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An der sonst so beschaulichen Nordseeküste herrscht Aufruhr... neun spannende Krimikurzgeschichten verwandeln Norden und Umgebung in blutige, schaurige und überraschende Tatorte. Zum 40-jährigen Jubiläum des Edelstahl Service-Centers Norder Band AG entstand dieses Projekt, so wurde das Thema Edelstahl auch in die Geschichten eingebaut. Unerwartete Wendungen und Spannung bis zum Schluss zeichnen diese Kriminalfälle aus.
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Seitenzahl: 269
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Glave & Glave Hrsg.
MORD AM LAUFENDEN BAND
Kurzkrimis aus (dem) Norden
Heike Gerdes, Peter Gerdes, Lübbert R. Haneborger, Ulrich Hefner, Jürgen Kehrer, Sandra Lüpkes, Christiane Nitsche-Costa, Nic Schaatsbergen, Enno Voss
ÜBER DAS BUCH
An der sonst so beschaulichen Nordseeküste herrscht Aufruhr... neun spannende Krimikurzgeschichten verwandeln Norden und Umgebung in blutige, schaurige und überraschende Tatorte.
Zum 40-jährigen Jubiläum des Edelstahl Service-Centers Norder Band AG entstand dieses Projekt, so wurde das Thema Edelstahl auch in die Geschichten eingebaut. Unerwartete Wendungen und Spannung bis zum Schluss zeichnen diese Kriminalfälle aus.
IMPRESSUM
Vollständige Taschenbuchausgabe Juni 2023 © 2023 by NORICS GmbH
Ein Projekt zum 40-jährigen Jubiläum der Norder Band AG.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags bzw. der Autoren wiedergegeben werden.
Cover-Gestaltung und Satz: Lena Meissner (NORICS GmbH)
Coverabbildung: © Hauke Wiesner (NORICS GmbH), © kjpargeter Freepik
Fachliche Beratung Edelstahl: Dirk Freitag (Norder Band AG)
Verantwortlich für den Inhalt:
Glave Gruppe
Drechslerstraße 2
26506 Norden
Disclaimer:
Natürlich sind alle Geschichten rein fiktiv und auch die erwähnten Mitarbeiter sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten sind zufällig und lassen keine Rückschlüsse auf die Personen zu.
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
VORWORT
In diesem Jahr wird die von unserem Vater in Norden gegründete »Norder Band AG« vierzig Jahre alt. Ostfriesland ist unsere Heimat und wir fühlen uns der Region sehr verbunden. Wir haben lange überlegt, wie man diese Verbundenheit am besten zum Ausdruck bringen kann und uns ist die Idee gekommen, ein Buch zu verlegen. Es sollte über Norden und die Umgebung erzählen. Seit jeher wurde bei uns viel gelesen und gerade der Austausch von Krimis und guten Romanen gehört in unserer Familie zum Alltag.
So haben wir uns mit einigen Autoren (nah und fern) in Verbindung gesetzt und sie gebeten, Kriminal-Kurzgeschichten für unser eigenes Buch zu schreiben. So ist eine Sammlung von neun Kurzkrimis entstanden, die Norden und Umgebung in unterschiedliche Paralleluniversen gesetzt haben – ausgeschmückt in aller schriftstellerischer Freiheit.
Es war für alle Beteiligten ein spannendes Projekt, mit dem wir etwas für uns ganz Neues ausprobieren konnten. Wir hatten viel Spaß bei der Planung und konnten bei der Umsetzung einiges lernen.
Ein großes »Danke« sagen wir unserem Mitarbeiterteam für das Buchprojekt - Lars für seine Kontakte zu den Autoren, Lena für die Erstellung von Layout und Schriftsatz und Hauke für die Unterstützung bei der Vermarktung.
Wir bedanken uns auf diesem Wege auch noch einmal ganz herzlich für die tolle Zusammenarbeit mit »unseren« Autoren und wünschen Ihnen, liebe Leser, viel Freude und Spannung mit »unseren« Geschichten.
Stefan Glave und Micha Glave
Norden, Juni 2023
Die Szenen und Begebenheiten haben keinen Vorbildcharakter und sind keinesfalls zum Nachahmen gedacht.
Die in diesem Text verwendete männliche Form bezieht selbstverständlich alle anderen Formen mit ein. Auf Verwendung aller Geschlechtsformen wird lediglich mit Blick auf die bessere Lesbarkeit der Texte verzichtet.
INHALTSVERZEICHNIS
Freier
Der Chinese mit dem Kontrabass
Julklapp
Trevisan und die Farben des Todes
Letzter Halt Norddeich-Mole
Das Manöver des letzten Augenblicks
Mutationen
Frisia Vincit
Ein verhängnisvoller Brief
Die Unternehmen der Glave Gruppe
FREIER
Christiane Nitsche-Costa
Wie siehst du denn aus?
Das ist die Therapie. Sie schlägt an.
Sie setzt an, meinst du wohl.
Es geht mir besser, verstehst du nicht?
Ich verstehe nur, dass du dich willentlich hässlich machst. So kann ich mit dir nichts anfangen. So bist du wertlos für mich.
