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Gesunde Ernährung kann tödlich sein. Das muss auch Ökobauer Noah Poppinga erkennen, der auf dem Hof seiner Großmutter alte Gemüsesorten züchtet. Während er einen veganen Koch, eine junge Influencerin und die Aktivistengruppe „No Soy“ auf seiner Seite weiß, bringt er Saatguthändler und die raffgierige Verwandtschaft gegen sich auf. Bald gibt es Tote auf dem idyllischen Bauernhof im ostfriesischen Leer. Die Kommissare Lükka Tammling und Roman Sturm begeben sich zwischen Grünkohl und Tofu auf die Suche nach dem Täter.
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Seitenzahl: 285
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Heike Gerdes
Soja nun auch nicht
Kriminalroman
Tödlicher Tofu Der Jungbauer Noah Poppinga züchtet auf dem Hof seiner Großmutter alte, fast vergessene Pflanzensorten und wird schnell zum Star der regionalen Ökoszene. Mit dem veganen Koch Dennis an seiner Seite veranstaltet er erfolgreich Slow-Food-Events, während ihn die junge Influencerin Clara auf ihrem Lifestyle-Kanal promotet und ihn die weltweit arbeitende Aktivistengruppe „No Soy“ als Gallionsfigur aufbauen will. Doch er hat auch Feinde: die Nachbarn, die bucklige Verwandtschaft, der Außendienstler des Agrarkonzerns. Sie alle halten aus verschiedenen Gründen nichts von seinem Anbaukonzept. Als auf den Hof Anschläge verübt werden, schalten sich die Kommissare Lükka Tammling und Roman Sturm ein. Zwischen Tofu und Grünkohl suchen sie nach Antworten – nicht zuletzt auf die Frage: Sind Veganer die besseren Menschen?
Heike Gerdes, geboren 1964, lebt in Ostfriesland. Nach einem Redaktionsvolontariat und jahrelangem Redakteursdasein bei verschiedenen Tageszeitungen in Niedersachsen arbeitete sie als freie Mitarbeiterin bei Zeitungen, Zeitschriften und einem Internetmagazin. Sie ist Mitglied im SYNDIKAT. Seit November 2011 ist Heike Gerdes Inhaberin der Krimibuchhandlung »Tatort Taraxacum« in Leer, mit der sie schon zweimal den Deutschen Buchhandlungspreis gewonnen hat.
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© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © VICUSCHKA / stock.adobe.com
und © womue / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6544-4
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
So viel Leid.
So viel Tod.
Und wofür das alles?
Satt und zufrieden sitzen sie da,
reiben sich die vollen Bäuche.
Die Krokodilstränen sind getrocknet.
Morgen werden sie wieder
mit Grabesstimme sagen,
wie schlimm das doch alles ist.
Werden mit Leichenbittermiene
düster nicken.
Und dann, nach einer bedeutungsschwangeren Pause,
die Hand halb zum Gruß heben.
Muss ja weitergehen.
Und einkaufen muss man auch noch.
Nütztscha nix.
Da sachste wat.
Hou.
Bis annermal.
Seine Fingerspitzen reichten nicht bis in die obere Ecke. Noah Poppinga verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein, streckte sich in der Hüfte und machte sich lang. Mit der rechten Hand hielt er sich am hölzernen Rahmen fest, die linke mit dem Wischer erreichte jetzt den letzten Winkel der hohen Glasscheibe.
Beinahe jedenfalls.
Das musste reichen, diese Ecke sah doch sowieso keiner. Ein schmaler Bach rann am Wischerstiel herab und eine braungrüne Pfütze platschte auf seinen Fußrücken. Saharasand mit einer deutlichen ostfriesischen Algennote. Da sollte noch einer sagen, Ostfriesland sei am Arsch der Welt. Angeblich konnte man ihn von hier aus gut sehen und das Endje van de Welt beim Fischerdorf Ditzum lag auch nur wenige Kilometer entfernt. Aber für Wüstensand aus Nordafrika war der Weg nicht zu weit.
Na ja, vielleicht kam das Zeug auch von der nächsten Kieskuhle oder den ausgedörrten Feldern herübergeweht. Auf Oma Thedas Fenstern hatte es so oder so nichts zu suchen. Fand jedenfalls Oma Theda. Und weil ihr der Hof gehörte, hatte sie das Kommando, Altenteil hin oder her.
Poppinga streckte den Rücken durch. Ein großer Schritt rückwärts brachte ihn von dem weiß lackierten Fensterbrett in der tiefen Nische zurück auf den hölzernen Küchenstuhl. Dieses Fenster hatte er schon mal unfallfrei sauber bekommen, ohne unten vor dem Gulfhaus auf dem unebenen bemoosten Pflaster aufzuschlagen. Wie bei den meisten alten ostfriesischen Häusern gingen die Fensterflügel nach außen auf, damit der Sturm die Fenster nicht aufdrückte. Clever, denn einen Tag ohne Wind gab es in Ostfriesland eigentlich nie. Aber Fenster oberhalb des Erdgeschosses zu putzen, war dadurch eine halsbrecherische Aufgabe. Kein Wunder, dass Stürze bei der Hausarbeit ganz weit oben auf der Liste der Todesursachen standen.
Poppinga atmete tief durch, griff nach dem Eimer und stieg vom Stuhl. Es schwappte, es platschte, und die hellgrauen Holzdielen waren grünbraun gesprenkelt.
In einer Hand den Eimer mit der trüben Algenbrühe, in der anderen den Stuhl, am Gürtel die Sprühflasche mit dem Glasreiniger, wollte Poppinga weiterziehen.
