Stumme Erde - Dave Goulson - E-Book

Stumme Erde E-Book

Dave Goulson

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Beschreibung

Kämpferisch, bezaubernd, eindringlich: Goulsons Opus magnum über die Bedeutung der Insekten. „Dieses Buch lässt Sie anders über unser Recht auf Herrschaft über den Planeten denken.“ Daily Telegraph

Insekten mögen klein sein, aber sie verrichten die großen Arbeiten auf unserer Erde. Sie entsorgen Abfälle, bestäuben Pflanzen, ernähren unzählige Tierarten und bereichern die Welt mit ihrer vielgestaltigen Schönheit. Dennoch wird ihr Beitrag kaum wahrgenommen und Tag für Tag sterben hunderte Arten aus. Was bedeutet ihr Verschwinden für uns Menschen?
Dave Goulson zeichnet das Bild vom Aufstieg und Niedergang der Insekten. Wie kein anderer vermag er vorwegzunehmen, was genau passieren wird, sollte das Insektensterben nicht gestoppt werden. Ein Leben ohne Himbeeren und Schokolade ist sicherlich vorstellbar, globale Hungersnöte sind jedoch die ernste Folge des Insektensterbens. Wer „Stumme Erde“ liest, wird Insekten mit anderen Augen sehen lernen und handeln.

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Über das Buch

Kämpferisch, bezaubernd, eindringlich: Goulsons Opus magnum über die Bedeutung der Insekten. »Dieses Buch lässt Sie anders über unser Recht auf Herrschaft über den Planeten denken.« Daily TelegraphInsekten mögen klein sein, aber sie verrichten die großen Arbeiten auf unserer Erde. Sie entsorgen Abfälle, bestäuben Pflanzen, ernähren unzählige Tierarten und bereichern die Welt mit ihrer vielgestaltigen Schönheit. Dennoch wird ihr Beitrag kaum wahrgenommen und Tag für Tag sterben hunderte Arten aus. Was bedeutet ihr Verschwinden für uns Menschen? Dave Goulson zeichnet das Bild vom Aufstieg und Niedergang der Insekten. Wie kein anderer vermag er vorwegzunehmen, was genau passieren wird, sollte das Insektensterben nicht gestoppt werden. Ein Leben ohne Himbeeren und Schokolade ist sicherlich vorstellbar, globale Hungersnöte sind jedoch die ernste Folge des Insektensterbens. Wer »Stumme Erde« liest, wird Insekten mit anderen Augen sehen lernen und handeln.

Dave Goulson

Stumme Erde

Warum wir die Insekten retten müssen

Aus dem Englischen von Sabine Hübner

Hanser

Für meine verrückte, frustrierende, fantastische Familie und vor allem für meine wunderbare Frau Lara.

Einleitung

Ein Leben mit Insekten

Insekten faszinieren mich schon mein ganzes Leben lang. Ich erinnere mich noch, dass ich bereits im Alter von fünf bis sechs Jahren am Rand des Schulhofs ein paar gelb-schwarz geringelte Raupen fand. Sie fraßen Unkraut, das aus den Rissen im Asphalt spross. Ich klaubte die Raupen auf, setzte sie zwischen die Krümel in meiner leeren Brotzeitdose und nahm sie mit nach Hause. Mithilfe meiner Eltern fand ich Blätter, die den Tierchen schmeckten, und so verwandelten sich die Raupen im Lauf der Zeit in hübsche schwarz-rote Nachtfalter (deutschsprachige Leser kennen sie vielleicht als Jakobskrautbären). Mir kam das vor wie Zauberei — was sich übrigens bis heute nicht geändert hat. Ich war total fasziniert.

Inzwischen ist es mir gelungen, mein Kindheitshobby zum Beruf zu machen. Als Teenager habe ich sämtliche Wochenenden und Ferien damit verbracht, mit einem Netz Schmetterlinge zu fangen, Bodenfallen für Käfer aufzustellen oder mit einer Zuckerlösung Falter anzulocken. Bei speziellen Versandhäusern bestellte ich Eier exotischer Insektenarten und beobachtete, wie sie sich zu bizarren, in allen Farben leuchtenden Raupen und schließlich zu riesigen prächtigen Faltern entwickelten: Actias Selene, manchmal auch Indischer Mondspinner genannt, mit seinen zu langen Schwänzen ausgezogenen Hinterflügeln; der Madagaskar-Pfauenspinner mit seinen leuchtenden Augenflecken; riesige schokoladenbraune Atlasspinner aus Südostasien, die von der Flügelfläche her größte Schmetterlingsart überhaupt. Als Studienfach in Oxford wählte ich natürlich Biologie und promovierte später an der Oxford Brookes, der bodenständigeren Uni auf einem Hügel östlich von Oxford, über die Ökologie von Schmetterlingen. Danach folgten verschiedene Forschungsstellen: zuerst wieder an der Universität Oxford, wo ich mich mit dem ungewöhnlichen Paarungsverhalten des gescheckten Nagekäfers befasste, dann gleichfalls in Oxford in einem staatlichen Labor, wo ich darüber forschte, wie man Nutzpflanzen durch das Besprühen mit Viren vor Schädlingsbefall schützen kann. Da ich aber ungern Insekten töte, widerstrebte mir diese letzte Stelle, darum war ich wirklich erleichtert, als mir in der Abteilung Biologie der Universität Southampton eine Festanstellung angeboten wurde.

Nun spezialisierte ich mich auf Hummeln, meine Lieblingsinsekten (obwohl es diesbezüglich sehr viele Anwärter gibt). Da es mich faszinierte, dass Hummeln sich immer nur ganz bestimmte Blumen aussuchen, erforschte ich fünf Jahre lang ihre Fähigkeit, nektarlose Blüten zu identifizieren, indem sie den duftenden Fußabdruck einer kürzlich da gewesenen Hummel »erschnüffeln«. Mir wurde klar, dass sich hinter ihrer tollpatschigen Teddybär-Erscheinung hohe Intelligenz verbirgt, ja dass Hummeln die Geistesriesen der Insektenwelt sind. Sie können sich bestimmte Orientierungspunkte und Blumenbeete merken, finden Belohnungen, die sich in raffiniert konstruierten Blüten verbergen, und saugen sie mithilfe ihres Rüssels geschickt heraus. Außerdem leben sie in komplexen Staatsgebilden, in denen Komplotte und Königinnenmorde an der Tagesordnung sind. Verglichen mit den Hummeln kamen mir die Schmetterlinge, die ich in meiner Jugend gefangen hatte, jetzt bei all ihrer Schönheit doch wie etwas beschränkte Kreaturen vor.

Ich hatte das Glück, auf den Spuren der Insekten die ganze Welt zu bereisen, von den Wüsten Patagoniens bis zu den eisigen Gipfeln der Region Fjordland in Neuseeland und den feuchten, bewaldeten Bergen Bhutans. Ich konnte beobachten, wie riesige Schwärme von Ritterfaltern aus dem Uferschlamm eines Flusses in Borneo Mineralien saugten oder wie in den Sümpfen Thailands nachts Tausende von Leuchtkäfern synchron mit ihren Artgenossen blinkten. Zu Hause in meinem Garten in Sussex habe ich unzählige Stunden damit verbracht, bäuchlings auf dem Boden liegend Insekten zu beobachten: Heuschrecken, die sich paarten und Rivalen abwehrten, Ohrwürmer, die ihre Jungen hegten, Ameisen, die Blattläuse melkten, um Honigtau zu gewinnen, und Blattschneiderbienen, die Blätter aussägten, um damit ihre Nester auszukleiden.

Das hat mir immer unglaublich viel Freude bereitet. Und doch bedrückte mich das Wissen, dass all diese Tiere im Rückgang begriffen sind. Seitdem ich vor 50 Jahren auf dem Schulhof meine ersten Raupen eingesammelt habe, ist die Zahl der Schmetterlinge und Hummeln stetig zurückgegangen — und das gilt für fast jede der unzähligen Insektenarten, die unsere Welt am Laufen halten. Diese schönen, faszinierenden Wesen sind im Verschwinden begriffen, Ameise um Ameise, Biene um Biene, Tag für Tag. Die Schätzungen variieren und sind ungenau, aber höchstwahrscheinlich ist die gewaltige Masse von Insekten seit meinem fünften Lebensjahr um 75 Prozent geschrumpft. Jahr für Jahr wird dies wissenschaftlich immer besser abgesichert, immer mehr Studien dokumentieren den Kollaps der Monarchfalter-Populationen in Nordamerika, den Rückgang der Insekten in den Wäldern und Wiesen Deutschlands oder das scheinbar unaufhaltsame Verschwinden der Hummeln und Schwebfliegen in Großbritannien.

1963, zwei Jahre vor meiner Geburt, warnte Rachel Carson in ihrem Buch Der stumme Frühling davor, dass wir unserem Planeten schrecklichen Schaden zufügen. Carson würde weinen, wenn sie heute sähe, dass es noch so viel schlimmer gekommen ist, als sie es vorhergesehen hat. Lebensräume von Insekten — Heuwiesen, Sumpfgebiete, Heideland und tropische Regenwälder — wurden in großem Maßstab niedergebrannt, kaputt gepflügt oder von Bulldozern platt gewalzt. Die Probleme mit Pestiziden und Düngemitteln, die Carson aufzeigte, sind noch viel akuter geworden, da weltweit alljährlich drei Millionen Tonnen Pestizide in die Umwelt gelangen. Einige dieser neuen Pestizide sind tausendfach toxischer für Insekten als sämtliche Schädlingsbekämpfungsmittel, die es zu Carsons Lebzeiten gab. Die Bodenqualität hat sich verschlechtert, Flüsse erstickten im Schlick und wurden mit Chemikalien verseucht. Und der Klimawandel, ein damals noch unbekanntes Phänomen, stellt für unseren angeschlagenen Planeten eine noch verheerendere Bedrohung dar. All diese Veränderungen geschehen zu unseren Lebzeiten, direkt vor unseren Augen, und vollziehen sich immer schneller.