*
Der Tag, an dem ich erste Bekanntschaft mit meiner Zukunft als private Ermittlerin machte, begann wie ein kühler, sonniger Spätsommerfilm, mit wenigen Wolken, die hin und wieder von Westen her übers Wattenmeer hinwegzogen.
Als ich Lord an die Leine nahm, um am Hafen spazieren zu gehen, war ich noch die viel zu kurz geratene Version einer Ex-Kriegsreporterin, die es nur einmal an eine nennenswerte Front und auch sonst kaum zu irgendwas Größerem gebracht hatte. Mein wertvollster Besitz bestand aus einem in die Jahre gekommenen Camper, meiner Kamera, einem Montblanc-Füllfederhalter und meinem treuen Hund, der im Gegensatz zu mir so groß war, dass ich vermutlich hätte darauf reiten können. Aber wer würde seinem Vierbeiner das antun - selbst wenn man immer und überall die Kleinste war?
Ich fröstelte. Eine einfache Strickjacke war nicht mehr warm genug, so früh am Morgen. Der herannahende Herbst ließ grüßen.
Richard Ernst würde mich gegen 10 Uhr in seinem Atelier erwarten. Sein Ruf als ungeduldig, launisch und herrisch eilte ihm voraus, also sputete ich mich. Ein Interview ist immer ein Handel. Dafür, dass mir jemand Rede und Antwort steht, kann er verlangen, dass ich ein paar seiner Regeln akzeptiere. Pünktlich zu sein, war das Mindeste, was ich ihm bieten konnte.
Lord tat mir den Gefallen, ihr Geschäft schnell zu erledigen. Sie tat es wenig ladylike vor dem Anlegesteg einer Segelyacht. Wer wenig mit Hunden zu tun hat, fragt mich immer wieder, wie man eine Hündin Lord nennen kann. Ich antworte dann, dass sie auf keinen anderen Namen hört. Brav sammelte ich ihr Geschäft mit einer entsprechenden Tüte auf und entsorgte alles im nächsten Mülleimer. »Lord«, rief ich. »Komm!« Sie trottete ergeben hinter mir her.
Wenn ich es eilig habe, merkt sie das. Als sie noch kleiner war, konnte ich darauf wetten, dass sie genau dann ein Stöckchen finden würde, mit dem sie es sich auf dem nächsten Grünstreifen gemütlich machte. Diese Zeiten waren gottlob vorbei. Die Ungeduld hatte ich mit meinem heutigen Interviewpartner gemeinsam. Ich überlegte, ob das ein gutes Omen wäre.
Ich ließ Lord im Camper am Wohnmobil-Stellplatz, schnappte meinen Block und die Kameratasche und machte mich auf den Weg. Mit dem Klapprad wäre ich in zwanzig Minuten bei der alten Hofstelle, die sich Richard Ernst zum Atelier ausgebaut hatte. Dort lebte und arbeitete er seit etwa sechs Monaten. In Düsseldorf sei es ihm ›zu provinziell‹ geworden, wie er am Telefon gesagt hatte. Außerdem arbeitete er an einer Skulptur für den Recha-Freier-Platz. Hier hatte die Stadt Norden der früheren jüdischen Lehrerin und Dichterin einen der ›Frauenorte‹ Niedersachsens gewidmet. Doch das Projekt war umstritten, denn die Norderin war nicht einfach nur eine von den Nazis verfolgte Jüdin gewesen, die sich als Gründerin der ›Jugend-Alija‹ ab 1933 für die Einwanderung von Kindern und Jugendlichen nach Palästina eingesetzt hatte: Sie war auch überzeugte Zionistin.
Ich war nicht sicher, ob ich wirklich Lust auf dieses Interview hatte. Aber der Auftrag für die Reihe von Künstlerporträts, den ich für eine Kölner Agentur angenommen hatte, würde mich über den Winter bringen - und den Camper durch den fälligen TÜV. Aus den Augenwinkeln warf ich einen Blick zur Anlage des Hotel Atlantis. Vor der Tür reihten sich Familienkutschen und ein paar schicke Oldies aus Rheinland und Ruhrgebiet, darunter ein knallroter Käfer und ein babyblauer Fiat 500. Wirklich schade, dass ich es mir nicht leisten konnte, dort zu übernachten.
Unterwegs ging ich im Kopf noch einmal die Fragen durch, die ich Richard Ernst stellen wollte. Die meisten würden wohl so etwas wie eine ›Homestory‹ erwarten, verbunden mit der romantischen Vorstellung vom international renommierten Künstler, der sich auf seine alten Tage den Traum von Leben und Arbeiten in der Natur erfüllte. Von den Menschen vor Ort herzlich aufgenommen und liebevoll umsorgt. Aber das taugte höchstens für das Drehbuch einer TV-Vorabendserie.
Und es war nicht die Realität.
