Sturm im Zollhaus - Heike Gerdes - E-Book

Sturm im Zollhaus E-Book

Heike Gerdes

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Beschreibung

An einem frühen Sommermorgen bricht im Zollhaus von Leer ein Feuer aus, das dieses denkmalgeschützte Bauwerk zerstört. In den Trümmern entdecken die Rettungskräfte zwei tote Kinder - und das, obwohl das Gebäude unbewohnt ist. Kriminalkommissar Roman Sturm und seine Kollegin Lükka Tammling finden schnell konkrete Hinweise auf Brandstiftung. Aber wer hat das Feuer gelegt? Haben die Kinder sich in das leere Kulturzentrum geschlichen und gezündelt? War es eine „warme Sanierung“ oder vielleicht doch ein ausländerfeindlicher Anschlag? Alles scheint möglich und nicht nur in den Medien wird wild spekuliert. Es gibt einen einzigen Überlebenden, den kleinen Daud, der seit dem Unglück nicht ansprechbar ist. Die Ermittler hoffen, dass er den Brandstifter gesehen hat - und dass der Täter nichts von dem kleinen Zeugen weiß.

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Heike Gerdes

Sturm im Zollhaus

Ostfriesland-Krimi

Zum Autor

Heike Gerdes, geboren 1964, lebt in Ostfriesland. Nach einem Redaktionsvolontariat und jahrelangem Redakteursdasein bei verschiedenen Tageszeitungen in Niedersachsen arbeitete sie als freie Mitarbeiterin bei Zeitungen, Zeitschriften und einem Internetmagazin. Sie ist Mitglied im SYNDIKAT. Seit November 2011 ist Heike Gerdes Inhaberin der Krimibuchhandlung „Tatort Taraxacum“ in Leer, mit der sie schon zweimal den Deutschen Buchhandlungspreis gewonnen hat.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2008 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Sollermann/pixabay.com

ISBN 978-3-8392-6524-6

Dienstag

1.

Offenbar war er doch eingeschlafen. Eben war da noch das schläfrige Piepsen der halbwüchsigen Blässhühner gewesen, die kleine Falten in das glatt gebügelte Wasser des Hafens plätscherten, und das leise Lachen und lautere Quietschen von der nahen Wiese, auf der eine Handvoll bunthaariger Halbwüchsiger Maumau spielten. Jetzt waberte ein anderer Ton in Romans Ohren, brachte kein angenehmes Auftauchen aus dem Tiefschlaf in den konturlosen Dämmer des Aufwachens, sondern Adrenalinflut und Herzklopfen.

Mit einem Ruck setzte Roman Sturm sich auf und stieß sich schmerzhaft den Ellenbogen. Was war das für ein Klang? Krankenwagen? Polizei? Nein, unverkennbar Feuerwehr. Stöhnend erhob Roman sich, registrierte mit kurzer Verwunderung und langsamem Erinnern, dass er in der Plicht des schmucken Plattbodenschiffchens stand, auf dem er sich vorhin träumend ein bisschen Seglerromantik geborgt hatte und dabei auf der hölzernen Bank eingeschlafen war. Die Nacht war hellblau – noch oder schon wieder? Er suchte den Mond, fand ihn nicht mehr und sah am Bugspriet vorbei eine dunkle Rauchfahne vor dem Blaugrau des Himmels. Ein langer Schritt brachte Roman aus der Illegalität seines Nachtlagers zurück auf die ausgedörrten Planken der Uferpromenade. Er strich sich die langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht, die wie seine milchkaffeebraune Haut ein Erbstück seines hawaiianischen Großvaters waren, und denen er haltbare Spitznamen wie Mowgli oder Winnetou verdankte. Manchmal auch weniger nett gemeinte.

Dann grub er mit noch immer kribbelnden Fingern in seiner Hosentasche und fand schließlich den Schlüssel für sein Fahrrad, das er am Geländer der Promenade angeschlossen hatte. Eben gucken, was da brannte.

Der Rauchgeruch wurde intensiver, je mehr Roman sich dem Postamt näherte. Als er um die Ecke bog, sah er das Löschfahrzeug und einen Streifenwagen auf dem Schotterstreifen neben dem massigen Zollhaus stehen. Der alte Backsteinbau trug heute einen rauchgrauen Schleier. Gegen den heller werdenden Himmel zeichneten sich dunklere Wellen ab, malten exakt die Struktur der Dachpfannen nach und zerfaserten leicht an den Kanten zwischen den turmartigen Zinnen. Beinahe ehrfürchtig verharrte Roman, ehe er sein Fahrrad an den Parkscheinautomaten lehnte und durch die Rabatten mit langen Schritten auf das Zollhaus zuging.

Rund um den Feuerwehrwagen herrschte zwar geschäftiges Treiben, aber keine besondere Aufregung. Denkmalschutz hin oder her – der alte Kasten war zumindest unbewohnt und außer bei den vielen Veranstaltungen und heftigen Parties am Wochenende war nur tagsüber Betrieb. Dass an so einem lauen Sommermorgen jetzt doch ein Krankenwagen gemächlich die schwarzgelbe Gefahrentonne auf dem Bahnhofskreisel umkurvte und auf den Parkplatz einbog, war reine Routine. Fein. So konnte Roman den Budenzauber zum unverhofft frühen Dienstbeginn wenigstens genießen.

»Roman. So früh schon zu Bein?«

In seiner Verkleidung mit der orange leuchtenden Jacke und dem kränklich hellgrünen Helm hätte er den stämmigen Ahrend Berghaus beinahe nicht erkannt.