Theda Poppinga konnte mit Ende siebzig und ihrer lädierten Hüfte zwar nicht mehr auf Stühlen und Fensterbrettern rumturnen, Hören und Sehen waren aber noch kein Problem.
Die Bäuerin saß am Küchentisch, vor sich auf einem rot karierten Geschirrtuch einen Haufen reifer Bohnen, in der Hand das kleine Küchenmesser. Noah Poppinga wusste aus leidvoller Erfahrung, wie scharf die Klinge war, die nach jahrzehntelangem Gebrauch einer dünnen Mondsichel glich. Mit geübten Bewegungen schnitt sie die Enden der Hülsen ab, öffnete die Schoten und ließ die Bohnenkerne in eine angestoßene weiße Emailschüssel kullern. Jetzt stockte der vertraute, einschläfernde Rhythmus.
»Schön wegwischen, die Brühe, hör, mien Tüüt!«
Eher symbolisch als gründlich feudelte Poppinga folgsam die Dielen und stellte den Eimer aufs nächste Fensterbrett. Durch die hohen Scheiben des jahrhundertealten Bauernhauses fielen die Strahlen der Vormittagssonne auf weiß, rosa und orange leuchtende Blüten.
Misstrauisch beäugte Poppinga den Bewuchs auf Oma Thedas Fensterbank. Abräumen wäre sicher besser gewesen. Aber nicht unbedingt einfacher. Vorsichtig platzierte er seinen riesigen Fuß auf dem Fensterbrett, die kräftige nackte Wade unter dem weiten Hosenbein seiner knielangen Shorts auf Abstand zu den Pflanzen. Andere Omas hätschelten Orchideen. Denen brachte man statt Blumensträußen oder Pralinen eine Phalaenopsis aus dem Baumarkt mit. Die bekam dann jede Woche ein Schnapsglas voll Wasser und störte ansonsten nicht weiter.
Oma Thedas Schätzchen hingegen drohten mit zwei Zentimeter langen Stacheln an langen, verschlungenen Tentakeln. Andere verlockten mit flauschigen weißen Haaren zum Streicheln. Alle aber waren extrem wehrhaft und setzten ihre Waffen mit erstaunlicher Reichweite ein. Die Kakteen vom Fensterbrett umzulagern, war eine Aufgabe, die Poppinga nur im äußersten Notfall und dann mit langer Hose, Sicherheitsschuhen und Arbeitshandschuhen auf sich nahm. Dafür war es an diesem Sommertag eindeutig zu warm und Fensterputzen kein echter Notfall, auch wenn Oma Theda das anders sah. Also vorsichtig neben die Stachelbiester treten und behutsam nur dort putzen, wo man gefahrlos drankam.
»Wenn du gleich fertig bist, hilf mir man eben Bohnen pulen für den Hofladen«, befahl Theda Poppinga aus dem Off. Zum Glück sah sie von ihrem Platz aus nicht, dass ihr Enkel sich bei diesem Fenster für die Sparvariante entschieden hatte und nur oberhalb der Blumentöpfe halbherzig sprühte und wischte. Und natürlich auch nur so weit, wie er kam, ohne sich mit den Kakteen anzulegen.
Ach ja, der Hofladen. Nett gedacht, mit frischen Eiern, Obst und Gemüse direkt vom Erzeuger. Glückliche Hühner und so. Das hatte Poppinga sich in den leuchtendsten Farben ausgemalt, als er vor drei Jahren zur Oma auf den Hof gezogen war. Aber für zufällig vorbeifahrende Touristen lag der Hof zu weit abseits und die Fahrradurlauber hatten die Satteltaschen voll und wenig Lust, mit ungekühlten Eiern durch die Gegend zu radeln. Stammkunden wiederum konnte man sich nur heranzüchten, wenn man zuverlässige Öffnungszeiten hatte. Wer öfter als einmal vor verschlossener Tür stand, nahm den Weg hier raus über die Ems nicht wieder auf sich. War ja auch nicht wirklich nachhaltig, kilometerweit mit dem Auto durch die Pampa zu gurken, um Tomaten frisch zu kaufen.
Bisschen größer, bisschen heller und mit besseren Öffnungszeiten, das wär’s, dachte Poppinga. Platz hatten sie inzwischen mehr als genug auf dem Poppinga-Hof. Nach dem letzten Dürresommer hatte das Futter nicht für alle Tiere gereicht, zum Zukaufen langte die Kohle hinten und vorne nicht. Der Schlachter war deshalb Dauergast auf dem Hof gewesen und hatte die letzte Kuh schon vor Monaten abgeholt.
Noah seufzte. Er sollte den leeren Stall auf Vordermann bringen und den Laden ganz neu aufziehen. Nur wann? Und von welchem Geld? Da biss die Katze sich in den Schwanz.
Na gut. Bohnen hielten sich getrocknet eine ganze Weile, Erbsen und Getreide wurden auch nicht so schnell schlecht. Fürs Frischgemüse hatte er zum Glück den einen oder anderen Abnehmer, den er direkt belieferte, vor allem seit sein Kumpel Dennis das Restaurant in Leer eröffnet hatte. Ihre gemeinsamen »Classic Food Dinner« waren inzwischen fast immer ausverkauft.