Richard Ernst machte sich auch im Alter von 73 Jahren vor allem gerne unbeliebt. Anzuecken war geradezu sein Markenkern - mit seiner Kunst, aber auch als Mensch. Das war in Norden nicht anders als in Düsseldorf, in New York oder Madrid. Allein sein Ruhm und sein internationales Renommee als Künstler ließen die Leute über seine ständigen Beleidigungen hinwegsehen. Aber keiner der anderen Kollegen, die für die Agentur arbeiteten, wollte dieses Gespräch führen. Schon gar keine Kollegin. Frauen gegenüber sei er besonders gallig, hieß es. Kein Wunder, dass keine seiner fünf Ehen je lange gehalten hatte. Alle seine Frauen waren Supermodels gewesen, eine größer und schlanker als die andere. Nur eine hatte es mit ihm ausgehalten: Gunda Koller führte ihm seit fast dreißig Jahren den Haushalt und war sogar mit nach Norden übergesiedelt. Die Frage nach seiner Definition von »provinziell« würde ich stellen müssen. Sie lag einfach auf der Hand.
Ich warf einen Blick auf die Armbanduhr und verlangsamte mein Tempo. Zu früh anzukommen wäre sicher auch keine gute Idee. Außerdem wollte ich nicht mit hochrotem Kopf und schwer atmend vor dem großen Künstler erscheinen. Wer weiß, welche Laune er hatte. In der Zeitung waren am Morgen mehrere Leserbriefe erschienen, die sich vehement gegen die geplante Skulptur wandten. Nicht nur die Konzeption der Figuren als kopflose Silhouette mit Kindern an den Händen, auch die Ausführung als ›Hohlkörper‹, der in Form eines gewickelten Stahlbands die Figuren darstellte, hatte zu Diskussionen geführt. Die Vorstellung verstörte die Menschen, außerdem befürchteten sie Übergriffe von Rechts oder sogar von palästinensischen Terroristen. Dabei hatte der Künstler sonst eigentlich alles richtig gemacht: Recha Freier war eine Tochter der Stadt, er selbst hatte jüdische Wurzeln. Der Platz bot sich an. Selbst das Material bezog er vor Ort bei einer Firma, die auf die Produktion von Bändern und Streifen aus Edelstahl für alle denkbaren Zwecke spezialisiert war. Ich war gespannt auf das Modell, das der Künstler mir zeigen wollte. Das gäbe ein gutes Aufmacherfoto für die Story.
Ich kam zu spät.
Als ich den Hof erreichte, kam mir aus der Einfahrt ein Leichenwagen entgegen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass aus meinem geplanten Interview nichts werden würde. Aber übergroße Pietät gilt eher als hinderlich in meinem Job, also überlegte ich beinahe genauso schnell, dass ich wenigstens einen Nachruf verfassen könnte, sollte Ernst tatsächlich gestorben sein. Dass der Schuldige dabei nicht etwa ein schwaches Herz war, bewies das geschäftige Treiben vor dem Hofgebäude. Die Polizei war gerade dabei, die Einfahrt mit Flatterband abzusperren. In der Tür sah ich eine Frau stehen, die dem Leichenwagen hinterher sah. Das konnte nur Gunda Koller sein.
»Frau Koller«, rief ich und winkte. Sie war fast zwei Köpfe größer als ich und hätte mich beinahe übersehen. Aber dann kam sie langsam zur Absperrung. »Hannah Retter«, stellte ich mich vor. »Wir haben vorgestern telefoniert.«
Gunda Koller war blass, wirkte aber sehr ruhig. »Tut mir leid, Frau Retter, Sie haben sich umsonst auf den Weg gemacht, fürchte ich. Herr Ernst ist leider …«, sie schluckte, »er ist heute Morgen …« Ich nickte und versuchte es mit einer flüchtigen Handbewegung an ihre Schulter. Im selben Moment wurde mir klar, wie skurril das aussehen musste, denn instinktiv ging ich auf die Zehenspitzen.
»Mein Beileid«, sagte ich. »Was ist denn passiert?« Sie schluckte wieder und schüttelte den Kopf. »Es ist so furchtbar.« Jetzt begann sie doch zu schluchzen. In ihren Händen knetete sie ein Tuch, das fleckig aussah. Ich kramte in meiner Jackentasche nach einem Päckchen Taschentücher, war aber nicht schnell genug. Schon hatte ich die erstaunlich schwere Stirn von Gunda Koller auf meiner linken Schulter liegen, wo sie tränenreich in meine Jacke schluchzte. Dann stand plötzlich eine zweite Frau neben uns. »Gunda«, rief sie. »Ich bin sofort gekommen. Ach, Gunda!«
Gunda Koller hob den Kopf und schniefte: »Melanie! Es tut mir alles so schrecklich leid.« Melanie also, Ernsts Tochter aus seiner zweiten oder dritten Ehe. Ich hatte viel über sie gelesen. Sie war nach der Trennung ihrer Eltern bei ihm aufgewachsen. Angeblich war sie all die Jahre sein Model und seine Muse gewesen. Sie sah zwar nicht aus, wie ich mir Models vorstelle. Sie sah auch überhaupt nicht aus, wie das blasse, dürre Gestell, das ich von den Fotos her kannte. Aber live und aus meiner Perspektive wirkt beinahe jeder hünenhaft und übergroß. Sie musste Ende zwanzig sein, wirkte aber eher fünf bis zehn Jahre älter. Mit der Frau von den Fotos, die ich gesehen hatte, hatte sie kaum mehr als die langen Haare und die extreme Blässe gemeinsam. Sie war ungeschminkt, trug weite Hosen und einen schlabbrigen Pullover mit einer halb offenstehenden, übergroßen Bomberjacke darüber. Das Auffälligste an ihr war, dass sie so ausgesprochen still und unauffällig daherkam. Als sie Gunda Koller den Arm um die Schulter legte, fiel mir auf, dass sie dicke Strick-Handschuhe trug. So kalt war es nun auch wieder nicht.
