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Seit sechs Jahren leitet der Ex-Agent Vikram Sandeep aus Delhi das Waisenhaus Dar-as-Salam in Kashmir. Nebenbei muss er sich ständig alter, rachsüchtiger Feinde aus seinen Armee-Zeiten erwehren. Als er kurz davor steht, einem von ihnen endlich das Handwerk zu legen, verschwinden innerhalb weniger Stunden seine Frau Sameera und sein bester Freund Raja Sharma spurlos. Damit beginnt ein nervenzerreißendes Drama, in dem Vikram Gefahr läuft, alles zu verlieren, was ihm je etwas bedeutet hat… In der Kashmir-Saga erzählen Simone Dorra und Ingrid Zellner in sieben Bänden die Geschichte zweier in Freundschaft eng verbundener Familien in Indien und Kashmir. Sie erstreckt sich über vier Jahrzehnte und berichtet von großen Gefühlen, von spannenden Abenteuern, von Terror und Liebe in einem durch anhaltende Konflikte geschundenen Land.
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Seitenzahl: 977
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Simone Dorra / Ingrid Zellner
Ein Band aus Stahl
Roman
Band IV der Kashmir-Saga
© 2019 Simone Dorra / Ingrid Zellner
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Umschlaggestaltung: Kai S. Dorra
Coverfoto: GalynaAndrushko/Shutterstock.com
Ornament: iStock.com/ AnnaPoguliaeva
www.kashmirsaga.de
www.simonedorra.de
www.ingrid-zellner.de
ISBN
Paperback:
978-3-7497-4071-0
e-Book:
978-3-7497-4072-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.
Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
»Es ist gut, so viel zu lieben, wie man kann; denn darin liegt die wahre Stärke, und wer viel liebt, der tut viel und vermag viel.«
Vincent van Gogh
Ein Personenverzeichnis und ein Glossar befinden sich am Ende des Buches.
Vorspiel
Auf dem Dal-See
Der frühe Septembermorgen war kühl. Über dem Wasser des Dal-Sees schwebte der Zabarwan-Berg wie ein gewaltiges weißes Traumbild vor einem blassblauen Himmel. Der Nebel hatte sich noch nicht aufgelöst; er trieb in dünnen Schwaden über die Wasseroberfläche. In einer stillen Bucht waren am Ufer mehrere Hausboote nebeneinander vertäut. Die meisten davon standen leer. Die Saison war so gut wie vorüber, die Sommertouristen hatten das Tal schon verlassen.
Auf einem dieser Hausboote öffnete sich eine Tür, und Sameera Sandeep trat hinaus auf das überdachte Deck. Sie trug eine warme Strickjacke über ihrem blauen Salwar Kameez, und das dunkle, rötlich schimmernde Haar fiel ihr offen bis auf den Rücken hinunter. Sie lehnte sich an das reich geschnitzte Geländer und legte eine Hand lose auf eine der Säulen, die das Baldachindach des Hausbootes stützten.
Ihre Gedanken wanderten ein paar Kilometer weiter… zu einem großen, alten Holzhaus in einem Seitental außerhalb von Srinagar, das seit gut zwei Jahren ihr Zuhause war. Dar-as-Salam – das Haus des Friedens. Dort hatte sie in Vikram Sandeep die Liebe ihres Lebens gefunden; der ehemalige Agent und Elitesoldat hatte vor sechs Jahren mit fünfzig vorzeitig seinen Dienst bei der indischen Abwehr quittiert und danach hier in Kashmir ein Waisenhaus eröffnet. Zehn Kinder hatte er aufgenommen, für die er ihr Vikram baba war und die auch Sameera als ihre ammi ins Herz geschlossen hatten. Und Sameera, die ihr halbes Leben lang als Traumatherapeutin für Medical Relief Worldwide gearbeitet hatte und niemals selbst Mutter geworden war, liebte jedes einzelne dieser Kinder wie ein eigenes.
Ihr war klar gewesen, dass Vikram zu heiraten und von Irland nach Kashmir zu ziehen für sie bedeutete, fortan auf einem politischen Pulverfass zu leben; ebenso wusste sie, dass ihr Mann sich während seiner Zeit bei der Abwehr viele Feinde gemacht hatte und sie jederzeit mit Racheaktionen und Anschlägen rechnen mussten. Allein innerhalb der vergangenen vier Monate hatten sie zweimal dem Tod ins Auge gesehen… und hätte ihnen das Schicksal nicht einige Zeit zuvor überraschend zwei wunderbare neue Freunde beschert, dann wären sie und Vikram jetzt nicht mehr am Leben.
Sameera atmete tief durch. Raja und Sita Sharma. Vor gut einem Jahr war Raja unerwartet in ihrem Leben aufgetaucht und für Vikram zu einem brüderlichen Freund geworden. Als Vikram dann im Mai Opfer eines heimtückischen Anschlags geworden war und tagelang im Koma gelegen hatte, da hatte Raja sich als wahrer Schutzengel für sie beide erwiesen: Er hatte Sameera unterstützt und aufgefangen, als die Angst um das Leben ihres Mannes sie beinahe straucheln ließ, und er hatte einen zweiten Mordversuch im Krankenhaus verhindert und Vikram dadurch das Leben gerettet. Danach, als es Vikram endlich besser ging, hatten Raja und seine Frau Sita sie beide zu sich nach Hause nach Shivapur eingeladen, einem kleinen Ort in der Nähe von Pune. Um den Erholungsurlaub perfekt zu machen, hatten sie sogar von einem Freund ein schönes Ferienhaus im Deccan-Gebirge gemietet. Und dort in Lonavala, vor erst wenigen Wochen, hatte erneut einer von Vikrams alten Feinden zugeschlagen. Nur der Geistesgegenwart und dem Mut von Sita war es zu danken, dass sie diesem Attentat nicht allesamt zum Opfer gefallen waren.
Sameera schaute über den Steg, der an der Reihe der Hausboote entlangführte, hinaus auf den See. Shikaras waren an dem Steg vertäut und schaukelten sachte auf und ab. Aus der Entfernung waren die gedämpften Rufe der Muezzins von Srinagars zahlreichen Moscheen zu hören. Es war Zeit für das Fajr, das Gebet vor Sonnenaufgang. Unwillkürlich hob Sameera die gewölbten Hände vor das Gesicht, so wie sie es von ihren muslimischen Pflegekindern gelernt hatte, und schloss die Augen.
Danke, Herr, dachte sie. Danke für Raja und Sita und ihre Familie. Danke, dass du sie zu uns gebracht hast.
Noch während der Heimreise nach diesen ereignisreichen Tagen in Lonavala hatten sie und Vikram überlegt, wie sie Raja und Sita danken konnten – für die liebevolle Gastfreundschaft ebenso wie für die mehrfache Hilfe in der Not. Es war Sameeras Idee gewesen, die beiden zu einer kleinen Auszeit nach Srinagar einzuladen. Sie hatten über einen der zahlreichen Einheimischen, mit denen sie inzwischen gut befreundet waren, dieses Hausboot für ein Drei-Tage-Wochenende angemietet und ihre Kinder währenddessen der Obhut ihrer zuverlässigen Mitarbeiter Zobeida und Hamid Mafous überlassen. Und dann galt es für Raja und Sita nur noch, ihre kleine Tochter Rani bei ihrem ältesten Sohn Surya einzuquartieren und nach Kashmir zu fliegen.
Sie dachte lächelnd an Rajas Gesicht, als er die üppige Pracht gesehen hatte, die im Inneren des Hausbootes auf ihn wartete. Es war eingerichtet wie ein privates Luxushotel, mit großzügigen Salons, Schlafzimmern mit bestickter Bettwäsche, modernen Badezimmern und herrlich dekadenten Sonnendecks, auf denen man Tee und Kaffee trinken und sich entspannen konnte. Das Essen wurde auf Wunsch fertig zubereitet an Bord gebracht; allerdings hatten sie darauf verzichtet, sich bei Tisch bedienen zu lassen. Zu rar war die Chance, einmal ganz unter sich zu sein.
Die Zeit verging, während Sameera sich die Bilder dieses Wochenendes noch einmal ins Gedächtnis rief… Raja an der Reling des Hausbootes, die braunen Augen lächelnd und friedlich, während die Sonne die feinen, grauen Fäden in seinem dunklen Haar silbern schimmern ließ. Vikram, der in der milden Herbstwärme mit Raja an Deck saß und ihm geduldig die Feinheiten des Schachspiels beibrachte. Sita, die sich bequem in einem Liegestuhl ausstreckte und Sameera aus dem Buch Siddhartha des deutschen Dichters Hermann Hesse vorlas.
»Die meisten Menschen, Kamala, sind wie ein fallendes Blatt, das weht und dreht sich durch die Luft, und schwankt, und taumelt zu Boden. Andere aber, wenige, sind wie Sterne, die gehen eine feste Bahn, kein Wind erreicht sie, in sich selber haben sie ihr Gesetz und ihre Bahn.«
Sameeras Mutter Bodhi hatte ebenfalls eine – sehr zerlesene – Ausgabe besessen, und an diesem Wochenende entdeckte ihre Tochter Hesses altvertraute Seelenreise durch Sitas warme, schöne Stimme noch einmal ganz neu.
»Hakim sahiba?«
Sie fuhr zusammen, wandte den Kopf und sah den Jungen vor sich stehen, der ihnen in den letzten Tagen gemeinsam mit seinem Vater immer das Essen gebracht hatte. Jetzt balancierte er ein Tablett mit einer großen Silberkanne und vier Gläsern auf beiden Händen.
