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Ex-Agent Vikram Sandeep, der Leiter des Waisenhauses Dar-as-Salam in Kashmir, kommt durch einen Zeitungsartikel auf die Spur eines Kinderschänderrings, zu dem auch ein hochrangiger Politiker in Kashmir zählt. Gemeinsam mit Raja Sharma beginnt Vikram zu ermitteln; ihre Recherchen führen die beiden Freunde über Kerala nach Delhi, wo sie und Vikrams Frau Sameera in höchste Lebensgefahr geraten. Zudem trifft Vikram dort unerwartet einen Mann aus seiner Vergangenheit wieder - eine Begegnung, die seine Freundschaft zu Raja vor eine schwere Prüfung stellt… In der Kashmir-Saga erzählen Simone Dorra und Ingrid Zellner in sieben Bänden die Geschichte zweier in Freundschaft eng verbundener Familien in Indien und Kashmir. Sie erstreckt sich über vier Jahrzehnte und berichtet von großen Gefühlen, von spannenden Abenteuern, von Terror und Liebe in einem durch anhaltende Konflikte geschundenen Land.
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Seitenzahl: 931
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Simone Dorra / Ingrid Zellner
Ein Lied in der Nacht
Roman
Band V der Kashmir-Saga
© 2020 Simone Dorra / Ingrid Zellner
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Umschlaggestaltung: Kai S. Dorra
Coverfoto: Kokhanchikov/Shutterstock.com
Ornament: iStock.com/ AnnaPoguliaeva
www.kashmirsaga.de
www.simonedorra.de
www.ingrid-zellner.de
ISBN
Paperback:
978-3-347-15578-7
e-Book:
978-3-347-15579-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.
Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
»Der Glaube ist ein Vogel,der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.«
Rabindranath Tagore
Ein Personenverzeichnis und ein Glossar befinden sich am Ende des Buches.
Vorwort
1947 wurde Indien vom United Kingdom unabhängig; im Nordwesten spaltete sich ein Teil des Staatsgebiets für die Gründung von Pakistan ab. Die im Grenzgebiet der beiden Staaten gelegene Provinz Kashmir verlor danach ihre Souveränität, als erst pakistanische und dann als Antwort darauf indische Truppen einmarschierten. Der Bevölkerung wurde ein Referendum versprochen, das aber nie stattfand; die indische Regierung argumentiert bis heute, es sei nicht durchführbar gewesen, da schließlich Teile von Kashmir und Jammu von Pakistan besetzt seien. Seitdem kommt das Tal nicht mehr zur Ruhe und hat bis heute mit Terrorismus, Militärwillkür und wiederholten Anschlägen zu kämpfen.
Im August 2019 brachen einmal mehr heftige Unruhen aus, als Indien quasi mit einem Federstrich den Paragraphen abschaffte, der Kashmir wenigstens eine Teilautonomie garantiert hatte. Die Regierung wurde entmachtet, zahlreiche hochrangige Politiker verhaftet und weggesperrt, das ganze Tal erlebte einen monatelangen Shutdown mit strengen Ausgangssperren, geschlossenen Schulen und Läden sowie vollständig lahmgelegtem Internet. Erst im Frühjahr 2020 konnten Medienvertreter aus Kashmir erstmals wieder Lebenszeichen im Netz senden – ein Hoffnungsschimmer, der nur wenig später von einem erneuten monatelangen Lockdown zunichtegemacht wurde. Diesmal allerdings landesweit, aufgrund des Coronavirus.
Nun ist unsere Kashmir-Saga in erster Linie weder zeitgeschichtliches Sachbuch noch politischer Doku-Thriller, sondern einfach die fiktive Geschichte eines Waisenhauses bei Srinagar und zweier Familien aus verschiedenen Teilen Indiens. Die schwierige Lage Kashmirs und die Realität komplett auszublenden war für uns jedoch nie eine Option; die Konflikte und gewaltigen Probleme sowie die generelle Situation bestimmen immer wieder entscheidend die Handlung der Bücher und das Leben der Menschen, die darin vorkommen.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchten wir deshalb vorab darauf hinweisen, dass der vorliegende Band 5 unserer Kashmir-Saga in den Jahren 2016 und 2017 spielt. Wir haben die politischen Ereignisse aus dem Jahr 2019 sowie die Coronakrise 2020 keineswegs vergessen oder unterschlagen – sie werden jedoch zeitlich erst ab Band 6 relevant. Und möge sich die Situation (nicht nur, aber vor allem auch in Kashmir) bis dahin in jeder Hinsicht entscheidend verbessert haben.
Welzheim/Dachau, September 2020
Simone Dorra & Ingrid Zellner
Vorspiel
Im Obstgarten
Der Oktober in Kashmir begann in diesem Jahr deutlich wärmer als sonst. In den Nächten sanken die Temperaturen zwar bis beinahe zum Nullpunkt, tagsüber jedoch stiegen sie bis auf fast dreißig Grad. In den Obstgärten von Alef Ali Zoraq waren die Ambri-Kashmiri-Äpfel bereit zur Ernte; ihre grüne Schale mit den tiefroten Streifen leuchtete durch das Laub der Bäume. Dazu waren die Maharaji drei Wochen früher reif als üblich, und plötzlich stellte Alef fest, dass es ihm an Hilfskräften fehlte. Da er allerdings schon seit geraumer Zeit einen Gutteil seines Ertrags an das Dar-as-Salam lieferte, das Waisenhaus von Vikram Sandeep in der Nähe von Srinagar, war nur ein Anruf nötig, um das Problem zu lösen.
So kam es, dass an einem sonnigen, wolkenlosen Samstag in der zweiten Oktoberwoche Sameera Sandeep auf einer Decke saß, die Leila, Alefs Frau, für sie auf der großen Obstwiese oberhalb ihres Hofes ausgebreitet hatte. Neben ihr lag ihr Sohn, der es seit neuestem fertigbrachte, sich auf die Seite zu drehen, und gerade neugierig eine Hand nach den Apfelspalten ausstreckte, die in einem Schälchen darauf warteten, gegessen zu werden. Mohan war jetzt fünf Monate alt, er konnte sich für kurze Zeit hochstemmen und alles in die Hand nehmen, was ihn interessierte – weswegen Sameera derzeit sicherheitshalber darauf verzichtete, ihre geliebten Creolen zu tragen, und weshalb ihr Mann Vikram jedes Mal rasch seine Lesebrille in Sicherheit brachte, wenn sein Sohn in der Nähe war.
Bei diesem Gedanken musste Sameera lächeln und schaute sich um. Am Horizont stiegen die Gipfel des Pir Panjal steil in den blauen Himmel; jede Felszinne war so deutlich zu sehen wie auf einem gestochen scharfen Foto. Dort, wo sich die Berghänge ins Tal hinabsenkten, boten sie ein atemberaubendes Farbenspiel aus dem tiefdunklen Grün der Zedern, den herbstlichen Flammenfarben der Buchen und Eichen und dem strahlenden Gold der Chenarbäume.
Gelächter und fröhliches Stimmengewirr wehten zu ihr herüber; abgesehen von Zeenath, die wenige Tage zuvor geheiratet hatte und jetzt in Gulmarg lebte, waren alle ihre Pflegekinder anwesend. Ahmad, Ibrahim und Yussuf hingen in den Baumkronen und pflückten; genau in dem Moment, als Sameera hinsah, zielte Yussuf mit einem Apfel auf Moussa, der etwas abseits Alefs und Leilas Kindern half, das frisch geerntete Obst nach Größen zu sortieren. Er traf ihn an der Schulter. Moussa blickte auf, lächelte und rief etwas, das sie nicht verstand. Maryam, Anjali und Firouzé luden volle Körbe auf die offene Ladefläche von Alefs robustem Lieferwagen, Zooni und Sameera beti sammelten die Früchte auf, die auf die Wiese gefallen waren. Und ganz unten am Ende der Obstwiese waren zwei Gestalten zu sehen, die an dem einfachen Holzzaun standen und miteinander redeten: Vikram und Azad, Sameera betis jüngerer Bruder.
Azad lebte erst seit wenigen Monaten bei ihnen im Haus des Friedens. Vor acht Jahren war er von seiner Schwester (die er immer liebevoll Ameera, Prinzessin, genannt hatte) getrennt worden, als man die Geschwister nach dem Tod ihrer Eltern in verschiedene Waisenhäuser gesteckt hatte. Die kleine Sameera war kurz darauf eines der ersten Kinder geworden, die der ehemalige Agent und Elitesoldat Vikram Sandeep zu sich nahm, als er mit fünfzig vorzeitig seinen Dienst bei der indischen Abwehr quittierte und in Kashmir ein Waisenhaus eröffnete. Er hätte gerne auch ihren Bruder Azad aufgenommen, doch der Junge war spurlos verschwunden; wie sie jetzt wussten, war er zuerst mehrfach in andere Waisenhäuser abgeschoben worden, dann Terroristen der Lashkar-i-Toiba in die Hände gefallen und von denen wiederum als Sklave und Spielzeug an eine Bande sadistischer Paramilitärs an der Grenze zu Pakistan verkauft worden. Dass ihm schließlich von dort die Flucht gelungen war und er das Dar-as-Salam mitsamt seiner Schwester gefunden hatte, war für Sameera noch immer nichts weniger als ein Wunder.
Aber der Preis für dieses Wunder war entsetzlich hoch gewesen. Sameera spürte, wie ihr ein Schauder den Rücken hinabrieselte; instinktiv nahm sie ihr Baby auf und wiegte es in den Armen. Mohans Körper war warm und tröstlich; die durchscheinenden lohbraunen Augen, die denen ihres Mannes so ähnlich waren, betrachteten sie neugierig, und er gab einen leisen, weichen Laut von sich.