»Ja, du. Muss ja.« Warum viele Worte machen. »Wollt ihr nicht langsam mal löschen? Obwohl: Sieht ja auch schön aus.« Berghaus erwiderte Romans Grinsen. »Geht gleich los. Sobald ich den Schlüssel habe. War gestern hier ’ne heiße Fete oder warum kokelt die Bude? – Nu mach ma hinne«, raunzte er in Richtung Auto, in dessen Handschuhfach ein anderer Helmträger kramte. »Wollen das Teil doch nicht zu heiß werden lassen.«

So früh kann es gar nicht sein, dass so ein nettes, kleines Feuer ohne Publikum stattfindet, dachte Roman. Eben war zwischen Bahnhof und Post noch tote Hose, jetzt standen mindestens ein Dutzend Leute je nach Schamgrenze unterschiedlich dicht ums Zollhaus und immer noch kamen Gäste. Bunte Mischung. Ein paar Pendler mit Aktentaschen, ein dicklicher schwarzgelockter Junge mit schwarz-rot geflammtem Hemd über der Jeans, Frau Nachbarin mit Dackel und diverse Motorboottouristen mit Klapprädern und bunten ballonseidenen Jogginganzügen. Die Bahnhofspunks waren mitsamt ihren schwarzen Hunden auch plötzlich aufgetaucht und hielten sich cool im Hintergrund beim Brunnen.

Man sollte ein Kassenhäuschen aufstellen, dachte Roman.

Der Motor des Löschfahrzeugs röhrte lauter, anscheinend war der Schlüssel aufgetaucht und das Löschen konnte losgehen. Berghaus, inzwischen mit Atemschutzmaske noch schlechter zu erkennen, verschwand durch die endlich offene grüne Stahltür im Zollhaus. Die Fenster im zweiten Stock wiesen nach Westen, doch jetzt leuchteten sie orangerot auf, als spiegelte sich die Morgensonne darin.

Roman winkte den uniformierten Kollegen heran, der rauchend an der geöffneten Autotür lehnte.

»Wir sind heute mal wieder interaktiv«, verkündete er. »Lass uns das Publikum ins Theater einbeziehen, ist schließlich ein Kulturzentrum, das hier brennt.«

Der Lange trat die Kippe aus, rückte die Mütze zurecht und steuerte die Gruppe auf dem Parkplatz an. Der Junge im Flammenhemd, der eben noch gebannt auf das brennende Haus gestarrt hatte, wich zurück, löste sich aus der Menge und schwang sich auf ein Fahrrad, das am Parkscheinautomaten lehnte.

Es dauerte die entscheidende Sekunde zu lange, bis Roman reagierte. »Hey! Mein Rad!« Er setzte zum Spurt an.

Der laute Ruf »Einen Arzt!« stoppte ihn, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Aus dem Augenwinkel sah er sein Fahrrad noch über den Bahnhofskreisel verschwinden, als er sich bereits umwandte und zurück über den Schotterplatz rannte.

»Wir brauchen sofort einen Arzt!« Ahrend Berghaus war in der Tür aufgetaucht. Seine Stimme klang verzerrt, was nicht nur an der Sprechmembran der Atemmaske lag. In seinen Armen hielt er ein Bündel. Fassungslos starrte Roman auf das rosige Gesicht und die schweißverklebten dunklen Haare des kleinen Jungen, den Berghaus jetzt behutsam auf eine Trage gleiten ließ.

Während die Sanitäter eine Decke über den leblosen Körper breiteten und eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase des Kindes drückten, überschlugen sich die Gedanken in Romans Kopf. Spielende Kinder hatten schon manchen Brand gelegt, das war nichts Ungewöhnliches. Wirklich ungewöhnlich war, dass der Junge einen weißen Schlafanzug mit braunen Teddybären trug.

*

»Stopp!« Berghaus packte Roman, der an ihm vorbei ins Haus stürmen wollte, am Arm. »Mit der Brandermittlung wartest du schön, bis wir hier fertig sind.«

»Aber verstehst du denn nicht?« Ärgerlich schüttelte Roman die Hand seines Freundes ab. »Der Kleine trägt einen Schlafanzug!«

In Berghaus’ Augen hinter dem Visier dämmerte Begreifen. So unbewohnt, wie sie geglaubt hatten, war das Zollhaus offenbar doch nicht.

»So gehst du da aber nicht rein.« Energisch drückte er Roman Sturm einen orangeroten Packen vor die Brust und widerwillig zog der die steife Schnittschutzhose und die hitzefeste Jacke über seine Cargoshorts und das T-Shirt. Der Helm war ein wenig zu groß, aber da konnte man jetzt nichts dran ändern. Berghaus half Roman, die Pressluftflasche auf den Rücken zu schnallen, und koppelte das Schlauchstück an die Maske. »Beeil dich aber. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Wie lange reicht die Luft?«

»Eine halbe Stunde, aber das ist nicht das Problem. Der Bau …«

»Ja, ja, ist ja gut«, kappte Roman ungeduldig den Vortrag. »Los jetzt.«

Das Zollhaus war riesig. Siebzig Meter lang, fünfzehn breit, drei Stockwerke hoch. Wenn sie da drin Menschen finden wollten, kam es wirklich auf jede Minute an. Keine Zeit, umzukehren und die vergessenen Stiefel anzuziehen. Im Laufen zog Roman Sturm die Schutzhandschuhe an, dann folgte er Ahrend Berghaus durch die grüne Stahltür und stand unvermittelt in graugelbem Nebel. Das Treppenhaus am Nordende des Zollhauses war schon unter normalen Bedingungen düster, jetzt aber war die Finsternis nahezu undurchdringlich. Unwillkürlich hielt Sturm den Atem an, als sich im Schein seiner Taschenlampe fettige Rauchschwaden vor dem schlierigen Visier seines Helms ballten. Dann erinnerte er sich an die Pressluftflasche und atmete mühsam gegen den Widerstand des Ventils an.