Dass die Insekten verschwinden, muss jeden von uns betrüben, der diese kleinen Kreaturen um ihrer selbst willen liebt und schätzt. Darüber hinaus ist aber auch das Wohl der gesamten Menschheit bedroht, weil die Insekten unsere Nutzpflanzen bestäuben, Dung, Laub und Leichen kompostieren, den Boden gesund erhalten, Schädlinge in Schach halten und vieles, vieles mehr. Zahllose größere Tiere wie etwa Vögel, Fische und Frösche ernähren sich von Insekten. Wildblumen sind auf die Bestäubung durch Insekten angewiesen. Wenn es immer weniger Insekten gibt, gerät auf der Welt alles ins Stocken, denn ohne Insekten funktioniert einfach nichts. Wie Rachel Carson sagte: »Da der Mensch ein Teil der Natur ist, bedeutet sein Krieg gegen die Natur zwangsläufig einen Krieg gegen sich selbst.«

Inzwischen verbringe ich einen Großteil meiner Zeit mit dem Versuch, in den Menschen die Liebe zu den Insekten zu wecken oder wenigstens einen gewissen Respekt für all die lebensnotwendigen Aufgaben, die diese kleinen Tiere vollbringen. Und aus diesem Grund habe ich natürlich auch dieses Buch geschrieben. Ich würde mir wünschen, dass Sie die Insekten mit meinen Augen sehen: als schöne, faszinierende Wesen, die manchmal höchst seltsam, zuweilen bedrohlich und verstörend, aber immer wunderbar sind und unsere Wertschätzung verdienen. Sie werden verblüfft sein, wenn ich Ihnen einige ihrer erstaunlichen Gewohnheiten, Lebenszyklen und Verhaltensweisen schildere, die die kühnsten Ideen von Science-Fiction-Autoren in den Schatten stellen. Zwischen die einzelnen Kapitel über die Welt der Insekten, ihre Entwicklungsgeschichte, ihre Bedeutung und die vielen Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind, füge ich kleine Porträts einiger meiner Lieblingsinsekten ein.

Obwohl es leider keinen Zweifel geben kann, dass die Zeit abläuft, ist es doch noch nicht zu spät. Die Insekten brauchen unsere Hilfe. Die meisten sind noch nicht ganz ausgestorben. Wenn wir ihnen nur ein klein wenig Freiraum schenken, können sie sich in kurzer Zeit wieder erholen, denn sie vermehren sich rasch. Sie leben rings um uns herum: in unseren Gärten, Parks, auf Ackerflächen, im Boden unter unseren Füßen, ja selbst in Rissen im Asphalt. Und so können wir alle dafür sorgen, dass diese lebensnotwendigen Tiere nicht aus unserer Welt verschwinden. Mag sein, dass wir uns angesichts all der bedrohlichen Umweltprobleme oft hilflos fühlen, aber dennoch können wir uns durch einfache Maßnahmen für Insekten engagieren.

Ich behaupte, dass ein fundamentaler Wandel nötig ist. Wir sollten mehr Insekten in unsere Gärten und Parks locken, sollten Stadtgebiete, Straßenränder, Bahntrassen und Kreisverkehre in ein Netz pestizidfreier, blumenreicher Habitate verwandeln. Wir müssen unser marodes Nahrungsversorgungssystem radikal verändern und Lebensmittelverschwendung und Fleischkonsum drosseln, um einen großen Teil der landwirtschaftlich weniger stark genutzten Gebiete für die Natur zurückzugewinnen. Es bedarf der Entwicklung eines nachhaltigen Agrarsystems. Wir müssen verstärkt auf die Kooperation mit der Natur setzen und gute, gesunde Nahrung produzieren, statt in riesigen, öden, pestizidverseuchten und überdüngten Monokulturen minderwertige Massenprodukte zu erzeugen. Wir alle können an diesen Veränderungen auf vielfältige Art und Weise mitwirken: etwa, indem wir bevorzugt saisonale, biologisch angebaute Früchte und Gemüsesorten kaufen; indem wir unsere Nahrungsmittel selbst anbauen; indem wir Politiker wählen, die Umweltfragen ernst nehmen, und indem wir unsere Kinder in dem Bewusstsein erziehen, dass wir unbedingt pfleglicher mit unserem Planeten umgehen müssen.

Stellen Sie sich einmal eine Zukunft vor, in der wir grüne Städte hätten — auf jedem freien Platz wüchsen Wildblumen und Obstbäume, sämtliche Dächer und Mauern wären begrünt; eine Zukunft, in der Kinder noch mit dem vertrauten Gezirpe der Grillen, dem Zwitschern der Vögel, dem Brummen vorbeifliegender Hummeln, dem Anblick bunt schillernder Schmetterlingsflügel aufwachsen dürften. Diese Zukunftsstädte wären von kleinen biodiversen landwirtschaftlichen Betrieben umgeben, die gesunde Obst- und Gemüsesorten produzieren würden. Unzählige wilde Insekten würden die Bestäubung übernehmen, Schädlinge würden von einer Armee natürlicher Feinde in Schach gehalten, und Myriaden von Bodenorganismen würden das Erdreich durchwühlen, für einen gesunden Boden sorgen und die Kohlenstoffvorräte erhalten.

Abseits der Städte böten Renaturierungsprojekte den Menschen die Möglichkeit, in ihrer Freizeit die Natur zu erkunden: Biberdämme in Feuchtgebieten würden von Libellen und Schwebfliegen nur so wimmeln, in üppigen Blumenwiesen und einem Mosaik aus Wäldern herrschte reges Leben. Das mag wie reine Fantasie klingen, aber unser Planet böte genügend Platz dafür, dass alle Menschen ein erfülltes Leben führen und sich gesund ernähren könnten. Wir können die Erde in einen lebendigen, grünen Ort verwandeln. Wir müssen nur lernen, mit der Natur zu leben, als Teil von ihr, nicht von ihr getrennt. Und der erste Schritt in diese Richtung besteht darin, dass wir uns um die Insekten kümmern, um all die kleinen Lebewesen, die diese unsere Welt am Laufen halten.

TEIL I

Warum Insekten so wichtig sind

Ich fürchte, die meisten Menschen mögen Insekten nicht besonders. Ja ich würde sogar noch weiter gehen: Ich glaube, die meisten Menschen verabscheuen Insekten und haben Angst vor ihnen. Oft wird von »Krabbelgetier« oder »Ungeziefer« gesprochen. Für viele von uns sind diese Begriffe mit ekligen, lästigen kleinen Biestern verbunden, die im Schmutz leben und Krankheiten verbreiten. Immer mehr Menschen, die in Großstädten aufwachsen, kommen in ihrer Kindheit kaum noch mit Insekten in Berührung, wenn man mal von Stubenfliegen, Stechmücken und Kakerlaken absieht. Und deshalb ist es vielleicht gar nicht überraschend, dass Insekten oftmals Angst auslösen. Die meisten von uns fürchten sich vor dem Unbekannten, Fremden. Folglich ist nur wenigen Menschen bewusst, wie absolut notwendig Insekten für unser eigenes Überleben sind. Und noch weniger Leute erkennen die wunderbare Klugheit, die geheimnisvolle Faszination dieser Wesen. Ich möchte die Menschen dazu bringen, Insekten zu lieben oder zumindest zu respektieren. Dies betrachte ich als meine Mission und möchte in meinem Buch erläutern, warum wir schon Kinder dazu anhalten sollten, diese winzigen Kreaturen, die so unendlich wichtige Aufgaben erfüllen, zu hegen und zu pflegen.

1

Eine kurze Geschichte der Insekten

Beginnen wir ganz am Anfang. Insekten gibt es schon sehr, sehr lange. Ihre Vorfahren entwickelten sich im Urschlamm der Meeresböden, vor einer halben Milliarde Jahren — seltsame gepanzerte Kreaturen, wissenschaftlich Arthropoden genannt (das heißt Gliederfüßer), mit einem Außenskelett und gegliederten Beinen. Die wenigen Fossilien, die uns aus jener Zeit vorliegen, etwa die Fundstücke aus dem berühmten Burgess-Schiefer in den kanadischen Rocky Mountains, geben uns einen fantastischen Einblick in jene Urwelt. Die Mannigfaltigkeit der versteinerten Insekten ist enorm. Viele davon sind, was ihren Körperbau oder die Anzahl und Form ihrer Gliedmaßen, Augen und anderer rätselhafter Körperteile betrifft, mit nichts vergleichbar, was wir heute kennen. Als hätte Mutter Natur zufällig ein erfolgreiches Konzept entwickelt und damit spielerisch weiter experimentiert, so wie ein Kind immer wieder neue Möglichkeiten ausprobiert, mit seinem Metallbaukasten ein Fantasiewesen zusammenzuschrauben. Zum Beispiel war das treffenderweise Hallucigenia genannte Tier eine wurmähnliche Kreatur, von der man ursprünglich annahm, sie habe sich auf langen, stachelartigen Beinen fortbewegt und auf dem Rücken eine bizarre Frisur aus wehenden Tentakeln getragen — doch in Illustrationen der jüngsten Zeit wurde dieses Wesen einfach umgedreht, sodass es jetzt auf den Tentakeln läuft und die Stacheln womöglich seiner Verteidigung dienten. Ein anderes Tier, Opabinia, verfügte über fünf an Stielen sitzende Augen und eine einzige hummerartige Klaue, die dem Kopf entsprang; wogegen Leanchoilia, eine asselartige Kreatur, vorn mit zwei langen, armartigen Gliedmaßen ausgestattet war, die sich jeweils in drei Fühler teilten. Dann gab es da noch Anomalocaris, ein Geschöpf, das man ursprünglich für drei verschiedene Tiere gehalten hatte — erstens ein garnelenartiges Wesen, zweitens eine Qualle und drittens eine Art Seegurke. Doch inzwischen nimmt man an, dass diese drei Teile zu einem einzigen Lebewesen gehörten und es sich bei der vermeintlichen Seegurke um den Körper, bei der Qualle um die Mundwerkzeuge und bei der garnelenartigen Kreatur um eins der beiden Beine handelte. Mit einer Länge von etwa 50 Zentimetern war Anomalocaris das größte bislang beschriebene Fossil aus dem Burgess-Schiefer. Über die Verhaltensweisen und Lebenszyklen dieser kleinen Seemonster, die vor fünfhundert Millionen Jahren lebten, können wir nur spekulieren. Die Urmeere wimmelten von diesen bizarren, wundervollen Wesen, heute aber sind sie alle ausgestorben, auch wenn einige ihrer Nachfahren sicherlich noch in unseren Meeren existieren.