Gunda Koller stützte sich noch immer ein Stück weit auf meine linke Schulter. Offenbar hatte ich die perfekte Höhe für sie. Melanie Ernst wiederum hatte ihre Stirn nun auf der freien Schulter von Gunda Koller geparkt. Ich fragte mich unwillkürlich, was der große Künstler Ernst wohl zu dieser absteigenden Figurengruppe gesagt hätte. Wenn ich nicht aufpasste, würden wir im Domino-Effekt wie ein Kartenhaus einknicken. Aber was sagte Papa immer: »Klein zu sein ist keine Entschuldigung für Schwäche.«
Ein uniformierter Polizist näherte sich. »Gehören Sie zur Familie?« Melanie Ernst hob den Knopf und nickte und Gunda Koller sagte »Ja.« Der Polizist nickte ebenfalls. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich bringe Sie zum leitenden Beamten.«
Es kommt nicht oft vor, dass mir meine mangelnde Körpergröße Vorteile verschafft. Hier war so ein Moment. Befreit von der Last der beiden trauernden Frauen, schlüpfte ich mit hindurch, als Melanie Ernst und Gunda Koller unter dem Flatterband durchtauchten, das der Beamte ein Stück weit angehoben hatte. Was ich mir davon versprach, wusste ich in diesem Moment nicht so genau. Aber dass hier mehr Interessantes zu holen war als eine Polizeimeldung in der lokalen Tageszeitung, lag auf der Hand. Und vielleicht könnte ich wenigstens noch ein Foto vom Modell des Freier-Denkmals machen. ›Die Unvollendete‹, schoss es mir als Arbeitstitel durch den Kopf.
Melanie Ernst ging neben dem Beamten voraus. Die beiden wechselten murmelnd ein paar Worte, dann zog sie ihr Portemonnaie aus der Jackentasche - offenbar, um sich auszuweisen. Gunda Koller und ich trotteten hinterher. Sie schien sich noch nicht so weit gefasst zu haben, dass ihr meine Begleitung als unpassend aufgefallen wäre. »Ich hoffe, sie muss ihn nicht identifizieren«, sagte sie leise. »All das viele Blut.«
Ich musste einfach fragen. »Die Pulsadern?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, sowas hätte er nie getan.« Blieben also die Möglichkeit eines Unfalls oder eines Verbrechens. Ich spürte, wie sich mein Puls beschleunigte. »Dann ist er also gestürzt«, überlegte ich. Dabei gab ich mir Mühe, möglichst unbefangen zu klingen. Wieder schüttelte sie den Kopf. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, sah ich es: Vor dem Panoramafenster an der Gebäudeseite standen einige Scheinwerfer, die eine gespenstische Szenerie beleuchteten. Menschen in weißen Ganzkörperanzügen machten sich an einer Konstruktion aus gewundenem Stahl zu schaffen, die im Innenhof stand. Das musste das Modell der Skulptur sein.
Melanie Ernst blieb wie erstarrt stehen. Der Polizist konnte sie nicht bewegen, weiterzugehen. Gunda Koller seufzte.
»Als ob sie es nicht schon schwer genug hätte«, hörte ich sie sagen, während sie zu der jüngeren Frau aufschloss. Sie nahm sie in die Arme und führte sie einige Schritte beiseite.Sei es übergroße Pietät - hier und jetzt die Kamera zu zücken, verbot sich. Außerdem fiel meine nicht ganz regelkonforme Anwesenheit nun doch langsam auf. Ein Mann in zivil, offenbar der leitende Beamte, sah mich mitsamt meiner Kameratasche einen Augenblick zu lang unschlüssig stehenbleiben, rief dem Uniformierten etwas zu und schüttelte heftig den Kopf. Dieser machte sich gerade daran, Melanie Ernst und Gunda Koller wieder einzusammeln.