Er versuchte, sich an seinen letzten Besuch im Zollhaus zu erinnern. Mindestens achthundert schwitzende Leiber. Dazu eine der bekanntesten Deutschrock-Bands, die aus Spaß bisweilen unter dem Pseudonym Nackt unter Kannibalen auftrat. Lange her. Wie viele Stufen waren es bis zum ersten Stock mit dem langgestreckten Saal? Er glaubte, sich an vierzehn zu erinnern, stolperte aber schon bei zwölf ins Leere.

Ahrend Berghaus war längst außer Sicht, hören konnte Roman nichts außer dem Zischen der Pressluft und dem Pochen des Pulsschlags in seinen Ohren. Sein nackter Fuß in der offenen Trekkingsandale stieß gegen etwas Weiches. Roman zuckte zusammen, der Schweiß explodierte schmerzhaft prickelnd aus allen Poren. Darf einem Kriminalkommissar der Angstschweiß ausbrechen? Wen schert das. Widerstrebend bückte er sich. Hund, Katze, Maus, Pferd? Erleichtert erkannte er einen kleinen Plüschbären. Er hob ihn auf und schob ihn in die Jackentasche.

Wo sollte er suchen? Wo würde er schlafen, wenn er ungestört im Zollhaus übernachten wollte? Im Untergeschoss eher nicht, dort waren außer der Theke und der Bühne nur die Garderoben des Backstage-Bereichs. Außerdem kamen Berghaus und die anderen dort vor Roman hin, denn dort hing auch der Löschschlauch.

Im ersten Stock waren am einen Ende das Café und am anderen die Druckwerkstatt der grafischen Gesellschaft untergebracht, die Halle dazwischen wurde für Kunstausstellungen genutzt. Rückzugsmöglichkeiten bot diese Etage nicht.

Die Schlussfolgerung gefiel Roman ganz und gar nicht. Er musste am brennenden Mittelgeschoss vorbei ganz nach oben. Nur dort unter dem Dach lagen kleinere Räume, die selten genutzt wurden, denn die aufwendige Sanierung des alten Kastens hatte noch nicht jeden Winkel erreicht.

Jemand rempelte Roman unsanft beiseite, zwei Schemen verschwanden im orangegrauen Schein, der aus dem Café drang, hinter ihm verschmolz der Wasserschlauch mit dem Dunkel des verqualmtem Treppenhauses.

Roman quälte sich weiter, Schweiß biss in seinen Augen und kitzelte unter den Achseln, das Atmen wurde immer schwieriger. Er zwang sich Stufe um Stufe nach oben, leuchtete mit der Taschenlampe jeden Schritt aus, war teils enttäuscht, teils erleichtert, dass er noch immer niemanden fand. Endlich hatte er das obere Ende der Treppe erreicht. Rechts von ihm war eine Tür. Toiletten. Kein Mensch darin. Der Rauch war hier oben so dicht, als sei zwischen den Partikeln kein Platz mehr für Sauerstoffmoleküle. Der Lichtstrahl der Taschenlampe zeichnete eine gelblichweiße Spur von nicht mehr als zwei Armlängen und wurde dann verschluckt. Roman erinnerte sich an Autofahrten zwischen ostfriesischen Dörfern in seinem alten Wagen ohne Nebelscheinwerfer. Das Fernlicht mauerte dann eine gelbe Wattewand vor die Scheibe und man hatte ohne die blendenden Lampen bessere Chancen, nicht in einem der schnurgeraden Kanäle links und rechts der Straße abzutauchen. Er knipste die Lampe aus, steckte sie ein und tastete sich weiter.

Ein Piepen im Helm lenkte Romans Aufmerksamkeit auf das Kästchen an seinem Gürtel, das den Luftvorrat überwachte. Wie viel Zeit blieb ihm, bis … was geschah? Kurz wünschte sich Roman, er hätte Ahrend Berghaus ausreden lassen. Aber letztlich spielte es keine Rolle. Wenn hier oben noch die Familie des kleinen Jungen war, den Berghaus im Treppenhaus aufgelesen hatte, musste Roman versuchen, sie zu finden. So einfach war das. Und so schwer.

Seine Schienbeine stießen unvermittelt an eine harte Kante. Rechts und links bot sich seinen tastenden Händen ebenfalls Widerstand. Ach ja, das Theater. Die Rückenlehnen der Besucherstühle stellten sich ihm in den Weg, schienen sich im Schutz der Nebelmasse hin und her zu schieben, um ein Vorbeikommen unmöglich zu machen. Blind tastete sich Roman an der Stuhlreihe entlang, bis er endlich freien Raum erreichte.

Wieder ein Hindernis, weich diesmal, nachgiebig. Roman zog einen Handschuh aus und ertastete Stoff, Stangen, die fedrige Weichheit einer Stola. Er stand im Fundus des Theaters, hier war Sackgasse. Roman unterdrückte einen Fluch und wandte sich um, zurück Richtung Zuschauerraum. Übermäßig ordentlich schien die Theatergruppe nicht zu sein, selbst auf dem Fußboden lagen Kleider und Perücken verstreut. Mit dem Fuß wollte Roman ein Kostüm beiseite schieben, doch das war überraschend schwer.

Erst als er sich niederkauerte und mit der bloßen Hand weiche Locken fühlte und glatte Haut, wurde ihm klar, dass hier keine Theaterrequisiten verstreut lagen. Vor ihm auf den staubigen Dielenbrettern lag ein Kind. Ein Mädchen mit langen Locken. Offenbar hatte er die Schwester des bewusstlosen Jungen gefunden. Sie regte sich nicht.