Fest steht jedoch, dass sich diese frühen Arthropoden versuchshalber bereits an Land wagten, vielleicht auf der Flucht vor Konkurrenten und Verfolgern oder auf der Jagd nach Beute.

Dass die Arthropoden über ein Außenskelett verfügten, erwies sich an Land als vorteilhaft: Die meisten Meereswesen wie Quallen und Meeresschnecken können sich nämlich nur im Wasser fortbewegen und zappeln hilflos am Strand, wenn sie von einer Welle ans Ufer gespült werden. Diese frühen Arthropoden jedoch konnten sich mithilfe ihres starren Außenskeletts an Land fortbewegen und entfernten sich auf ihren Erkundungsgängen immer weiter vom Wasser. Schließlich begründeten sie die erfolgreichste Dynastie, die die Erde je gesehen hat. Bis zum heutigen Tag sind Insekten die mit Abstand erfolgreichsten Landwesen, wenn man sie an der Zahl der Arten und Individuen misst (und nicht etwa, wie es bei den Menschen der Fall ist, an ihrer Fähigkeit, den Planeten zu zerstören).

Vor vielleicht 450 Millionen Jahren erprobten viele verschiedene Stammlinien von Arthropoden das Leben an Land. Frühe Arachniden schleppten sich aus dem Meer, um zu Spinnen, Skorpionen, Zecken und Milben zu werden — aus menschlicher Sicht vielleicht nicht die glamourösesten Tiere, aber auf ihre Art jedenfalls sehr erfolgreich. Doppelfüßer spazierten gemächlich an Land und okkupierten schattige, feuchte Habitate, ernährten sich bescheiden von verfaulendem organischem Material im Boden, unter Baumstämmen und Steinen, wo sie bis heute friedlich im Verborgenen leben. Dorthin wurden die Doppelfüßer von ihren ausgesprochen räuberischen und sehr viel schnelleren Verwandten, den Tausendfüßlern, verfolgt, die gleichfalls im Boden und an anderen dunklen feuchten Orten existieren.

Tiere aus dem Burgess-Schiefer, die vor fünfhundert Millionen Jahren im Meer gelebt haben: Zu diesen bizarren Kreaturen gehören viele frühe Arthropoden, Vorfahren der Insekten. Schwämme: Vauxia (1), Choia (2), Pirania (3); Brachiopoden: Nisusia (4); Vielborster: Burgessochaeta (5); Priapswürmer: Ottoia (6), Louisella (7); Trilobiten: Olenoides (8); weitere Arthropoden: Sidneyia (9), Leanchoilia (10), Marrella (11), Canadaspis (12), Molaria (13), Burgessia (14), Yohoia (15), Waptia (16), Aysheaia (17); Mollusken: Scenella (18); Stachelhäuter: Echmatocrinus (19); Chordaten: Pikaia (20); sowie Haplophrentis (21), Opabinia (22); Lophophorata: Dinomischus (23); Proto-Anneliden: Wiwaxia (24), und der Anomalocaride Laggania cambria (25). Aus Wikicommons https://com​mons.wikimedia.org/wiki/File:Burgess_community.gif.

Einige Krebstiere (Krabben, Hummer, Garnelen usw.) versuchten es zwar gleichfalls mit dem Leben an Land, aber die meisten schafften es nicht. Diese Gruppe existiert mit unglaublich vielen Arten bis zum heutigen Tag in unseren Ozeanen, doch ihre erfolgreichste terrestrische Vertreterin ist die bescheidene Assel, auf ihre Art ein liebenswertes und wichtiges Tier, das jedoch keinen ernsthaften Anspruch auf die Weltherrschaft erhebt.

Die frühen Arthropoden, die sich an Land wagten, wie etwa die heutigen Asseln und Tausendfüßler, lebten vermutlich auf feuchte Milieus beschränkt: am Ufer, im Schlamm, unter Steinen oder in Moosbüscheln. Wassertiere sterben an Land meist schnell an Dehydration, vor allem so kleine Tiere, wie es die meisten Arthropoden nun mal sind. Ob Erkundungsgänge an Land erfolgreich sind, hängt maßgeblich von ihrer Imprägnierung ab. Spinnen haben das sehr gut gelöst, indem sie als äußerste Hülle eine hauchdünne Schicht aus wachsartigen Substanzen besitzen, die sie befähigt, selbst in kargsten, wasserärmsten Regionen zu überleben; ich habe schon Spinnen mitten in der Sahara auf einem dürren, unbelaubten Strauch geduldig in ihren zarten Netzen sitzen sehen. Tatsächlich meisterten das Leben an Land aber die Insekten. Ihre Ursprünge lassen sich nicht exakt bestimmen:

Man nimmt an, dass sich terrestrische Insekten vor etwa vierhundert Millionen Jahren entwickelt haben. Vielleicht stammen sie von einem Vorfahren unserer Krebse ab, vielleicht von einem Tausendfüßler, viel wahrscheinlicher aber von einer Gruppe Ur-Arthropoden, die weder bis heute überlebt haben, noch bisher in Fossilien gefunden wurden.*1

Wie aber definieren oder identifizieren wir ein Insekt? Die Antwort lautet, dass alle Insekten bestimmte Charakteristika aufweisen, die sie von anderen Gliederfüßern unterscheiden. Ihr Körper ist in drei Abschnitte gegliedert: Kopf, Thorax und Abdomen. Im Gegensatz zu allen anderen Arthropodengruppen verfügen Insekten über sechs am Thorax sitzende Beine. Genau wie die Spinnen haben auch Insekten eine wasserdichte Oberhaut entwickelt, die mit wachsartigen, öligen Substanzen versiegelt ist.

Mit dieser Grundausstattung machten sich Insekten auf, terrestrische Lebensräume zu erobern, wären aber vermutlich nicht weit gekommen, hätte nicht ein weiterer riesiger evolutionärer Schritt entscheidend zu ihrem globalen Erfolg beigetragen. Eines der frühen Insekten erhob sich nämlich in die Lüfte. Einige primitive flugunfähige Insekten haben bis zum heutigen Tag überlebt — die Silberfischchen sind vielleicht noch die bekanntesten (dennoch quasi kaum bekannt oder erforscht). Jene Insekten jedoch, die fliegen konnten, traten ihren Siegeszug an.

Dass Tiere flugfähig wurden, hat sich in den dreieinhalb Milliarden Jahren seit Beginn des Lebens auf der Erde wohl nur viermal ereignet. Die Insekten waren vor etwa 380 Millionen Jahren die Pioniere der Luft (gefolgt von den Flugsauriern vor 228 Millionen Jahren, den Vögeln vor etwa 150 Millionen Jahren und den Fledermäusen vor etwa 60 Millionen Jahren). 150 Millionen Jahre lang hatten die Insekten den Himmel ganz für sich. Es ist nicht klar, wie sich die Flugfähigkeit entwickelte, doch eine weit verbreitete Theorie besagt, dass Flügel ursprünglich Flügelscheiden waren, wie man sie heute noch bei den Nymphen der Eintagsfliegen sehen kann. Anfangs haben diese Flügelanlagen vielleicht nur das Gleiten erleichtert, aber irgendwann wurden sie dann frei beweglich und setzten zum ersten Flug aus eigener Kraft an.

Fliegen zu können bringt entscheidende Vorteile. Fluginsekten können landgebundenen Räubern entfliehen und sind mobiler bei der Nahrungs- oder Partnersuche. Auch Insektenwanderungen sind möglich, und so legen Schmetterlinge wie der Amerikanische Monarchfalter oder der Distelfalter mittlerweile alljährlich Tausende von Meilen zurück, um der Winterkälte zu entfliehen. Für Asseln oder Tausendfüßler sind Wanderungen hingegen keine realistische Option.

Mit ihrer neu entdeckten Superkraft vermehrten sich die Fluginsekten im Karbon (das vor etwa 359 Millionen Jahren begann und vor etwa 299 Millionen Jahren endete). Es traten viele neue Insektengruppen in Erscheinung, einschließlich der nicht sehr flugtüchtigen Gottesanbeterinnen, Kakerlaken und Grashüpfer sowie eleganteren Fliegern wie etwa Eintagsfliegen und Libellen.

Während die Insekten eifrig fliegen lernten, ruhten sich auch die Pflanzen nicht auf ihren Lorbeeren aus. Auch sie hatten eine bessere Imprägnierung ihrer Blätter entwickelt und waren im Konkurrenzkampf um das Licht immer höher gewachsen, sodass Wälder aus gigantischen Baumfarnen entstanden (von denen einige, als sie in den morastigen Waldboden sanken, zu Steinkohlefossilien wurden). Obwohl es zu diesem Zeitpunkt bereits Amphibien und die ersten Eidechsen gab, wurde das terrestrische Leben wohl von Insekten dominiert. Die Luft war damals sauerstoffreicher als heute, was einer der Gründe dafür gewesen sein mag, dass Insekten viel größer wurden als heute. Könnte man in jene urzeitlichen Wälder zurückreisen, würde man zwischen den Bäumen Meganeura umhersegeln sehen — riesige libellenartige Insekten mit einer Flügelspannweite von über 70 Zentimetern!

Auch wenn die Flugfähigkeit die wichtigste Neuerung gewesen sein mag, hatten die Insekten doch noch ein paar mehr Tricks im Ärmel. Zunächst, kurz nach Ende des Karbons vor etwa 280 Millionen Jahren, gelang einer Insektenart die Metamorphose, also der bemerkenswerte Vorgang, dass sich eine unreife Larve zu einem adulten Insekt mit einer vollkommen anderen Erscheinung entwickelt; von der Raupe zum Schmetterling, von der Made zur Fliege.