»Schon gut, Schätzchen«, sagte sie sanft. »Deine irische Urgroßmutter hätte gesagt, jemand wäre gerade über mein Grab gelaufen. Ist schon vorbei.«
Wenn es nur so wäre, dachte sie, während sie ihren Sohn sanft an sich drückte. Es wird niemals vorbei sein – zumindest nicht die Erinnerung daran.
Die Erinnerung an den Tag Ende April, als sie, hochschwanger, Avan Gupta in die Hände fiel, dem ehemaligen Polizeichef von Srinagar… und an die Nacht, in der sie ihm in seinem Büro widerstandslos zu Willen sein musste, um sich selbst und ihr ungeborenes Kind zu retten – und dazu auch noch Raja Sharma, ihren besten Freund, den der korrupte Brigadier Gupta ebenfalls hatte festnehmen lassen und nun als Druckmittel in Geiselhaft hielt. Am Tag darauf hatte er Sameera zwar freigelassen, und eine Woche später war auch Raja wieder bei ihnen gewesen – doch was er und sie in ihrer Gefangenschaft erlebt hatten, das hatte tiefe Narben auf Körper und Seele hinterlassen.
Zum Glück hatte Sameera Menschen, die sie liebte und mit denen sie über ihr Trauma reden konnte – ihren Mann Vikram, der für sie die Welt bedeutete, und ihre beiden Freunde Raja und Sita Sharma aus Maharashtra. Obwohl sie sich erst seit gut zwei Jahren kannten, genoss Raja ihr absolutes Vertrauen (Vikram hatte ihn sogar zu seinem Bruder erklärt), und seine Frau Sita war sowohl für sie selbst als auch für Vikram zu einer innig geliebten Schwester und Ratgeberin geworden. Doch trotz aller Unterstützung durch diese wunderbaren Menschen an ihrer Seite blieb der Weg aus Guptas Schatten heraus noch weit, jeder einzelne Schritt klein und anstrengend. Denn dieser Schatten war so lang wie grausam.
Sie strich sich eine Strähne ihres dunklen, im Sonnenlicht kupferrot schimmernden Haares aus dem Gesicht. Wenigstens war Mohan am 19. Mai gesund zur Welt gekommen. Ein Hoffnungsschimmer, der seitdem ihr Leben wieder hell und schön machte. Trotz aller qualvollen Erinnerungen an die Tage der Finsternis im Frühjahr.
Sie hob den Kopf und sah Vikram über die Wiese auf sich zukommen. Die Sonne schien ihm auf den Rücken und ließ sein Haar aufleuchten; im vergangenen halben Jahr war es – ebenso wie der sauber gestutzte Vollbart – stark ergraut, aber nach wie vor dicht und kräftig. Die Mähne eines alten Löwen. Ein intensives Gefühl der Erleichterung überflutete sie, und sie atmete unwillkürlich auf.
Er setzte sich zu ihr, streichelte seinem Sohn über die Wange und nahm ihre Hand.
»Fühlst du dich wohl, meri jaan?«, fragte er. »Du hast eben ein bisschen blass ausgesehen.«
»Mir geht’s gut.« Sie drückte für einen Moment ihre Wange gegen seinen Handrücken. »In den nächsten Tagen wird das ganze Dar-as-Salam nach Äpfeln duften. Ich will Saft machen, und Apfelmus. Damit kommt Mohan besser zurecht, solange er noch keine Zähne hat… halt, mein kleiner Löwe, das gibst du mal besser mir!« Sie nahm dem Baby eine Apfelspalte aus der Hand und ignorierte seinen empörten Protest. »Worüber hast du denn mit Azad geredet?«
»Über seine Albträume.« Vikram blickte über die Wiese hinweg zu Azad; inzwischen war Yussuf (zweifellos nach einem freundlichen »Anpfiff« von Alef) dazu übergegangen, mit Laub zu werfen anstatt mit Obst, und Sameera beti – beziehungsweise Ameera, wie inzwischen fast alle sie nannten – klaubte ihrem Bruder lachend ein paar Blätter aus den Haaren. »Er sagt, sie kommen jetzt nicht mehr ganz so häufig, und er sieht auch so aus, als ob er besser schläft als anfangs. Er vertraut mir; zum Glück habe ich mittlerweile einen ziemlich guten Draht zu ihm.«
»Wundert dich das?« Sameera betrachtete ihn. »Er fühlt sich sicher bei dir. Und er liebt dich – zwei Dinge, die ich absolut nachvollziehen kann. Mir geht es nämlich genauso.«
Vikram beugte sich rasch vor und küsste sie. »Vielen Dank. Übrigens – morgen kommt der Mann, der in Zukunft für die Sicherheit des Dar-as-Salam
sorgen soll.«
Sameera seufzte. Die Ereignisse des Frühjahrs hatten ihnen schmerzlich vor Augen geführt, wie verwundbar das Waisenhaus mitsamt seinen Bewohnern war, zumal wenn Vikram sich gerade nicht in Kashmir aufhielt (wie an jenem verhängnisvollen Tag ihrer Entführung durch Guptas Schergen). Najiha Kamaal, eine hochrangige Politikerin und gute Freundin der Sandeeps, hatte damals spontan ihren Leibwächter Janveer abgestellt, damit er in dieser Krisenzeit über das Dar-as-Salam wachte. Aber natürlich konnte das keine Dauerlösung sein, denn Najiha hatte mindestens ebenso viele Feinde wie Vikram und konnte nicht für immer auf den eigenen Schutz verzichten.
Sameera verstand das voll und ganz; dennoch war sie traurig, denn sie hatte Janveer sehr gern, und die Kinder mochten ihn ebenfalls, was angesichts der Tatsache, dass er sich wochenlang fast ständig im Heim aufgehalten hatte, ausgesprochen wichtig war. Wie der Neuankömmling mit ihren Schützlingen auskam, würde man erst noch sehen müssen. Und wie Vikram und sie mit ihm zurechtkamen, ebenfalls.
Sie griff nach Vikrams Hand.
»Es ist vieles so ganz anders gelaufen, als wir es geplant hatten«, sagte sie. »Denk nur an Zeenaths Hochzeit!«
Ihre älteste Pflegetochter hatte eigentlich schon vor zwei Monaten heiraten wollen. Nadim, der Sohn eines Hoteliers in Gulmarg, hatte sich im vergangenen Jahr zu Zeenaths freudiger Verwunderung Hals über Kopf in sie verliebt, während sie mit seinem Vater verhandelte, der ihre wunderschönen Stickereien in der Boutique seines Hotels verkaufte. Dass die beiden heiraten würden, war rasch beschlossene Sache gewesen, und das große Fest war für August geplant worden.
Aber dann war Anfang Juli der junge Widerstandskämpfer Burhan Wani bei einem Encounter mit Polizei und Militär ums Leben gekommen. Als Resultat war die Unruhe, die in Kashmir ständig unter der Oberfläche schwelte, jäh aufgeflammt und hatte sich binnen weniger Tage wie ein Flächenbrand ausgebreitet. Die Bevölkerung war auf die Straße gegangen, das Militär hatte auf die Demonstranten geschossen und das wunderschöne Tal war über Wochen in einem Strudel der Gewalt versunken. Ausgangssperren wurden verhängt, Flugverbindungen zwischen Kashmir und den restlichen Provinzen Indiens fast komplett eingestellt. In diesem Chaos war an eine große Feier mit vielen Gästen nicht mehr zu denken gewesen… ganz zu schweigen davon, dass die Sharmas aus Maharashtra anreisten, um mitzufeiern.
»Ich bin ja immer noch verblüfft darüber, wie schnell es dann am Ende doch gegangen ist«, sagte Vikram. »Nadims Familie muss wirklich sämtliche Pläne fertig in der Schublade gehabt haben, um nach der Aufhebung der allgemeinen Ausgangssperre sofort loslegen zu können. Innerhalb von nur einer Woche so ein Fest mitsamt einem ausgewachsenen Wazwan auf die Beine zu stellen, das muss man erst mal hinkriegen.«
»Und das Allerbeste daran war«, sagte Sameera leise, »dass du dabei warst und die Hochzeit mitfeiern konntest, mera jaan.«
Sie sah, wie ein Schatten sein Gesicht verdüsterte; er wusste ohne Zweifel ganz genau, woran sie in diesem Moment dachte. Am 2. Mai war ihr Peiniger Avan Gupta in einem ausgebrannten Flugzeughangar mit zerschmettertem Schädel aufgefunden worden. Wochenlang hatten die Behörden vergeblich nach dem Täter gesucht, bis die Aussage eines Mannes aus der Schreibstube der Polizeidirektion (der ironischerweise nie die Absicht gehabt hatte, Sameeras Mann zu belasten) Vikram ins Visier der Ermittler gerückt hatte. Man hatte ihn umgehend festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt, und wäre es nach Guptas Nachfolger Narendra Nikam gegangen, dann hätte er das Zentralgefängnis von Srinagar nie wieder verlassen – außer vielleicht mit den Füßen voraus.