»Guten Morgen, Zakir!«, sagte sie lächelnd.
»Ich hab hier frischen Chai«, sagte der Junge. »Und abba kommt in einer halben Stunde mit dem Frühstück für alle. Ich hab Sie hier draußen stehen sehen und dachte, Ihnen ist vielleicht kalt.«
»Nein, ich fühl mich sehr wohl… aber das mit dem Chai war natürlich eine großartige Idee.« Sie sah zu, wie er das Tablett auf einem Beistelltischchen abstellte und ihr eingoss, nahm das Glas entgegen und trank einen ersten vorsichtigen Schluck. »Hmmmmm… himmlisch! Shukriya, chhote. Hast du denn schon etwas gegessen?«
Zakir schüttelte den Kopf.
»Dann lauf zu deiner ammi – ich komme hier erst einmal gut alleine zurecht.«
Sie sah ihm nach, während er über den langen Steg davonrannte, nippte noch einmal an dem Glas und lehnte sich wieder an das Geländer. Und während sie in die Weite hinausblickte, stieg die Sonne über den Horizont und übergoss Himmel und Wasser mit weichem Gold.
Sie hörte Schritte hinter sich, drehte sich um und entdeckte die schlanke, anmutige Gestalt von Sita, die über das Deck auf sie zukam. Sie war in einen orangefarbenen Salwar Kameez gekleidet und hatte ihr langes, dunkles Haar zu einem Zopf geflochten.
»Guten Morgen, Sita!« Sameera küsste sie auf die Wange und stellte dabei fest, dass ihre Freundin leicht und angenehm nach Blüten und ein ganz klein wenig nach Vanille duftete. »Schau mal, was ich hier habe!«
»Oh – Chai, schon so früh? Das ist ja wunderbar!« Sitas nussbraune Augen leuchteten erfreut auf. »Guten Morgen, didi.«
Sameera füllte ein Glas und reichte es ihr. »Vorbote auf das Frühstück. Hast du gut geschlafen?«
»Erstaunlich gut«, meinte Sita und schmunzelte. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass Raja mit Vikram letzte Nacht im Salon die gesamte Politik von Kashmir, Jammu und Ladakh neu geordnet hat. Bis fast drei Uhr ist das gegangen, und irgendwie hat da auch eine Flasche Bushmills eine gewichtige Rolle gespielt, glaube ich.«
»Und der stammt aus Nordirland«, versetzte Sameera mit einem kleinen Seufzer, »wo man im Umgang miteinander jahrhundertelang auch nicht viel weiser und geschickter war als hier seit 1947. Ich als Irin kann ein Lied davon singen.«
»Ich muss zugeben, dass ich über die Konflikte in Irland nicht halb so viel weiß wie über die in Kashmir«, meinte Sita nachdenklich. »Hast du die Spannungen dort am eigenen Leib erfahren?«
»Ich nicht, zum Glück«, erwiderte Sameera. »Aber mein Vater. Er wurde in Belfast geboren, und er hat einen Bruder und mehrere Freunde an den alten Hass verloren. Vordergründig ging es dort um Religion, genau wie hier… aber in Wahrheit war es ein alter Kampf um Macht, geführt mit Zähnen und Klauen. Und da die Iren sind, wie sie sind, ertränkten sie ihren Schmerz in Alkohol und schrieben traurige Balladen über ihre Rebellen. Und feierten ihre Märtyrer – ganz wie in Kashmir.«
Sie wandte sich Sita zu und nahm ihre Hand.
»Ich musste eben daran denken, was in Lonavala passiert ist – und wie viel wir dir zu verdanken haben, meri behn. Wir wollten euch niemals in Gefahr bringen, aber getan haben wir es trotzdem. Hätte Ismail Fateh Rehman sein Ziel erreicht, wärst du genauso gestorben wie wir.«
»Nicht ihr habt uns in Gefahr gebracht«, betonte Sita. »Red dir das bloß nicht ein. Abgesehen davon kann uns überall etwas passieren, egal ob zu Hause in Maharashtra oder hier in Kashmir. Überall können plötzlich Bomben hochgehen… oder alte Feinde zuschlagen. Mein Mann hat da ebenso seine Erfahrungen wie der deine.«
Sie blickte hinaus in die sanften Nebelschwaden, die sich allmählich aufzulösen begannen.
»Glaub mir: Wir wissen nur zu gut, wie schnell und unerwartet ein Leben und eine ganze Zukunft in Trümmern liegen können… Raja und ich.«
Sameera verstand sofort, worauf Sita anspielte. Nur zu gut kannte sie inzwischen die tragische Lebensgeschichte von Raja, der mit knapp zweiundzwanzig wegen Vergewaltigung und Mord zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Erst nach fünfundzwanzig Jahren im Gefängnis hatte sich herausgestellt, dass er unschuldig war und die wahren Täter ihn kaltblütig zu ihrem Sündenbock gemacht hatten. Gerade mal sechs Jahre war das her.
»Ich weiß.« Sie atmete tief ein. »Aber… weißt du, wenn wir Menschen finden wie euch, die wir irgendwann so sehr liebgewinnen, dass es sich so anfühlt, als wären sie immer schon ein Teil von uns gewesen… dann lernen wir, auch um sie Angst zu haben. Und wir möchten sie vor Schaden bewahren.«
»Das verstehe ich.« Sita legte die Arme um Sameera. »So wie wir regelmäßig darum beten, dass euch und den Kindern hier nichts geschieht.«
Sameera lehnte den Kopf an Sitas Schulter; die Umarmung tat ihr gut. Sie schaute eine Weile schweigend hinaus auf das Wasser, dann blickte sie Sita geradewegs in die Augen.
»Auch wenn ihr gerade nicht bei uns seid, in diesem Tal«, erwiderte sie sachte, »ihr seid trotzdem hier. Immer.« Und damit deutete sie auf ihr Herz.
Sita lächelte. »Raja hat mir erzählt, dass Vikram einmal zu ihm gesagt hat, er – also Raja – sei ein Teil des Dar-as-Salam geworden. Raja empfindet das umgekehrt genauso. Ihr und wir – wir gehören zusammen. Klingt das übertrieben?«
»Kein bisschen«, sagte Sameera. »Wir haben hier aus erster Hand gelernt, dass Familie weit mehr ist als eine Bindung aus Fleisch und Blut. Bei Raja und dir ist es wie… wie bei den Sternen in Siddhartha, die eine feste Bahn haben, erinnerst du dich? Eure Bahn hat euch direkt zu uns geführt.«
»Darüber bin ich sehr glücklich, meri didi.« Sitas Gesicht wurde mit einem Mal ernst. »Und eines ist euch hoffentlich klar: Auf uns könnt ihr jederzeit zählen. Klar, gegen vieles sind wir machtlos, aber wenn es etwas gibt, wo wir euch zur Seite stehen können, dann bitte: Zögert niemals, uns Bescheid zu geben! Versprich mir das!«
Sameera ergriff Sitas Hände und umschloss sie fest.
»Ich versprech‘s«, sagte sie sehr ruhig. »Und im Gegenzug verspreche ich dir auch etwas: Wenn ihr jemals Probleme oder Sorgen habt oder noch einmal in Gefahr geratet, werden wir für euch da sein. Voll und ganz.«
»Ich weiß.« Sita erwiderte Sameeras Händedruck. »Und das ist ein wirklich schönes Gefühl. Wobei ich hoffe und bete, dass wir solche Ernstfälle nie wieder erleben müssen. Weder hier noch bei uns in Shivapur.«
»Das versteht sich von selbst.« Sameera blinzelte, ließ Sitas Hände los und zog ein Taschentuch hervor. »Ich hatte eigentlich nicht vor, an diesem Wochenende zu heulen… da siehst du mal, was feierliche Schwüre bei mir für ein Gefühlschaos anrichten.«
Sie putzte sich die Nase und spähte über das Geländer auf den Steg hinunter.
»Da hinten kommt unser Frühstück«, meinte sie, und in ihren tiefdunklen Augen blitzte ein Lächeln auf. »Ich denke, es ist Zeit, unsere Helden zu wecken.«
»Wollen wir wetten, bei welchem von den beiden wir länger brauchen?«, meinte Sita mit einem verschmitzten Zwinkern.
»Bei Wetten bin ich heute vorsichtig«, versetzte Sameera trocken. »Vikram mag ein alter Soldat sein, der beim Morgenappell Gewehr bei Fuß steht, aber nach dem Pegelstand in der Bushmills-Flasche… ich weiß nicht.«
»Vielleicht sollten wir noch zusätzlich einen starken Kaffee ordern.« Sita lachte. »Ich geh jetzt jedenfalls meinen alten Recken wachküssen. Viel Spaß mit deinem!«
Sameera lachte ebenfalls und sah zu, wie Sita im Hausboot verschwand.
Gott schütze dich und Raja, dachte sie. Gott schütze uns alle.
Kapitel 1
Gedanken und Pläne
Der nächtliche Novemberhimmel über dem Dar-as-Salam war ohne Sterne, die Gipfel rings um das Tal von Wolken verhüllt. Vikram Sandeep, der allein auf dem Balkon stand, ertappte sich bei dem Gedanken, dass die düstere Stimmung erschreckend gut zu seiner eigenen Gemütslage passte.