Die Metamorphose ist nicht weniger magisch als die märchenhafte Verwandlung eines Froschs in einen Prinzen, nur ist sie eben ganz real und ereignet sich ständig in unserer unmittelbaren Umgebung. Stellen Sie sich einmal vor, Sie seien eine ausgewachsene Raupe. Sie verdauen ihre letzte Blattmahlzeit und umspinnen sich mit einem Seidenbausch, der Sie an einen Stängel fixiert. Dann streifen Sie Ihre alte Haut ab, unter der eine neue, glatte, braune Haut zum Vorschein kommt. Sie haben jetzt keine Augen oder Glieder mehr und verfügen auch nicht mehr über Öffnungen nach außen, bis auf winzige, Tracheen genannte Löcher zum Atmen. Sie sind völlig hilflos, und dies wochenlang, bei manchen Arten sogar monatelang. Innerhalb der glänzenden Puppenhaut löst sich Ihr Körper auf, denn Ihre Gewebs- und Organzellen sind darauf programmiert, abzusterben und sich aufzulösen, bis die Puppenhaut nur noch eine Art Suppe enthält. Einige Cluster und embryonale Zellen bleiben jedoch übrig; sie teilen und vermehren sich, verwandeln sich in vollkommen neue Organe und Strukturen und bescheren Ihnen einen nagelneuen Körper. Sobald dieser neue Körper vollendet und der richtige Zeitpunkt gekommen ist, reißt die Puppenhaut auf, unter der sich eine neue Haut gebildet hat. Jetzt verfügen Sie über große Augen, einen langen einrollbaren Saugrüssel zum Trinken und wunderschöne bunt schillernde Flügel. Jetzt muss erst einmal Blut in das Flügelgeäder gepumpt werden, damit sich die Flügel entfalten und aushärten können.

Es wird viel darüber diskutiert, wie es zu diesem erstaunlichen Phänomen kam. Seit Neuestem gibt es sogar die etwas bizarre Theorie, dass sich die Metamorphose durch die äußerst erfolgreiche Paarung zwischen einem schmetterlingsähnlichen Fluginsekt und einem Stummelfüßer (einem raupenähnlichen Verwandten der Arthropoden) entwickelt haben könnte. Eine plausiblere Theorie lautet, Raupen seien dadurch entstanden, dass eine Insektenlarve frühzeitig aus dem Ei schlüpfte. Wie auch immer, die Metamorphose ist ein bemerkenswertes Phänomen, und diejenigen Insekten, die über diese Fähigkeit verfügen, haben sich zu den erfolgreichsten Insekten überhaupt entwickelt: Fliegen, Käfer, Schmetterlinge und Falter, Wespen, Ameisen und Bienen.

Oberflächlich betrachtet scheint es vielleicht nicht sonderlich plausibel, warum die (zugegebenermaßen beeindruckende) Fähigkeit, sich aus einer Made in eine Fliege zu verwandeln, so nützlich sein sollte. Letztlich mutet so eine Verwandlung doch wahnsinnig anstrengend an. Wer schon einmal Schmetterlinge aufgezogen hat, kann bezeugen, dass es für die Insekten ein schwieriges und gefährliches Manöver ist, aus der Puppe zu schlüpfen; oft geht das sogar schief, wenn sich zum Beispiel die Flügel nicht richtig entfalten und das arme flugunfähige Insekt dann keine Überlebenschancen hat. Eine Theorie, warum die Metamorphose eine so erfolgreiche Strategie darstellt, lautet, dass sie unreifen Insektenstadien ebenso wie adulten Tieren erlaubt, sich auf bestimmte Aufgaben zu spezialisieren, zu denen sie genau den Körper brauchen, den der Plan für diesen Zweck vorsieht.*2 Die Larve ist eine Fressmaschine und besteht im Grunde nur aus Mund und Anus, die durch einen Darm verbunden sind. Die Larve muss sich nicht schnell oder über größere Entfernungen hinweg fortbewegen können, da ihre Mutter die Eier ohnehin an einem Ort abgelegt hat, der reichlich Futter bietet. Larven haben nur rudimentäre Sinnesorgane, können kaum sehen und sind nicht mit Fühlern ausgestattet. Die adulten Insekten wiederum sind oft sehr kurzlebig und fressen höchstens hin und wieder etwas Nektar zur Energiezufuhr.*3 Ihre Hauptaufgabe besteht darin, einen Partner oder eine Partnerin zu finden, um sich zu paaren und, im Falle der Weibchen, Eier zu legen. Bei manchen Arten finden auch Wanderungen statt. Die adulten Insekten müssen mobil sein und scharfe Sinne haben, damit sie größere Entfernungen zurücklegen und den potenziellen Paarungspartner, die potenzielle Paarungspartnerin sehen, riechen oder hören können. Deshalb verfügen sie häufig über große Augen und lange Fühler. Oft leuchten sie auch in kräftigen Farben, um den potenziellen Paarungspartner zu beeindrucken.

Betrachten wir zum Vergleich einmal die vielen Insekten, die keine Metamorphose durchlaufen. Grashüpfer oder Kakerlaken zum Beispiel. Ein Grashüpfer oder eine Kakerlake im Entwicklungsstadium sind im Wesentlichen Miniversionen des adulten Insekts, mit kleinen »Flügelknospen« statt funktionsfähigen Flügeln. Im Gegensatz zu jenen Insekten, die eine Metamorphose durchlaufen, muss ein junger Grashüpfer mit adulten Grashüpfern um Nahrung kämpfen, was einer Made oder Raupe erspart bleibt. Der Körper eines Grashüpfers ist letztlich ein gefährdetes Gebilde, das zu allem imstande sein muss: zu fressen, zu wachsen, sich zu verbreiten, einen Paarungspartner und eine geeignete Stelle für die Eiablage zu finden. Fairerweise muss man sagen, dass Grashüpfer das ziemlich gut hinkriegen — jeder afrikanische Bauer, der schon einmal einen Schwarm hungriger Heuschrecken erlebt hat, kann das bezeugen —, doch was die Zahl der Arten angeht, werden sie von ihren die Metamorphose durchlaufenden Verwandten übertroffen. Es gibt etwa 20.000 bekannte Orthoptera-Arten (Grashüpfer und ihre Verwandten) und 7400 Blattodea-Arten (Kakerlaken). Im Gegensatz dazu gehören zu den Insekten, die eine Metamorphose durchlaufen, 125.000 Diptera-Arten (Fliegen), 150.000 Hymenoptera-Arten (Bienen, Ameisen und Wespen), 180.000 Lepidoptera-Arten (Schmetterlinge und Falter) und erstaunliche 400.000 Coleoptera-Arten (Käfer). Zusammengenommen bilden diese vier Insektengruppen ungefähr 65 Prozent aller bekannten Arten auf unserem Planeten.

Abgesehen von der Flugfähigkeit, sowie der Magie der Metamorphose, bestand das letzte Kunststück, das die Insekten im Lauf der Evolution vollbrachten, darin, komplexe Staaten zu entwickeln, in denen Teams von Individuen effektiv zusammenarbeiten, fast so, als seien sie ein einziger großer »Superorganismus«. Termiten, Wespen, Bienen und Ameisen folgen dieser Strategie, indem sie gemeinsam in einem Nest leben, mit einer Königin oder einer kleinen Anzahl von Königinnen. Die Königinnen sind mehr oder weniger allein fürs Eierlegen zuständig, während ihre Töchter, die Arbeiterinnen, zahlreiche spezialisierte Aufgaben übernehmen. Sie kümmern sich etwa um die Königin, füttern die Jungen, verteidigen das Nest und so weiter. Jedes Insekt spezialisiert sich auf eine ganz bestimmte Aufgabe. In manchen Fällen haben die Insekten sogar einen speziell an diese Aufgabe angepassten Körper. Ein Beispiel dafür sind die mit großen Kiefern ausgestatteten Soldatinnen, deren Sache es manchmal auch ist, das Nest gegen Angriffe großer Raubtiere, etwa Ameisenbären oder Erdferkel, zu verteidigen. Gemäß einer Schätzung des berühmten amerikanischen Biologen und Ameisenexperten E. O. Wilson gibt es ungefähr zwischen einer und zehn Billiarden Ameisen auf der Welt (also zwischen 1.000.000.000.000.000 und 10.000.000.000.000.000 Individuen). In manchen terrestrischen Ökosystemen machen sie 25 Prozent der gesamten tierischen Biomasse aus. Das Gesamtgewicht der Ameisen auf unserem Planeten entspricht, grob geschätzt, dem globalen Gesamtgewicht der Menschen. Es kommen ja allein schon eine Million Ameisen auf einen Menschen. Ein Alien, der während der letzten 400 Millionen Jahre auf die Erde hinabgeschaut hätte, wäre (mal abgesehen von den letzten 200 Jahren) zu dem Schluss gelangt, die Erde werde von Insekten beherrscht.

»Femme Fatale«-Leuchtkäfer

Leuchtkäfer, in manchen Ländern auch Glühwürmchen genannt, gehören zweifellos zu den zauberhaftesten Insekten, die es gibt. Es handelt sich um eine Gruppe von Käfern, die am Unterteil ihres Hinterleibs Leuchtorgane besitzen. Das Licht dient dazu, dass männliche und weibliche Tiere zur Paarung zueinanderfinden, und so leuchten die verschiedenen Arten grün, gelb, rot oder blau. Manche Arten senden Dauerlicht aus, während andere in jeweils arttypischer Weise blinken, das heißt, die Signale unterscheiden sich je nach Spezies in Länge und Rhythmus. Beim europäischen Glühwürmchen zum Beispiel sendet das Weibchen ein sanftes grünes Dauerlicht aus, das die Männchen anlockt. Bei vielen anderen Spezies werden während des Flugs kurze blinkende Lichtsignale ausgesandt, die dem menschlichen Auge im Dunkeln wie ein Lichtstreif erscheinen, weshalb diese Insekten im Englischen noch einen weiteren Namen haben: lightning bugs (lightning = Blitz). Manche Glühwürmchen in den USA und im tropischen Asien leuchten synchron und erzeugen das reinste Lichtspektakel, wenn Tausende Insekten unisono ihren Hinterleib blinken lassen.

Glühwürmchen sind Räuber und ernähren sich je nach Spezies von anderen Insekten, Würmern oder Schnecken. Einige weibliche Glühwürmchen beherrschen sogar folgenden Trick: Sie ahmen die blinkenden Weibchen einer anderen Spezies nach, und zwar nicht um einen Paarungspartner, sondern um ihre Abendmahlzeit anzulocken. Reagiert ein unglückseliges verliebtes Männchen auf das Signal, wird es prompt verspeist, weshalb diese Weibchen manchmal als Femme Fatale Fireflies bezeichnet werden.

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Die Bedeutung von Insekten

Gäbe es keine Menschen mehr, würde sich die Erde zu jenem wunderbaren Zustand der Balance zurückentwickeln, der vor 10.000 Jahren herrschte. Verschwänden jedoch die Insekten, würde die Natur ins Chaos stürzen.