»Keen Tied, Oma. Aber heute Abend setzen wir uns zusammen hin und fädeln Bohnen zum Trocknen auf«, versprach er. »Updrögt Bohnen sind der letzte Schrei.«
»Holl up mit dumm Tüüg!« Oma Theda fühlte sich offenbar verschaukelt. »Wer isst denn heute noch ollerwelschen Eintopf mit monatelang auf dem Dachboden getrockneten Bohnen, gestampften Kartoffeln und Räucherspeck?«
»Du würdest dich wundern, Oma. Traditionell und regional ist angesagt. Pass auf, wir kommen noch richtig groß raus. Aber erst mal brauchen wir was zum Verkaufen. Die Kartoffeln müssen angehäufelt werden, die Beete hacken sich nicht von allein und den Salat muss ich ernten, ehe es zu heiß wird.«
»Vanavend hebb ik keen Tied för di«, verkündete Theda Poppinga energisch. Offenbar wollte sie ihm klarmachen, dass sie ihre Zeit nicht gestohlen hatte, nur weil sie auf Rente war. Von wegen immer zu Hause rumpusseln und ansonsten warten, dass jemand Zeit für sie hatte! Oma Theda war gerne auf Achse.
Dann eben nicht. Noah beschloss, die Hausarbeit für heute zu beenden. Vom Fensterbrett aus warf er einen letzten liebevollen Blick auf sein Salatbeet. Was er da unten sah, brachte ihn aus dem Gleichgewicht. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, rief er fassungslos. Seine nackte Wade streifte den nächsten Kaktus. Noah Poppinga fiepte ziemlich unmännlich und stolperte, wild mit den Armen rudernd, von der Fensterbank. Auf einem Bein hüpfte er mit schmerzverzerrtem Gesicht zum nächsten Stuhl, um sich die Kaktusstacheln aus dem Unterschenkel zu pulen. Diese verdammte blöde Ziege!
»Diese verdammte blöde Ziege!« Clara Sturm knallte das Glas so wütend auf den Couchtisch, dass ihr Bruder um die staubfreie Glasplatte fürchtete.
»Nun mal sachte«, beschwichtigte Roman Sturm sie. Die aufgebrachte Frau wirkte mit ihren zerzausten schwarzen Haaren und den roten Wutflecken auf der hellbraunen Haut von Gesicht und Dekolleté nicht wie eine gefeierte Schauspielerin, als die sie sich so gerne sah.
Na gut, war sie auch nicht, streng genommen. Mal hier ein Casting, dort ein paar Statistenrollen. Seit Neuestem versuchte sie sich an einem eigenen YouTube-Kanal, aber die große Entdeckung ließ noch auf sich warten.
Und jetzt war sie auch noch ihre Wohnung in der Altstadt von Leer los, wie es aussah.
»Ich sei schlecht fürs Niveau der ganzen Straße!«, schnaubte Clara. »Das musst du dir mal reinziehen! Von wegen: nun mal sachte!« Ihre Augen sprühten Funken, ihr Mund Speicheltröpfchen.
Roman schlenderte hinüber in die offene Küche, kam mit drei Gläsern und einem Stück Küchenrolle auf einem Tablett zurück. Er stellte die Gläser ab und wischte betont beiläufig den Glastisch ab. Beruflich hatte er mit ganz anderen Körperflüssigkeiten zu tun, auch wenn die schlimmste Drecksarbeit meistens die Kollegen vom Kriminaldauerdienst im ersten Angriff erledigten. Aber Dienst war Dienst und Spucke war Spucke. Blut am Tatort war eine Sache, Speichel auf dem eigenen Wohnzimmertisch eine komplett andere.
»Ich hole eben was zu trinken.« Das zerknüllte Papier in der Hand, drehte er sich wieder Richtung Küche.
Seine Schwester schien das kurz aus dem Konzept zu bringen, dafür krähte Djure umso schneller: »Ich will Cola!«
»Gibt’s nicht«, erwiderte sein Onkel automatisch. Das fehlte noch, diesem Quälgeist Aufputschmittel einzuflößen. Im Vorbeigehen nahm er dem Fünfjährigen das Modell der Enterprise D aus der Hand und stellte es schön weit oben ins Regal, nachdem er sein kostbares Raumschiff unauffällig abgewischt hatte.
Nicht unauffällig genug offenbar. Clara war schon wieder angefressen. »Was putzt du hier eigentlich ständig hinter uns her, machst du jetzt einen auf Monk, oder was?«
Djure war weniger nachtragend. Er hatte bereits ein gutes Dutzend von Romans DVDs aus dem Regal gezogen und auf dem dunkelblauen Teppich verteilt. Roman wurde abwechselnd kalt und heiß bei diesem Anblick. Zum Glück standen in Kinderhöhe nicht die wirklich seltenen Scheiben. Deswegen ließ Roman seinen Neffen in den Filmen grabbeln und holte eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank.
»Was ist das denn?« Claras Empörung richtete sich von ihrer Vermieterin, über die sie seit mindestens einer halben Stunde schimpfte, auf ihren Bruder. Der war sich keiner Schuld bewusst. Er runzelte die Stirn. Obwohl, Plastikflasche, stimmte schon. Aber immerhin Markenwasser. Was war daran verkehrt? Roman ertappte sich dabei, wie er mit den Fingerknöcheln unter seiner Nase entlangwischte. Die Fingerrücken waren sofort feucht von Schweiß. Warum schaffte seine Schwester es immer noch, ihn wie einen kleinen Jungen in Verlegenheit zu bringen? Schließlich hatte er nicht heimlich ihre Schokoriegel oder Haarspangen geklaut, sondern ihr nur Mineralwasser angeboten.