Romans Herz raste, das Pressluftzischen schnitt in seine Ohren. Als er den schlaffen Körper des Mädchens vom Boden aufhob, überflutete ihn die Erschöpfung in einer heißen Welle. Wie lange konnte er die ungewohnte Anstrengung durchstehen? Die Hitze, das mühsame Atmen durch die Maske, die steife Schutzkleidung. So musste sich ein Taucher fühlen, in einem verschlickten Hafenbecken oder einem Klärtank. Vielleicht auch ein Astronaut. Weltraumspaziergang auf einem Planeten mit vielfacher Erdmasse. Sonnenseite. Bescheuert, dass er jetzt an so etwas dachte.

Luft. Er brauchte endlich wieder Luft. Mühsam kämpfte Roman gegen den Zwang, sich den Helm vom Kopf zu reißen, die Maske vom Gesicht zu zerren, tief durchzuatmen. Seine Beine zitterten, das Vibrieren schien sich über seine Füße bis auf den hölzernen Dielenboden zu übertragen. Er ließ das Kind zurück auf den Boden gleiten.

Die Kleine brauchte Luft, dringender noch als er selbst. So schnell wie möglich raus mit ihr. Nein. Sauerstoff. Jetzt zerrte er sich die Maske doch vom Gesicht, keuchte und hustete, als der Rauch in seine Nase kroch, in seine Kehle biss wie ein hungriges Raubtier. Doch der Taucher, James Bond wahrscheinlich. Rettet das hilflose Opfer mit der Luft aus der eigenen Flasche, echt heldenhaft. Aber bei dieser Scheißmaske funktionierte das nicht, da musste man die Luft raussaugen, und das Mädchen atmete nicht oder nur schwach. Ehe ihm schwarz vor Augen wurde, drückte Sturm sich die Maske wieder selbst auf das schweißnasse Gesicht, atmete gierig ein. Er füllte so viel Sauerstoff in seine Lunge, wie er irgend konnte, dann hielt er die Luft an und beugte sich über das Kind. Er bog den Lockenkopf der Kleinen in den Nacken, um die Atemwege freizubekommen, legte seinen Zeigefinger von unten gegen ihre Unterlippe und presste seinen Mund fest über die kleine Kindernase. Seine Lungen fühlten sich an, als würden sie platzen und es war eine Erleichterung, die gestaute Luft endlich abzugeben. Bloß nicht zu viel Druck, dachte Roman, ihre Lunge ist ja viel kleiner als meine.

Der Brustkorb des Kindes hob sich leicht. Roman Sturm kämpfte gegen den Reflex, sofort wieder einzuatmen, und schob sich erst das Schlauchstück der Atemmaske wieder in den Mund. Noch mal das Ganze. Sein Herz klopfte, er war am ganzen Körper nass. So hatte das keinen Zweck, wenn sein Kreislauf schlappmachte, kamen weder das Kind noch er selbst hier lebendig heraus. Er setzte die Atemmaske wieder auf. Dann schob er den linken Arm unter die Schulter des leblosen Mädchens, den rechten in die Kniekehlen, und richtete sich taumelnd auf.

Das Kind in den Armen an sich gepresst, stolperte Roman aus dem Theaterraum zurück ins Treppenhaus. Betonstufen, eine nach der anderen. Die letzten Stufen fiel er fast hinab, als das Zittern seiner Knie das alte Zollhaus hinter ihm einstürzen ließ wie ein Kartenhaus.

2.

Im Büro zischelte und röchelte die Kaffeemaschine. Es roch nach Rauch, aber das lag an Lükkas Filterzigarette. Der schmucklose Raum barg noch immer die Reste der Wärme von gestern oder schon die Hitze des neuen Tages. Trotzdem hatte das karge Büro heute etwas Anheimelndes für Roman.

»Na, auch schon da?« Lükka drehte sich nicht um, sondern klickte sich durch ihre Mailbox. »War’s ne heiße Nacht gestern?«

Morgenroutine mit Lükka Tammling. Im Dienst stets gründlich und mit vollem Einsatz bei der Sache, nach Feierabend offenbar immer auf Achse – nach dem, was sie so erzählte, mal mit Nachbarn, mal mit Freundinnen aus dem Handballverein. Immer was zu berichten bei Dienstbeginn und immer begierig, von Roman zu hören, was bei ihm abging. So ging das seit Jahren, seit sie zusammen in diesem Büro saßen. Je nach Stimmung absorbierte Roman ihre lebhaften Schilderungen oder er fuhr die Schilde hoch und ließ das Plaudern daran abgleiten wie Phaserbeschuss. Heute tat er ihr nicht einmal den Gefallen, freundlich zu brummen, sondern widmete sich der spuckenden Kaffeemaschine.

Erst als Lükka das bewusst wurde, drehte sie den braunen Wuschelkopf, stieß sich mit dem linken Fuß leicht ab und drehte den quietschenden Bürostuhl mit elegantem Hüftschwung um hundertachtzig Grad. Ihre kräftigen, geschwungenen Augenbrauen hoben sich, als sie den Kollegen mit wachsendem Erstaunen musterte.

»Warst du grillen?« Sie schnupperte. »Und wie siehst du überhaupt aus? Hast du in deinen Klamotten geschlafen?«

Roman goss sich bedächtig Kaffee ein, ließ zwei Würfel Zucker in den bedruckten Porzellanbecher gleiten. Spock und Kirk hatten auch schon bessere Tage gesehen. Irgendein Depp hatte seinen Becher in die Spülmaschine gestellt. Die Föderationsuniformen waren verblasst und an Spocks linkem Ohr blätterte die Farbe. Misstrauisch roch Roman an der Milchdose, die schon seit ein paar Tagen offen auf dem Regal stand, und molk daraus fünf kräftige Strahlen in den Pott. Erst als er seinen Kaffee umgerührt hatte, konzentriert, als gäbe es keine anspruchsvollere Aufgabe, und der erste Schluck brennend die Speiseröhre passiert hatte, erwiderte er Lükkas Blick.