E. O. Wilson, amerikanischer Biologe

Im Herbst 2017 gab ich einem australischen Radiosender ein Live-Telefoninterview zum Thema Insektensterben. Zu Beginn fragte der Moderator munter: »Dass es immer weniger Insekten gibt, ist doch gut, nicht wahr?« Ich bin ziemlich sicher, dass er dies augenzwinkernd meinte, da ich mich aber 12.000 Kilometer entfernt am anderen Ende der Leitung befand, konnte ich mir nicht ganz sicher sein. Wie auch immer die Frage gemeint war, sie reflektiert die Ansicht vieler Menschen, Insekten seien in erster Linie Schädlinge und Ungeziefer, das Krankheiten verbreitet, sticht und beißt und einfach nur extrem lästig ist. Kaum jemand beklagt sich darüber, dass immer seltener Insekten auf seiner Windschutzscheibe kleben. Heutzutage leben die meisten Menschen in Städten (der Weltbank zufolge wohnen 83 Prozent der britischen Bevölkerung in einer Großstadt, weltweit sind es 55 Prozent, wobei diese Zahl rapide wächst); das heißt, wenn wir in Parks und Gärten nicht ganz bewusst nach Insekten Ausschau halten, begegnen wir höchstwahrscheinlich nur denjenigen, die in unsere Häuser und Wohnungen eindringen, einschließlich Kakerlaken, Stuben- und Schmeißfliegen, Kleidermotten und Silberfischchen. Das sind alles wunderbare, faszinierende Wesen, aber man muss sich, wie bei einem guten Single-Malt-Whisky, erst einmal Zeit nehmen, um richtig mit ihnen vertraut zu werden. Dann erst zeigen sich ihre Vorzüge in aller Deutlichkeit. Für die meisten von uns sind Insekten unwillkommene Gäste, die man so schnell wie möglich vertreibt oder tötet. Einen Moment lang verblüffte mich die Frage des australischen Interviewers, außerdem war ich abgelenkt, weil ich mich gerade in einer öffentlichen Toilette befand und genau in dem Moment jemand hereinkam.

Ich sollte vielleicht anmerken, dass ich Radiointerviews normalerweise nicht von öffentlichen Toiletten aus führe. Doch damals war ich gerade auf dem Weg nach Dorchester, wo ich am nächsten Tag einen Vortrag halten sollte. Ich saß beim Mittagessen in einem Pub, als mich übers Handy diese dringende Interviewanfrage erreichte. Im Pub lief laute Musik, draußen regnete es in Strömen, weshalb mir die Toilette als die ruhigste und trockenste Option erschien. Nachdem mich die Eingangsfrage, wie gesagt, kurz verblüfft hatte, konzentrierte ich mich und konterte routiniert mit einer Schilderung der vielen lebensnotwendigen Aufgaben unserer Insekten. Telefoninterviews sind immer unangenehm, weil man den Gesichtsausdruck seines Gegenübers nicht sieht und keine Ahnung hat, ob auch alles wirklich klar rüberkommt — aber zumindest der Mann, der am Pissoir in der anderen Ecke stand, nickte mir ermutigend zu.

Fehlende Begeisterung für Insekten findet man sicherlich nicht nur bei australischen Radiomoderatoren. Kürzlich wurde der berühmte britische Arzt und Fernsehmoderator Lord Winston in BBC Radio zum globalen Insektensterben befragt. Seine Antwort? »Es gibt ziemlich viele Insekten, die wir auf diesem Planeten eigentlich gar nicht brauchen.« Warum man ihn ein Thema kommentieren ließ, von dem er keine Ahnung hat, ist mir schleierhaft, aber in unseren seltsamen Zeiten scheint es üblich zu sein, Prominente ungeachtet ihrer Qualifikation oder Erfahrung um ihre Meinung zu bitten. Jedenfalls spiegelt seine Antwort die Haltung vieler Menschen wider.

Es sollte uns Ökologen und Entomologen alarmieren, dass es uns nicht gelungen ist, einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, welch lebensnotwendige Bedeutung die Insekten für uns alle haben: Sie machen den Hauptteil aller bekannten Arten auf unserem Planeten aus, sodass durch einen starken Rückgang der Insekten die generelle biologische Vielfalt erheblich abnehmen würde. Darüber hinaus sind Insekten schon allein aufgrund ihrer Diversität und gigantischen Menge zwangsläufig eng in alle Land- und Süßwassernahrungsketten und -netze eingebunden. Raupen, Blattläuse, Köcherfliegenlarven und Grashüpfer sind zum Beispiel alle Herbivoren und verwandeln pflanzliches Material in leckeres Insektenprotein, das von größeren Tieren viel leichter verdaut werden kann. Die nächste Stufe der Nahrungskette besetzen fleischfressende Insekten wie Wespen, Laufkäfer und Fangschrecken, welche die Herbivoren erbeuten. Von ihnen wiederum ernährt sich eine Vielzahl von Vögeln, Fledermäusen, Spinnen, Reptilien, Amphibien, kleinen Säugetieren und Fischen, die kaum etwas zu essen fänden, wenn es keine Insekten gäbe. Und auch Top-Prädatoren wie Sperber, Reiher und Fischadler würden ohne Insekten verhungern, da ihre Beute aus insektenfressenden Staren, Fröschen, Spitzmäusen oder jungen Lachsen besteht.

Verschwänden Insekten aus der Nahrungskette, wäre dies nicht nur für die Tierwelt eine Katastrophe. Es hätte auch direkte Konsequenzen für die menschliche Nahrungsversorgung. Die meisten Europäer und Nordamerikaner ekeln sich bei dem Gedanken, Insekten zu verzehren, was eigentlich merkwürdig ist, da wir doch gerne Garnelen verspeisen (deren Körperbau ganz ähnlich ist: ein in Segmente gegliederter Körper mit einem Außenskelett). Unsere Urahnen haben zweifellos Insekten verzehrt. Und auch heutzutage ist das durchaus an der Tagesordnung. In manchen Ländern machen Insekten sogar einen bedeutenden Anteil des Speiseplans aus. Ungefähr 80 Prozent der Weltbevölkerung verzehren regelmäßig Insekten, vor allem in Südamerika, Afrika und Asien und bei den indigen Völkern Ozeaniens. Ungefähr zweitausend verschiedene Insektenarten dienen dem menschlichen Verzehr, einschließlich Raupen, Käferlarven, Ameisen, Wespen, Schmetterlingspuppen, Wasserwanzen, Grashüpfer und Grillen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: In Südafrika werden alljährlich schätzungsweise 1600 Tonnen Mopane-»Würmer« (große, saftige Raupen einer Pfauenspinnerart) für den menschlichen Verzehr verkauft und auch in großen Mengen privat gesammelt und verspeist. Im benachbarten Botswana erzielt der Handel mit Mopane-Würmern einen Jahresumsatz von acht Millionen Dollar. Die Raupen werden meist getrocknet und als knusprige Snacks genossen, in Dosen konserviert oder frisch mit Tomaten und gebratenen Zwiebeln zubereitet. Thailand exportiert jährlich Konserven von Seidenraupenpuppen im Wert von 50 Millionen Dollar. In Japan werden Reisheuschrecken (eine Art Grashüpfer) in großem Stil als Delikatesse verkauft. Ein Lieblingsgericht des verstorbenen Kaisers Hirohito waren gekochte Wespen mit Reis. In Mexiko werden weiße Maguey-»Würmer« (die Raupen des Tequila-Riesenskippers und ahuahutle (Wasserwanzen-Eier, auch als »Mexikanischer Kaviar« bekannt) massenhaft von Hand geerntet und sogar in die USA und nach Europa exportiert. Allerdings ging der Handel mit diesen beiden Insektenarten in den letzten Jahren zurück, da es durch Übersammlung und Wasserverschmutzung immer weniger Tequila-Riesenskipper und Wasserwanzen gab.

Dies alles sind Beispiele für den Verzehr in der Natur gesammelter Insekten, aber sehr vieles spricht dafür, dass wir Insekten ganz gezielt als Alternative zu Schweinen, Kühen und Hühnern züchten sollten. Bei der konventionellen Viehhaltung werden Unmengen von Energie verschwendet, die diese warmblütigen Tiere zur Regulation ihrer Körpertemperatur benötigen. Also findet hier keine effiziente Umwandlung pflanzlichen Materials in menschliche Nahrung statt — was bei Kühen noch stärker ins Gewicht fällt als bei Hühnern. Für ein Kilo essbares Gewicht benötigen Kühe nämlich ganze 25 Kilogramm Pflanzennahrung. Da sind Insekten als Kaltblüter wesentlich effizienter: Die Grille zum Beispiel benötigt für ein Kilo essbares Gewicht nur 2,1 Kilo Pflanzennahrung, ist also zwölfmal effizienter. Auch in anderer Hinsicht sind Insekten viel effizienter als Kühe: Pro Kilo essbaren Gewichts braucht eine Kuh 55 Mal mehr Wasser und 14 Mal mehr Platz als eine Grille. Darüber hinaus sind Insekten ganz klar die gesündere Proteinquelle, da sie einen hohen Anteil an essenziellen Aminosäuren und einen viel niedrigeren Anteil an gesättigten Fettsäuren aufweisen als Rinder.

Insekten bieten als Nahrungsmittel jedoch noch weitere Vorteile. Zum Beispiel teilen Insekten, soweit bekannt, keine Krankheiten mit dem Menschen, weshalb unser Infektionsrisiko beim Insektenverzehr wesentlich geringer ist als beim Verzehr von Wirbeltieren (man denke an Rinderwahn und Vogelgrippe oder das Corona-Virus, das vermutlich von Fledermäusen oder Schuppentieren stammt, die in der chinesischen Medizin eingesetzt werden).

Im Gegensatz zu Kühen produzieren die meisten Insekten wenig oder gar kein Methan (ein sehr starkes Treibhausgas) und wachsen wesentlich schneller als Säugetiere.*4 Vermutlich gäbe es auch keine Probleme mit artgerechter Tierhaltung, da bei den meisten Insekten eine hohe Besatzdichte ohne Leiden für die Tiere möglich sein dürfte und Insekten wohl ohnehin nicht so leidensfähig sind wie Kühe (obwohl ich Leute kenne, die da ganz anderer Meinung sind).