»Wieso kaufst du denn dieses üble Zeug?« Clara deutete auf das Vittel-Etikett, ihr Finger vibrierte leicht. »Das weiß doch jeder, dass Nestlé einer ganzen Stadt das Wasser abgräbt, um Profit zu machen! Das kannst du doch nicht noch unterstützen!«
Puh, ja, schon mal gehört. Der Konzern, der sich mithilfe von irgendwelchen kurzsichtigen oder womöglich korrupten Politikern die Wasserrechte einer französischen Kleinstadt gesichert hatte und täglich zwei Millionen Flaschen Edelwasser vor allem für den Export nach Deutschland abfüllte. Woraufhin die Dorfbewohner mit Tankwagen in die Nachbargemeinden fahren mussten, um Wasser für ihre Obstplantagen und Tiere zu holen.
»Demnächst muss sogar eine Pipeline gebaut werden, damit die Trinkwasserversorgung gesichert wird«, legte Clara nach. »Der Grundwasserspiegel ist gesunken und die Brunnen und Quellen gehören dem größten Lebensmittelkonzern der Welt statt der Menschen, die über den Wasservorräten leben.«
Als Umweltaktivistin kannte Roman Sturm seine Schwester bisher nicht. Immer mal was Neues, klar, meist aber Medien, Mode, Make-up. Jetzt verfolgte sie ihn also auf sein Lieblingsgebiet »Gerechtigkeit« und führte ihn dort auch noch vor. Wie peinlich war das denn, bitte?
Als das Smartphone in seiner Hosentasche losbrüllte, war Roman geradezu erleichtert über die Ablenkung. Mit einer gemurmelten Entschuldigung zog er das flache Gerät hervor und wischte mit dem Zeigefinger über das Glas, um den Anruf entgegenzunehmen. Das grüne Hörersymbol war unter dem gesprungenen Display kaum zu erkennen, aber noch funktionierte das Ding. Er hielt es altmodisch ans Ohr. Leute, die das Telefon vors Gesicht hielten, als wollten sie in eine Stulle beißen, fand er absurd.
»Ja, Sturm?« Er lauschte, hob abwehrend die Hand, als Djure etwas sagen wollte. »Wo? In Ordnung. Warte auf mich, ich fahre mit dir zusammen raus.«
»Ein Urlauber hat auf der Wache einen toten Seehund gemeldet, sagte Janssen. Aber den Kollegen von der Streife kam die Form merkwürdig vor, darum haben sie uns gleich alarmiert.« Lükka Tammling stand neben Roman Sturm im Deichvorland und starrte hinab auf die Schlickbank. Der Übergang zwischen Land und Wasser war hier buchstäblich fließend. Aus der Luft erschien die Landschaft wie grüne Wiesen, die von verzweigten Flüssen geädert waren. Tatsächlich spülte die starke Strömung von Ebbe und Flut hier im steten Wechsel am Emsufer Priele mit brackigem Wasser, fraß immer aufs Neue tiefe, tückische Kolke und begrub die früher lieblichen Flussauen unter meterdickem leblos fauligem Schlamm.
In den Kronen der hohen alten Bäume zankten die Dohlen, der Wind trug das Tuckern des grün-gelben Deutz-Traktors herüber, an dem sie gerade vorbeigekommen waren.
Ein Haufen graubraun verklebter Federn stank ein paar Meter abseits neben einem Binsenbüschel vor sich hin. Ob Gans oder Möwe, konnte Roman nicht erkennen. Und dort drüben, unerreichbar weit entfernt zwischen dem tiefen braun strudelnden Emsfahrwasser und dem Ufer, sah er flussaufwärts einen länglichen Buckel im Schlick, der auf den ersten Blick tatsächlich einem Seehund glich. Größe und Form passten durchaus, die Farbe war einheitlich schlammgrau und hob sich kaum von der Umgebung ab.
Roman zog ein Fernglas aus der Seitentasche seiner Cargohose und richtete es auf den Matschhügel.
»Was hast du eigentlich nicht in deinen Taschen?«, wollte Lükka wissen. Die Frage musste rhetorisch sein, denn sie kannte Roman lange genug, um sich weder über seine Hosentaschen noch über den Kofferraum seines Wagens zu wundern. Kriminaloberkommissar Sturm war nun mal gerne vorbereitet. Und wenn er dafür ein vollgerümpeltes Auto mit Schlafsack, Wasserflasche, Klappspaten, Gummistiefeln und Packgurten durch Ostfriesland kutschieren oder eben mit ausgebeulten Hosentaschen herumlaufen musste, war das ein geringer Preis, fand Roman.
Deshalb schenkte er sich die Antwort und konzentrierte sich auf die längliche Silhouette. Man konnte das angeschwemmte Ding für einen Seehund halten. Die kulleräugigen Raubtiere, die jeden Urlauber entzückten, wurden bis zu einem Meter achtzig lang und konnten durchaus zwei Zentner wiegen. Natürlich lebten sie eigentlich Dutzende Kilometer entfernt an der Nordsee und jagten im Wattenmeer Granat und Plattfisch, aber immer wieder schwammen welche die Flüsse herauf und sorgten für Schlagzeilen, weil sie in Häfen und Schleusenbecken planschten oder sich in Vorgärten die Sonne auf den Pelz scheinen ließen.
Roman hatte aber bis heute noch keinen Seehund mit Jeans und Sneakers gesehen. Deswegen seufzte er, reichte seiner Kollegin das Fernglas und zog stattdessen das Handy hervor, um bei der Wache anzurufen. Dass sie einen Rettungswagen brauchten, war unwahrscheinlich. Jedenfalls, solange keiner von ihnen über ein im Schlamm vergrabenes Fahrrad stürzte oder sich die Waden an Stacheldraht aufriss. Wer immer da unten lag, war ein Fall für den Bestatter und für die Rechtsmedizin in Oldenburg.