Dabei hatte er objektiv gesehen wenig Grund dazu, sich niedergeschlagen zu fühlen – jedenfalls nicht mehr als sonst. Er hatte längst gelernt, sich von der Dauerkrise in Kashmir nicht über Gebühr beeinflussen zu lassen; seine Aufgabe war es, den Kindern, die er aufzog und behütete, Hoffnung zu geben, trotz aller widrigen Umstände. Und das vergangene Wochenende war eigentlich eher eine Quelle lichter Erinnerungen gewesen.
Einen Tag vor Vikrams und Sameeras zweitem Hochzeitstag hatten die Kinder ihnen den Gutschein für ein nobles Hotel in Gulmarg in die Hand gedrückt (angemietet und bezahlt von Hamid und Zobeida, obwohl Vikram, der die Preise kannte, den starken Verdacht hegte, dass die Aktion mit einer heimlichen Spende aus Shivapur gesponsert worden war). Keine Stunde später war Karim – der Chauffeur der Politikerin Najiha Kamaal, mit der sie beide eng befreundet waren – vorgefahren und hatte sie zu eben diesem Hotel kutschiert.
Es war ein verschachteltes, aber sehr gut ausgestattetes Gebäude, fünf Autominuten von der Gulmarg Gondola entfernt. Die Suite, die ihnen zur Verfügung stand, war hell, wunderschön eingerichtet und geräumig. Sie machten lange Spaziergänge und sahen den ersten Skifahrern des nahenden Winters zu, die die steilen Pisten hinunterschossen. Die beiden Abende verbrachten sie im Wohnzimmer vor dem Kamin, führten lange Gespräche und zogen sich irgendwann spät nachts ins Schlafzimmer zurück, um sich auf dem breiten, bequemen Bett in aller Ruhe und ungestört zu lieben. Morgens kehrten sie zum Frühstück wieder ins Wohnzimmer zurück. Dort konnten sie bei Sameeras erstem Schluck Kaffee und Vikrams erstem Glas Chai durch das fast bodentiefe Fenster dabei zuschauen, wie die Sonne ihre Strahlen über die spektakulären Gipfel des Affarvat-Berges schickte und die blauweißen, schneebedeckten Hänge rosig und golden färbte.
In der Lobby des Hotels befand sich ein Shop für Souvenirs und exklusive Geschenke; der Besitzer Nabil Qasib nahm seit einem halben Jahr die handbestickten Tücher und Kleidungsstücke von Vikrams ältester Pflegetochter Zeenath in Kommission, und die Sachen verkauften sich inzwischen so gut, dass er Sameera während ihres Aufenthalts um Nachschub gebeten hatte. Sie hatte ihn eingeladen, sich darüber auch mit Zeenath selbst zu unterhalten – zumal er angedeutet hatte, dass er in Zukunft gern noch deutlich mehr für jedes einzelne Stück zu zahlen bereit war –, und er hatte zugesagt. Morgen wurde er im Dar-as-Salam erwartet, zusammen mit seinem Sohn.
Vikram hob den Kopf. Über ihm faserte die Wolkendecke für einen kurzen Moment auseinander und er konnte den Mond sehen, halb gerundet und von klarem Weiß. Dann schloss sich die Decke wieder, und das Licht war verschwunden.
Er hätte sich gern an den glücklichen Bildern dieses Wochenendes festgehalten. Er hätte sich gern uneingeschränkt für Zeenath gefreut, die dank ihrer Kunstfertigkeit hoffen konnte, künftig auch ohne seine Unterstützung ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber etwas hinderte ihn daran… und er wusste ganz genau, was es war. Hier, in der Stille der Nacht und ohne die dauernde Ablenkung durch seine täglichen Pflichten, drängte sich das, was er seit dem Mordanschlag im Sommer in Lonavala nur zu gern beiseitegeschoben hatte, erbarmungslos wieder in sein Bewusstsein.
Der Brief.
Der Brief, den er vor vier Jahren am Gulnaar Rehman geschrieben hatte, um ihr zu erklären, was man einer Mutter eigentlich kaum begreiflich machen konnte: wieso ihr kleiner Sohn Kadir von seiner Hand hatte sterben müssen. Er hatte sie in diesem Brief auch um Vergebung gebeten, wider besseres Wissen und gegen alle Zuversicht. Sie hatte nie geantwortet. Und er hatte diesen Brief in der Hemdtasche von Ismail Fateh Rehman gefunden, Gulnaars Bruder – nachdem dieser versucht hatte, Sameera und ihn umzubringen, und dabei selbst ums Leben gekommen war. Auch durch Vikrams Hand.
Geh zu ihr. Wenn sie dich zurückweist, weißt du wenigstens Bescheid. Aber hab den Mut, ihr genügend Kraft zuzutrauen, dass sie dich versteht und dir vergibt.
Raja hatte das zu ihm gesagt, am Abend nach Ismails heimtückischem Anschlag. Das passte zu ihm – trotz fünfundzwanzig Jahren unschuldig im Gefängnis und genügend Schicksalsschlägen, um einen Heiligen vom Glauben abfallen zu lassen, verlor sein Freund aus Shivapur anscheinend nie die Hoffnung.
Vikram verzog ironisch den Mund. Das war mehr, als er von sich selbst behaupten konnte.
Am liebsten hätte er die Zeit vor dem Dar-as-Salam, den Kindern und Sameera hinter einer dicken Stahltür verschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Er wollte nicht mehr daran denken, was er gewesen war, bevor er den Abschied vom Geheimdienst genommen und das Heim eröffnet hatte… wild entschlossen, wenigstens ein klein wenig von dem Schaden wiedergutzumachen, den er in Kashmir angerichtet hatte. Und die schlimmsten der Feinde, die er sich hier gemacht hatte, im Auge zu behalten, damit sie nicht noch mehr neuen Schaden anrichteten.
Nicht alle kannte er, aber ein paar Namen waren ihm stets gegenwärtig… und davon hatten drei immer ganz oben auf seiner roten Liste gestanden.
Shabir Abdullah. Ahmad Al Yussuf. Avan Gupta.
Shabir Abdullah, Najiha Kamaals verbrecherischer Vormund und der Mörder ihres Vaters, war bereits tot, gerichtet von Najiha selbst. Vikram war dabeigewesen, hatte aber nicht den geringsten Versuch gemacht, sie daran zu hindern. Ahmad Al Yussuf war vor drei Jahren der Drahtzieher von Sameeras Entführung gewesen; Vikram hatte sie damals gerade rechtzeitig befreit, um ihr das Leben zu retten. Sameera war es auch gewesen, die seinem Rachedurst einen Riegel vorgeschoben und ihn dazu gezwungen hatte, der staatlichen Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen.
Tatsächlich war Ahmad Al Yussuf durch Sameeras Aussage im Gefängnis gelandet. Das hatte ihn allerdings nicht daran gehindert, aus seiner Zelle die Fäden für ein Attentat zu ziehen, dem Najihas Mann, der Politiker Tarek Kamaal, zum Opfer gefallen war. Sameera war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Kashmir gewesen; die Hilfsorganisation Medical Relief Worldwide, für die sie damals arbeitete, hatte sie nach der Entführung aus Sicherheitsgründen zurück in ihre Heimat Irland geschickt. Daraufhin hatte Vikram die Dinge in die eigenen Hände genommen und sich selbst zum Richter und Henker seines Feindes gemacht. Sameera wusste inzwischen davon, und sie hatte es verstanden… auch wenn das durchaus nicht bedeutete, dass sie es guthieß.
Damit war Avan Gupta, der Polizeichef von Srinagar, der einzig verbliebene Komplize dieses unheiligen Trios, der für seine zahlreichen Verbrechen an den Menschen im Tal noch nicht zur Verantwortung gezogen worden war… allein schon, weil kaum jemand es wagte, das ernsthaft zu versuchen. Avan Gupta hatte als Brigadier sämtliche Polizeikräfte im Bezirk Srinagar unter sich; Zeugen gegen ihn zu finden war alles andere als leicht. Wen Gupta nicht kaufen konnte, den ließ er umbringen; die Menschen fürchteten sich vor ihm wie vor einem Schatten, der über der paradiesischen Landschaft lag und die Sonne verdunkelte. Ihn zu beseitigen war nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Gupta hatte Leibwächter und außerdem mehr als genug Untergebene, die an vielen seiner Untaten beteiligt waren. Damit wurden sie zu Komplizen, die mit seiner Freiheit auch ihre eigene schützten. Sein Haus am Stadtrand von Srinagar war eine uneinnehmbare Festung.
Vikram schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Er wollte jetzt nicht an Avan Gupta denken. Und an die unglückselige Gulnaar Rehman noch viel weniger.
Die Balkontür öffnete sich mit einem leisen Quietschen.
»Was machst du denn hier draußen, mera jaan? Kannst du nicht schlafen?«
Er sprach, ohne den Kopf zu wenden. »Ja. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.«
»Hast du nicht.«
Sameeras Arme legten sich von hinten um ihn. Sie trug den vertrauten alten Veloursbademantel, und erst jetzt, als Vikram die Wärme ihres Körpers dicht an seinem spürte, merkte er, dass er fror.
»Machst du dir Sorgen wegen irgendwas?«
»Nichts, wobei du mir helfen könntest.« Er seufzte.
Sie versuchte nicht, nachzuhaken, und er war ihr dankbar dafür.