Zur Ernährung der zehn bis zwölf Milliarden Menschen, die im Jahr 2050 voraussichtlich auf unserem Planeten leben werden, sollten wir die Insektenzucht ernsthaft in Erwägung ziehen, da sie im Vergleich zur konventionellen Viehhaltung die nachhaltigere Option darstellt. Mein einziger Einwand gegen den Insektenverzehr besteht darin, dass mich der Geschmack bisher nicht überzeugt hat — bis auf schokolierte Ameisen, aber da hat mir wahrscheinlich nur die Schokolade geschmeckt. Allerdings habe ich erst wenige Insektenarten probiert und werde auf jeden Fall versuchen, vorurteilslos zuzugreifen, falls mir jemals gebratene Mopane-Würmer oder Mexikanischer Kaviar angeboten werden.

In westlichen Gesellschaften werden Insekten kaum jemals direkt verzehrt, indirekt aber durchaus, da wir regelmäßig Tiere verspeisen, die in der Nahrungskette eine Stufe höher stehen. Süßwasserfische wie Forellen und Lachs ernähren sich überwiegend von Insekten, was ebenso für Wildgeflügel (Rebhühner, Fasane, Perlhühner) gilt. In Japan machen Süßwasserfische wie Wagasaki und Aale einen beträchtlichen Anteil der menschlichen Ernährung aus. Da sich diese Fische ihrerseits überwiegend von Insekten ernähren, hängt auch die menschliche Nahrungsversorgung direkt von einem ausreichenden Bestand an Süßwasserinsekten ab. Dieser Zusammenhang wurde im Jahr 1993 deutlich, als einer der größten japanischen Seen, der Lake Shinji, mit Neonicotinoiden verseucht wurde, die von nahe gelegenen Feldern einsickerten. Es kam zu einem drastischen Rückgang der Fischpopulationen und dadurch zu dramatischen Einbrüchen in der lokalen Fischereiindustrie und zum Verlust Hunderter Arbeitsplätze. Der jährliche Durchschnittsertrag an Wagasaki fiel von 240 Tonnen im Zeitraum 1981 bis 1992 auf nur noch 22 Tonnen im Zeitraum von 1993 bis 2004, während der Aalfang in der gleichen Periode von 42 Tonnen auf 10,8 Tonnen zurückging.

Insekten fungieren jedoch nicht nur als Nahrungsmittel, sondern übernehmen in Ökosystemen viele weitere lebenswichtige Aufgaben. Zum Beispiel sind 87 Prozent aller Pflanzenarten auf Bestäubung angewiesen, die größtenteils durch Insekten erfolgt (bei Gräsern, Getreidepflanzen und Nadelgehölzen auch durch den Wind, bei manchen Pflanzen auch durch Fledermäuse). Bunte Blütenblätter, Blumenduft und Nektar locken Bestäuberinsekten an. Andernfalls würden Wildblumen keinen Samen mehr produzieren und aussterben. Es gäbe weder Kornblumen noch Mohn, weder Fingerhut noch Vergissmeinnicht mehr. Nicht nur würde unsere Welt immer farbloser, der Mangel an Bestäuberinsekten hätte noch viel verheerendere ökologische Folgen als den Verlust schöner Blumen. Würden die meisten Pflanzenarten keine Samen mehr produzieren und aussterben, dann hätte das zur Folge, dass auf dem Festland alle ökologischen Artengemeinschaften verarmen und sich grundlegend verändern würden, denn Pflanzen bilden die Basis jeder Nahrungspyramide.

Einmal ganz egoistisch aus rein menschlicher Perspektive betrachtet, wäre der Verlust von Wildblumen noch unsere geringste Sorge. Ein wesentlich größeres Problem bestünde darin, dass auch drei Viertel unserer Nutzpflanzen von Insekten bestäubt werden. Die Bedeutung der Insekten wird oft mit ihren Ökosystemleistungen erklärt. In monetären Werten ausgedrückt heißt das: Der jährliche Marktwert, der durch die Produktion bestäuberabhängiger Kulturpflanzen erzielt wird, liegt weltweit zwischen 235 bis 577 Milliarden Dollar (man kann dies nicht exakt berechnen, deshalb die große Differenz zwischen den beiden Zahlen). Aber vom finanziellen Aspekt einmal ganz abgesehen, wäre die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung ohne Bestäuberinsekten gefährdet. Es würden zwar noch genügend Kalorien produziert, um uns alle am Leben zu halten, da unsere Nahrung größtenteils aus windbestäubten Getreidearten wie Weizen, Hafer, Reis und Mais besteht. Aber wenn man sich ausschließlich von Brot, Reis und Haferbrei ernähren müsste, wäre die Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen massiv gefährdet. Man stelle sich einen Speiseplan ohne Erdbeeren, Paprika und Äpfel vor, ohne Gurken, Kirschen, schwarze Johannisbeeren, Kürbisse, Tomaten, Kaffee, Himbeeren, Zucchini, Stangenbohnen und Heidelbeeren, um nur einige Beispiele zu nennen. Es wird ohnehin schon weniger Obst und Gemüse produziert, als dies für eine gesunde Ernährung der gesamten Weltbevölkerung nötig wäre (und gleichzeitig zu viel Öl und Getreide). Ohne Bestäubung ließen sich nicht einmal mehr annähernd so viel Früchte und Gemüse produzieren, dass die von Ernährungsexperten empfohlenen »fünf Obst- und Gemüseportionen pro Tag« garantiert wären.

Insekten haben aber nicht nur eine wichtige Funktion als Bestäuber, sondern dienen darüber hinaus auch der Schädlingskontrolle (obwohl wir uns hier argumentativ im Kreis drehen, weil viele Schädlinge, die durch Insekten bekämpft werden, ja selber Insekten sind).*5 Und dennoch, gäbe es nicht Prädatoren wie Marienkäfer, Laufkäfer, Ohrwürmer, Florfliegen, Wespen, Schwebfliegen und viele andere Insekten, wären unsere Nutzpflanzen noch stärker von Schädlingsbefall betroffen, und wir müssten noch mehr Pestizide einsetzen. Ohne Bestäuberinsekten müssten wir uns auf die wenigen windbestäubten Nutzpflanzen konzentrieren; so aber wäre keine jährlich wechselnde Nutzung der Felder mehr möglich, wodurch das Schädlingsproblem noch größer würde.

Die Rolle der Insekten bei der Schädlingsbekämpfung ist ganz unspektakulär, manchmal auch grausam, und wird meist gar nicht richtig wahrgenommen. Wespen zum Beispiel rangieren in der menschlichen Beliebtheitsskala ziemlich weit unten, was aber vielleicht anders wäre, wenn die Leute wüssten, dass die meisten Wespenarten als Parasiten eine eminent wichtige Rolle bei der Reduktion von Schädlingen spielen.*6 In meinem eigenen Garten werden Kohlsorten — Weißkohl, Brokkoli, Blumenkohl — oft von den gefräßigen Raupen des Großen und Kleinen Kohlweißlings attackiert, die Löcher in die Blätter beißen und eine Kohlpflanze fast vollständig zerstören können: Dann bleibt nur noch der Stängel mit den zähen, ungenießbaren Blattnerven übrig. Glücklicherweise wird der Schaden dann meist durch die Ankunft von Cotesia glomerata eingedämmt; das sind ameisengroße Wespen mit schwarzem Leib und gelben Beinen. Die Weibchen verfügen über einen spitzen Legestachel, mit dem sie in jede der bedauernswerten Raupen Cluster von Eiern einbringen. Die entstehenden Larven fressen die Raupen von innen auf, brechen dann en masse hervor und hüllen den frischen Kadaver ihres Wirts in ein Gespinst winziger gelber Kokons. Und selbst die großen gelb-schwarz gestreiften Wespen, die uns im Spätsommer beim Picknick belästigen, sind viel nützlicher als allgemein bekannt. Sowohl die kleinen als auch die großen Wespen bestäuben Wildblumen und sind gefräßige Schädlingsvernichter, fressen zum Beispiel Blattläuse und Raupen; vielleicht sollten wir es ihnen nicht verübeln, wenn sie gelegentlich auch etwas von unserem Essen stibitzen.

Insekten leisten auch wertvolle Dienste bei der Eindämmung unerwünschter oder invasiver Pflanzen, etwa des Feigenkaktus in Australien. Feigenkakteen aus den Trockengebieten Nord- und Südamerikas wurden Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts als lebende Zäune für Viehweiden nach Australien eingeführt. In Spanien bin ich einmal in einen Feigenkaktus gefallen, als ich Papierwespen beobachten wollte. Seitdem hasse ich diese Pflanzen, deren spitze, mit Widerhaken versehene Stachel sich nur mühsam und schmerzhaft entfernen lassen. Deshalb erscheint mir die Idee, Weiden mit einer Feigenkaktushecke zu umhegen, ziemlich abwegig. Der Kaktus jedenfalls gab sich keineswegs mit der Umhegung der Weiden zufrieden, sondern geriet rasch außer Kontrolle und überwucherte in Queensland im Nordosten Australiens schließlich eine Fläche von 40.000 km² mit einem undurchdringlichen stacheligen Dickicht. Dann wurde im Jahr 1925 eine kleine graue Schmetterlingsart aus Südamerika eingeschleppt, Cactoblastis cactorum. Und diese sogenannte Kaktusmotte fraß sich in kürzester Zeit durch fast sämtliche Kakteen.

Insekten sind auch maßgeblich an der Zersetzung organischen Materials beteiligt — Laub, Totholz, Kadaver und Tierkot. Eine sehr wichtige Aufgabe, da so die Nährstoffe aufbereitet werden und erneut für das Pflanzenwachstum zur Verfügung stehen. Von diesen Destruenten oder Zersetzern bekommen wir meist gar nichts mit. Zum Beispiel enthält Gartenerde — und vor allem der Komposthaufen, falls man einen hat — höchstwahrscheinlich Millionen von Springschwänzen (Collembola). Diese winzigen primitiven Verwandten der Insekten, oft nicht mal einen Millimeter lang, wurden nach ihrer Fähigkeit benannt, sich auf der Flucht vor Fressfeinden mithilfe ihrer Furca hoch in die Luft zu katapultieren. Die Furca oder Sprunggabel liegt normalerweise flach am Unterleib an, doch im Notfall kann sich das Tier damit einhundert Millimeter weit wegkatapultieren. Das Heer dieser winzigen Hochspringer übernimmt eine wichtige Aufgabe: Sie zerlegen winzige Fragmente organischer Substanzen in noch kleinere Fragmente, die dann von Bakterien zersetzt werden, sodass Pflanzen die darin enthaltenen Nährstoffe verwerten können. Obwohl man gar nichts von ihnen bemerkt, bilden Springschwänze einen wichtigen Bestandteil jedes gesunden Bodens. Manche sehen erstaunlich niedlich aus — die rundlicheren Arten (Kugelspringer) ähneln, mit etwas Fantasie, winzigen, molligen Schäfchen.