Angesichts dieser üblen Aussichten hatte Raja Sharma alle Vorsicht in den Wind geschlagen und war noch während der schlimmsten Unruhen nach Kashmir gereist, um seinen Freund und Bruder zu entlasten. Zwar wusste er (ebenso wie Sameera selbst) verdammt gut, dass es tatsächlich Vikram gewesen war, der in jenem Hangar Rache an Gupta genommen hatte – aber angesichts dessen, was der Brigadier ihm und Sameera angetan hatte, war Raja mit diesem Akt der Selbstjustiz von Anfang an absolut einverstanden gewesen. Und dass Vikram deswegen jetzt im Gefängnis verrotten sollte, kam für ihn schon zweimal nicht in Frage. Also hatte er kurzerhand ein wasserdichtes Alibi für Vikram konstruiert und dieses vor der Staatsanwaltschaft zu Protokoll gegeben. Und da es dank Vikrams Umsichtigkeit keine stichhaltigen Beweise gegen ihn gab, war er schließlich vorerst gegen Kaution freigelassen worden. Seitdem musste er sich einmal pro Woche bei der Polizei melden und wartete ebenso wie Sameera sehnsüchtig auf den Tag, an dem die Ermittlungen gegen ihn endlich offiziell eingestellt wurden und er keine Kautionsauflagen mehr zu beachten brauchte.
Bei der Erinnerung an die Tage des Bangens, während der Mann, den sie mehr liebte als sich selbst, in einer Gefängniszelle saß, begann Sameera unwillkürlich zu zittern.
»Wenn ich mir vorstelle, sie hätten dich mir für immer weggenommen…«
»Keine Angst.« Vikrams Stimme war tief und beruhigend, und der zärtliche Druck seiner Finger schien sie zu erden. »Ich werde dich nie verlassen, meri jaan.«
Sie beugte sich vor, bis ihre Stirn seine Brust berührte. Mohan war zwischen ihnen eingenickt; sein rundes Babygesicht war ein Abbild seligen Friedens.
»Das hoffe ich«, flüsterte sie und schloss die Augen.
Kapitel 1
Gegen die Angst
Am nächsten Tag kam Rizwan Padar zum ersten Mal in das Dar-as-Salam. Sameera hatte darauf bestanden, dass alle Kinder anwesend waren, wenn der neue Wachmann sich vorstellte, und deshalb den Termin auf einen Sonntag gelegt.
»Die Chemie muss stimmen«, sagte sie. »Wenn sie ihn nicht mögen oder gar Angst vor ihm haben, schicken wir ihn weg und suchen uns jemand anderen.«
Also waren kurz vor Padars Ankunft die Kinder samt und sonders auf der Veranda des großen, alten Holzhauses versammelt, um einen ersten Blick auf ihn zu werfen.
Vikram stand an einem Ende der Kinderreihe, Sameera am anderen, Moussa dicht neben sich. Als Vikram im Juli wegen des Mordverdachts verhaftet worden war, hatte Moussa die Rolle des Mannes im Haus übernommen, und noch immer ließ der Fünfzehnjährige sie kaum aus den Augen, obwohl Vikram schon lange wieder zuhause war.
Vikram seufzte lautlos in sich hinein.
Die Unruhen nach dem Tod des Widerstandskämpfers Burhan Wani und die Tatsache, dass er, Vikram, festgenommen und eingesperrt worden war, hatten tiefe Spuren in Moussas Seele hinterlassen – ein herber Rückschlag nach all dem stillen Selbstvertrauen und der Stärke, die der Junge seit seiner Ankunft vor fünf Jahren im Dar-as-Salam mit der Hilfe von Sameera und Vikram allmählich aufgebaut hatte. Und mit Hilfe von Raja, der ihn liebte wie ein Vater, und der von Moussa geliebt wurde wie von einem Sohn.
Plötzlich erinnerte sich Vikram wieder daran, wie Raja und Moussa sich zum ersten Mal begegnet waren – ein freundlicher Fremder in Srinagar, der den Kindern Mandelgebäck schenkte und ihm half, den liegengebliebenen Kleinbus des Waisenhauses wieder flott zu machen, und das scheue Kind, das überraschenderweise ständig seine Nähe suchte und den Blick nicht von ihm abwenden konnte. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass die Eignung ihres neuen Leibwächters unter anderem auch davon abhing, wie Moussa auf ihn reagierte… quasi eine Art psychologischer Lackmustest. Und ganz besonders musste er auf Azad achten, der in dem Paramilitär-Lager auf brutale Weise gelernt hatte, sich vor Männern zu fürchten, und der vor Fremden meist erst einmal zurückschreckte.
Aus der Entfernung erklang das Röhren eines Motors; ein Jeep bog in die holperige Zufahrt zum Dar-as-Salam ein, näherte sich und blieb endlich mit quietschenden Bremsen vor dem Haus stehen. Die Fahrertür öffnete sich und ein Mann stieg aus. Er war mittelgroß und auf eine Weise kräftig, die nahelegte, dass er häufig Sport trieb. Sein Gesicht erzählte allerdings eine andere Geschichte… mit großen, überraschend sanften Augen, die sein Empfangskomitee interessiert musterten, olivgetönter Haut und einem dichten, sauber kurz gestutzten Bart rund um einen vollen Mund. Der verzog sich angesichts der Kinderschar zu einem breiten, fröhlichen Lächeln. Vikram registrierte mit einem raschen Seitenblick, dass fast alle Kinder das Lächeln spontan erwiderten. Auch Moussa… und Azad zeigte zumindest keine übermäßige Angst. Ihm wurde auf der Stelle deutlich leichter ums Herz.
»Rizwan Padar?«, fragte er.
»Eben derselbe.« Padar salutierte militärisch, dann lächelte er verlegen, faltete die Hände und neigte grüßend den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung, dass ich eine solche Sensation bin.«
»Sie sind der Mann, der diese Kinder beschützen muss, wenn ich nicht da sein kann, um es selbst zu tun«, erwiderte Vikram. »Sie sollten die Aufgabe, die Sie vor sich haben, nicht unterschätzen.«
»Keine Sorge«, sagte Padar. »Ich bin mir bewusst, dass Sie mich aus gutem Grund hierher bestellt haben. Ihr Heim hat einen interessanten Ruf in diesem Tal.«
»Sie finden uns interessant?«
Das war Sameera, die plötzlich neben Vikram stand, Moussa hinter sich, der ihre Finger fest umschlossen hielt. Sie klang ausgesprochen reserviert. Padar sah sie an, legte eine Hand auf die Brust und verneigte sich tief.
»Sandeep sahiba«, sagte er, »es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen – genau wie Ihren Mann und Ihre Kinder.« Diesmal blieb sein Gesicht ernst, aber das Lächeln funkelte in seinem Blick wie ein ironisches Irrlicht. »Ich hoffe, ich finde Gnade vor Ihren Augen.«
»Das hängt ganz von Ihnen ab.« Sameeras Haltung entspannte sich leicht, und sie legte den Kopf schräg. »Sie waren bei der Armee, soweit ich weiß?«
Er nickte. »Rashtriya Rifles. Bis vor drei Monaten.«
»Auf eigenen Wunsch ausgeschieden und ehrenhaft entlassen«, ergänzte Vikram. »Im Rang eines Naik, und mit einem Zusatztraining als Scharfschütze. Ihre Vorgesetzten haben es bedauert, Sie zu verlieren, und die nächste Beförderung wäre nur eine Frage der Zeit gewesen.«
»Sie kennen meine Dienstakte.« Padar nickte und musterte ihn aufmerksam. »Natürlich. Sie mussten sichergehen, dass ich für Ihre Bedürfnisse tauglich bin.« Sein Blick schweifte zu den Kindern hinüber, die ihn unverwandt beobachteten. »Vielleicht sollten wir das Einstellungsgespräch besser drinnen fortsetzen?«
»Keine schlechte Idee.« Vikram öffnete die blaue Tür und machte eine einladende Geste. »Kommen Sie.«
***
»Was hältst du von ihm?«
Vikram saß am Tisch in der Küche, während Sameera den Pfannkuchenteig für das Frühstück der Kinder am nächsten Morgen vorbereitete. Er fand es außerordentlich friedlich, ihr dabei zuzusehen, wie sie Eier aufschlug, Mehl siebte und Milch in die große Schüssel goss. Normalerweise war das die Aufgabe ihrer Köchin Zobeida, aber die hatte sich freigenommen, damit sie sich ein paar Tage ausschließlich um die hochbetagte Mutter ihres Mannes Hamid kümmern konnte, die ein wenig kränkelte.
»Ich denke, ich mag ihn«, sagte Sameera, während sie mit dem Schneebesen in der Schüssel rührte. »Und die Kinder mögen ihn auch. Sie haben ihm jedes Zimmer gezeigt – genau wie damals bei Raja.«
»Er kann gut mit ihnen umgehen«, erwiderte er zustimmend. »Freundlich, aber nicht zu freundlich, wenn du verstehst, was ich meine. Er biedert sich nicht an.«
»Richtig.« Sameera deckte die Schüssel mit dem fertigen Teig ab und stellte sie in den Kühlschrank. »Außerdem hat er sich von Ibrahim seine neuesten Schnitzereien erklären lassen, und der hat ihm einen regelrechten Vortrag gehalten, obwohl er sonst kaum den Mund aufbekommt – jedenfalls Fremden gegenüber.«
Vikram ließ den Nachmittag ein letztes Mal vor seinem inneren Auge vorüberziehen.