»Wenn du beim Besuch der Qasibs einigermaßen fit sein möchtest, solltest du dich aber vielleicht noch ein bisschen hinlegen«, meinte sie sanft. »Das Frühstück kann ich mit Zobeida übernehmen. Ich weck dich dann rechtzeitig, bevor es ernst wird.«
»Lieb von dir. Danke.«
Sie trat zurück und hielt ihm die Hand hin. »Kommst du mit ins Bett, oder soll ich dich in Ruhe lassen?«
Der Griff ihrer Finger war tröstlich und fest.
»Nein, sollst du nicht. Ich komme.«
Alles war besser, als hier draußen in der Kälte zu stehen und noch länger darüber nachzugrübeln, ob er – trotz aller Ermutigung durch Raja und Sameera – wirklich jemals den Mut aufbringen würde, sich dem endgültigen Urteil von Gulnaar Rehman zu stellen. Und vielleicht kam er ja mit Sameeras ruhigem, gleichmäßigem Atem neben sich zur Ruhe.
Wenigstens bis zur nächsten schlaflosen Nacht.
***
Als die beiden Gäste aus Gulmarg am nächsten Tag eintrafen, servierte Sameera ihnen zur Begrüßung frischen Chai, Süßigkeiten und Gebäck und hieß sie gemeinsam mit ihrem Mann willkommen. Der Hotelbesitzer Nabil Qasib war ein schlanker Mann Mitte sechzig, der sich gut gehalten hatte. Er ging sehr aufrecht, und der sauber gestutzte Vollbart, der sein kluges, schmales Gesicht einrahmte, verlieh ihm mitsamt seiner Takke und der langen, eleganten Kurta, die er trug, eine große Würde. Nadim Qasib war dreiundzwanzig, so freundlich und umgänglich wie sein Vater und ganz ohne Zweifel einer der attraktivsten Männer, die Sameera je zu Gesicht bekommen hatte.
Sein Haar fiel ihm rabenschwarz und lockig bis auf die Schultern; sein Gesicht war ebenmäßig geschnitten und sanft, aber jeden Rest kindlicher Weichheit hatte es bereits verloren – ein junger Mann, aber eindeutig kein Junge mehr. Dichte Wimpern rahmten Augen von einem verblüffend hellen Grau ein, er hatte eine lange, gerade Nase und einen wirklich schönen Mund. Sameera ertappte sich mehrmals dabei, dass sie ihn fasziniert anstarrte, und rief sich selbst streng zur Ordnung; sie hatte keine Lust, sich abends dafür von Vikram aufziehen zu lassen, der die Wirkung von Qasib junior auf den weiblichen Teil seines Haushalts durchaus mitbekam. Die sechzehnjährige Sameera (die, um Verwechslungen mit ihrer gleichnamigen ammi zu vermeiden, inzwischen meist Sameera beti gerufen wurde) verfolgte jeden von Nadims Schritten ebenso hingerissen wie ihre jüngeren Ziehschwestern Anjali und Maryam. Den stärksten Eindruck machte er jedoch eindeutig auf Zeenath.
Sie hatte sich für das wichtige Gespräch mit ihrem ersten echten Kunden für einen schlichten, moosgrünen Salwar Kameez entschieden. Dazu trug sie die kristallbesetzten Creolen aus Shivapur und über dem zu einem langen Zopf geflochtenen Haar das Tuch mit den Lotosblüten, das Sita und deren Schwiegertöchter Tara und Kajri ihr vor einem Jahr geschenkt hatten. Die Scheu vor Qasib sahab verlor sie recht rasch; wenn es um ihre Handarbeiten ging, war die Achtzehnjährige ausgesprochen wortgewandt. Nabil Qasib gefiel das offensichtlich; es erleichterte Sameera, dass er keine stumme muslimische Jungfer erwartete, sondern gern bereit war, mit Zeenath über die Qualität von Stoffen, Garnen und Stickereimotiven zu fachsimpeln.
Das Gespräch verlief reibungslos und sehr erfolgreich; nur dann, wenn es Nadim war, der sie ansprach, errötete Zeenath, verstummte jäh und drehte den Saum ihres Dupatta nervös zu einer Kordel. Was natürlich auch Nabil Qasib auffiel, ebenso wie die unbestreitbare Tatsache, dass Zeenath zwar kaum imstande war, ein Wort mit Nadim zu wechseln, ihn aber trotzdem so gut wie nie aus den Augen ließ – so wie auch sein Sohn den Blick kaum von Zeenath abwenden konnte. Als Sameera Nabil Qasib gegen Abend verabschiedete, beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie Nadim sich rasch ihrer ältesten Pflegetochter näherte, ihre Hand nahm und ihr leise etwas ins Ohr sagte. Zeenath lief scharlachrot an, ihre Augen weiteten sich, dann nickte sie einmal kurz, zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt, und war Sekunden später ins Haus verschwunden. Sameera wandte sich entschuldigend zu ihrem Gast, aber der schmunzelte nur.
»Mein Sohn hat Eindruck auf Ihre Tochter gemacht, wie mir scheint«, meinte er gut gelaunt. »Aber umgekehrt auch, und das gefällt mir. Viele Mädchen würden sich über seine Aufmerksamkeit freuen, aber mich freut es, dass ausgerechnet Zeenath seinen Blick auf sich gezogen hat. Sie ist eine beeindruckende junge Frau.«
»Shukriya.« Sameera verneigte sich leicht. »Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt, Qasib sahab, und Sie sind jederzeit in diesem Haus willkommen.«
»Nennen Sie mich ruhig Nabil«, meinte er; um seinen Mund zuckte es humorvoll. »Mein Gefühl sagt mir, dass wir uns in Zukunft häufiger sehen werden.«
»Da könnten Sie recht haben – und ich bin Sameera.« Sie sah, dass Nadim auf sie zukam, und streckte ihm die Hand entgegen. »Khuda hafiz. Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Kommen Sie bald wieder!«
Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Das würde ich sehr gern… und das habe ich auch Ihrer Tochter gesagt. Ich hoffe, ich habe deine Erlaubnis, Vater.«
Nabil Qasib lachte entzückt. »Du legst Wert auf meine Erlaubnis?«, sagte er. »Dann muss sie dir wirklich außerordentlich gut gefallen. Ich bin einverstanden, mein Sohn. Vielleicht«, und dabei sah er Vikram an, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, »möchten Sie den Besuch ja gemeinsam mit Ihrer Frau und Zeenath erwidern, Sandeep sahab. Und dieses Mal nicht nur in meinem Geschäft, sondern bei mir zu Hause. Meine Frau wäre überglücklich, Sie alle zu sehen.«
Vikram neigte den Kopf. »Es wird uns eine Ehre sein. Khuda hafiz.«
Gemeinsam schauten sie zu, wie der Wagen die Straße hinunter davonrollte, dann sah er Sameera an.
»Was war das denn?«
»Der Anfang einer Liebesgeschichte, möchte ich annehmen«, entgegnete Sameera und küsste ihn. Ihre Augen tanzten. »Ist das nicht aufregend? Und der junge Mann sieht nicht nur umwerfend aus, er ist auch noch reizend. Unsere Mädchen waren ganz aus dem Häuschen.«
»Du, mein Herz, hast auch den einen oder anderen Blick riskiert«, gab Vikram zurück und legte den Arm um sie. »Glaub bloß nicht, dass ich das nicht gemerkt habe.«
»Eifersüchtig?« Sameera zerzauste ihm neckend den sauber gestutzten graumelierten Vollbart, küsste ihn noch einmal und schmiegte sich an ihn. »Als ob ich auf Dauer für irgendjemand anderen Augen hätte als für dich. Lass uns hineingehen. Ich bin sicher, Zobeida ist mit dem Abendessen fertig, und außerdem muss ich später noch ein paar Worte mit unserer verliebten Künstlerin reden.«
***
Zeenath tauchte nicht zum Abendessen auf; Sameera hatte nichts anderes erwartet. Sie richtete ein Tablett mit Gemüse-Curry, Daal und Chapatis her und brachte es in den Anbau, während die anderen Mädchen die Ereignisse des Nachmittags in allen Einzelheiten durchhechelten. Sameera konnte sie immer noch reden und kichern hören, während sie durch den Flur des Anbaus zu Zeenaths Zimmer ging.
Sie klopfte an die Tür. »Schätzchen? Darf ich hereinkommen?«
»Ja, natürlich, ammi.«
Zeenath saß an der Feuerstelle, die der im großen Gästezimmer glich. Sie hatte die Holzscheite darin entzündet; das Zimmer roch aromatisch nach brennendem Kiefernholz.
»Ich hab dir was mitgebracht. Du musst doch Hunger haben.«
»Nein«, sagte Zeenath zögernd, »nicht wirklich.« Sie sah Sameera an; ihre großen, bernsteinbraunen Augen schauten ein wenig erschrocken drein. »Ich… ich bin ganz durcheinander.«
»Kein Wunder.« Sameera stellte das Tablett ab und ließ sich im Schneidersitz neben ihr nieder. »Das war ja auch alles sehr spannend. Du hast nicht nur einen guten Kunden, du wirst jetzt obendrein richtig gut bezahlt. Das Gespräch mit Nabil sahab hast du sehr, sehr umsichtig geführt, ganz ohne unsere Hilfe. Ich bin furchtbar stolz auf dich, pyaari.«
Zeenath machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, das… das war doch nichts.« Sie errötete. »Nein, ich meine nicht nichts, aber…«
Sie verstummte und starrte ins Feuer. Sameera wartete geduldig.