Zersetzer werden also oft gar nicht bemerkt, doch wenn sie fehlen, kann dies massive Folgen haben, wie australische Viehbauern Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erfahren mussten. Dazu vorab eine kurze Erläuterung. Fast überall auf der Welt werden Kuhfladen nach kürzester Zeit von Insekten umschwärmt und sind im Nu zersetzt. Minuten, oft schon Sekunden, nachdem die Fladen aufs Gras geplatscht sind, werden von der unwiderstehlichen Duftfahne die ersten Kotfliegen und Mistkäfer angelockt. Kotfliegen legen ihre Eier in den Dung, und die rasch schlüpfenden Larven ernähren sich von der faulenden, bakterienreichen organischen Materie. Kotfliegen durchlaufen ihren kompletten Lebenszyklus in etwa drei Wochen. Manche Mistkäfer haben aquatische Vorfahren, und so schwimmen die ausgewachsenen Käfer mithilfe ihrer paddelartigen Beine durch den flüssigen frischen Dung. Die meisten Mistkäfer legen ihre Eier direkt in den Dungfladen, während andere in das darunterliegende Erdreich Gänge graben, die sie mit Kot füllen, damit sich dort die Larven entwickeln können. Manche formen auch Kotkugeln und rollen sie mehrere Meter von dem Fladen weg, um sie vor den Insektenschwärmen in Sicherheit zu bringen. Raubkäfer und Laufkäfer treffen ein, um ihrerseits die Dungfresser zu vertilgen, und es werden Vögel — etwa Krähen und Wiedehopfe — angelockt, die nach Insektenlarven suchen. Dadurch, dass sich all diese Tiere durch den Fladen wühlen, wird er aufgelockert und trocknet aus, bis er vollends zerbröselt und die enthaltenen Nährstoffe wieder für das Pflanzenwachstum zur Verfügung stehen.

Ganz abgesehen von der Nährstoffaufbereitung leistet diese effiziente Entsorgung des Dungs durch Insekten den Bauern einen zweiten wertvollen Dienst: Sie hat eine wichtige Funktion bei der Beseitigung von Darmparasiten des Viehs. Die Eier parasitärer Würmer werden von einem infizierten Tier ja mit dem Dung ausgeschieden, wodurch das Gras kontaminiert und von anderen Kühen oder Schafen aufgenommen wird. Durch die Zersetzung des Dungs werden auch die Eier dieser Parasiten vernichtet. Ironischerweise führen die gegen Parasitenbefall verabreichten Medikamente dazu, dass der Dung der betreffenden Tiere für Insekten toxisch wird, die Wiederaufbereitung des Dungs sich also verzögert, sodass die Medikamente genau das Problem verschärfen, das sie eigentlich behandeln sollten.

Im Gegensatz dazu sahen sich die ersten australischen Viehbauern im neunzehnten Jahrhundert mit dem Problem konfrontiert, dass es in Australien keine Insekten gab, die feuchten Dung zersetzen konnten. Angepasst an das trockene Klima produzieren australische Säugetiere — Beuteltiere wie Kängurus und Wombats — Exkremente, die eine völlig andere Konsistenz als Kuhdung aufweisen: kleine Kügelchen, harte Köttel. Im Lauf der Entwicklung hatten sich die australischen Mistkäfer angepasst und konnten sich von diesen Exkrementen ernähren, scheiterten aber an dem Dung, den das von den ersten europäischen Siedlern importierte Vieh produzierte. Die Konsequenz war, dass die Kuhfladen sich erst nach Jahren zersetzten, die Weiden erstickten und dem Vieh dadurch immer weniger Gras zum Fressen blieb. Da jede Kuh täglich ungefähr ein Dutzend Dungfladen absetzte, kam laut einer Schätzung in Australien in den 1950er-Jahren alljährlich eine mit Kuhdung bedeckte Fläche von 2000 Quadratkilometern neu hinzu.

In den 1960er-Jahren machte Dr. George Bornemissza, der kurz zuvor aus Ungarn eingewandert war, den Vorschlag, Mistkäfer zu importieren, die Kuhdung zersetzen konnten, und gründete das australische Dung Beetle Project. Bornemissza suchte 20 Jahre lang weltweit nach Mistkäferarten, die man nach Australien einführen konnte, wobei er sich wegen des ähnlichen Klimas hauptsächlich auf Südafrika fokussierte. Auch zuvor hatte man schon versucht, nicht heimische Arten nach Australien einzuführen, was aber fürchterlich schiefging: Zum Beispiel wurden zur Bekämpfung von Zuckerrohrschädlingen Agakröten aus Südamerika eingeführt, die sich ihrerseits zu einer Plage entwickelten. Sie vermehrten sich so extrem, dass es heutzutage schätzungsweise zweihundert Millionen Kröten gibt, die alles fressen — außer den Schädlingen, die sie ursprünglich bekämpfen sollten.

Die Mistkäfer hingegen waren ein voller Erfolg. Insgesamt wurden 23 verschiedene Arten eingeführt, die, jeweils an die sehr unterschiedlichen australischen Klimazonen angepasst, den Dung rasch beseitigten. Dank dieser Käfer verschwinden Kuhfladen in Australien heutzutage wie von Zauberhand binnen 24 Stunden.

Andere Insekten, die Leichenbestatter der Natur, sind ähnlich effizient, wenn es um die Beseitigung von Kadavern geht. Verblüffend schnell, innerhalb weniger Minuten nach Eintritt des Todes, finden Schmeißfliegen den Kadaver und legen Massen von Eiern hinein. Schon nach wenigen Stunden schlüpfen zappelnde Larven, die den Kadaver blitzschnell vertilgen, bevor andere Insekten eintreffen. Ihre Verwandten, die Aasfliegen, sind ihnen dadurch überlegen, dass sie das Ei-Stadium komplett überspringen und gleich Larven gebären. Genau wie beim Dung konkurrieren auch hier Fliegen und Käfer miteinander. Bei Letzteren handelt es sich um Totengräber und Mistkäfer. Sie sind zwar nicht ganz so schnell zur Stelle, fressen dann aber nicht nur den Kadaver, sondern auch die sich entwickelnden Larven. Totengräber graben unter kleinen Tierkadavern Gänge, ziehen den Kadaver hinab und legen in seiner Nähe ihre Eier ab. Die Eltern beschützen den Nachwuchs vor anderen Totengräbern. Bei zu geringem Futterangebot reduzieren sie die Zahl ihrer Larven, indem sie einige davon fressen. Die Reihenfolge, in der verschiedene Insektenarten bei einer Leiche aufeinanderfolgen, sowie ihre Entwicklungsstadien lassen sich je nach Umgebungsbedingungen so exakt vorhersagen, dass forensische Entomologen mithilfe der Insekten sogar den ungefähren Todeszeitpunkt bestimmen können.

Darüber hinaus lockern Wühlinsekten den Boden auf. Ameisen verteilen Samen im Erdreich, indem sie beim Transport des Futters in ihr Nest unterwegs einige Samenkörner verlieren, die dann keimen können. Seidenspinner produzieren Seide, und Honigbienen schenken uns Honig. Insgesamt haben Ökosystem-Dienstleistungen durch Insekten allein schon in den Vereinigten Staaten einen Wert von jährlich mindestens 57 Milliarden Dollar. Aber diese Kalkulation ist letztlich zweitranging, da — wie der angesehene Biologe und Umweltschützer E. O. Wilson es einst formulierte — die Natur ohne die Insekten »ins Chaos stürzen« würde und Milliarden von Menschen hungern müssten. Wie viel ist es uns wert, dass dieses Szenario verhindert wird?

Obwohl zahllose Insekten wichtige Aufgaben übernehmen, ist über die meisten Insekten schlicht und einfach noch gar nichts bekannt. Vier Fünftel der circa fünf Millionen existierenden Insektenarten sind noch nicht benannt, geschweige denn erforscht, und wir wissen nichts über ihre Funktion in unseren Ökosystemen. In den vergangenen Jahren haben Arzneimittelhersteller mit der »Bioprospektion« der fast unendlichen Zahl chemischer Substanzen begonnen, die in Insekten gefunden wurden. Darunter sind viele neue Substanzen mit potenziell medizinischem Nutzen, einschließlich einiger antimikrobieller Verbindungen, mit deren Hilfe man womöglich antibiotikaresistente Bakterien beherrschen könnte. Auch Stoffe mit gerinnungshemmender und gefäßerweiternder Wirkung wurden entdeckt, sowie Anästhetika und Antihistamine. Mit jeder aussterbenden Insektenart geht ein ganzer Schatz potenzieller Arzneimittel für immer verloren.

Um den Ökologen und Naturschützer Aldo Leopold zu zitieren: »Die wichtigste Regel beim intelligenten Herumbasteln ist die, kein Einzelteil zu verlieren.« Zwischen den Tausenden von Organismen, aus denen die meisten ökologischen Gemeinschaften bestehen, gibt es eine Vielzahl komplexer Wechselbeziehungen, die wir noch nicht einmal annähernd verstehen. Deshalb lässt sich gar nicht sagen, welche Insekten wir »brauchen« und welche nicht. Studien haben gezeigt, dass zwar der Großteil der Bestäubung durch eine begrenzte Anzahl von Insektenarten erfolgt, dass die Bestäubung über einen längeren Zeitraum hinweg jedoch verlässlicher funktioniert, wenn mehr Arten vorhanden sind. Schließlich unterliegt die Zahl der Insektenarten von Jahr zu Jahr natürlichen Schwankungen. Manche Arten kommen besser mit einem kalten Frühling, heftigen Regenfällen oder Dürreperioden zurecht, sodass die Arten, die in einem bestimmten Jahr den Großteil der Bestäubung übernehmen, möglicherweise schon im nächsten Jahr oder zehn Jahre später nicht mehr als Hauptbestäuber fungieren. Sich nur auf einen einzigen Bestäuber zu verlassen, etwa die heimische Honigbiene, ist eine kurzsichtige Strategie, weil es für diesen Bestäuber, falls er aus irgendwelchen Gründen ausfällt, dann keinen Ersatz gibt.*7 Wenn sich das Klima ändert, werden sich auch die Bestäubergemeinschaften ändern. Arten, die uns heute unwichtig erscheinen, könnten die Hauptbestäuber von morgen sein. Und die gleichen Argumente gelten auch für alle anderen Aufgaben der Insekten; je größer die Artenvielfalt der Insekten, desto besser stehen die Chancen, dass auch in einer ungewissen Zukunft irgendeine Spezies diese Aufgaben übernehmen wird.