Aber dafür mussten sie ihn zunächst einmal aus dem Zwischenreich des halbfesten Schlick-Wasser-Gemischs befreien und ans trockene Ufer schaffen. Nur wie? Roman bestellte außer den Kollegen von der Wasserschutzpolizei gleich noch Feuerwehr und THW an den Fundort. Großes Aufgebot, klar, und womöglich gab es hinterher Druck wegen der Kosten. Bei einer Rettungsaktion stellte den Aufwand natürlich so leicht keiner in Frage, aber hier ging es letzten Endes nur um eine Bergung.
Andererseits hatte der Tote vermutlich Angehörige, die informiert werden mussten. Er hatte zudem ein anständiges Begräbnis verdient, und falls er gewaltsam ums Leben gekommen war, mussten die Todesumstände aufgeklärt und ein Täter gefunden werden.
Druck würde also wahrscheinlich nicht von oben kommen. Höchstens von ganz unten, aus den Tiefen der Netzwerke, die noch immer »sozial« genannt wurden …
Roman Sturm hörte ein Pfeifen und gnubbelte mit dem Fingerknöchel in seinem Gehörgang, bis er endlich merkte: kein Tinnitus. Er war schon wieder innerlich am Schwafeln und Lükka Tammling versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Ja, was denn?«
»Wie wir ihn da rauskriegen, habe ich gefragt.«
»Die WSP kommt mit dem Boot und das Technische Hilfswerk ist auch unterwegs.«
»Hm.« Lükka Tammling schnaubte und schüttelte den braunen Lockenkopf. »Guck mal auf die Uhr, Roman. Niedrigwasser ist vorbei, die Flut läuft wieder auf. Spätestens in einer halben Stunde ist die Leiche überspült und wird abgetrieben. So schnell ist das Boot nicht da.«
»Dann müssen wir sie sichern, damit sie nicht vertrieben wird und der Wasserschutz sie an Bord nehmen kann«, meinte Roman wenig begeistert. Das Ufer war steil und der Schlick glitschig wie Seife. Trotzdem machte der Oberkommissar sich zögernd auf den Rückweg zu seinem Auto, um das Abschleppseil und Packgurte aus dem Kofferraum zu holen.
*
»Wat is dat för’n Gedrüüs hier? Hest dat Schild neet seihn?« Vor Roman auf dem schmalen Feldweg hatte sich ein ungeschlachter Riese in Arbeitskombi und schweißfleckigem T-Shirt aufgebaut. Ein Stück entfernt stand der Trecker, jetzt leer. Roman war mit seinen Einsachtzig beileibe kein Zwerg und auf seine Muskeln bildete er sich etwas ein, aber er musste den Kopf in den Nacken legen, um seinem Gegenüber ins rote Gesicht zu sehen. Der Bauer musterte Roman von oben bis unten mit finsterem Blick und entschied, dass dieser braunhäutige Winnetou mit den schulterlangen schwarzen Haaren vermutlich kein Platt verstand. »Das ist ein Privatweg hier«, knurrte er. »Kein Durchgang, capito? Ist gefährlich.« Er wies mit einem riesigen Daumen zum Ufer.
Es brauchte ein bisschen Redekunst, den blonden Hünen zu überzeugen, dass er keinen Schwarzangler gestellt hatte. Aber schließlich glaubte er Roman und seinem Dienstausweis, dass dieser Bursche vor ihm tatsächlich ein Kriminaloberkommissar im Einsatz war.
»Leiche im Schlick, soso. Kurz vor der Flut. Und du willst da mit einem Seil rein?« Er lachte mitleidig und wandte sich Lükka zu, die inzwischen dazugekommen war. »De Fent is mall, oder?«
So, ein verrückter Bursche war er also. Roman schnaubte verärgert, musste dem Bauern aber innerlich recht geben. Der Schlick war nicht nur seifig und stank. Vor allem war er tückisch und tödlich, weil diese halbflüssige Masse sich schneller und gründlicher als Treibsand um Beine und Körper schloss und jeder Leichtsinnige in diesem Liquid Mud unweigerlich versank.
»Tööv man eben, mien Jung, ich hab eine bessere Idee«, verkündete der Bauer, stapfte zum Traktor zurück und startete den Motor. Statt hinab zum Flussufer, wie Roman es erwartet hatte, knatterte der Deutz landeinwärts davon und war nach wenigen Augenblicken hinter dem Deich verschwunden. Und worauf sollten sie jetzt warten?
Die Frage wurde beantwortet, als der Bauer nach ein paar Minuten zurückgetuckert kam, mit einem bulligen Pick-up diesmal, auf dessen offener Ladefläche ein großer Holzkasten stand. Er ließ Lükka und Roman einsteigen und fuhr mit ihnen zurück zum abschüssigen Emsufer. Roman bildete sich ein, die Wasserfläche wäre schon breiter als vorhin, die Flut lief tatsächlich bereits auf und die Zeit wurde knapp.
Gemeinsam wuchteten die drei das hölzerne Gestell vom Wagen. Es war eine Art Schlitten ohne Kufen, dafür mit einer breiten Grundfläche. Oben drauf ragte ein Bügel wie ein Kinderwagengriff empor. Roman kannte solche Gefährte aus dem Museum. Früher waren die Emsfischer damit bei Ebbe hinaus zu ihren Reusen und Stellnetzen gefahren und hatten ihren Fang an Land geschafft. Heutzutage wurden Schlickschlitten nur noch für matschige Wettkämpfe mit Hunderten johlenden Zuschauern genutzt.