Jetzt einfach sagen: Mir hat einer das Fahrrad geklaut. Verlegen grinsen, Lükkas gutmütigen Spott ertragen. Ostfriesischer Volkssport und so. Wohl bei Urlaubsbeginn nicht genug Akten von den Kollegen aus der Soko Rad auf den Tisch gekriegt. Wär schön.

»Nein. Nicht gegrillt. Und ja. In den Klamotten geschlafen irgendwie schon.« Er nahm noch einen Schluck Kaffee, dann schob er einen Stapel der staubgrauen, pissegelben und schnitzelrosa Pappendeckel beiseite, die seine Kollegen vor Urlaubsantritt beim ihm deponiert hatten. Sie würden sich nicht freuen, wenn sie all ihre Pappendeckel unbearbeitet wieder zurückbekämen, das war sicher. Aber ebenso sicher hätten sie sich eh nicht bedankt und ohnehin hatte der Brand die Langeweile des ostfriesischen Sommers verzehrt und damit die Pflicht, Ordnung in die unerledigten Papiere der Kollegen zu bringen. Wenigstens etwas.

Roman platzierte die linke Hinterbacke auf der Ecke seines überfüllten Schreibtischs. Dabei sah er an sich hinunter. Kein Wunder, dass Lükkas Augenbrauen fast im Haaransatz verschwanden. Er sah selbst für seine Verhältnisse übel aus. Die knielange Hose war zerknittert und fleckig, auf dem kaffeebraunen Schienbein schillerte ein flächiger Bluterguss. Er drehte seinen Fuß. Aua, deshalb feuerten seine Füße so – die Zehen schienen nur noch aus Brandblasen zu bestehen. An feste Schuhe brauchte er in den nächsten Tagen nicht zu denken. Das war ein Problem, denn mit seinen Sandalen war nicht mehr viel Staat zu machen. Die Sohlen waren angeschmolzen, die vorderen Ränder von der Hitze gewellt. Roman klammerte sich einige Augenblicke an diesen Gedanken, aber es half nichts und er riss sich zusammen.

»Ich war im Zollhaus«, sagte er endlich und wunderte sich, dass seine Stimme halbwegs vertraut klang.

Wenn das möglich war, wanderten Lükkas Augenbrauen noch ein paar Zentimeter höher.

»Da war doch gestern gar kein Programm.« Informiert wie immer, wenn es um Action ging. »Die nächste Party ist am Freitag.«

»Die wird wohl abgesagt«, entgegnete Roman trocken. Er gab ihr eine Kurzversion der Ereignisse.

Lükkas hörte ernüchtert zu, notierte sich hin und wieder Stichpunkte in ihrer sauberen, kleinen Schrift, effizient wie immer.

»Und ihr habt keinen Hinweis darauf gefunden, wer diese Kinder sind?«, fragte sie, als Roman seinen Bericht abgeschlossen hatte. Sie ging hinüber zu dem niedrigen Regal, um sich einen frischen Kaffee zu holen, und schob unterwegs automatisch Romans Schreibtischschublade zu, die mal wieder zwei Fingerbreit offen stand.

Roman schüttelte den Kopf. »Nichts bisher. Außer, dass sie anscheinend keine Deutschen sind, sondern Türken, Kurden oder so. Was unter dem Schutt noch an Hinweisen zum Vorschein kommt, müssen wir abwarten.«

Allzu viel würde es vermutlich nicht sein. Nach dem Einsturz des Gebäudes hatten die Flammen den frischen Sauerstoff gierig aufgesogen und sich mit neuer Wut auf Holz, Papier und Stoff gestürzt. Ahrend Berghaus und seine Kollegen hatten es glücklicherweise geschafft, das Haus zu verlassen, ehe die gusseisernen Stützen der Innenkonstruktion der Hitze nachgegeben hatten und das Zollhaus in sich zusammengefallen war. Aus den Trümmern hatten sie die Leiche eines älteren Jungen geborgen, vielleicht zwölf Jahre alt. Auch für das Mädchen war Romans Hilfe zu spät gekommen.

»Hoffentlich kommt der Kleine durch, den Ahrend zuerst im Treppenhaus gefunden hat. Dann erfahren wir wenigstens, wer er ist und wo seine Eltern sind.«

Erwachsene hatten sie trotz gründlicher Suche nicht entdeckt. Roman rieb sich die stoppelige Wange und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch die Haare. Ascheflöckchen rieselten auf den Schreibtisch, die Spitzen der gut schulterlangen Strähnen waren gekräuselt und verschmolzen.

Er wühlte in der großen Hosentasche nach seinem Haargummi, um die versengte Mähne in einem Pferdeschwanz zu bändigen, und hielt das Plüschtier in der Hand, das er im Zollhaus gefunden und nach dem Umziehen zusammen mit der Taschenlampe in die geräumige Tasche seiner Shorts geschoben hatte. Ein kleiner Eisbär war es, knapp zwanzig Zentimeter lang, mit einer blauen Schleife um den Hals und leicht verpeiltem Gesichtsausdruck, als hätte ihm gerade einer die Eisbärin unter dem pelzigen Bauch weggeklaut. Fürsorglich pustete Roman die Asche aus dem weichen Fell. »Schwer entflammbar«, las er mit schiefem Grinsen vor, ehe er das Spielzeug auf den obersten Aktendeckel setzte. »Unser bisher wichtigster Zeuge. Möchten Sie zur Sache aussagen? Ich würde gerne ein Tonband mitlaufen lassen.«

Lükka atmete verstohlen auf und erwiderte das Lächeln. Kriminalkommissar Roman Sturm war auf dem Weg der Besserung.