»Die Mädchen waren zuerst ein bisschen scheu«, meinte er, »aber nicht lange. Er hat ihnen gegenüber genau den richtigen Ton getroffen.«
»Klingt fast perfekt, nicht?« Sameera ließ den Schneebesen in die Spüle fallen. »Wie gesagt, ich denke, ich mag ihn.«
Vikram hob eine Augenbraue. Er kannte seine Frau. »Denkst du das.«
»Ich werde ein bisschen Zeit brauchen, um ihn wirklich einschätzen zu können«, sagte sie. »Heute hat er sich ganz sicher von seiner besten Seite gezeigt, aber das hält kein Mensch dauerhaft durch, ohne sich irgendwann eine Blöße zu geben. Erst wenn ich die gesehen habe, fälle ich mein endgültiges Urteil.«
»Dann wird er wohl so lange warten müssen, bis er ›Gnade vor deinen Augen findet‹.« Vikram grinste.
»Damit hat er mir fast den Wind aus den Segeln genommen.« Sameera grinste ebenfalls, dann wurde ihr Blick weich. »Gott sei Dank ist Azad nicht vor ihm zurückgeschreckt. Und im Aufenthaltsraum hat Padar gefragt, wer die vielen tollen Landschaftsbilder aus Gulmarg gemacht hat. Moussa hat sich sehr darüber gefreut und ist danach endlich wieder ein bisschen aufgetaut.«
»Beste Voraussetzungen also«, entgegnete Vikram. »Wir geben ihm eine Chance. Seine Leistungen in der Armee waren in jedem Fall makellos, und er ist mir von gleich mehreren Leuten wärmstens empfohlen worden. Ich hab mit dem Mann gesprochen, der ihn in der Scharfschützeneinheit trainiert hat. Padar trifft eine Krähe in der Krone eines Chenarbaumes aus hundert Metern Entfernung ins Auge. Und er wird dir vorher genau sagen, in welches von beiden.«
Er stand auf und nahm Sameera das Geschirrtuch aus der Hand.
»Das heißt, ich muss mir um dieses Heim und meine Familie ab sofort weniger Sorgen machen. Komm, meri jaan – lass uns schlafen gehen.«
***
Knapp zwei Wochen nach der ersten Begegnung mit dem neuen Wachmann des Dar-as-Salam war Sameera auf dem Markt an der Jamia Masjid in Srinagar unterwegs. Das Freitagsgebet war gerade vorüber, der Platz schwarz von Menschen. Während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte, spürte sie mit einem Mal ihren Herzschlag wie ein pulsierendes Hämmern im Mund. Ihre Handflächen wurden schweißfeucht. Und sie bekam keine Luft mehr.
Eine Hand streifte ihren Ellenbogen, eine Passantin mit vollen Einkaufstaschen rempelte sie an und brachte sie um ein Haar zum Stolpern. Für ein paar vollkommen panische Sekunden wurde ihr schwarz vor Augen.
Ich muss hier weg, dachte sie. Ich muss raus aus dieser Menge, bevor ich ersticke.
Sie versuchte, nachzudenken. Sie hatte sich heute Morgen in der Klinik mit Hamid abgesprochen; der betete normalerweise immer in der Hazrat-bal-Moschee und wollte sie abholen, wenn sie ihn anrief. Das Handy. Sie musste es nur aus ihrem Beutel holen und seine Nummer wählen. Das würde sie doch wohl noch fertigbringen.
»Nun geh endlich aus dem Weg, Frau!«
Jemand packte sie grob am Arm und stieß sie beiseite. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, aber sie war außerstande, zu sprechen.
Kein Wort, hakim sahiba, oder Sie sind tot.
Es war wie ein machtvoller Flashback, der sie in die Gasse bei Ali Rafiqs Café zurückschleuderte. Der Mann, dem sie im Weg gestanden hatte, war längst in der Menge verschwunden, aber sie konnte seinen Klammergriff noch immer spüren… nicht nur an einem, sondern an beiden Armen. Dort, wo Guptas Schergen sie festgehalten hatten, als sie ihr die Revolvermündung ins Kreuz gedrückt, sie durch den Demonstrationszug gelotst und in das Auto gezerrt hatten, damals im April.
Sameera setzte sich in Bewegung, dankbar dafür, dass ihre Beine sie noch trugen. Sie ging vorwärts, ohne wirklich zu wissen wohin, immer einen Schritt nach dem anderen. Gesichter und Marktstände verschwammen in einem dichten Nebel, das vielfache Stimmengewirr, die Rufe der Marktschreier und die Lieder aus den Lautsprechern der Radios ergossen sich wie ein unaufhörlicher Klangbrei in ihre Ohren. Der Platz lag im klaren Schein der Mittagssonne, aber vor ihren Augen flackerte und flimmerte das Licht und ging immer wieder aus.
»Hakim sahiba?«
Eine Stimme, die sie kannte, alarmiert und freundlich… und mit einem Ruck kehrte sie zurück in die Wirklichkeit. Direkt vor sich sah sie das vertraute bärtige Gesicht von Hassan Harabi, der sie über seine Brille hinweg musterte. Hinter ihm erkannte sie vage den Umriss eines Verkaufsstandes mit Spielbrettern, die sich in den Fächern stapelten. Offenbar hatte ein untrüglicher, rettender Instinkt sie geradewegs zu ihm geführt. Auf dem Tresen war ein Schachspiel aufgebaut. Sie starrte die Figuren an wie betäubt. Sie waren aus Elfenbein geschnitzt, das hell in der Sonne leuchtete. Schachmatt, dachte sie.
»Y’Allah, was fehlt dir? Sherif, hilf der hakim sahiba, sich da auf den Hocker zu setzen.«
Sein ältester Sohn tauchte buchstäblich aus dem Nichts auf; als er ihren Arm nahm, um sie hinter den Tresen in das Innere des Verkaufsstandes zu führen, zuckte Sameera heftig zusammen. Hassans Stirnrunzeln vertiefte sich und verschwand auch nicht, als sie Platz genommen hatte.
»Hol eine Wasserflasche aus dem Wagen, beta.«
Er ging vor ihr in die Hocke, und seine warme Hand legte sich über die ihre. Ihre Finger bebten und waren eiskalt.
»Bist du krank? Soll mein Sohn dich in die Klinik fahren, oder möchtest du, dass ich Vikram bitte, herzukommen?«
Sameera schüttelte den Kopf. »N-nein.« Ihre Stimme war so dünn und tonlos, dass sie sie kaum erkannte. »Ich will nicht in die Klinik, und bitte… sag Vikram nichts davon.«
Sie tastete nach dem Beutel, der an einem langen Stoffriemen über ihrer Schulter hing. Da war ihr Geldbeutel, ihr Terminkalender und ganz unten lag das Handy. Wie damals, dachte sie. Das alles hast du auch dabeigehabt, damals im April. Und die Erinnerung wird dich immer wieder heimsuchen und dir beweisen, wie schwach du bist.
Sie blickte auf und sah Hassan an.
»Holst du bitte mein Handy aus der Tasche und rufst Hamid an? Er wollte mich heute mit ins Dar-as-Salam nehmen, und wenn er nichts von mir hört, wird er sich Sorgen machen.«
»Ja, natürlich.« Er wiegte bedenklich den Kopf. »Hakim sahiba… bist du ganz sicher, dass du nicht doch einen Arzt brauchst? Ich mache mir nämlich auch Sorgen um dich. Du bist kreidebleich… als hättest du einen Geist gesehen.«
»Nein… nein, danke, Hassan baba. Es geht schon wieder. Bitte, ruf Hamid für mich an, ja? Bitte.«
Sie schloss die Augen. Sie sperrte den alten Holzschnitzer, den Markt und die vielen Menschen darauf aus und zog sich in die rötliche Dunkelheit hinter ihren Lidern zurück. Ihr Herzschlag verlangsamte sich endlich, aber sie spürte, dass der Kameez unter ihrer Burqa schweißnass war, und dass sie nicht aufhören konnte zu zittern.
Es ging nicht schon wieder. Ganz im Gegenteil.
***
Als Vikram an diesem Abend zurück ins Dar-as-Salam kam, wurde es bereits dunkel; er hatte Najiha Kamaal auf einer ihrer Fahrten nach Dardpura begleitet, die sie regelmäßig machte, um dort die Fortschritte ihrer Projekte zu überprüfen und mit den Frauen zu reden, die in dem »Dorf der Halbwitwen« lebten. Parveena Faridals Enkel besuchte mittlerweile eine weiterführende Schule, brachte gute Noten nach Hause und hielt seinen Großvater in Ehren; das Bild von Altaaf Faridal hing nach mehr als fünfundzwanzig Jahren noch immer an derselben Stelle in Parveenas Wohnzimmer. Noch immer war er nicht heimgekehrt, und noch immer wartete seine Frau beharrlich auf Gewissheit über sein Schicksal.
Vikram wechselte ein paar Worte mit Rizwan Padar, der in seiner Abwesenheit das Heim bewacht hatte. Er wartete, bis Padar sich verabschiedet hatte, in seinen Jeep gestiegen und losgefahren war, dann betrat er das Haus und ging den Gang hinunter in Richtung Küche. Aus dem Aufenthaltsraum waren Stimmen zu hören; dort saßen einige der Kinder noch über den Hausaufgaben. In der Küche fand er Ameera vor, die neben dem Herd langsam hin- und herging, Mohan auf dem Arm und eine Stoffwindel über der Schulter. Azad saß am Küchentisch; auch wenn er mit Vikrams und Sameeras Schützlingen insgesamt gut zurechtkam, so hielt er sich dennoch nach wie vor bevorzugt in der Nähe seiner Schwester auf, als schenkte ihre Gegenwart ihm Sicherheit und zusätzliche Wurzeln.