»Ich hab den Schlickschlitten schon fürs Kreierrennen auf dem Dollart flottgemacht«, erklärte der Blonde. »Ihr habt echt bannig Dusel.« Er schickte sich an, den Schlitten über die Kante auf die Schlickfläche zu schieben. Roman reichte ihm das Seil, das er aus seinem eigenen Auto geholt hatte, aber der Hüne sah ihn verblüfft an. »Was soll ich wohl damit?«
»Na ja. Die … äh … den … äh … Verunglückten bergen …«
»Nee, nee. Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen.« Der Riese schüttelte den Kopf so nachdrücklich, dass sein fusseliger roter Bart wehte. »Das mach du man hübsch selber, Sheriff. Wasserleichen sind nicht so meins.«
Roman Sturm schluckte trocken, dann atmete er tief durch, band sich das Abschleppseil um den Bauch und reichte dem Bauern das andere Ende. Der nickte und befestigte das gespleißte Auge des Taus am Haken der Seilwinde, die auf der Ladefläche seines Wagens montiert war.
»Watt mutt, dat mutt.« Roman leerte seine Hosentaschen, legte sein Smartphone, den Autoschlüssel und alle anderen empfindlichen Gegenstände in Lükkas Hände. Anschließend richtete er den Bug des Kreiers flussaufwärts auf den länglichen Schlammhügel aus, unter dem der Tote lag. Er griff mit beiden Händen den Haltebügel und kniete sich mit dem rechten Bein auf die harte Holzbank des Schlittens. Es kam ihm vor, als kniete er auf einem alten ungepolsterten Küchenstuhl und hielte sich an der Lehne fest. Er holte tief Luft und stieß den linken Fuß kraftvoll auf den Flussgrund.
Sein Fuß versank sofort bis zum Knöchel im Schlick, sonst passierte nichts. Der Schlitten ruckte keinen Zentimeter nach vorne, sackte aber dank seines flachen Bodens und der großen Auflagefläche wenigstens nicht auch noch ein.
Mit Anstrengung zog Roman den Fuß aus der schmatzenden Schlammpackung. Der Matsch klebte zwischen seiner nackten Fußsohle und dem Fußbett seiner Sandale. Beim zweiten Versuch dosierte Roman die Kraft besser und endlich kam Bewegung in den Kreier, auch wenn Romans Fuß im schmierigen Schuh haltlos vor- und zurückrutschte. Beim vierten Stoß hatte er den Bogen endlich raus und brachte den Holzkasten tatsächlich zum Gleiten. Roman blickte hoch, um die zurückgelegte Entfernung abzuschätzen, konnte aber Lükka und den Bauern nicht mehr entdecken, er sah nur den tiefblauen wolkenlosen Sommerhimmel über sich. Das Schlickufer war hier mehrere Meter hoch und er hätte genauso gut auf dem Grund einer Puddingschüssel knien können wie hier im Flussbett.
Also unbeirrt vorwärtsrutschen, die Bewegungen möglichst gleichmäßig wie beim Tretrollerfahren, und vierkant auf die schlickbedeckte Wasserleiche zuhalten. Der Kreier glitt jetzt zügig auf einem Wasserfilm vorwärts, den Roman von oben gar nicht wahrgenommen hatte.
Und da war die Leiche schon, grau und glitschig. Aus der Nähe glich sie keinem Seehund mehr, nicht nur wegen der Kleidung. Jedenfalls keinem aus einem Bilderbuch für Kinder. Jeans und Turnschuhe des angespülten Menschen waren schlammgetränkt, ein geknöpftes Hemd mit kurzen Ärmeln war hochgerutscht und entblößte die unförmig aufgetriebene Körpermitte. Über den Zustand des Gesichtes mochte Roman sich im Augenblick keine Gedanken machen, der Anblick der schrumpelig verquollenen Hand neben der Schlittenkante war mehr als genug für Albträume.
Augen auf bei der Berufswahl, dachte er grimmig und nestelte vom festen Boden des Kreiers aus den mitgebrachten Packgurt mühsam unter dem Oberkörper des Toten hindurch. Dann rangierte er den Bug des Schlickschlittens hinter den Kopf der Leiche und legte den Arm des Toten auf dessen Brustkorb. Mit beiden Händen griff er unter den Achselhöhlen hindurch und packte mit Schaudern von oben den Unterarm des Toten. Nur widerwillig gab der Schlick seine Beute frei. Mit letzter Kraft zog der Polizist die Leiche auf die Ladefläche des Holzkastens, auf der die Emsfischer einst ihren Fang an Land geschafft hatten, und fixierte den Gurt am Haltebügel. Zum Glück war die Verwesung trotz der Sommerhitze nicht so weit fortgeschritten, dass der Leichnam größeren Schaden erlitt. Trotzdem würden die Rechtsmediziner bestimmt einiges an postmortalen Verletzungen dokumentieren müssen. Aber immerhin hatte Roman das Ziel erreicht, den Toten zu sichern, ehe die Flut zurückkam.
Ein Rauschen ließ ihn herumfahren. Gelähmt vor Entsetzen starrte Roman Sturm flussabwärts und sah eine tosende, schäumende braune Wasserwalze mit glitzernder Gischtkrone auf sich zurollen. Als die Gezeitenwelle über ihm zusammenschlug, riss es ihn von den Füßen. Sein Kopf stieß schmerzhaft gegen den Haltebügel des Kreiers, den er umklammerte wie die letzte Brücke zwischen Leben und Tod.