3.

»Über zehn Jahre Arbeit – alles zum Teufel.« Die kräftige Frau mit den kurzen braunen Haaren war sichtlich erschüttert. »Sie glauben gar nicht, was wir hier alles an Arbeit reingesteckt haben. Und an Geld natürlich auch.«

Roman Sturm glaubte es durchaus, denn er hatte das Zollhaus gesehen, als die Sanierung nach fünfzehn Jahren Leerstand eben erst begonnen hatte. Hunderttausende waren verbaut worden, bis man das Dach neu gedeckt, Klos und Bühnen eingebaut und überhaupt alles so weit hergerichtet hatte, dass in dem denkmalgeschützten Gründerzeitbau gefahrloses Leben und Feiern denkbar war. Anfangs hatte es in dem siebzig Meter langen Gebäude nur einen einzigen Wasserhahn gegeben. Allein das gläserne Foyer und der Fahrstuhl im Kranturm hatten fast hundertzwanzigtausend Euro gekostet. Eine beachtliche Leistung, sicher, aber Roman hatte keine Lust, jetzt die gesamte Umbaugeschichte über sich ergehen zu lassen. Zum Glück kriegte Vera Reifschneider die Kurve.

»Wer hat uns das bloß angetan? Haben Sie schon eine Spur?«

Sie schien so felsenfest von einer Brandstiftung überzeugt, dass Roman überrascht die Stirn runzelte.

»Es kann sich genauso gut um einen technischen Defekt …«, begann er, doch die Vertreterin des Zollhausvereins schnitt ihm das Wort ab.

»Wir haben alle Brandschutzbestimmungen erfüllt, fragen Sie im Rathaus nach! Bis auf die Rauchabzugsklappen im Dach war alles fertig.«

Genau diese Klappen hätten vielleicht verhindert, dass das Treppenhaus zur Todesfalle wurde, dachte Roman. Vielleicht hätten sie aber auch die Luftzirkulation so angekurbelt, dass der Brand noch schneller und noch heißer gelodert hätte. Die Kinder wären dann nicht erstickt, sondern verbrannt.

Roman dachte an den Eisbären und seinen kleinen Besitzer, der im Kreiskrankenhaus noch immer bewusstlos auf der Intensivstation lag, und spürte Wut hinter seinen Lidern prickeln. Scharf fragte er: »Und Sie wollen mir tatsächlich weismachen, Sie hätte nicht gewusst, dass eine mehrköpfige Familie in Ihrem Fetenschuppen wohnte?«

Lükka warf ihm einen warnenden Blick zu. »Frau Reifschneider ist zwar Mitglied im Vorstand des Zollhausvereins, aber nicht die Einzige, die fürs Zollhaus zuständig ist. Ich meine: war«, sagte sie ruhig.

»Das hätte ich nicht treffender formulieren können«, konterte die Frau spitz. »Nein, ich hatte keine Ahnung«, wandte sie sich wieder an Roman. »Wahrscheinlich wusste auch sonst keiner von uns was davon. Sie müssen unbemerkt ins Haus gekommen sein.«

Schwer vorstellbar, fand Roman. Bei Wüstenspringmäusen war das möglich und auch schon geschehen. Aber Kinder? Und dann gleich so viele? Eher nicht.

»Wir haben zwei der Kinder im Dachgeschoss gefunden«, berichtete er.

Vera Reifschneider schob die Unterlippe vor. »Da oben ist das Radio untergebracht und natürlich unser Theater und die Besuchertoiletten.« Sie hatte sich eindeutig noch nicht mit der Vergangenheitsform abgefunden. »Und nach hinten raus haben wir die Seminarräume eingerichtet. Die werden jetzt in den Ferien natürlich nicht genutzt. Sonst ist da nur noch unsere Rumpelkammer mit Gerümpel und Requisite.« Sie überlegte. »Wenn ich irgendwo unterschlüpfen wollte, würde ich da wahrscheinlich reingehen. Wir wollten in den Räumen irgendwann eine Hausmeisterwohnung einrichten.«

Lükka hatte mitgeschrieben und klappte ihr Notizbuch zu. Als hätte sie nur auf dieses Signal gewartet, erhob sich Vera Reifschneider. »Wenn wir so weit durch sind, gehe ich jetzt wieder an die Arbeit. Sie haben sicher Verständnis – ich habe noch viel zu regeln. Unsere Chefin und die anderen Vorstandsmitglieder müssen informiert werden, sofern sie nicht noch im Urlaub sind. Den überregionalen Zeitungen muss ich mitteilen, dass die Thedighausen-Ausstellung nicht stattfindet, und mir überlegen, was ich mit den Leuten mache, die schon Karten für die nächste Veranstaltung gekauft haben.«

Sie eilte aus dem Zimmer und Roman sah ihr nach, das Kinn auf die zur Faust geballte Linke gestützt.