»Hallo, ihr zwei!« Vikram lächelte. »Wo ist ammi? Hat sie sich hingelegt?«
Die beiden wechselten einen raschen Blick.
»Nein«, erwiderte Ameera. »Nein, sie ist draußen.«
Vikram runzelte die Stirn. »Draußen? Wo draußen?«
»An der Feuerstelle, neben dem Baum.« Azad schaute in Richtung Fenster. »Hamid hat sie heute Nachmittag heimgebracht, bevor er uns aus der Schule abgeholt hat. Ich glaube, sie war nach der Klinik noch auf dem Markt, und da ist irgendwas passiert.«
Vikram spürte, wie ihm die Brust eng wurde. »Hat er gesagt, was es war? Oder hat ammi etwas gesagt?«
»Nein, keiner von beiden… nur eben, dass er sie auf dem Markt abgeholt hat«, meinte Ameera. Mohan streckte eine Hand aus und haschte nach ihrem Zopf; sie hielt seine kleinen Finger behutsam fest. »Vorsicht, chhote, nicht ziehen! – Sie hat Zobeida beim Essenmachen geholfen und Mohan gestillt, danach ist sie hinausgegangen, und seitdem ist sie da draußen. Sie hat sich noch nicht einmal eine Jacke geholt, und dabei ist es jetzt schon richtig kalt.«
»Ich schau nach ihr.« Vikram hatte sich bereits halb zum Gehen gewandt, als er die Thermoskanne sah, die auf dem Tisch stand. Azad erriet offensichtlich, was er dachte, denn er stand rasch auf, holte einen großen Keramikbecher aus dem Schrank und füllte ihn aus der Kanne mit Chai. Dann hielt er Vikram den Becher hin.
»Der tut ihr bestimmt gut«, sagte er. »Seit sie zuhause ist, wollte sie gar nichts haben.«
»Danke, mein Junge. – Ameera?«
»Ja, Vikram baba?«
»Ich bin sicher, es dauert nicht lange, aber trotzdem: Würdest du bitte Mohan wickeln und ins Bett legen, wenn er müde wird?«
»Gerne.« Ameera lächelte und tupfte seinem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Einmal mehr stellte Vikram fest, dass die Siebzehnjährige immer hübscher wurde… und dass ihr ein Baby auf dem Arm ausgesprochen gut stand. Sie würde sicher in nicht allzu ferner Zukunft einen Mann sehr glücklich machen. Und er würde diesen Mann vorher sehr gründlich unter die Lupe nehmen – egal, wer es war.
Er ging hinaus, den Becher in den Händen und das kräftige Aroma von Kardamom, Zimt und Vanille in der Nase. Als er das Haus umrundet hatte und auf den Chenarbaum zusteuerte, sah er seine Frau auf der Bank neben der Feuerstelle sitzen. Sie trug immer noch den weinroten Salwar Kameez, in dem sie sich heute Morgen von ihm verabschiedet hatte. Er war kurzärmelig, und Ameera hatte recht gehabt: Jetzt, wo die Sonne fort war und den Rest des Sommers mit sich genommen hatte, wurde es rasch empfindlich kalt.
Sie musste mit den Gedanken sehr weit fort gewesen sein, denn sie bemerkte ihn erst, als er unmittelbar vor ihr stand.
»Hallo, Liebste«, sagte er sanft.
Sie sah ihn an. Ihre mandelförmigen Augen waren noch dunkler als sonst.
»Hallo, mera jaan«, antwortete sie leise. »Schön, dass du wieder da bist.«
»Ich hab dir was Warmes mitgebracht.« Er reichte ihr den Becher. »Um Himmels willen – du musst dir etwas überziehen! Deine Hände sind eisig.«
Sie nahm einen Schluck, seufzte und zog eine kleine Grimasse. »Danke, das tut gut. Und mach dir keine Gedanken über meine Hände. Wenigstens zittern sie jetzt nicht mehr.«
Vikram schlüpfte aus seiner alten Jeansjacke und legte sie Sameera um die Schultern. Sie zog den abgetragenen Stoff eng um sich zusammen und lächelte schwach.
»Die hattest du schon, als wir uns kennengelernt haben.«
»Ich weiß. Die werde ich tragen, bis sie eines Tages auseinanderfällt.« Er ließ sich dicht neben ihr auf der Bank nieder. »Was ist los? Azad hat gesagt, auf dem Markt wäre irgendetwas passiert.«
Sie schmiegte die Wange an seine Schulter und schloss die Augen. »Eine Panikattacke. Die schlimmste, an die ich mich erinnern kann, jedenfalls in diesem Jahr. Schwindel, Übelkeit, Herzrasen, Schweißausbrüche – das ganze Programm. Ich hab es irgendwie zum Stand von Hassan baba geschafft. Er wollte, dass Sherif mich in die Klinik fährt, aber zum Glück konnte ich ihm das ausreden.«
»Zum Glück?« Vikram schüttelte den Kopf. »Geliebte, begreifst du eigentlich nie, wann du wirklich Hilfe brauchst?«
»Ich begreife es nur zu gut.« Sameera trank einen weiteren Schluck; sie klang überraschend sachlich. »Aber das mit der Hilfe ist leider nicht ganz so einfach.«
»Wieso?«
»Ich kann keine Antidepressiva nehmen – und bevor du fragst: Nein, an Mohan liegt es nicht. Wenn ich wüsste, dass es hilft, würde ich unseren Kleinen halt abstillen. Aber sogar die Mittel ohne Benzodiazepin bekommen mir nicht, und die Nebenwirkungen sind eine Katastrophe. Damals in Shimla habe ich sie mehr als ein halbes Jahr geschluckt; das tu ich mir nicht noch einmal an, wenn ich nicht unbedingt muss.«
»Und ein Therapeut? Lakshmi wird doch sicher jemanden kennen, zu dem du gehen kannst.«
»Bei dem Therapeutenmangel hier im Tal? Du machst Witze. Abgesehen davon würde ich nur mit einem Kollegen sprechen wollen, den ich wirklich sehr gut kenne und dem ich hundertprozentig vertraue. Denn wenn ich über das reden will, was mich belastet, dann wird natürlich Gupta zur Sprache kommen… und möglicherweise auch der merkwürdige Unfall, der ihn das Leben gekostet hat.«
Vikrams Mund wurde schmal. Sameera hatte recht, das war ein Thema, das man nicht jedem anvertrauen durfte – jedenfalls nicht wahrheitsgemäß und in vollem Umfang. Sonst würde seine Kaution schneller widerrufen werden, als er bis drei zählen konnte, und er würde erneut ins Gefängnis wandern. Und diesmal für immer.
»Ich habe es satt.« Sameeras Stimme klang müde und bitter. »Seit meiner Ankunft hier in Kashmir vor vier Jahren bin ich schon zweimal zum Spielball deiner Feinde geworden. Meine Hilflosigkeit ist nach jedem dieser Übergriffe gewachsen, und meine Angst auch. Nicht vor dem, was Al Yussufs Männer damals mit mir gemacht haben… oder Gupta. Sondern davor, irgendwann wieder ein Druckmittel zu sein, das deine Feinde gegen dich verwenden wie eine Waffe, um dich zu schwächen.«
»So siehst du dich?« Er nahm sie in die Arme. »Du hast mich noch nie geschwächt, und du wirst es niemals tun. Nicht, solange du mich liebst und bei mir bleibst, mein Herz.«
Sameera lehnte die Stirn gegen seine Brust. »Es beruhigt mich, das zu hören. Trotzdem – so etwas kann immer wieder passieren. Und was willst du dagegen tun? Auch noch persönliche Leibwächter für mich anheuern, so wie damals für Tarek? Sie haben ihn nicht dauerhaft schützen können, das weißt du. Sie haben nicht verhindern können, dass Najiha heute Witwe ist und die kleiner Nour ihren Vater nie kennenlernen durfte.«
»Ja, das weiß ich.« Er strich ihr über das Haar. »Aber dir ist doch bestimmt klar, dass dieses Haus und alle, die darin leben, von Najihas Leuten überwacht werden? Seit Rajas und deiner Entführung im April hat es keine Zwischenfälle mehr gegeben. Die Löwin von Kashmir macht denselben Fehler nicht zweimal. Und jetzt haben wir zudem auch noch Rizwan Padar als Wachmann, und bislang macht er seine Sache gut.«
»Mag sein. Aber dummerweise lernen unsere Feinde auch dazu. Ich… ich wünschte, ich wäre ein bisschen wehrhafter. Bisher habe ich mich immer darauf verlassen können, dass du kommst und mich rettest.«
»Nicht bei Gupta.« Er sprach leise und grimmig.
»Wie man’s nimmt. Immerhin hast du mich aus dem Präsidium geholt. Sogar mit Eskorte.« Sameera atmete tief durch. »Und der Rest – das war mein ganz persönlicher Pakt mit dem Teufel.«
Sie stand auf.
»Ich wünschte, ich müsste nie mehr davon träumen. Ich wünschte, ich könnte wieder allein auf den Markt gehen, ohne ständig auf die Schritte der Männer zu lauschen, die mich damals mitgenommen haben. Seit Monaten wage ich mich fast nur noch in Begleitung nach Srinagar hinein, weil meine Furcht davor, es allein zu tun, immer größer geworden ist. Ich hab diese Angst so entsetzlich satt. Ich will kein Opfer mehr sein.«
Er sah die Verzweiflung und Ratlosigkeit in ihren Augen.