»Er hat gesagt, er will mich wiedersehen«, sagte Zeenath leise.
»Das hat er mir auch gesagt – und seinem Vater ebenfalls.« Sameera lächelte.
Ein rascher Seitenblick, ein erneutes Erröten. »Wirklich? Seinem… seinem Vater auch?«
»Ja, wirklich. Ich stand daneben.«
»Er… er sagt, er findet mich hübsch.« Zeenaths Stimme zitterte.
»Aber das bist du doch auch, pyaari.« Sameera legte den Arm um sie. »Hübsch, klug und geschickt… kein Wunder, dass du ihm gefällst.«
Zeenath verbarg ihr Gesicht an Sameeras Schulter. »Er ist so schön, ammi… und schrecklich nett ist er auch. Ich… ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll.«
»Machen?« Sameera küsste sie auf die Stirn. »Du musst gar nichts machen. Du führst die Bestellungen für Nabil sahab aus, und wenn Nadim zu Besuch kommt, darfst du vorher etwas besonders Gutes für ihn kochen. Und bis dahin isst du erst einmal eine Kleinigkeit. Okay?«
»Okay.«
Zeenath nahm ein Chapati, riss ein Stück ab, fischte damit ein Gemüsestück aus dem Curry und schob sich den Bissen in den Mund. Binnen weniger Minuten waren Schüssel und Teller leer. Aha, dachte Sameera amüsiert, die Liebe hat ihr also nicht ganz und gar den Appetit geraubt.
»Ich glaube, ich geh jetzt unter die Dusche«, verkündete Zeenath und stand auf. »Und danach geh ich ins Bett.«
Sameera erhob sich ebenfalls und nahm das Tablett an sich. »Gute Idee«, sagte sie und küsste ihre Pflegetochter auf die Wange. »Gute Nacht, pyaari. Schlaf gut und träum von deinem schönen Prinzen.«
Zeenath lächelte; sie wurde noch einmal rot, aber ihre Augen strahlten.
»Ich hab dich sehr lieb, ammi. Gute Nacht.«
***
Während Zeenath Abdullah an diesem Tag das für sie so bedeutungsvolle Geschäftsgespräch mit Nabil Qasim führte, verbrachte vierzehnhundert Kilometer weiter südlich in Shivapur Raja Sharma den Nachmittag damit, eine Ladung Bretter auf die gleiche Länge zurechtzusägen… und wie groß die Ladung war, wurde ihm mit jedem neuen Brett mehr und mehr schmerzhaft bewusst. Zum Glück war es jetzt Mitte November in Maharashtra nicht ganz so heiß wie im Sommer, aber immer noch warm genug, um die Sehnsucht nach einer erfrischenden Dusche in ungeahnte Höhen steigen zu lassen.
»Raja? Kommst du mal eben kurz zu uns rüber?«
Raja ließ die Säge sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Schon unterwegs, yaar!«
Er griff nach seiner Wasserflasche, die neben ihm stand, stellte betrübt fest, dass sie fast leer war, und trank den lauwarmen Rest aus. Dann marschierte er zu seinem Freund Vishal hinüber, der im Schatten eines Baumes am anderen Ende des Gartens auf ihn wartete, zusammen mit Tinnu, einem ihrer Kollegen aus der Gilde der Puner Taxifahrer.
»Was gibt’s?«, erkundigte er sich.
»Tinnu fragt gerade – nicht zu Unrecht, finde ich –, ob wir das Bad nicht zu groß geplant haben«, antwortete Vishal. »Der Grundriss der Hütte ist ja ohnehin nicht gerade riesig, und wenn wir neben Klo und Waschbecken auch noch eine Dusche einbauen, dann nimmt uns das Platz weg, der ansonsten dem Wohn- oder Schlafbereich zugutekommen könnte.«
»Aber ganz ohne Dusche? Bloß ein Waschbecken?« Raja runzelte die Stirn. »Das entspricht nicht wirklich dem Mindeststandard, den ich meinen Gästen bieten möchte.«
»Aber mit ein paar Schritten sind sie bei uns im Haus«, wandte Vishal ein. »Und dann können sie unsere Duschen benutzen.«
Raja warf einen Blick hinüber zu dem Vishwaas, das seinem Freund gehörte und in dem er zusammen mit Sita und seiner kleinen Tochter Rani die obere Etage bewohnte. Natürlich war Vishals Vorschlag eine praktikable Alternative. Dennoch schüttelte Raja entschlossen den Kopf.
»Trotzdem. Lieber einen Quadratmeter Wohnbereich weniger. Das Gästehaus soll ja in erster Linie eine ausgelagerte Übernachtungsmöglichkeit werden, und da gehört eine anständige sanitäre Anlage dazu. Die Wohnküche ist bloß ein Stück zusätzlicher Luxus, falls unsere Gäste sich zwischendurch schnell mal einen Chai oder Kaffee kochen oder ein bisschen entspannen möchten. Sei mir nicht böse, Tinnu, aber ich würd’s gern bei dem ursprünglichen Bauplan belassen.«
»Kein Problem«, erwiderte Tinnu sofort. »Du bist der Bauherr, Raja. Ich wollt’s nur angemerkt haben, aber deine Argumentation leuchtet natürlich ein. Gut, dann sag ich Nithin Bescheid wegen der Installationen. Wie weit bist du mit den Brettern?«
»Die Hälfte habe ich in etwa geschafft.«
»Okay, dann mach Pause, yaar, ich lös dich ab«, sagte Vishal und machte sich energiegeladen auf den Weg zu dem Bretterstapel, während Tinnu ein paar Schritte beiseite ging und sein Handy zückte. »Ja, Nithin, ich bin’s. Also, hör zu, wir brauchen…«
Den Rest hörte Raja nicht mehr; dankbar ging er ins Haus, holte sich aus dem Kühlschrank in Vishals Küche eine der dort reichlich gebunkerten Wasserflaschen und trank durstig. Danach fühlte er sich besser, und er verließ das Haus wieder, lehnte sich an die Wand und richtete seinen Blick auf die Ecke des Grundstücks, wo bis vor kurzem noch der alte Schuppen gestanden hatte.
Die Idee, diesen Schuppen abzureißen und stattdessen ein kleines Gästehaus zu errichten, war ihm drei Monate zuvor gekommen, als Vikram und Sameera ihren Besuch angekündigt hatten und Raja sie notgedrungen im Gästezimmer seines Sohnes Surya hatte unterbringen müssen, weil er selbst über keines verfügte. Natürlich war das keine Tragödie gewesen, und die Sandeeps hatten sich im Sharmivar sehr wohlgefühlt; dennoch hätte er seine Freunde lieber in unmittelbarer Nähe gehabt und selbst die Funktion des Gastgebers übernommen. Die Anzahl der in Vishals Haus vorhandenen Zimmer reichte jedoch gerade für zwei Ehepaare mit je einer Tochter; für jeden Gast blieb nur die Wohnzimmercouch oder eine Matratze auf dem Fußboden. Und das wollte Raja seinen Freunden nicht zumuten – erst recht nicht, nachdem Vikram und Sameera ihrerseits vor dem ersten längeren Besuch der Sharmas im Dar-as-Salam sogar noch extra angebaut hatten.
Und an diesem Punkt in seiner Gedankenkette war plötzlich die Idee in ihm aufgeblitzt. In der Kürze der Zeit vor dem Besuch der Sandeeps im August war sie natürlich nicht mehr zu verwirklichen gewesen, aber schon kurz nach ihrer Abreise hatte Raja sich eines Abends mit Vishal zusammengesetzt und über einer Flasche Whiskey seinen Plan mit ihm erörtert. Dabei war er bei seinem Freund sofort auf begeisterte Zustimmung gestoßen; ein Ersatz für den Schuppen war schnell entworfen (»da bauen wir einfach einen kleinen Bretterverschlag an die hintere Hauswand für die paar Teile, die wir da drin haben«), und Raja bestand darauf, für sämtliche Kosten aufzukommen, auch wenn der Bau offiziell zum Vishwaas gehören würde. Der aus Brettern gezimmerte Ersatzschuppen war fast fertig, und der alte Schuppen war bereits abgerissen. Bald konnten die Bauarbeiten beginnen.
»Raja!« Tinnu kam mit zufriedenem Gesichtsausdruck auf ihn zu. »Ich hab Nithin erreicht, er weiß Bescheid, kommt aber nachher noch mal vorbei, um die Details mit dir zu besprechen.«
»Das ist gut, danke«, erwiderte Raja lächelnd. Tinnu hatte sich für das Projekt Gästehaus als echter Glücksfall erwiesen; als Raja und Vishal im Kreis ihrer Taxifahrer-Freunde von ihrem Bauvorhaben erzählt hatten, hatte Tinnu ihnen spontan seine Hilfe angeboten. Er war jahrelang als Bauarbeiter tätig gewesen, bevor er den Beruf gewechselt hatte und Taxifahrer geworden war, und die Idee, Rajas Pläne in die Tat umzusetzen, reizte ihn. Zudem kannte er eine Menge Fachleute für die Installation von Stromleitungen und Wasserrohren, die er um Rat und Hilfe bitten konnte. Bald hatten sich noch mehr Kollegen gemeldet, die bereit waren, Raja tatkräftig zu unterstützen; sie alle mochten ihn sehr und freuten sich über diese Gelegenheit, ihm die vielen kleinen und großen Gefälligkeiten zu vergelten, die er ihnen im Laufe der Jahre seit seiner Freilassung immer wieder erwiesen hatte.