»Warum lässt du mich so auflaufen?«, fragte er und funkelte Lükka aus seinen mandelförmigen Augen an, die vor Ärger fast schwarz wirkten. Seine schwarzen Haare, die er in der Mittagspause nach dem Duschen mit der Papierschere von den verkohlten Spitzen befreit und damit auf Schulterlänge gestutzt hatte, umrahmten sein dunkles Gesicht. Lükka hatte einen Moment lang die Vision eines Apachen, der gleich das Kriegsbeil ausgraben würde oder wenigstens den Klappstuhl wie Comanchen-Häuptling Listiger Lurch im Schuh des Manitou. Dabei waren seine Vorfahren keine Indianer. Er hatte ihr mal erzählt, dass sein Großvater von Hawaii stammte und als amerikanischer Soldat in Deutschland stationiert war. Da hatte er offenbar mit einer Ostfriesin angebandelt. Mittlerweile kannte sie Roman gut genug, um sich von seinem finsteren Blick nicht einschüchtern zu lassen. Sie wusste auch, dass sie seine Frage nicht zu beantworten brauchte, denn im Grunde kannte er die Antwort. Er war unnötig scharf zu einer Zeugin gewesen, die gerade buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz gestanden hatte.

Trotzdem hätte sie mehr Interesse an den Kindern zeigen können als an ihrem verdammten Kulturzentrum. Aber vielleicht stand sie ja unter Schock.

4.

Wer hat einen Vorteil? Wenn du einen Täter suchst und er dir nicht den Gefallen tut, dir gleich vor die Füße zu stolpern, ist das die wichtigste Frage. Hast du das Motiv, kannst du meistens deinen Kunden bald einsacken. Schulbuchwissen aus dem ersten Semester Fachhochschule, sicher, aber Roman hatte das schon oft bestätigt gefunden. Und die verbreitetsten Motive waren Eifersucht und Habgier, bei Brandstiftung gern in der Form von Versicherungsbetrug. War das denkbar? Roman beschloss, sich zunächst um diese Frage zu kümmern und das Projekt »Zollhaus« und die Situation des Vereins unter die Lupe zu nehmen, während Lükka sich durch die Vermisstenkartei klickte.

Auf den ersten Blick deutete nichts darauf hin, dass der Verein sich durch einen warmen Abbruch aus der Gülle ziehen wollte. Finanzielle Probleme hatte es in der Vergangenheit genügend gegeben; um das herauszufinden, war nicht viel Recherche nötig, nur ein Blättern im Zeitungsarchiv. In der letzten Zeit hatte das landesweite Rauchverbot auch die Zollhausumsätze geschmälert. Der Versuch, alle Türen aufzumachen und dadurch den Raum zu einer überdachten Freifläche zu machen, war vom Ordnungsamt rasch beendet worden.

Trotzdem lief seit der letzten Bürgermeisterwahl offenbar alles rund. Der Verein hatte der Stadt den alten Kasten abgekauft und bezahlte jetzt die Kreditraten, die Finanzlöcher wurden alljährlich mit satten Zuschüssen aus dem städtischen Haushalt gestopft und die vielen Großfeten spülten anscheinend genug Geld in die Kasse, um die Kultur zu finanzieren, mit der Vera Reifschneider so gerne begründete, warum das Zollhaus mit Steuergeldern gefördert werden musste. Roman seufzte, es wäre ja auch zu einfach gewesen.

Dirk Baukloh roch er, bevor der Kollege vom Rauschgift sich durch die Tür schob und »Moin, Kollegen« trompetete, denn Baukloh war vor Dienstbeginn wie üblich in einen Bottich mit Rasierwasser gefallen. Entweder waren seine Geruchsnerven durch den Dauerkontakt mit Marihuana und anderem Dope abgestumpft oder er war Opfer des Werbefernsehens und versprach sich von der chemisch-animalischen Note eine höhere Trefferquote bei Frauen.

»Seid ihr an dieser Brandsache dran oder surft ihr nur wieder im Internet?« Baukloh beugte sich über Lükkas Schulter und lehnte sich wie unabsichtlich gegen sie. Lükka drehte ihren Stuhl gerade so weit, dass Dixi Baukloh aus dem Gleichgewicht geriet. Auf seinen Wangenknochen erblühten scharlachrote Flecken, die überhaupt nicht zu seinen kupferfarbenen Locken passten, aber er schlenderte betont lässig zum Regal hinüber. »Ist doch ganz easy, wieso haltet ihr euch überhaupt so lange mit dieser Kiste auf?«

»Erleuchte uns, oh Allwissender!« Roman verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich bequem zurück. Das war das Schöne an diesem Stinker: Er war er immer für unterhaltsame zehn Minuten gut. Schließlich war Dixi Baukloh der Größte, der Superbulle aus der großen Stadt und überhaupt nur deshalb noch nicht beim LKA, weil er die Provinzkollegen nicht so nahe der holländischen Grenze mit den Drogenschmugglern alleine lassen konnte. Na gut, eine Nase für Shit hatte er, aber die hatte der Cockerspaniel Hermann schließlich auch und der kam bei den Kolleginnen zudem deutlich besser an.

»Die kleinen Eselstreiber haben es sich da drin richtig gemütlich gemacht wie zu Hause in Anatolien oder wo diese Ölaugen auch immer herkommen«, verkündete Baukloh. »Und dann haben sie ein Lagerfeuer angezündet, um eine Familienportion Hammelhoden zu grillen. Und dann – baff.« Beifallheischend sah er sich um. »Ist doch klar, oder?«

»Sonnenklar«, entgegnete Lükka, die gerade den Posteingang ihrer Mailbox studierte. »Und weil das in Anatolien so üblich ist, haben sie das Feuerchen mit ein paar Litern Nitroverdünner angezündet. Deswegen haben Katenhusen und Müller auch eben gemailt, dass sie im Schutt größere Mengen Brandbeschleuniger nachgewiesen haben.« Sie schlug sich auf die Oberschenkel, griff ihre Zigarettenschachtel und erhob sich. »Ich für meinen Teil brauche dringend ein bisschen frische Luft!«

5.