»Hilf mir, Vikram! Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Er lächelte schwach. »Ich bin kein Therapeut wie du, Liebste… nur ein alter Krieger mit zu vielen Narben auf Leib und Seele. Und ich weiß nicht, ob ein Rat ausgerechnet von meiner Seite dir wirklich etwas nützt. Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht wird es Zeit, dass du lernst, dich zur Wehr zu setzen.«
Sameera runzelte die Stirn. »Wie genau stellst du dir das vor?«
Er stand auf, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zärtlich. »Ich erklär’s dir. Aber zuerst kommst du mit hinein, sonst erkältest du dich noch. Dann isst du endlich etwas, und danach – aber wirklich erst danach – sage ich dir, wie genau ich mir das vorstelle.«
***
»Oh Gott… das tut weh!«
Sameera lag bäuchlings auf ihrem Bett. Sie war nackt, und auf ihrem rechten Schulterblatt prangte ein sehr eindrucksvoller Bluterguss. Vikram beugte sich darüber und pfiff leise durch die Zähne.
»Der ist aber nicht von schlechten Eltern, mein Herz. Woher hast du den?«
»Janveer dachte, ich könnte nach einer Stunde im Fitnessraum ruhig noch eine halbe Stunde durch das Gelände laufen, für die Kondition. Immer am Fluss entlang, und das Ufer ist in der Nähe von Najihas Haus mit Felsbrocken übersät. Deswegen sind meine Beine auch so zerschrammt. Mein Fehler – was muss ich auch über die eigenen Füße stolpern.«
»Das heißt, mit dem eigentlichen Training zur Selbstverteidigung hat er noch gar nicht angefangen?«
Sameera schnaubte. »Er findet, dafür bin ich noch lange nicht fit genug. Er hat gesagt, wenn ich nicht deutlich an Kraft und Ausdauer zulege, könnte ich mich bei den Übungen ernsthaft verletzen.«
»Ich sag’s ja ungern, aber er hat recht.« Vikram küsste sie zart auf die bloße Schulter; Sameera fuhr zusammen und gab einen zutiefst frustrierten Laut von sich. »Oh – da etwa auch?«
»Frag mich lieber, wo es nicht wehtut.«
Vikram betrachtete die Spuren, die nur acht Tage konsequentes Training auf dem Körper seiner Frau hinterlassen hatten, und überlegte nicht zum ersten Mal, ob die Idee, die er da gehabt hatte, nicht doch ein wenig zu radikal gewesen war. Er hatte an jenem Abend nach ihrer Panikattacke auf dem Markt vorgeschlagen, dass Janveer Naseem – der immerhin mehrere Jahre in einer Spezialeinheit der indischen Armee gedient hatte – sie in Selbstverteidigung unterrichten sollte. Das beinhaltete, dass Sameera bis auf weiteres drei bis vier Stunden täglich in Najiha Kamaals Haus verbrachte, wo der ehemalige Elitesoldat sie in seinem kleinen Fitnessraum Übungen absolvieren ließ, die er extra für sie zusammenstellte. Mohan nahm sie immer mit – sehr zur Freude von Najihas kleiner Tochter Nour –, und wenn er nicht gerade gestillt werden musste, war er bei Nours Kindermädchen Farideh Ali Ferouz in den besten Händen.
Sameera unterzog sich den ungewohnten Leibesübungen mit derselben Disziplin, mit der sie sich vor drei Jahren an die abwechselnde Arbeit als Traumatherapeutin und als Pflegemutter von Vikrams Schützlingen gewöhnt hatte. Denn wenn sie nach dem Training nach Hause zurückkam, warteten genau die mit ihren Bedürfnissen und Wünschen auf ihre ammi – was dafür sorgte, dass sie in den letzten Tagen beim gemeinsamen Abendessen mehrmals fast eingenickt war und noch vor Yussuf, Firouzé und Anjali im Bett lag.
»Mal sehen, wie lange sie das durchhält«, hatte Zobeida zweifelnd angemerkt, die genau wie Vikram registrierte, wie kräftezehrend diese plötzliche Doppelbelastung war.
»Es ist das, was sie will«, hatte Vikram erwidert, »und das, was sie offensichtlich braucht.«
Trotzdem hatte er vorsichtig bei Janveer nachgehakt, der ihn jedoch mit einem Lächeln beruhigt hatte. »Machen Sie sich keinen Kopf, Sandeep sir. Ich kann ganz gut erkennen, wer es ernst meint – und auch, wer Mumm genug hat, durchzuhalten. Vielleicht dauert es ein paar Monate oder noch mehr, bis sie so weit ist, aber Ihre Frau meint es verdammt ernst, und genügend Mumm hat sie auch. Geben Sie ihr einfach Zeit… und ab und zu eine ordentliche Massage.«
Vikram beschloss, diesen praktischen Ratschlag auf der Stelle zu befolgen. Mit dem Training im Umgang mit Waffen und allerlei anderen nützlichen Gegenständen, das er selbst übernehmen wollte, konnte er sowieso erst beginnen, wenn Sameera ein wenig abgehärtet war.
Er nahm ein Fläschchen vom Nachttisch, das eine Mischung aus Mandel- und Pfefferminzöl enthielt – eine Mixtur, die die Haut nicht nur geschmeidig machte, sondern vor allem auch kühlte. Er verrieb eine ordentliche Portion davon auf seinen Handflächen und grub die Fingerspitzen in die verhärtete Muskulatur von Sameeras Schultern. Diesmal klang der Laut, den sie von sich gab, fast wie ein Schnurren.
»Fühlt sich das gut an?« Seine Finger zogen ihr Rückgrat nach und kneteten gleichmäßig die Flanken.
»Unfassbar gut. Wo hast du das gelernt?«
»Hab ich mir selbst beigebracht – wie so manches.« Seine Hände wanderten wieder nach oben. Sie sparten sorgsam die schwarzblau verfärbte Stelle aus, fanden die schmerzhaften Knoten unter der ölglänzenden Haut und ließen sie langsam, aber sicher verschwinden. Sameera hatte den Kopf zur Seite gedreht. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht entspannt.
»Wenn ich geahnt hätte, wie wunderbar du das kannst, dann hätte ich schon viel eher mit dem Training angefangen.« Sie lächelte leicht. »Und weißt du was?«
»Nein, was denn?« Er strich über ihren Nacken, erneut über die Schultern und das Rückgrat entlang bis hinunter zu ihren Hinterbacken. Er liebte es, sie zu betrachten und zu berühren; ihre ruhige Anmut schlug ihn immer noch unfehlbar in ihren Bann. Die Jahre waren freundlich mit ihr umgegangen… weit freundlicher als die unter seinen Feinden, die es gewagt hatten, sie zu verletzen.
»Im Moment schlafe ich nachts wie ein Stein. Keine Träume mehr. Seit acht Tagen nicht ein einziger«, sagte Sameera. In ihrer Stimme schwang stiller Triumph mit.
»Das ist sehr schön.«
Seine Hände glitten wieder nach oben. Sameera stützte sich erst vorsichtig auf die Ellenbogen, dann drehte sie sich um, setzte sich auf und streifte mit den Lippen seine Handfläche. »Hmmm… das riecht sehr appetitlich. Wie die Minztoffees meiner irischen Großmutter.«
Sie sah ihn an; ihre Augen spiegelten das weiche Licht der kleinen Nachttischlampe. »Wie klug von dir, dass du dich vor der Massage auch schon ausgezogen hast.«
»Alles nur wegen dem Öl.« Er ließ sich auf der Matratze nieder. »Das gibt sonst Flecken auf der Kleidung, die nur ganz schwer wieder herausgehen.«
Sameera beugte sich vor und küsste ihn, gemächlich und voller Genuss. Es war, als würde sie ein glosendes Feuer entzünden, das erst leise zu flackern begann und dann Zentimeter für Zentimeter seines Körpers aufflammen ließ, vom Kopf bis zu den Füßen.
Er legte vorsichtig die Arme um sie und zog sie auf seinen Schoß. »Glaubst du, wir können…«
»Aber sicher können wir. Mohan ist gestillt und gewickelt, und er schläft schon seit einem Monat so gut wie durch. Wir haben einen rücksichtsvollen Sohn, muss ich sagen.«
»Sehr rücksichtsvoll. Geradezu selbstlos.« Er vergrub das Gesicht an ihrem Hals und schmeckte die Süße der Mandeln und die ätherische Schärfe der Minze gleichermaßen auf der Zunge. Jetzt war es ihre Hand, die seine Flanken liebkoste, die über seine Hüften strich und seinen Bauch. Dann berührte sie die Haut, die sich über Härte und Hitze spannte, und er rang nach Luft. Ihre Finger umfassten ihn und geleiteten ihn sanft und kundig in ihre Wärme hinein.
»Siehst du?«, flüsterte sie ihm atemlos ins Ohr, während sie begann, sich über ihm zu bewegen. »Auf diese… auf diese Weise musst du nicht einmal auf den dummen Bluterguss achtgeben.«
Kapitel 2
Unsterbliche Liebe
Raja Sharma liebte Lonavala. Genauer gesagt das Ferienhaus, das sein Freund Madhav Rao sich vor ein paar Jahren in diesem kleinen Ort im Deccan-Gebirge gekauft hatte, gut sechzig Kilometer entfernt von dem nahe Pune gelegenen Shivapur, wo Raja mit seiner Familie lebte. Seit Madhav aus beruflichen Gründen von Pune nach Goa gezogen war und Raja zuvor großzügig den Zweitschlüssel für sein Domizil zur Verfügung gestellt hatte, verging kaum ein Wochenende, an dem nicht entweder Raja selbst oder einer seiner Söhne den Wagen mit Familie und Lebensmitteln vollpackte und hierherkam, um in der erfrischenden Bergluft ein paar erholsame Tage zu verbringen.