Als hätte Arwen Undómiel mit elbischer Magie die Fluten des Bruinen beschworen, um mit Frodo Baggins vor den Nazgûl zu flüchten, füllte sich das Flussbett der Ems in Windeseile mit schäumendem Wasser. Innerhalb weniger Augenblicke toste die Gezeitenwelle von der Nordsee durch den Dollart heran, überspülte den schlickigen Grund der Ems, wühlte die fein zermahlenen Sedimente auf und brodelte flussaufwärts in Richtung Papenburg, gnadenlos alles mit sich reißend.
Lükka Tammling schrie entsetzt auf, als ihr Kollege vor ihren Augen vom Strudel erfasst und gegen den Griff des Schlickschlittens geschleudert wurde. Dann war von ihm nichts mehr zu sehen. Der Kreier mit seiner unförmigen grausigen Last tanzte auf den Wogen wie ein Rindenboot, wurde Richtung Flussmitte gezogen und trat eine unruhige Reise an wie bei einem bizarren Wikingerbegräbnis.
Auch wenn es sinnlos war und Wahnsinn, wollte Lükka hinabrennen zum Wasser, in die todbringenden Fluten tauchen und den Freund zu retten versuchen.
Eine starke Hand packte sie am Oberarm. Sie wehrte sich vergeblich gegen den Griff, rutschte auf der schlickbedeckten Uferböschung aus und sank aufschluchzend zu Boden.
Der Bauer zog sie mit sich und sie lehnte sich schwer atmend an den Kotflügel des Pick-ups.
Das Drahtseil der Winde auf der Ladefläche des Autos schlängelte sich träge Richtung Fluss wie eine flüchtende Anakonda. Der Bauer drückte auf einem kleinen Kästchen herum und das Seil spannte sich. Langsam und gleichmäßig wickelte sich der Draht auf den rotierenden Zylinder und jetzt durchbrach eine braune Gestalt die Wasseroberfläche, schlenkernd und strudelnd.
Wurden die Gliedmaßen von der Strömung bewegt? Lükka war keineswegs sicher, aber sie klammerte sich an die Hoffnung, dass Roman Sturm lebte, bei Bewusstsein war und versuchte, sich an die Oberfläche zu kämpfen.
Das stark motorisierte Schlauchboot nahm sie erst wahr, als es unmittelbar neben dem am anderen Ende der Leine treibenden Mann gestoppt hatte und ein Wasserschutzbeamter ihn mit geübten Griffen über den Gummiwulst des Bootes zog.
Dass man bei solcher Sommerhitze dermaßen frieren konnte, war schier unglaublich. Aber Romans Zähne schlugen unkontrollierbar aufeinander. Mit beiden Händen umklammerte er den weiß-grünen Porzellanbecher. Er versuchte, den heißen Tee zu schlürfen und sich dabei auf nichts anderes zu konzentrieren als die stilisierte Pflanze auf der Tasse. Roman bemühte sich, die Blätter zu zählen oder wenigstens die Pflanze zu identifizieren, verbrühte sich den Mund an der dampfenden braunen Flüssigkeit und stellte den Becher wieder auf den Tisch.
Um seine Schultern lag eine flauschige, leicht staubig riechende Decke, darunter trug er einen gestreiften Frotteebademantel. Seine Haut dampfte von dem heißen Bad, das er gerade genommen hatte. Die Kälte, die ihn zittern ließ, kam von innen. So nahe wie heute hatte er sich dem Tod vorher noch nie gefühlt, obgleich er schon viele kritische Situationen überstanden hatte.
Wo war oben, wo war unten? Wie weit war es zu Licht und Luft? Wie lange würde der Atem in den Lungenflügeln reichen? Und was zog ihn unwiderstehlich davon wie die Fangarme eines Riesenkraken? Nach unten in die Tiefe? Nach oben zum Leben?
Erst als er hustend, keuchend und salzig-schlammiges Wasser erbrechend auf dem Boden des Schlauchbootes kauerte, gestützt von den Armen eines WSP-Kollegen, war ihm klargeworden, dass er noch sein Abschleppseil um den Leib geschlungen hatte und diese orangefarbene Plastikkordel ihn wie eine Nabelschnur mit dem Stahlseil und der Winde an Land verband.
Am Ufer kotzte er sich schier die Seele aus dem Leib, während das Schlauchboot schon wieder auf dem Rückweg zum größeren Dienstboot war, dessen Besatzung inzwischen den Kreier mit der daran gebundenen Wasserleiche mit Peekhaken zu packen gekriegt hatte.
Lükka hatte ihn natürlich gleich ins Krankenhaus bringen lassen wollen, aber Roman hatte vorhin keinen Rettungswagen angefordert, und so hätten sie wer weiß wie lange darauf warten müssen. Deswegen hatte er das Angebot des Bauern gerne angenommen, erst einmal im Pick-up mit zu seinem nahegelegenen Hof zu fahren, die durchweichte Kleidung loszuwerden und sich aufzuwärmen. Zum Arzt konnte er danach immer noch, fand Roman.
Lükka Tammling war unterdessen mit seinem Auto in die Stadt zurückgefahren, um den ersten Bericht über die Bergungsaktion in den Computer zu tippen. Außerdem wollte sie den Transport der Leiche zur Rechtsmedizin nach Oldenburg veranlassen und bei der Staatsanwaltschaft die Obduktion beantragen.
Roman konnte also im Augenblick ohnehin nichts weiter tun, als sich zu trocknen und aufzuwärmen.