Der amerikanische Biologe Paul Ehrlich hat den Verlust von Arten innerhalb einer ökologischen Gemeinschaft bekanntlich damit verglichen, dass aus der Tragfläche eines Flugzeugs Nieten entfernt werden. Sind es nur ein oder zwei Nieten, wird vermutlich nichts passieren. Sind es jedoch zehn, zwanzig oder fünfzig Nieten, wird dies irgendwann, zu einem unvorhersehbaren Zeitpunkt, zum Totalausfall und damit zum Absturz des Flugzeugs führen. Insekten sind die Nieten unserer Ökosysteme. Ob der Absturz schon kurz bevorsteht, wissen wir nicht. An einigen Orten ist es schon zu spät. In manchen Teilen Südwestchinas zum Beispiel gibt es fast keine Bestäuberinsekten mehr. Die Bauern sind gezwungen, ihre Apfel- und Birnenbäume von Hand zu bestäuben, weil es sonst zu Ernteausfällen kommt. Auch in Bengalen habe ich beobachtet, dass Bauern ihre Kürbisse von Hand bestäubten, und in manchen Regionen Brasiliens ist dies bei Maracujapflanzen offenbar auch schon der Fall. Außerdem zeigen Studien weltweit, dass die Erträge insektenbestäubter Kulturpflanzen — von kanadischen Blaubeeren über brasilianische Cashewnüsse bis hin zu kenianischen Schnittbohnen — in intensiv bewirtschafteten Gebieten aufgrund der ungenügenden Anzahl von Bestäubern geringer ausfallen. Wogegen Farmen in der Nähe von Wäldern oder anderen artenreichen Gebieten, in denen Bestäuberinsekten gedeihen, höhere Ernteerträge verzeichnen. Kürzlich ergab in Großbritannien eine Studie zur Produktion der Apfelsorten Gala und Cox Orange, dass die Bauern aufgrund unzureichender Bestäubung momentan Ertragsrückgänge von circa sechs Millionen Pfund Sterling erleiden. In manchen Weltregionen ist der Punkt, wo ein Defizit an Bestäubern die Ernteerträge verringert, bereits eindeutig erreicht oder sogar schon überschritten. Und wenn unsere Kulturpflanzen nicht mehr genügend Bestäuber anlocken, trifft dies auch auf die Wildblumen zu. Gehen die Wildblumenbestände aufgrund mangelnder Bestäubung weiter zurück, bedeutet dies, dass die verbliebenen Insekten noch weniger Nahrung finden. Einige Wissenschaftler mutmaßen bereits, dass dies einen »Extinktionsstrudel« entfachen könnte, dass also zahllose Blumenarten und Bestäuberinsekten gemeinsam in einer Abwärtsspirale auf die Extinktion zurasen würden.

Größtenteils bekommen wir vom Wirken der Insekten gar nichts mit und nehmen es als selbstverständlich hin. Die meisten Viehzüchter verschwenden keinen Gedanken an Mistkäfer. Und bis vor Kurzem haben sich auch die meisten Landwirte kaum bemüht, Bestäuberinsekten anzulocken, die übrigens auch die natürlichen Feinde der Pflanzenschädlinge sind. Wie im Fall der australischen Viehzüchter oder bengalischen Kürbisbauern nimmt man von Insekten erst dann gezwungenermaßen Notiz, wenn sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen. Wir sollten lernen, das Wirken der Insekten zu würdigen, bevor es zu spät ist.

Die Honigameise

Bienen und Honigwespen legen in ihren Nestern Nahrungsvorräte an und speichern Nektar und Pollen in speziellen Waben oder Töpfen aus Lehm, Papier oder Wachs. Diese Vorräte dienen dem Überleben in den mageren Zeiten des Jahres, wo kaum etwas blüht. In den Wüsten Australiens lebt eine Ameisenspezies, die das Problem der Nektaraufbewahrung völlig anders gelöst hat. Die Honigtopfameise, Camponotus inflatus, beherrscht einen einzigartigen Trick. Einzelne Arbeiterinnen nehmen so viel Nektar auf, dass sich ihr Hinterleib grotesk aufbläht. Binnen Kurzem können sie sich nicht mehr bewegen, werden aber von anderen Arbeiterinnen weiter mit Nahrung versorgt, bis sich ihr Hinterleib dermaßen dehnt, dass er transparent wirkt. So hängen die Speicherameisen reglos an der Decke einer Kammer im unterirdischen Nest wie reife goldene Trauben. Signalisiert eine hungrige Arbeiterin Bedarf an Honig, würgt die Speicherameise einen Nahrungstropfen aus. Diese Vorräte sind in der ausgedörrten australischen Wüste so kostbar, dass sie kleine und große Diebe anlocken. Andere Ameisenkolonien senden Stoßtrupps, die die Wächterameisen überwältigen und die lebenden Honigtöpfe rauben. Sie schleppen die hilflosen Speicherameisen mit den geschwollenen Hinterleibern in ihr eigenes Nest. Auch bei den indigenen Völkern Australiens sind die Honigtopfameisen sehr begehrt. Bis zu zwei Meter tief graben sich die Menschen in den harten getrockneten Boden, um an den Honig zu gelangen. Die angeschwollenen Ameisen werden einfach lebendig verspeist, eine Explosion köstlich süßen Nektars im Mund.

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Das Wunder der Insekten

Es gibt zweifellos sehr überzeugende praktische und ökonomische Argumente dafür, Insektenarten zu schützen, die für die Menschen entweder schon jetzt nützlich sind oder eines Tages nützlich werden könnten. Doch über diesen anthropozentrischen Ansatz hinaus gibt es noch viel triftigere Gründe für den Erhalt der Artenvielfalt. Nach Vorträgen werde ich oft gefragt: »Wofür gibt es eigentlich X?« — Und für X können Schnecken, Moskitos, Wespen oder irgendwelche anderen Tiere stehen, die den Fragestellern zufällig unsympathisch sind. Früher habe ich dann immer versucht, die Existenz von X ökologisch zu begründen, mit den verschiedenen Aufgaben des betreffenden Tiers, zu denen idealerweise irgendetwas zählte, das den Menschen nützt. Bei Schnecken zum Beispiel wies ich dann immer darauf hin, dass sie die Lieblingsspeise von Blindschleichen sind, aber auch von Vögeln gefressen werden und von beliebten Säugetieren wie zum Beispiel Igeln. Manche Schneckenarten helfen bei der Zersetzung organischer Stoffe, manche vertilgen andere Schnecken und so weiter. Als ich noch in Schottland lebte, wurde ich oft gefragt, welchen »Zweck« eigentlich Mücken hätten. Wer im Spätsommer die Highlands besucht, lernt diese winzigen braunen Mückchen hassen, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind. Aber so winzig sie auch sind, wenn sie in Schwärmen auftreten, können diese bösartigen kleinen Blutsauger einem das Leben zur Hölle machen. Angeblich hat Königin Victoria im Jahr 1872 fluchtartig ein Picknick verlassen, weil die Mücken sie »halb aufgefressen« hatten. Und da ist sie nicht allein: Wegen der Mücken werden viele Urlaubsaufenthalte gar nicht erst gebucht, was die schottische Tourismusbranche jährlich 268 Millionen Pfund kostet. Doch selbst Mücken haben wichtige Aufgaben: Mit ihrer Flügelspanne von nur zwei Millimetern und einem Gewicht von nur einem Zweitausendstel Gramm mögen sie zwar winzig sein. Aber aus einem einzigen Quadratmeter Moor schwärmen 250.000 dieser Insekten aus, was pro Hektar etwa 1,25 Tonnen Nahrung entspricht, die vielen Vögeln (etwa Rauchschwalben), aber auch unseren kleineren Fledermausarten zugutekommt.*8 Allein in Großbritannien gibt es erstaunlicherweise 650 Mückenarten, von denen nur etwa 20 Prozent Stechmücken sind. Über die ökologische Funktion ihrer Larven ist wenig bekannt. Tatsächlich sind die Larvenstadien vieler Arten noch nicht einmal beschrieben. In den Tropen zum Beispiel sind Mücken die einzigen Bestäuber des Kakaobaums, das heißt, wir hätten ohne diese Mücken keine Schokolade — also sind doch zumindest einige Arten lebensnotwendig.

Aber zurück zu der Frage, die mir so oft nach Vorträgen gestellt wird. In letzter Zeit gehe ich gar nicht mehr darauf ein. Denn warum sollte man die Existenz von Schnecken oder Mücken damit rechtfertigen, dass sie irgendetwas für unser Ökosystem leisten? Müssen Schnecken wirklich einen »Zweck« haben?

Man denke an Aldo Leopolds Rat »Die wichtigste Regel beim intelligenten Herumbasteln ist die, kein Einzelteil zu verlieren.« Und doch gibt es Insekten und andere Tiere, die aussterben können, ohne dass dies ökologische oder ökonomische Folgen für uns hätte. Der St.-Helena-Riesenohrwurm etwa ist bereits ausgestorben, ohne spürbare Konsequenzen. Bis vor wenigen Jahrzehnten lebte er in Seevogelkolonien auf der abgelegenen Atlantikinsel St. Helena, doch seit 1967 wurde kein lebendes Exemplar dieses fantastischen, acht Zentimeter langen Tiers mehr gesichtet. Man kann also davon ausgehen, dass der Ohrwurm durch eingeschleppte Nagetiere ausgerottet wurde. Was auch immer seine ökologische Funktion gewesen sein mag, sein Verlust scheint nach heutigem Kenntnisstand keine ökologischen Auswirkungen zu haben. Falls aus irgendwelchen Gründen die Riesenwetas Neuseelands — große, braune, gepanzerte Langfühlerschrecken, die zu den schwersten Insekten der Welt zählen und sich langsam durch den Regenwald