Raja war zuerst unschlüssig gewesen, ob er diese Hilfe auch wirklich annehmen konnte – er wollte seine Freunde nicht ohne Bezahlung für sich arbeiten lassen, sich aber auch nicht in die illegale Zone der Beschäftigung von Schwarzarbeitern begeben. Da seine Helfer sich jedoch ohnehin kategorisch weigerten, auch nur eine Rupie von ihm anzunehmen, hatte er zumindest darauf bestanden, sie während der Arbeit umfassend zu verköstigen. Und allein dadurch machen die Jungs durchaus ›Profit‹, hatte Vishal einmal schmunzelnd angemerkt. Dass du sie ausnutzt, kann wirklich niemand behaupten – selbst mit einem regulären Stundenlohn würden sie sich wohl kaum jeden Tag solche Mahlzeiten leisten können, wie du und Sita sie ihnen auftischt.
»Hast du Hunger?«, erkundigte Raja sich daher nun. »Sita bereitet oben das Essen für uns zu; sie macht extra für dich heute Palak Paneer.«
»Echt? Klasse!«, strahlte Tinnu. »Weißt du was? Du sägst jetzt in aller Ruhe mit Vishal die ganzen Bretter zu Ende, und ich geh schon mal essen, ja?«
»Scherzbold«, lachte Raja. »Damit Vishal und mir nur noch ein paar traurige Chapatis übrigbleiben, ja? Träum weiter. Geh ruhig schon mal voraus, aber rechne damit, dass wir in einer Minute nachkommen. Und so schnell schaffst du die ganze Ladung nie!«
Tinnus Augen funkelten. »Ich kann’s ja zumindest versuchen«, erwiderte er und verschwand mit einem breiten Grinsen im Haus.
***
Einige Tage später verhängte Raja für eine komplette Woche einen allgemeinen Baustopp, denn neben dem fünften Geburtstag seiner Tochter stand vor allem auch die Zeit des Diwali-Festes vor der Tür – und er war sicher, dass nicht nur er selbst und seine Familie, sondern auch seine vielen freiwilligen Helfer in diesen Tagen Besseres zu tun hatten als Wände hochzuziehen und Leitungen oder Rohre zu verlegen.
Rani fieberte schon lange ihrem großen Tag entgegen, und um ihre Ungeduld zu mildern, hatte Sita kurzerhand beschlossen, sie in die Vorbereitungen für die Feiern mit einzubeziehen. Sie ließ sich von Rani in der Küche beim Fabrizieren von Süßspeisen helfen und nahm sie mit zum Einkaufen – was für die Kleine ein besonderes Vergnügen war; schließlich galt es ja nicht nur, genügend Diyas und Dekorationsmaterial für den Geburtstag und für Diwali zu besorgen, sondern auch den neuen Sari, den Papa ihr für das Lichterfest versprochen hatte.
Raja nutzte diese Zeit ihrer Abwesenheit, um im Sweet-Café seiner beiden Freunde Rehan und Karan in Pune anzurufen und reichlich Laddoos, Burfi und Jalebis für die Festtage zu ordern. Danach beschloss er, endlich die E-Mail zu beantworten, in der Sameera ihm vor einiger Zeit von ihrem Wochenende in Gulmarg erzählt hatte. Er beschrieb ihr die Fortschritte auf der Baustelle und die umfangreichen Vorbereitungen für die bevorstehenden Festtage, auf die sich die gesamte Familie schon sehr freute. Auch er. Er hielt inne, überlegte ein paar Sekunden und beschloss dann, eine Erklärung mitzuliefern – wenn jemand sie verstehen würde, dann die Traumatherapeutin in Kashmir.
Inzwischen kann ich das Diwali-Fest alles in allem wieder genießen, schrieb er. Während meiner Jahre im Gefängnis war mir dieses Fest anfangs noch geradezu verhasst; war es doch eine Diwali-Party, bei der ich damals diese verhängnisvollen Drogen genommen habe. Es war eine Diwali-Nacht, in der ich zum ›Vergewaltiger und Mörder‹ geworden bin. Diwali war für mich jahrelang gleichbedeutend mit dem Ende meiner Freiheit. Später hat dieser Hass allmählich nachgelassen, aber die Aversion, die ist geblieben. Wenn ich in den Diwali-Tagen von meiner Zelle aus den Lärm der Kracher und Raketen draußen gehört habe, dann ist in mir alles wieder lebendig geworden – die Untersuchungshaft, die brutalen Verhöre, der Prozess, das Urteil, die ersten finsteren Jahre mit dem Absturz in diesen entsetzlichen Abgrund, die Scham und die Schuldgefühle… Selbst in späteren Jahren bin ich in solchen Momenten noch häufig mit dem Kopf gegen die Mauer gerannt, weil diese Erinnerungen und der Kracher-Lärm mich beinahe in den Wahnsinn getrieben haben.
Heute habe ich meinen Frieden mit diesem Fest gemacht, und wenn ich mit meiner Familie zusammen bin, kann ich es sogar einigermaßen gelöst feiern – auch wenn ich bei dem Feuerwerkskrach immer noch oft zusammenzucke, oder wenn jemand neben mir lauthals »Happy Diwali!« schreit. Zum Glück ist meine Familie äußerst verständnisvoll – wir feiern das Fest mit viel Lichtern und Musik, Geschenken und gutem Essen, wir spielen Karten, singen Lieder und tanzen – aber meine Jungs verzichten auf jedes Feuerwerk. Ihren Kindern erklären sie das mit Umweltschutzgründen, was ja auch seine Richtigkeit hat; die Luftverschmutzung und der Lärm durch dieses Kracherzeug werden von Jahr zu Jahr schlimmer. Aber ich weiß genau, dass sie es vor allem mir zuliebe tun, und ich bin ihnen dafür sehr, sehr dankbar.
Er atmete tief durch, spürte, wie sein Gesicht sich unwillkürlich zu einem kleinen, erleichterten Lächeln verzog, und brachte die E-Mail zum Abschluss.
Liebe Grüße an alle im Dar-as-Salam, auch von Sita – sagt den Kindern, dass wir immer an sie denken und uns darauf freuen, sie wiederzusehen. Wann immer das sein wird. Vor Weihnachten werden wir es wohl nicht mehr schaffen, noch einmal vorbeizukommen, aber irgendwann Anfang nächsten Jahres ganz bestimmt!
Ich umarme euch.
Raja
Kapitel 2
Finsternis und Licht
Der November ging vorüber, Weihnachten kam stetig näher… und noch immer hatte Vikram sich nicht überwinden können, Gulnaar Rehman aufzusuchen. Er wusste, wo sie wohnte – die Familie hatte, soweit ihm bekannt, das Haus des alten Schusters Ibrahim Fateh Rehman nie verkauft oder verlassen –, und immer, wenn er nach Srinagar kam, trug er den Brief bei sich, den er an Gulnaar geschrieben und an jenem verhängnisvollen Tag in Lonavala bei dem toten Ismail entdeckt hatte. Aber den Weg in die vertraute kleine Gasse in der Altstadt fand er nie. Er hätte sie wahrscheinlich sowieso kaum wiedererkannt; die Flut vor knapp zwei Jahren hatte sich mitten durch das Viertel gewälzt, und die Spuren des Hochwassers waren – wie fast überall – noch immer nicht beseitigt.
An einem Freitag Anfang des Monats fuhr er nach Srinagar, um Schulmaterial für die Kinder zu kaufen, und beschloss, einen Abstecher zu Hassan Harabi auf dem Markt an der Jamia Masjid zu machen. Das tat er oft und gern; er fand es jedes Mal sehr entspannend, eine Weile mit dem alten Holzschnitzer zusammenzusitzen, Kahwa oder Masala-Chai zu trinken und zu plaudern.
Es war kalt und bewölkt, und über den Gipfeln hinter dem bleigrauen Dal-See ballten sich dunkle Wolken zusammen, die den ersten Schnee mehr androhten als verhießen. Vikram war dankbar für die Wärme des süßen, würzigen Chai. Er trank ihn langsam Schluck für Schluck und ließ die Blicke schweifen, während Hassan Harabi wortreich mit einem Ehepaar verhandelte, das sich zwischen zwei Schachspielen nicht entscheiden konnte.
Unter dem Schutzdach des Standes gegenüber baumelten Salwar Kameezis und Anarkalis auf Drahtbügeln an einer langen Stange. Dupattas in allen Farben des Regenbogens flatterten in einem plötzlichen Windstoß. Vikram kniff die Augen zusammen und erinnerte sich plötzlich an jenen Freitag im vergangenen Juli, als er ebenfalls mit Hassan Harabi Tee getrunken und dem Händler auf der anderen Seite zugeschaut hatte. Und kurz danach hatte er sich selbst auf eine intensive, sehr unangenehme Weise beobachtet gefühlt… beobachtet von jemandem, der ihm Böses wollte. Wenn er bedachte, was wenig später in Lonavala geschehen war, dann hatte das wahrscheinlich gestimmt.
Sein fast fotografisches Gedächtnis lieferte ihm die Bilder zu dieser Szene. Ein paar Schulmädchen, die kicherten und tuschelten, ein paar westliche Touristinnen auf der Suche nach exotischer Kleidung als Souvenir, der Helfer des Händlers, der ihnen die Ware zeigte… die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, ein Turbantuch vor dem Mund.