Ein Lächeln umspielte Rajas Lippen, als er aus dem Fenster seines Schlafzimmers hinuntersah in den sonnenhellen, bunt blühenden Garten des Ferienhauses. Seine kleine Tochter Rani saß auf der steinernen Bank neben Sita und war offenbar gerade dabei, ihrer Mutter eifrig etwas in einem Buch zu erklären. Mittlerweile ging sie zur Schule und hatte es sich ganz eindeutig zur Aufgabe gemacht, ihre Eltern ausgiebig an all den spannenden Dingen teilhaben zu lassen, die man dort lernte.
Er selbst hatte bereits einen arbeitsreichen Vormittag hinter sich – er hatte sich um die Auffüllung des Brennholzvorrats für die allseits beliebte Feuerschale gekümmert. Nun sehnte er sich nach einer Dusche. Also ging er ins Bad und begann, sich zu entkleiden. Dabei streifte sein Blick den großen Badezimmerspiegel, und er hielt einen Moment inne und betrachtete nachdenklich sein Spiegelbild.
Wie Frankenstein nach dem Frühstück, hatte Vishal seinen Anblick vor kurzem in Shivapur trocken kommentiert. Zum Glück kannte Raja seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass diese Bemerkung humorvoll gemeint war… gut, wohl eher Galgenhumor, aber in jedem Fall nicht böse. Und es stimmt ja auch, dachte Raja, als er vorsichtig die langen, dunkelroten Narben auf seiner Brust betastete, wo vor gut sechs Monaten ein paar betrunkene, grölende Paramilitärs sich gegenseitig die Schärfe ihrer Messerklingen vorgeführt hatten. Auch die mehrschwänzige Peitsche ihres Anführers Djamal Kamil hatte deutliche Spuren auf ihm hinterlassen; unwillkürlich drehte Raja sich um und blickte über seine Schulter, um seinen völlig vernarbten Rücken im Spiegel zu begutachten. Wenigstens waren die Hämatome, die seine Haut am ganzen Körper abwechselnd blau, grün, gelblich und lila verfärbt hatten, mittlerweile verschwunden, und auch die vielen kleinen kreisrunden Stellen, wo seine Peiniger ihre Zigaretten auf ihm ausgedrückt hatten, verblassten allmählich. Dafür hatten die Silberfäden, die sein dunkelbraunes Haar durchzogen, sich zuletzt geradezu explosionsartig vermehrt. Sei’s drum. Das war definitiv das kleinste Übel.
Er atmete tief durch. Manchmal erschien es ihm immer noch wie ein Wunder, dass er die sieben Tage Gefangenschaft in Djamal Kamils Folterhölle vergleichsweise gut und ohne allzu gravierende Folgeschäden überstanden hatte. Dass er jetzt an der linken Hand nur noch vier Finger hatte (der kleine war nach einer Begegnung mit Kamils Schlachtermesser im Lager geblieben), damit kam er erfreulich gut zurecht. Und dass kaum eine Nacht ohne Albträume verging – daran war er zu seinem Leidwesen längst gewöhnt. Schließlich hatte er sein halbes Leben im Gefängnis verbracht und auch aus dieser Zeit Narben davongetragen – sichtbare wie unsichtbare.
Aber er hatte in dieser Zeit auch gelernt, sich von nichts brechen zu lassen. Das Leben ging stets weiter. Was sich nicht ändern ließ, damit musste man klarkommen, egal wie. Man musste nach jedem Fall und jedem Schicksalsschlag wieder aufstehen, um weiterzumachen, immer. Und aus jeder Prüfung, der man sich stellte, anstatt vor ihr davonzulaufen, ging man am Ende gestärkt hervor. Es waren oft sehr bittere Lektionen gewesen… aber nur dank ihnen lebte er noch.
Und manchmal bekamen selbst schlimmste Leiden am Ende sogar so etwas wie einen Sinn. In diesem Fall betraf das den unterdrückten Jungen namens Azad, den Raja in Kamils Lager kennengelernt hatte. Sie hatten sich angefreundet, einander in Stunden größter Not beigestanden, und Raja hatte ihm vom Dar-as-Salam erzählt – in der Hoffnung, dass dem Jungen eines Tages die Flucht gelingen und er dann bei Vikram ein neues Zuhause finden möge. Genau so war es schließlich gekommen… und als Krönung war Azad im Haus des Friedens auch noch mit seiner Schwester wiedervereint worden. Allein das war die ganzen Schmerzen und Demütigungen in dem Lager irgendwie wert gewesen.
Er bedachte sein Spiegelbild mit einem schiefen Lächeln, stellte sich unter die Dusche und drehte den Hahn auf. Schon bald lief angenehm warmes Wasser über seinen Körper, und er schloss die Augen, als er sein Gesicht in den kräftigen Strahl hielt. Sein Gesicht mit der großen, dunkelroten Narbe direkt unter dem Haaransatz rechts und der alten, tief eingekerbten Narbe auf der rechten Wange. Zum Glück hatte Rani sich sehr schnell an diesen Anblick gewöhnt; sie liebte es sogar, ihrem Papa Küsschen auf die Stirnnarbe zu geben. »Damit es dir nicht mehr so wehtut, da, wo diese gemeinen Männer dich gehauen haben.«
Natürlich hatten er und Sita Rani keine Einzelheiten über seine Zeit in dem Lager erzählt. Aber die Gelassenheit, mit der seine kleine Prinzessin seine Verunstaltung hinnahm, hatte Raja dazu ermutigt, noch einen Schritt weiter zu gehen. Sita war zunächst dagegen gewesen; ihrer Ansicht nach war es noch zu früh dafür. Aber schließlich hatte Raja sie überzeugt. Rani war jetzt sechs Jahre alt, sie ging zur Schule, und bevor sie dort unvorbereitet Kommentare von Mitschülern hörte wie »Dein Papa war doch mal im Knast, oder?«, war es mit Sicherheit besser, ihr vorher schon die Wahrheit zu sagen. Selbstverständlich ohne all die grauenhaften Details… aber eben das Wichtigste: Es gab mal eine Zeit, lange bevor du auf der Welt warst, mein Schatz, da war dein Papa im Gefängnis. Man hatte ihn dort eingesperrt, weil man dachte, er hätte einer Frau sehr wehgetan und sie umgebracht. Aber das stimmte nicht. Dein Papa war unschuldig. Leider hat man das erst nach fünfundzwanzig Jahren herausgefunden – aber nun ist dein Papa wieder frei, und er war nie ein Verbrecher.
Rani hatte ihn mit großen Augen angeschaut, als er ihr das erzählte. Dann hatte sie ohne Zögern erklärt, dass ihr Papa der beste Papa der Welt sei und dass es voll gemein gewesen wäre, ihn so lange einzusperren. Und dass hoffentlich nie, nie, nie wieder jemand so fies zu ihrem Papa sein würde.
Raja lächelte bei dieser Erinnerung, während er sich nach Rosmarin duftendes Shampoo ins Haar massierte. Seine kleine Tochter war genauso ein Schatz wie seine Frau. Und da sie mittlerweile neben den Misshandlungsspuren in seinem Gesicht und dem Stumpf an seiner linken Hand auch schon die eine oder andere Narbe auf seinen Unterarmen und in seinem Hemdausschnitt kannte, hatte er es einige Zeit danach sogar gewagt, sie behutsam auf den Rest vorzubereiten – auch das aus ganz praktischen Überlegungen heraus; immerhin bestand in ihren eigenen vier Wänden jederzeit die Möglichkeit, dass Rani ihn irgendwann einmal zufällig mit entblößtem Rücken zu Gesicht bekam, und den Schock, den sie dann mit Sicherheit bekommen würde, wollte er ihr ersparen.
Also hatte er ihr erzählt, dass man im Gefängnis nicht immer gut zu ihm gewesen war, dass man ihn auch manchmal geschlagen hatte – und dass die Spuren davon immer noch zu sehen waren. Und dann hatte er seine Kurta abgestreift und ihr viel Zeit gegeben, ihn von allen Seiten zu betrachten und sich damit vertraut zu machen, dass diese vielen Narben zu ihrem Papa gehörten und dass das nichts war, wovor sie erschrecken musste. Er hatte sie seine Narben betasten lassen und ihr (wenn auch nicht völlig wahrheitsgemäß) versichert, dass das alles jetzt nicht mehr wehtat. Und dann hatte sie tröstend die Arme um seinen Hals geschlungen und sich liebevoll an ihn geschmiegt, während er sie mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung an sich gedrückt hatte.
Er spülte sich die Schaumreste aus den Haaren. Dass er jetzt auch in diesem Punkt offen mit seiner Tochter umgehen konnte, machte ihm vieles leichter. Irgendwann, in ein paar Jahren, würde er ihr vielleicht noch mehr erzählen. Auch von seiner Gefangenschaft in dem Paramilitär-Lager… die er eigentlich gar nicht hätte überleben sollen; schließlich hatte Avan Gupta, ein alter und geschworener Feind Vikrams, ihn ein für alle Mal beseitigen wollen, weil Raja zufällig zum Zeugen und Mitwisser eines seiner zahllosen Verbrechen geworden war. Dass er trotzdem noch lebte, verdankte Raja zum einen dem Umstand, dass Gupta ihn noch als Geisel gebraucht hatte und Kamils Bande ihn deshalb nicht sofort genüsslich in seine Einzelteile hatte zerlegen dürfen. Und zum anderen natürlich dem Rettungsteam, das ihn in einer waghalsigen Aktion aus dem Lager befreit hatte – allen voran Vikram, sein geliebter Freund und Bruder, dazu dessen ehemaliger Armeegefährte Resul Hasrad, Rajas ältester Sohn Surya und Vishal, sein brother from another mother aus den alten Gefängniszeiten. Niemals würde er ihnen das vergessen.