»Ich bringe die Tochter«, verteidigte er sich. Der Kripo-Mann gab sich damit nicht zufrieden. »Und die Kurze dahinten?« Er liebte es offenbar plakativ. Ich trat die Flucht nach vorne an und ging direkt auf ihn zu. »Hannah Retter mein Name«, sagte ich. »Ich habe einen Termin.«
Es gab ein kurzes Wortgefecht, das ich natürlich nicht gewinnen konnte. Termin hin oder her, ich hätte hier nichts zu suchen, machte mir der Kripo-Beamte klar. Die Presse sei an einem frischen Tatort definitiv nicht erwünscht. Ich gewann aber immerhin genug Zeit, mir die Szenerie einzuprägen. Der Künstler hatte hier offenbar an seiner Skulptur gearbeitet. Ein Gestell, das wie ein überdimensionaler Tesa-Abroller aussah, barg eine halbleere Rolle Edelstahlband. Auf einem Stoß Stahlbänder, die wie Lakritzschnecken aufgerollt übereinander gestapelt bereitlagen, sah ich eine große Blechschere liegen. Sie sah rostig aus, oder war das etwa Blut? Ein Kriminaltechniker war gerade dabei, ein Nummerntäfelchen daneben zu platzieren. Mitten auf einer hölzernen Europalette stand lebensgroß eine wächsern wirkende Figur ohne Kopf, deren Rumpf bis zur Halskrause mit Stahlband lose umwickelt war. Zwischen den einzelnen Streifen konnte man das blassgelbe Material erkennen, aus dem der Torso bestand. Die Puppe war in Schrittstellung platziert, leicht vorgebeugt, als habe sie es eilig. Die Arme nach hinten ausgestreckt, die Hände geöffnet. Vermutlich hätten sich hier die kleineren Figuren der Kinder anschließen sollen. Die Beine und der linke Arm waren ebenfalls bereits mittels Stahlband konturiert worden. Aus der Schulter ragte ein Stück heraus wie ein Dorn. Hier war ein weiteres Nummerntäfelchen angebracht. Bloß der rechte Arm wirkte befremdlich nackt. Zu Füßen der Puppe hatte jemand einen Umriss markiert. Hier hatte Richard Ernst wohl seinen letzten Atemzug getan.
Der Kripo-Mann gab sich alle Mühe, mir den Blick auf den Tatort zu verdecken. »Heiner Barsch«, stellte er sich vor. Ich zuckte unwillkürlich mit den Mundwinkeln. Nomen est omen. Aber ich kam nicht mehr dazu, mich und ihn in Konversation zu üben. Kaum hatte der Uniformierte Melanie Ernst und Gunda Koller dem Kripo-Barsch zugeführt, durfte er mich auch schon zurück zur Absperrung geleiten. Höflich, aber bestimmt. Barsch war seiner direkten Ausdrucksweise treu geblieben, als er dem Polizisten entsprechende Anweisungen gab. Schwer zu sagen, ob er genug Selbstironie aufbrachte, um über mein Griemeln hinwegzusehen oder ob ihm schlicht jeder Humor abging. Er verabschiedete mich mit dem Rat, bloß keine Spekulationen in die Welt zu setzen und den Dienstweg einzuhalten. »Machen Sie sich nicht unnötig unbeliebt«, rief er mir hinterher. »Rufen Sie die Pressestelle an!«
Als ich wieder aufs Rad stieg, fiel mir am Straßenrand ein roter Käfer auf, der bei meiner Ankunft noch nicht dort geparkt gewesen war. Er hatte ein Düsseldorfer Kennzeichen; sicher gehörte er Melanie Ernst. Nostalgie-Karossen waren unter jenen, die es sich leisten konnten hoch in Mode, stellte ich mal wieder fest. Künstlertochter müsste man sein.
Gegen den Anflug von Neid strampelte ich zurück, als gäbe es keinen Nordwind.
Nach einer kurzen Gassi-Runde mit Lord machte ich mich ans Telefonieren. Bei der Pressestelle der Polizei bekam ich nur Erwartbares zu hören. Richard Ernst sei vermutlich Opfer eines Verbrechens geworden. Die Ermittlungen lägen in Händen der Kripo; sollte sich der Verdacht eines terroristischen Übergriffs erhärten, werde aber der Staatsschutz das Verfahren an sich ziehen. Vorläufig ermittle man in alle Richtungen.
Bei der Firma Friesland Stahl GmbH & Co. KG war man deutlich auskunftsfreudiger.
»Wir liefern unsere Spaltbänder maßgenau, nach den Wünschen der Kunden«, erklärte mir ein so freundlicher wie hoch motivierter Kundenbetreuer. Der Mann war eine Wohltat nach meinen jüngsten Erfahrungen mit der Polizei. Ich erfuhr, dass der rostfreie Edelstahl auf großen Spulen im Werk angeliefert wird. »Sie müssen sich das vorstellen wie eine Rolle Klopapier«, scherzte er. Offenkundig war er beseelt von seiner Aufgabe und begeistert von seinem Metier. Ich bekam per E-Mail einen Online-Rundgang durch den Produktionsprozess und genau die Informationen, die sicher auch die Polizei interessieren würden. Würden die Ränder nicht entsprechend maschinell geschält, sei das Band extrem scharfkantig. »Damit kann man sich fatale Schnittverletzungen zuführen.« Dasselbe gelte für die Schnittkanten an den Enden.
Richard Ernst habe mit einem Wachsmodell aus einem 3D-Drucker gearbeitet, erklärte mir der Mann. Er hatte den Künstler persönlich vor Ort beraten und dafür gesorgt, dass er solche Spulen bekam, die nicht zu groß und zu schwer waren, um von einem einzelnen Mann von Hand abgerollt und verarbeitet zu werden. Gemeinsam hatten sie ein Gestell zum Abrollen der Bänder entwickelt, in das Ernst die ›Ringe‹ einspannen konnte, wie der Fachmann die Lakritzschnecken aus Stahl nannte. Der Künstler habe die Streifen dann mit der Blechschere abschneiden können. Der Fachberater war deutlich stolz auf diese besondere Zusammenarbeit und tief betroffen, als ich ihm erklärte, warum das Werk wohl nicht mehr zur Vollendung reifen würde. Ob Ernst mit Schnittschutzhandschuhen gearbeitet hatte, wollte ich wissen. »Ich habe es ihm auf jeden Fall geraten«, bekam ich zur Antwort.