Der Helfer des Händlers. Das konnte durchaus Ismail gewesen sein… aber er hatte ihn nicht erkannt. Und in Lonavala hatte er erst begriffen, mit wem er es zu tun hatte, als Ismail hinter Sameera auf dem Bett kniete und ihr das Messer an die Kehle hielt.
Vikram schaute rasch zu Hassan Harabi hinüber, der damit beschäftigt war, einen Satz Schachfiguren in Seidenpapier einzuwickeln. Dann wandte er sich wieder dem Stand des Kleiderhändlers zu. Dort reichte gerade ein Mann mit Wollmantel, Schal und Takke einer Frau ein kleines Glas Chai. Sie saß hinter der Auslage mit vielfarbig bestickten Tüchern und trug eine schwarze Burqa, aber ohne den Gesichtsschleier. Während sie dem Mann dankte und das Glas entgegennahm, sah er nur ihr Profil. Doch als sie an dem Glas nippte, wandte sie den Kopf… und dann begegneten sich ihre und Vikrams Augen.
Es war Gulnaar Rehman.
***
Es war, als sei die Zeit stehengeblieben. Er starrte Gulnaar eine gefühlte Ewigkeit an, bevor er wieder imstande war, sich zu rühren. Erst als der Händler hinter seiner Auslage verschwand, stemmte er sich langsam von seinem Hocker hoch, ging um den Verkaufstisch herum und die wenigen Schritte zu dem anderen Stand hinüber. Gulnaar blieb ruhig sitzen und blickte ihm unbewegt entgegen.
»Salaam, Gulnaar«, sagte er. Seine Stimme war heiser.
»Salaam, Vikram Sandeep«, erwiderte sie ruhig. »Denn Rehan Pervez bist du wohl nicht mehr.«
»Nein.« Er senkte den Kopf. »Rehan Pervez ist mit Kadir gestorben.«
Sie fuhr nicht zusammen, als der Name ihres Sohnes fiel. Stattdessen nickte sie.
»Und danach war es mein abba, der starb, jeden Tag ein bisschen mehr… weil er nicht ertragen konnte, was mit Kadir geschehen ist. Wusstest du, dass er immer wieder nach dir gefragt hat?« Sie zog eine Grimasse. »Er sagte: ›Wäre Rehan hier gewesen, er hätte das verhindern können. Dann würde unser Kadir noch leben.‹ Ich war damals genauso überzeugt davon wie er. Das waren wir alle. Auch Ismail. Er hat monatelang versucht, dich zu finden.«
»Das konnte er nicht«, sagte Vikram leise. »Da war ich längst nach Delhi zurückgekehrt und hatte meinen Abschied eingereicht.«
»Du bist geflohen.« Ihr Blick war scharf. »Vor uns und vor deiner Schuld.«
Er schwieg. Was hätte er auch antworten sollen? Denn es stimmte.
»Und dann – irgendwann, ein Jahr später vielleicht – kam dein Brief. Ismail hat versucht, ihn vor mir zu verstecken. Vielleicht, weil er mir noch mehr Leid ersparen wollte… und das Entsetzen über deinen grausamen Verrat. Aber ich habe ihn trotzdem gefunden.«
»Also hast du den Brief gelesen.« Vikram atmete tief durch. »Ich hab mich all die Jahre gefragt, ob du ihn je zu Gesicht bekommen hast.«
Er zögerte.
»Glaubst du mir, was darinsteht?«
»Dass du meinst, du hättest keine Wahl gehabt?« Ihr Gesicht war bleich, und in ihren Augen flackerte ein seltsames Licht. »Dass mein Kind mit einer Kugel im Kopf sterben musste, damit Hunderte andere gerettet werden? Doch… ja, das glaube ich dir.«
Er schluckte. »Ich… ich weiß, ich kann dir Kadir genauso wenig zurückgeben wie Ibrahim und Ismail. Und ich weiß, ich kann mich von meiner Schuld nicht freikaufen. Aber ich würde dir gern beistehen, Gulnaar. Dich und deine Familie unterstützen, wenn ich kann. Und wenn du es zulässt.«
Sie schüttelte den Kopf, und das Licht in ihren Augen verstärkte sich zu einer kalten, weißen Flamme.
»Das kann ich nicht.« Sie sprach leise und unerbittlich. »Nicht nur Kadir ist damals gestorben – ich auch. Ich bin zinda laash, seit sechs Jahren. Ismail war ein Narr, zu glauben, dass dein Tod irgendetwas daran ändert. Er hat tatsächlich gedacht, er könnte den Frieden meiner Familie wiederherstellen, indem er Vergeltung übt. Als ich erfahren habe, was er getan hat, fühlte ich nichts. Das letzte Mal habe ich geweint, als abba starb… danach nie wieder.«
»Lass mich dir helfen, Gulnaar.« Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Bitte.«
»Ich soll von deiner Wohltätigkeit leben?« Ihr Mund wurde schmal. »Niemals, Vikram Sandeep. Ich werde nie wieder zulassen, dass dein Schatten unsere Türschwelle verdunkelt und auf unsere Familie fällt… und genau das würde geschehen, wenn ich deine Hilfe annehme. Oder dein Geld.«
Die Flamme in ihren Augen erlosch.
»Wenn du hier bist, um nach Vergebung zu suchen«, fuhr sie langsam fort, »dann bist du umsonst gekommen. Aber vor meiner Rache musst du dich nicht fürchten – ich bin jetzt die Einzige in meiner Familie, die von dem Unheil weiß, das du über uns gebracht hast. Abba hat es nie erfahren, und Ismail ist tot. – Weißt du, was ich dir wünsche?«
Er hatte Angst davor, zu fragen, tat es aber trotzdem. »Was?«
»Dass du nicht mehr am Leben bist, wenn die Waisen, die du zu dir genommen hast, so grausam leiden und zugrunde gehen wie mein Sohn. Kashmir frisst seine Kinder… oder nein: Kashmir ist dazu verdammt, zuzusehen, wie andere seine Kinder fressen, mit Haut und Haar. Ich habe das genauso lernen müssen wie so viele andere gute, unschuldige Menschen hier. Du wirst es irgendwann auch lernen, Vikram Sandeep. Und dann wird dein Herz auf die gleiche Weise brechen und sterben wie meins.«
Ihr Blick hielt den seinen fest. Vikram blieb stehen wie angewurzelt; erst, als der Händler wieder in den Stand zurückkehrte, wandte Gulnaar die Augen ab.
»Ist alles in Ordnung, behnji?«, erkundigte sich der Mann besorgt. »Soll ich diesen sahab fortschicken?«
»Das wird kaum nötig sein«, entgegnete Gulnaar sanft. »Er wollte sowieso gerade gehen. Und er wird auch nicht wiederkommen. Leben Sie wohl, Sandeep sahab.«
Vikram nickte langsam. Das Herz schmerzte ihm in der Brust wie ein scharfkantiges Stück Blei.
»Leb wohl, Gulnaar«, sagte er leise. »Khuda hafiz.«
Sie antwortete nicht. Er wandte sich ab und ging schwerfällig die wenigen Schritte zu Hassan Harabis Stand zurück. Der Holzschnitzer blickte ihm entgegen, und als Vikram vor ihm stehenblieb, wurde er jäh blass. Er öffnete den Mund, als wollte er eine Frage stellen, schloss ihn aber wieder, ohne etwas zu sagen. Vikram fragte sich vage, was Hassan wohl in seinem Gesicht las, und begriff, dass er es lieber nicht wissen wollte. Er hätte gern eine Erklärung abgegeben oder sich wenigstens verabschiedet, traute aber der eigenen Stimme nicht. Also nickte er bloß leicht und entfernte sich, mitten in das Gewühl des Marktes hinein. Gestalten und Gesichter trieben an ihm vorüber wie verschwommene Schemen in einem dichten Nebel, die Geräusche waren dumpf und sehr weit weg.
Er wusste später nie, wie lange er gebraucht hatte, um seinen Jeep zu erreichen und loszufahren. Er wunderte sich höchstens darüber, dass er irgendwann vor dem Dar-as-Salam zu sich kam. Der Zündschlüssel steckte, aber der Motor war abgeschaltet. Durch die Windschutzscheibe konnte er die blaue Tür des Waisenhauses sehen; die Verandastufen waren weiß überpudert. Zum ersten Mal in diesem Jahr hatte es geschneit, und er hatte nichts davon gemerkt.
Die Tür öffnete sich, und Sameera trat aus dem Haus, in einer dicken Strickjacke und mit einem Wollschal um den Hals. Sie kam rasch auf den Jeep zu.
»Zobeida hat gesehen, dass du hier draußen im Wagen sitzt.« Ihr Gesicht war besorgt. »Geht es dir gut, mera jaan?«
Er konnte ihr nicht erzählen, was auf dem Markt geschehen war. Nicht jetzt. In diesem Moment wusste er das mit großer Klarheit.
»Ich bin müde«, hörte er sich selbst sagen, und er staunte darüber, wie normal seine Stimme klang. »Und ich hab grässliche Kopfschmerzen.«
»Dann solltest du dich hinlegen«, erwiderte sie sofort. »Am besten gehst du gleich hoch und versuchst, ein bisschen zu schlafen. Möchtest du, dass ich dir eine Tablette bringe, oder irgendetwas anderes?«
»Nein.«
Er stieg aus dem Jeep, nahm Sameera in die Arme, drückte sie an sich und schloss die Augen. Er spürte, wie sich hinter seinen Lidern Tränen sammelten, und er drängte sie ebenso zurück wie die furchtbare Klage, die aus seiner Brust aufstieg und sich in seiner Kehle staute. Er ließ Sameera hastig los, stieg die Verandastufen hinauf und ging ins Haus; er konnte ihren Blick im Rücken fühlen. Sie kannte ihn zu gut; sie wusste, dass etwas nicht stimmte.
