Surendra einzuladen.
Als er mit zwei Tassen Kaffee ins Wohnzimmer zurückkam, platzierte Sinha gerade einen gefüllten Wassernapf und ein Schüsselchen mit Trockenfutter vor die geöffnete Transportbox.
»Zumindest darben soll sie nicht, auch wenn sie im Moment noch lieber Höhlenforscher spielt«, erklärte er, als er sich wieder aufrichtete. »Oh, Kaffee – danke, Frank, genau den brauch ich jetzt.«
»Dachte ich mir. Immer noch ohne Milch und Zucker, so wie früher?«
»Unverändert. Schwarz wie die Sünde.«
Was für ein verlockendes Stichwort, dachte Hasemann mit einem Anflug von Sarkasmus, während er zu den beiden Tassen noch eine geöffnete Keksdose auf den Tisch stellte. Aber andererseits war Surendra gerade erst über die Schwelle getreten, und ihm als Erstes gleich sein Sündenregister unter die Nase zu halten war vielleicht doch nicht ganz die feine englische Art.
»Na dann – fühl dich wie zu Hause«, sagte er und ließ sich am Tisch nieder. »Wie geht’s deinen Eltern?«
»So weit, so gut.« Sinha setzte sich ebenfalls. »Abgesehen davon, dass wir maaji demnächst wahrscheinlich noch einmal in die Földiklinik schicken müssen. Der Lymphstau in ihren Beinen ist wieder schlimmer geworden.«
»Das tut mir leid«, erwiderte Hasemann. »Dann sieh bloß zu, dass du nicht wieder über eine Leiche stolperst, wenn du sie dort besuchst, so wie damals auf der Adlerschanze.«
»Im Adlerweiher, um exakt zu sein«, korrigierte Sinha und verzog das Gesicht. »Danke, kein Bedarf. Allmählich hab ich es satt, ständig in irgendwelche Mordfälle verwickelt zu werden, egal wo ich hinfahre. Erst in Hinterzarten, dann in Waiblingen. Wenn jetzt hier auch noch irgendwo ein Toter auftaucht, dann schreie ich.«
»Solange du dann nicht gleich wieder in den Verdacht gerätst, sein Ableben verursacht zu haben, kann’s dir doch egal sein«, entgegnete Hasemann lakonisch. »Wenn du dich natürlich Hals über Kopf in die Ermittlungen stürzt, obwohl die gar nicht dein Bier sind, dann bist du selbst schuld.«
»Keine Sorge, ich hab dazugelernt«, sagte Sinha und nahm sich einen Keks. »Malte hat mir seinerzeit deswegen den Marsch geblasen, das hättest du auch nicht besser hingekriegt.«
Hasemann konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich stelle fest, ich mag den Mann.«
»Ich inzwischen auch.« Sinha grinste ebenfalls und zog sein Smartphone hervor. »Warte mal, ich hab hier irgendwo … ja, da ist es. Das hat Melanie mir geschickt, in der Zeit, wo ich in Indien war und sie auf Saleti aufgepasst hat.«
Hasemann nahm das Smartphone, das sein Freund ihm reichte, und betrachtete das Foto auf dem Display. Es zeigte einen dunkelblonden Mittvierziger, der mit einem grauen Kätzchen schmuste und ihn ein klein wenig an den Schauspieler Robert Atzorn erinnerte.
»Das ist Kommissar Jacobsen?«