Als nächstes rief ich meine Agentur an, um die Situation zu erklären und mir das Okay für den Nachruf zu holen. Ich weiß bis heute nicht, warum ich es nicht bekam und wie es sein konnte, dass sich die Nachricht von Richard Ernsts Tod schon verbreitet hatte. Man habe bereits Material von der Presseagentur bekommen, hieß es. Glaube es, wer will. Wie oft schon hatte man mich mit Halbwahrheiten abgespeist. Es war zum Verzweifeln - eine Branche, die sich eigentlich der Wahrheit verschrieben hatte und sich damit brüstete, bei anderen Verfehlungen aufzudecken, ging mit ihren Mitarbeitern kaum besser um als jene, auf die man nur zu gern mit dem Finger zeigte. Doch ich verbrachte eine geschlagene halbe Stunde damit, mich selbst zu verfluchen. Warum hatte ich nicht zuerst die Agentur angerufen? Früher wäre ich schneller gewesen. Doch das war vor der Katastrophe gewesen, die mich zurück in die Freiberuflichkeit katapultiert hatte. Ich schob jeden Gedanken daran beiseite.
Zeit also, sich zu verabschieden. Doch zuerst gönnte ich Lord einen ausgiebigen Spaziergang am Strand, wo sie nach Herzenslust Möwen jagte und nach ungeahnten Schätzen im Sand buddelte. Der Wind frischte auf, doch das war mir ganz recht, denn es half mir beim Nachdenken. Klar, dass Melanie Ernst in den Fokus der Ermittlungen rücken würde. Als einziges Kind würde sie ihren Vater beerben, und dass ihr Käfer schon am Morgen vor dem Hotel Atlantis geparkt gewesen war, bliebe sicher auch der Polizei nicht verborgen. Sie war also vermutlich zur Tatzeit bereits in Norden gewesen. Aber gab es dafür nicht eine Million möglicher anderer Gründe? Und wie genau war Richard Ernst überhaupt ums Leben gekommen? Wer sich einmal der Suche nach Wahrheiten verschrieben hat, kommt nicht mehr davon los.
Fragen machen mich nervös, besonders wenn ich sie mir nur selbst stellen kann. Ich rief Gunda Koller an und bat sie um ein Gespräch. Dass ich keinen offiziellen Auftrag mehr hatte, verschwieg ich ihr geflissentlich. Irgendeinen Abnehmer würde ich schon finden für meinen Nachruf-Text oder was sonst dabei herauskäme.
Ein Interview ist immer ein Handel. Erzähl mir von dir und ich gebe dir dafür Aufmerksamkeit, Anerkennung, Bewunderung, Mitgefühl, Publicity - oder einfach eine Geschichte für eine Geschichte. Damit hatte ich schon öfter Erfolg gehabt. Ich erzählte Gunda Koller von meinem Vater. Nicht die wunderbaren Erinnerungen davon, wie er mich auf seinen Pantoffelfüßen balancieren ließ und mit mir durch die Küche tanzte. Oder davon, wie er mir das Schwimmen beibrachte und mir dabei das Gefühl gab, er halte mich fest, während ich mich schon selbständig über Wasser hielt, ohne es zu ahnen.
Ich erzählte ihr von seiner fordernden Seite, von den manchmal gnadenlos hohen Ansprüchen, die er an sich und den ganzen Rest der Welt stellte - und ganz besonders an mich. Und ich erzählte davon, wie ich immer das Gefühl hatte, all dem nicht genügen zu können.
Ich übertrieb es ein bisschen.
Es funktionierte.
Sie lud mich ein, auf die Hofstelle zu kommen. Es sei ohnehin sehr einsam jetzt dort. Und sie müsse etwas mit mir besprechen.
Das Gelände war wieder freigegeben, bloß der Hof mit der begonnenen Skulptur war noch mit Flatterband gesichert. Gunda Koller empfing mich in der Haustür. Melanie sei von der Polizei zu einer Befragung abgeholt worden, erzählte sie mir unaufgefordert. Sie schwankte leicht, als sie mich durch eine geräumige Diele in eine Stube im hinteren Gebäudeteil führte. Ihre Hände waren krampfhaft zu Fäusten geschlossen.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte sie.
Der Raum war klein und einfach eingerichtet. Eine Bank, ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, ein Bauernschrank. Offenbar war dies Gunda Kollers Wohnbereich. Penibel sauber, spartanisch dekoriert. Bloß ein paar Kinderfotos hingen an der Wand über dem Tisch. Melanie? Strickzeug auf der Bank zeugte davon, dass Gunda Koller hier vielleicht mehr Zeit verbrachte als unbedingt notwendig. So in etwa stellte ich mir das Leben einer Nonne vor. Sie bot mir den Stuhl an, bevor sie sich auf der Kante der Bank niederließ. »Bitte«, sagte sie. »Setzen Sie sich doch.«
Das war es dann auch schon an Förmlichkeiten und Höflichkeiten. Kaum saßen wir, sprudelte es aus ihr heraus.