Das Schlafzimmer war kühl, dämmrig und still. Er verzichtete darauf, sich umzuziehen, nur die Jacke und die Schuhe streifte er ab, bevor er das mit Efeublättern bestickte Tuch vom Bett nahm, auf die Matratze sank und sich die Decke über den Kopf zog. Der Bezug roch frisch gewaschen. Wieder schloss er die Augen, obwohl ihm absolut klar war, dass er nicht schlafen würde.
Ich werde nie wieder zulassen, dass dein Schatten unsere Türschwelle verdunkelt und auf unsere Familie fällt.
Er biss die Zähne zusammen und bemühte sich verzweifelt, Gulnaars Stimme auszublenden, die in seinem Kopf widerhallte. Genau in diesem Moment ertönte der Klingelton seines Handys, das er auf den Nachttisch gelegt hatte. Er schlug die Decke zurück und griff danach.
»Sandeep.«
»Ich bin’s – Najiha. Hör zu, Vikram, ich brauche deine Hilfe. Kannst du dich möglicherweise für eine Woche freimachen und für mich in die Gegend von Dardpura fahren? Ich brauche da einen Ermittler, der mit der nötigen Vorsicht die richtigen Fragen stellt.«
»Klar«, versicherte er rasch. »Gar kein Problem.«
»Das müsste aber sofort geschehen – bevor die Zeit gegen uns arbeitet und die Spuren verschwinden«, sagte Najiha. »Wenn wir schnell genug sind, dann haben wir einen großen Fisch an der Angel.«
»Wen?«
»Unseren speziellen Freund in Srinagar. Den Letzten der unheiligen Drei.« Sie nannte klugerweise keinen Namen – es ließ sich nie vollkommen ausschließen, dass unfreundliche Ohren mithörten –, aber der grimmige Triumph in ihrer Stimme war überdeutlich. »Diesmal hat er sich möglicherweise eine Schweinerei zu viel geleistet.«
Sie sprach von Avan Gupta. Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr brachte er es fertig, die lähmende Betäubung abzuschütteln, und das Blut kreiste rascher in seinen Adern.
»Verstehe«, sagte er. »Ich mach mich gleich morgen auf den Weg.«
»Danke! Komm morgen früh gegen sieben zu mir, damit ich dich ins Bild setzen kann«, erwiderte Najiha. Jetzt klang sie etwas weicher, fast entschuldigend. »Ich hoffe, Sameera kommt damit klar, dass ich dich kurz vor Weihnachten entführe. Sag ihr, es tut mir leid, ja?«
»Sie wird es verstehen«, sagte Vikram ruhig. »Das ist wichtig… vor allem, wenn wir damit einem wirklich gefährlichen Feind das Handwerk legen. Und wenn der Job in einer Woche erledigt sein muss, bin ich zu Weihnachten ja wieder zu Hause. Wir sehen uns morgen. Khuda hafiz.«
»Khuda hafiz, Vikram baba.« Najiha legte auf.
Vikram schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Gulnaars Stimme in seinem Geist war verstummt. Najiha und ihr Auftrag hatten sie zum Schweigen gebracht, und er empfand eine unendliche Erleichterung darüber. Danke, meri ladki.
Er holte seinen alten Armeerucksack aus dem Schrank und fing methodisch an, alles einzupacken, was er brauchte.
***
»Sameera?«
Irgendjemand wollte etwas von ihr. Aber wieso? Sie war so furchtbar müde…
»Sameera? Didi?«
Eine Hand fasste sie an der Schulter und rüttelte sie sachte. Sameera öffnete die Augen und sah, dass Zobeida an ihrem Bett stand und sie besorgt musterte.
»Ich hab dich überall im Haus gesucht. Die Kinder wussten auch nicht, wo du bist. Du hättest mir sagen sollen, dass du dich hinlegen möchtest.«
Sameera setzte sich auf. Ihr Mund war trocken, und hinter ihren Schläfen pochte es.
»Ich wollte mich nicht hinlegen«, sagte sie ein wenig ungeduldig. »Ich bin ganz einfach… eingenickt. Tut mir wirklich leid, Zobeida. Ich komm gleich runter.«
»Ist gut, didi.«
Zobeida ging leise hinaus und schloss die Tür hinter sich. Sameera blieb auf dem Bett sitzen und rieb sich über die Stirn. Was zum Teufel war eigentlich los mit ihr?
Sie erinnerte sich daran, wie sie die E-Mail gelesen hatte, in der Raja von dem Bau des Gästehauses berichtete – und plötzlich auch von dem erzählte, was das Diwali-Fest auch noch nach mehr als fünfundzwanzig Jahren in ihm auslöste. Sie hatte den traumatisierten Mann in seiner Zelle vor sich gesehen, der beim Lärm der Kracher vor dem Gefängnis in wilder Verzweiflung den Kopf gegen die Wand schlug, und es hatte sich angefühlt wie eine Woge aus Mitgefühl, Zorn und Trauer, in der sie hilflos unterging. Sie hatte angefangen zu weinen und fast zehn Minuten gebraucht, um sich wieder zu beruhigen.
Zum Glück war Vikram in dem Moment nicht hier, dachte sie. Er hätte bestimmt gedacht, ich bin verrückt. Oder krank.
Vielleicht war sie ja wirklich krank. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und mühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Seit Wochen fühlte sie sich wie gerädert. Ihre Glieder waren träge, eine bleierne Erschöpfung schien sie buchstäblich am Boden festzunageln. Gerichte, die sie immer geliebt hatte, lagen ihr plötzlich schwer im Magen, diffuse Schmerzen in Rücken und Bauch tauchten unversehens auf und verschwanden ebenso schnell wieder. Sie war völlig aus dem Gleichgewicht, und nur eine eiserne Selbstdisziplin hatte bisher dafür gesorgt, dass es niemandem auffiel außer ihr selbst.
Sie stand auf und ging nach nebenan. Der Laptop stand auf dem kleinen Schreibtisch, und ihr Blick fiel auf Moussas Fotokalender, der dahinter an der Wand hing. Die Aufnahme für den Dezember zeigte sie und Vikram zusammen mit Raja und Sita auf der Veranda des Dar-as-Salam, lachend und die Arme umeinander gelegt. Das Bild war vor einem Jahr an Weihnachten aufgenommen worden, und eine Vergrößerung davon hing im Wohnzimmer der Sharmas in Shivapur.
Sie setzte sich hin. Vor vier Wochen hatten sie das Geburtstagspaket an die beiden abgeschickt, mit einem aufwendigen Fotobildband, den – genau wie den Kalender – Moussa gestaltet hatte. Er enthielt Landschaftsaufnahmen und Bilder aus dem Dar-as-Salam, die der Junge das ganze Jahr über gezielt für dieses Buch gesammelt hatte, ergänzt durch Texte von ihr und Vikram… über das Leben in Kashmir, Gedanken über Freundschaft, die Liebe zu ihren Kindern und zueinander. Zum Glück war das Buch rechtzeitig angekommen, und Raja und Sita hatten sich sehr darüber gefreut.
Ohne nachzudenken rief sie die E-Mail auf, die sie den beiden am 1. Dezember geschrieben hatte, und ihr Blick blieb an dem letzten Absatz hängen.
… es sind Tage wie diese, an denen mir schmerzlich bewusst wird, wie groß die Entfernung ist zwischen Srinagar und Shivapur. Wie gern möchte ich ein paar Meter die Straße hinuntergehen – so, wie im August von Suryas Haus zu eurem – ich möchte an die Tür klopfen und eure lächelnden Gesichter sehen, wenn sie sich öffnet. Gottes Segen und alles Gute heute zu eurem gemeinsamen Geburtstag. Ich vermisse euch.
Es war die Wahrheit. In diesem Moment empfand sie eine schmerzhafte Sehnsucht nach Sita. Sie wollte mit ihr reden, sie um Rat bitten. Ich fühle mich nicht gut, ich habe Angst, und ich weiß nicht, was ich tun soll.
Sie musste herausfinden, was mit ihr nicht stimmte. Und vor allem musste sie erst ganz sicher wissen, was es war, ehe sie Vikram davon erzählte.
Vor ihr auf den Tisch lag das Handy. Kurz entschlossen nahm sie es und wählte.
»Lakshmi? Ja, ich bin’s, Sameera. Kann ich in den nächsten Tagen mal zu dir in die Klinik kommen? Ich hätte gern, dass du mich von Kopf bis Fuß durchcheckst. – Was? – Nein, ich weiß nicht, was los ist, sonst würde ich ja wohl kaum… nein. Entschuldige bitte. – Ja. Übermorgen? Danke, Lakshmi. Ich danke dir sehr.«
***
»Und du bist sicher, dass dieser bildhübsche Knabe deiner Zeenath nicht nur deswegen schöne Augen macht, damit sich sein Vater in Zukunft die Honorare für ihre Stickkunstwerke sparen kann?«
Dr. Lakshmi Shettys Tonfall war so trocken wie humorvoll. Sameera, die ihrer Arbeitgeberin an deren Schreibtisch gegenübersaß, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und lachte herzhaft.