Allmählich ließ der Schüttelfrost nach. Roman kuschelte sich etwas bequemer unter die Decke und entspannte die hochgezogenen Schultern.
Die Tür öffnete sich und der blonde Hüne betrat die Küche, einen dicken Stoffbeutel in der Hand. Er trug statt der Arbeitshose jetzt dunkelblaue Bermudashorts und ein sauberes helles Polohemd und wirkte deutlich jünger als vorhin. Roman schätzte ihn auf Anfang oder Mitte dreißig.
»Na, all up Stee?«, fragte er. Etwas unbeholfen reichte er Roman die Tasche. »Hier, hat die Kollegin für dich dagelassen. Ist man gut so, meine Klamotten würden dir wohl nicht passen.«
Bestimmt nicht, dachte Roman. Der Bauer war einen Kopf größer als er selbst und deutlich breiter. Er legte die Tasche neben sich aufs Sofa.
»Ich habe mich noch gar nicht bedankt.« Roman kratzte sich verlegen am Kopf. Autsch, an seiner Stirn hatte sich nach dem Sturz auf den Schlittenbügel eine fette Beule gebildet. Auch sonst fühlte er sich wie verprügelt.
Der Bauer winkte ab. »Du hast dir das Abschleppseil selbst umgebunden, das war clever. Ich hab nur die Winsch bedient. – Der Tee ist nicht so dein Geschmack?« Er zeigte auf den fast unberührten Pott. »Kannst gerne was Stärkeres haben.«
»Nee, danke. War noch zu heiß. Schmeckt ein bisschen anders als sonst. Ist das keine Ostfriesenmischung?«
»Doch, original Standard. Aber Tee schmeckt ja mit jedem Wasser anders. Deswegen nehmen Butenostfriesen immer einen Kanister Wasser mit, wenn sie zu Besuch nach Hause kommen. Und meine Oma brüht sich den Tee sogar mit unserem eigenen Wasser, sie meint, das sei besser als das aus der Leitung.«
Aus Erzählungen kannte Roman das: Wasser aus dem eigenen Brunnen holen oder aus der Regenback. »Hat meine Oma auch behauptet«, erinnerte er sich. »Sie hat Neujahrskuchen gebacken, solange ich denken kann. Aber jedes Jahr hat sie genörgelt, mit Leitungswasser seien die hauchdünnen Waffeln längst nicht so knusprig wie früher und auch viel zu hell.«
»Kann schon sein. Liegt am Eisen. Also, nicht am Waffeleisen. An dem im Wasser. Wahrscheinlich waren die Waffeln einfach rostig.«
Die Männer lachten einträchtig. Roman fühlte sich endlich behaglich. Die Sonne, die durchs Fenster hereinschien, stand zwar schon tief, hatte aber noch Kraft. Die Hitze des Tages hatte er nach seinem Kampf mit der Gezeitenwelle ganz vergessen, doch jetzt spürte er, dass das alte Bauernhaus die Sommerwärme gespeichert hatte. Seine Gedanken flossen ineinander wie Tee und Sahne, seine Lider schlossen sich von selbst und ließen nur ein rötliches Gold hindurch. Romans Kopf sank auf die Lehne des rot gestreiften Ostfriesensofas.
Im nächsten Augenblick, zumindest meinte er das, schreckte Roman Sturm mit einem Ruck hoch, das Herz wild pochend, Schweiß auf der Oberlippe. Hatte ihn ein Albtraum aus dem wohligen Dämmer geweckt oder ein Geräusch?
Ein Motor brummte, wurde leiser. Anscheinend verließ ein Auto den Hofplatz. Roman Sturm richtete sich auf und fuhr herum, dabei wischte er mit der Wolldecke den vollen Teebecher vom Tisch, der auf dem Fußboden zerschellte.
»Oh, is dar een Wicht up Visiet bi di? Ich wusste gar nicht, dass du Besuch hast, Noah«, erklang eine lebhafte Stimme von der Tür her.
Roman stand höflich auf. In seine dunkelbraunen Augen bohrte sich der Blick aus hellen graublauen mit freundlicher Neugier. Eine gepflegte Frau in den späten Siebzigern mit grauen, ordentlich gelegten Locken und im dezent gemusterten hellen Sommerkleid stand in der Küchentür. Ihr Blick wanderte von den langen schwarzen Haaren über den gestreiften Bademantel hinab zu den dicht behaarten kaffeebraunen Beinen und zurück zum kantigen Kinn mit dem dunklen Bartschatten. Während sie verinnerlichte, dass vor ihr kein »Wicht«, also Mädchen, sondern eher ein langhaariger Wichtel stand, wurden die Augen groß und rund, die Stirn legte sich in Querfalten und der Mund spitzte sich zu einem überraschten »O«. Doch sie bewahrte geradezu royale Haltung und murmelte etwas wie: »Kumm man later up bi mi in de Stuuv«, ehe sie eilig die Küchentür hinter sich schloss und ihre Schritte sich auf der Treppe nach oben entfernten.
»Tja.« Der Bauer räusperte sich. »Ich hätte jetzt doch gerne einen Kruiden. Du auch? Dein Tee ist eh futsch.« Er ging um die Scherben des grün-weißen Bechers und die braune Pfütze herum zum Kühlschrank und fischte zwei Gläser und eine Flasche aus dem Eisfach. Dann goss er den tiefgekühlten Kräuterschnaps ein und reichte Roman Sturm eines der beschlagenen Gläschen. »Prost erst mal. Dass ich Noah heiße, weißt du ja jetzt.«