»Mich hat er ja in Ruhe gelassen«, legte sie los. »Von mir wurde nichts weiter erwartet, als den Haushalt zu führen und dabei möglichst unsichtbar zu sein.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Das ist leichter als man glaubt.« Die unsichtbare Gunda Koller - das konnte ich mir gut vorstellen. Sie legte die Hände auf den Tisch. Noch immer hatte sie sie zu Fäusten geballt. Aus der linken Hand ragte der Zipfel eines Taschentuchs. Es sah blutig aus.
»Ich möchte, dass Sie etwas für mich tun«, sagte sie. »Aber zuerst brauche ich Gewissheit, dass alles, was ich Ihnen sage, unter uns bleibt.« Ich nickte. Kein Vertrauen ohne Verschwiegenheit. Auch das gehört zum Deal.
Es hätte vielleicht schlimmer sein können, was sie mir erzählte. Aber konnte es schlimmer sein, wenn am Ende einer verkorksten Familiengeschichte gewaltsam jemand ums Leben kam? Gunda Koller war dreißig Jahre lang Zeuge davon gewesen, wie Ernst nie Familienvater, sondern immer nur Patriarch war. Wie er alle seine Frauen in ein immer gleiches Schema gepresst hatte, bis sie die Flucht ergriffen. Wie sie ausnahmslos alle das Schönheitsideal einer überschlanken, feenhaft-nordischen Schönheit zu erfüllen hatten. Und wie sich das komplett auf seine Tochter übertragen hatte. Spätestens, seit er sie nach der Scheidung von seiner letzten Frau als Model für seine Skulpturen auserkoren hatte, war Melanie einem Diätwahn verfallen. Sie habe kaum noch gegessen, Stunden im Bad verbracht und sich immer mehr zurückgezogen. »Dabei kommt Melanie eher nach ihrem Vater«, sagte Gunda Koller. »Sie hat dunkle Haare und seinen Körperbau mit den breiten Schultern.« Doch Melanie hatte kritiklos alles unternommen, um so zu sein, wie er sie haben wollte. Bis sie vor einem halben Jahr nach einer besonders aggressiven Diät in einer Klinik gelandet war. »Sie hat es ihr ganzes Leben lang nicht leicht gehabt, wissen Sie.«
Sie habe alles versucht, Melanie von ihren wiederholten Diäten abzubringen, wiederholte Gunda Koller immer wieder. »Ich habe für sie gekocht und gebacken, die leckersten Rezepte.« Sie fing an, aufzuzählen: Apfelküchlein, Omelette, Käsekuchen … Kochclub, Beichte, Gesprächstherapie; ich war nicht sicher, was hier gerade stattfand. Ich unterbrach sie.
»Was kann ich denn nun bei all dem für Sie tun?«
»Ich möchte, dass Sie in Ihrem Nachruf schreiben, wie sehr Melanie ihren Vater geliebt hat, dass sie ein inniges Verhältnis hatten und dass sie so sehr um ihn trauert, wie man nur um einen liebenden Vater trauern kann.« Sie stand auf, ging zum Schrank, zog eine Schublade auf und nahm einen Umschlag heraus. »Ich habe gespart«, sagte sie. »Hab ja nie viel gebraucht.« Sie reichte mir den Umschlag. »Bitte, nehmen Sie.« Ich starrte abwechselnd ihre Hand mit dem Umschlag und ihr Gesicht an. Ich hatte mich der Wahrheit verpflichtet als ich Journalistin wurde. Aber was, wenn die Wahrheit immer nur die halbe Geschichte ist? Egal, ob nun Melanie Ernst ihren Vater getötet hatte oder ob Gunda Koller es war. Zur Wahrheit gehörte, dass er es war, der ein Leben zerstört hatte, noch dazu das seiner eigenen Tochter. Und ob Gunda Koller jemals glücklich gewesen war, durfte man getrost bezweifeln. Womöglich war ihre Sorge um die heranwachsende Melanie ihr kostbarster Lebensinhalt gewesen. Gunda Koller hatte womöglich mehr mit der Frau gemeinsam, deren bizarres Denkmal draußen hinter dem Flatterband nun für immer vergeblich auf Anerkennung und Bewunderung warten würde. Recha Freier hatte rund 10.000 jüdische Kinder vor dem Tod bewahrt, und sie hatte dazu immer wieder Gesetze gebrochen, gelogen und betrogen.
Ich nahm Gunda Koller den Umschlag ab und legte ihn auf den Tisch. »Was auch immer sie sich davon versprechen«, begann ich. »Melanie wird nicht frei sein dadurch, dass Sie ihr einen guten Leumund kaufen.« Ich setzte an, ihr zu erklären, dass die Kriminaltechniker sicher dahinterkämen, dass Melanie ganz ähnliche Wunden an den Händen hatte wie sie und dass ihr Alibi auch nicht sehr viel wert sei. Aber ich kam nicht mehr dazu.
Es klingelte. Sie stand auf. Bevor sie hinausging, sah sie mich beschwörend an. »Melanie saß im Hotel beim Frühstück, als ich die Polizei gerufen habe«, sagte sie. »Ich habe alles in Ordnung gebracht, so wie immer.« Sie öffnete ihre Hände, besah sich die Schnitte in den Innenflächen und nickte bekräftigend. »Vielleicht wird sie nicht frei sein, aber sie wird bestimmt freier.« Dann ging sie hinaus und den langen Flur entlang zur Haustür. Ohne zu schwanken. »Guten Abend, Frau Koller«, hörte ich eine Männerstimme. Barsch.