Er drehte den Duschhahn zu, fuhr sich mit allen neun Fingern durch das nasse Haar und griff nach dem großen, flauschigen Badetuch, das auf der Ablage bereitlag. Während er sich trockenrieb, wanderten seine Gedanken zum Dar-as-Salam in Kashmir. Am Vorabend hatte er endlich mal wieder kurz mit Vikram dort telefonieren können. Das Netz bricht immer noch regelmäßig zusammen, hatte Vikram geseufzt, und wir müssen jederzeit mit neuen Ausgangssperren rechnen, die Leute haben sich noch lange nicht beruhigt. Ständig kracht es wieder irgendwo. Manchmal frag ich mich, ob das jemals aufhört. Wahrscheinlich nicht. Die Fronten sind zu verhärtet.
So weh ihm das auch tat, aber Raja musste ihm zustimmen. Seit er vor zweieinhalb Jahren zum ersten Mal nach Kashmir gekommen war, hatte er nicht nur die Schönheiten, sondern auch die Schattenseiten dieses Tals kennengelernt. Und das nach dem Tod von Burhan Wani ausgebrochene Chaos hatte er im Juli hautnah miterlebt. Ohne die Hilfe ihres gemeinsamen Freundes Nanda Singh, Colonel der indischen Abwehr, der ihm den Mitflug in einer Militärmaschine ermöglicht hatte, hätte er es wohl gar nicht erst nach Srinagar geschafft, zumindest nicht so schnell – und was Vikram in seiner Untersuchungshaft dann noch alles gedroht hätte, darüber mochte Raja gar nicht erst nachdenken. Wenn jemand wusste, wie es hinter Gefängnismauern zuging, dann er.
Auch deshalb hatte er damals, nachdem er von Vikrams Verhaftung erfahren hatte, umgehend die Operation Heermeister in die Wege geleitet. Die Idee, seinen Freund für die Tatnacht (die zugleich die Nacht seiner Befreiung aus dem Lager war) mit einem astreinen Alibi auszustatten, konnte natürlich nur funktionieren, wenn alle, die damals dabei waren, an einem Strang zogen und bereit waren, ein gewisses Risiko einzugehen. Zum Glück hatten Surya, Vishal und Resul keinerlei Skrupel gehabt, ebenso wie Raja eine faustdicke Falschaussage bei der Polizei zu machen und diese notfalls sogar vor Gericht und unter Eid zu wiederholen. Für unseren Kommandantenmach ich alles, hatte Vishal kurz und bündig erklärt, und Surya hatte hinzugefügt: Vikram hat dich aus dem Lager rausgeholt, da lassen wir ihn jetzt doch nicht hängen! Auf mich kannst du zählen, babuji.
Sie hatten die Version, die Raja bei der Polizei in Kashmir zu Protokoll geben würde, so lange gemeinsam nach Schwachstellen abgeklopft und in jeder noch so kleinen Einzelheit festgelegt, bis sie sich absolut sicher waren, dass es bei ihren Aussagen zu keinen Widersprüchen kommen würde. Dennoch war Raja selten so angespannt gewesen wie während seines Verhörs durch Staatsanwalt Kode und diesen Giftzwerg Narendra Nikam in Srinagar… ganz zu schweigen von den Tagen, die er danach in polizeilichem Hausarrest ausharren musste, bis auch die anderen drei Aussagen vorlagen. Er wusste: Beim geringsten Fehler drohte ihnen allen Gefängnishaft. Ein Risiko, das Vikram ihm zwar durchaus wert war (auch wenn er während des Verhörs wohlweislich das Gegenteil beteuert hatte) – aber es wäre doch ein verdammt unerfreuliches Ende seiner Operation Heermeister gewesen.
Sein Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Bloß gut, dass er auch das seinerzeit im Knast gelernt hatte: Frechheit siegt.
Er schlüpfte in eine dunkelblaue Kombination aus Kurta und Churidars und hängte sich die Silberkette mit dem Ganesha-Anhänger um, die Sita ihm vor ein paar Wochen geschenkt hatte. Dann ging er über die große, geschwungene Treppe nach unten und in den Eingangsbereich des Hauses, wo Rani ihm von draußen entgegengerannt kam und trotz seiner Vollbremsung frontal mit ihm kollidierte.
»Hoppla!« Er lachte laut und nahm seine Tochter mit Schwung auf den Arm. »Bist du etwa auf der Flucht, mein Schatz?«
Sie quietschte vergnügt. »Nein – aber ich hab eine ganz tolle Idee für ein Bild, und das muss ich jetzt sofort malen!«
»Na, dann nichts wie los!« Raja setzte sie auf dem Boden ab. »Darf ich das Bild dann nachher sehen, wenn es fertig ist?«
»Klar«, strahlte Rani und flitzte nach oben. Raja hörte gerade noch, wie sie anfing, lauthals einen Filmschlager zu trällern, ehe sich die Tür zu ihrem Zimmer hinter ihr schloss. Er lächelte in sich hinein. Rani hatte ganz eindeutig die Musikalität ihrer Mutter geerbt, die großartig tanzen konnte und eine wunderschöne Singstimme hatte. Sein Bruder Vikram wusste schon, warum er Sita so gerne ›meri sangeetkar‹ nannte.
Er ging nach draußen auf die Veranda und wartete dort, als er sah, dass nun auch Sita über den gepflegten Rasen auf ihn zukam. Ein Salwar Kameez aus fließendem fliederfarbenem Stoff umschmeichelte ihre schlanke Figur, das lange dunkle Haar fiel ihr offen den Rücken hinab und ihre nussbraunen Augen leuchteten auf, als sie ihn sah.
»Puh!«, stöhnte sie lachend. »Wieder ein neues Märchen gelernt. Aber demnächst ist unsere lesehungrige Tochter durch mit diesem Buch, dann werden wir für Nachschub sorgen müssen.«
»Vielleicht solltest du deine didi mal dazu anregen, ihren reichen Schatz an selbsterfundenen Märchen aufzuschreiben«, schmunzelte Raja. »Ich hab gerade überlegt, ob ich uns einen Chai koche; möchtest du einen?«
»Gern«, antwortete Sita und küsste ihn auf die Wange. »Ich komm mit, dann kann ich gleich das Alu Gobhi für heute Abend vorbereiten.«
Sie gingen in die Küche. Während Raja Gewürze mörserte, leicht anröstete und mit Wasser ablöschte, beobachtete er immer wieder verstohlen Sita, wie sie routiniert Kartoffeln schälte und würfelte. In der ersten Zeit nach seiner Gefangenschaft in dem Lager hatte er unter einer regelrechten Messerphobie gelitten, und an ganz schlechten Tagen kreuzte er immer noch beim bloßen Gedanken an eine scharfe Klinge panisch die Arme vor der Brust mit den langen roten Narben. Immerhin gelang es ihm inzwischen wieder, ein Messer in die Hand zu nehmen und zumindest ein paar Stücke Obst oder Gemüse zu schneiden, bevor sich wieder alles in ihm zusammenzog und er aufhören musste. Nichtsdestotrotz betrachtete er jede Zwiebel und jede Kartoffel, die er kochfertig zerkleinerte, als einen Fortschritt, der ihn hoffnungsvoll stimmte – auch wenn er an einer Herausforderung nach wie vor scheiterte: Beim Zerteilen von rohem Fleisch konnte er nicht einmal zusehen. Allein die Vorstellung, wie die Klinge durch ein Stück Hühneroder Lammfleisch glitt, löste bei ihm Schweißausbrüche und würgende Übelkeit aus.
Er goss Milch in das simmernde Gewürzwasser, fügte Zucker und Teeblätter hinzu und ließ das Ganze kurz aufkochen. Dann nahm er den Topf vom Herd, damit der Chai ziehen konnte, stellte sich neben Sita und griff entschlossen nach dem Blumenkohl. Zum Glück verschonte Sita ihn mit besorgten oder überängstlichen Einwänden; sie überließ seinen Umgang mit diesem lästigen psychischen Folgeschaden seiner Lagerfolter ganz und gar ihm.
Unter Aufbietung seiner gesamten Willenskraft schaffte er es, den Blumenkohl komplett in kleine Röschen zu zerteilen, bevor er das Messer erleichtert beiseitelegte. Sita bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick, als sie die Schüssel entgegennahm. Sie kippte den Inhalt zusammen mit ihren Kartoffelstücken und gehackten Chilischoten in einen Karahi, in dem bereits eine Menge kleiner Zwiebelwürfel und Kreuzkümmelsamen in heißem Ghee brutzelten. Während sie das Ganze unter Rühren anbraten ließ, fügte Raja mehrere Gewürze und geriebenen Ingwer hinzu. Schließlich hob Sita noch kleingehackte Tomaten, Salz und etwas Joghurt unter, goss eine Tasse Wasser dazu und legte den Deckel auf.
»Jetzt wäre ein Chai recht«, stellte sie fest. Raja nickte, füllte den Inhalt seines Topfes durch ein Sieb in die große Thermoskanne, schenkte zwei Gläser voll und reichte eines seiner Frau.
»Danyavaad – danke, Raja!«