Als Roman die Wohnungstür hinter sich zuzog, fühlte er sich wie ein Hähnchen im Backofen. Noch auf dem Weg zur Balkontür zog er das durchgeschwitzte T-Shirt aus und ließ es achtlos fallen. Er streifte die verschmorten Sandalen ab und fühlte den stacheligen Nadelfilz des Teppichbodens unter seinen Füßen, die in einem wenig besseren Zustand als die Schuhe waren. Fast kam es ihm vor, als kräuselten sich die Haare auf seinen Armen in der Hitze, und die Haut in seinem Gesicht schien sich in prickelnden Blasen abzulösen, sogar den Duft von gebratenem Fleisch glaubte er zu riechen.

Er schüttelte sich und die Blasen verwandelten sich gnädig in beißende Schweißtropfen, die in seine Augen rannen. Hastig zog er die Rollläden hoch, mit denen er wie jeden Tag vergeblich versucht hatte, die Hitze auszusperren, und öffnete die Balkontür. Was hatte er anderes erwartet? Im Sommer war es in dieser Wohnung unter dem Dach nicht auszuhalten. Schon ein paar Sonnentage reichten, um die Raumtemperatur auf fiebrige vierzig Grad hochzutreiben. Nur vergaß er das regelmäßig, während er im Büro schmorte und sich seine zwei Zimmer mit Küche und Bad kühlträumte.

Aber er kam zumindest regelmäßig an die Luft, frisch oder nicht.

Unterm Dach in der Rumpelkammer des Zollhauses war es bestimmt nicht weniger heiß gewesen. Wie hatten die Kinder das ausgehalten? Und wie lange? Weder er selbst noch Lükka waren heute einen Schritt weitergekommen. Die Vermisstenkartei hatte nichts hergegeben, nicht in Niedersachsen und auch nicht in den anderen Bundesländern. Vor Dienstschluss hatten sie noch eine Anfrage an die niederländische Polizei abgeschickt, aber ohne große Hoffnung. Niemand schien die drei Kinder zu vermissen, niemand auch nur von ihrer Existenz zu wissen.

Angenommen, sie waren tatsächlich unbemerkt ins Zollhaus gekommen. Weiter angenommen, sie hätten sich wirklich da oben auf dem Dachboden zwischen eingestaubten Möbeln und alten Klamotten mucksmäuschenstill verhalten, was für so kleine Kinder eine reife Leistung wäre, so blieb doch eine Frage offen: Wovon hatten sie gelebt?

Wasser war weiter kein Problem, das konnten sie auf der Besuchertoiletten des Theaters holen. Aber irgendjemand musste sie mit Essen versorgt haben, ob mit Dirk Bauklohs Hammelhoden, mit Dosenravioli oder auch nur mit Brot und Käse.

Roman bemerkte auf einmal, wie hungrig er war. Der Bratengeruch, den er seit dem Betreten seines Wohnofens in der Nase hatte, war real. Er drang aus der Küche des Restaurants im Erdgeschoss nach oben, das Gyros und Souflaki für den Abend auf Vorrat produzierte, und Romans Magen knurrte. Der Kühlschrank gab willkommene Kälte frei, die Roman länger genoss, als die Inspektion seiner Vorräte es rechtfertigte. Drei kaum verschrumpelte Knoblauchzehen. Ein Eckchen Camembert, das Roman nach kurzer Betrachtung in den Mülleimer fallen ließ. Ein Becher Joghurt, immerhin, nur eine Woche überfällig, dafür mit einem Aludeckel, dessen Wölbung eine kurz bevorstehende Explosion verhieß. Trotzdem öffnete Roman den Becher und tunkte die Fingerspitze in die weiße Pampe. Das Zeug prickelte auf der Zunge und gesellte sich ohne weitere Umwege zum Käse.

Also zwei Optionen: Bis acht mit knurrendem Magen warten und dann unten in einen Grillteller investieren oder doch noch einkaufen. Roman entschied sich fürs Einkaufen, zumal auch der Kaffeevorrat für morgen früh nur noch eine dünne Plörre hergeben würde. Romans Laune verschlechterte sich. Ohne Fahrrad würde das eine echte Expedition werden, denn Leer hatte die vermutlich einzige Innenstadt, in der es seit Jahren keinen Supermarkt mehr gab. Romans Auto stand passenderweise gerade in der Werkstatt und wartete auf ein neues Getriebe.

Nach drei Kilometern zu Fuß, mit einem halben Dutzend leerer Flaschen im Rucksack, hatte Roman im Geist alle Varianten schwarzer Pädagogik durchgespielt bis hin zur Prügelstrafe für Fahrraddiebe. Seine finsteren Gedanken mussten ihm anzusehen sein, denn der rundliche Junge in der Leergutannahme zuckte zusammen und starrte ihn mit großen, erschrockenen Augen an, als Roman die Flaschen auf den Tresen stellte.

Romans Gewissen regte sich, legte sich aber sofort wieder ins Körbchen, als er unter dem blauen Kittel einen rotgeflammten Hemdkragen hervorblitzen sah. Sieh mal einer an, das war doch der kleine Mistkerl von heute früh, der sein Fahrrad geklaut hatte! Mit einiger Anstrengung unterdrückte Roman den Impuls, den Burschen am Kragen zu packen und kräftig zu schütteln. Statt dessen fragte er ganz ruhig: »Wo ist mein Rad?«

»Draußen im Fahrradständer.« Der Junge richtete sich auf und sah Roman halb schuldbewusst, halb trotzig an. »Ich wollte es heute Abend zurückbringen. Wirklich. Ich bin doch kein Dieb!«

»Ach nein? Deswegen hast du mir auch das Fahrrad geklaut, weil du so ein braver Junge bist.«

»Ich hatte es eilig.«