»Danke, dass Sie gleich gekommen sind«, antwortete Gunda Koller. »Ich möchte ein Geständnis ablegen.«
Ich stand an der Tür der kleinen Stube, die plötzlich sehr kalt wirkte. Auf dem Tisch lag der Umschlag wie eine Anklage. Ich stand auf und stopfte ihn in meine Jackentasche. Dann zückte ich mein Handy, um die Wand mit den Kinderbildern zu fotografieren und mir die Redaktionsnummer der Lokalzeitung herauszusuchen. Lord würde sich freuen, noch ein bis zwei Tage bleiben zu können. Wir hatten einen Auftrag. Für Wahrheiten gibt es immer Abnehmer.
CHRISTIANE NITSCHE-COSTA
Freiberufliche Autorin, Journalistin
Christiane Nitsche-Costa wurde 1964 in Köln geboren, ist nun wohnhaft in Gronau/Westfalen. Seit 1999 ist sie als freiberufliche Journalistin, Texterin, Dozentin und Autorin tätig.
Literarisches:
• »Mabel’s Sweetest« in »Wenn der Tod lachen könnte« (hrsg. von Sophie Sumburane, fhl-Verlag 2013)
• »Stoff für alle«, Sommerkrimi in den Westfälischen Nachrichten Gronau, 16 Folgen (August 2016)
• »Vechtegeschichten - Vechtverhalen. Erzählungen vom Fluss - vertellingen van de Rivier«, Bild- und Erzählungsband in zwei Sprachen mit Geschichten vor dem Hintergrund der Vechte (als Herausgeberin, Projektleitung und Fotografin im Auftrag des Landkreises Grafschaft Bentheim, Nordhorn 2018)
• Preisträgerin der Ausschreibung »Go East« von Kulturgut Haus Nottbeck mit »Der einsame Sex Shop« (2019)
• Frühjahr 2023: »Besser als der Tod«, Kriminalkurzgeschichte in Bremer Migrations-Anthologie »Der Tod sagt Ahoi« (hrsg. von Alexa Stein und Nina Schindler in Kooperation mit dem Auswandererhaus Bremerhaven)
• Sommer 2023: »Freier«, Kriminalkurzgeschichte in Norder Kriminalanthologie »Mord am laufenden Band« zum Firmenjubiläum der Norder Band AG (Glave & Glave Hrsg.)
DER CHINESE MIT DEM KONTRABASS
Peter Gerdes
»Was denn nun?«, fragt Onno Kniep ungeduldig. »Klauen wir den Laptop von dem Typen? Oder seinen alten PC?«
»Beides zu unsicher«, antwortet Menno Knieper. »Am besten, wir holen uns gleich den Chinesen.«
»Den Chinesen?« Kniep macht runde Augen. »Wie sollen wir denn an den rankommen?«
»Ganz einfach«, behauptet Knieper. »Heute Abend in seinem Übungskeller. Da spielt er Kontrabass.«
»Der Chinese spielt Kontrabass?« Kniep ist sich nicht sicher, ob er verarscht wird, und guckt vorsichtshalber böse. So guckt er meistens.
»Ja«, bestätigt Knieper. »Er hat eine Hobbyband, zusammen mit zwei anderen Chinesen. Jazz oder so. Er spielt Bass.«
»Na dann.« Kniep tut so, als ob er überlegt, aber überlegen ist nicht seine Stärke. Also stimmt er zu. »Holen wir uns den Chinesen.«
Angefangen hat alles ein paar Nummern kleiner. Nämlich so:
»Holz«, sagt Knieper am Morgen, als er den alten Ofen anheizt. Es ist kalt, Knieper kann seinen Atem sehen. »Mit Holz kann man Geschäfte machen in diesen Zeiten. Brennholz wird immer teurer. Verkauft sich wie geschnitten Brot! Die Leute verheizen alles, was kein Russengas ist. Überleg mal, wo kriegen wir Holz her? In großen Mengen?«
Kniep umklammert seinen Teebecher mit beiden Händen; er möchte sich wärmen, aber sein Tee steht schon eine Weile, daher weiß er nicht, wer hier gerade wen wärmt, der Tee seine Hände oder umgekehrt. ›Im Wald‹ ist die erste Antwort, die ihm einfällt, aber die behält er für sich. Alle Welt fährt gerade in die Wälder, Brennholz klauen, und die Förster haben Flinten. Wo sonst, im Baumarkt? Die führen Brennholz, schön abgepackt und schön teuer. Aber Baumärkte sind tagsüber zu belebt und nachts zu gut gesichert. Kniep und Knieper kennen sich nicht aus mit Schlössern und Alarmanlagen. Offene Türen wären besser. Aber wer lagert große Mengen Holz bei offenen Türen? Ach ja, richtig!
»Bei Bakker«, sagt Kniep.
»Bei Bakker?« Knieper guckt völlig verständnislos, was gewöhnlich Knieps Rolle ist. »Wie meinst du das, bei Bakker?«
»Na ja, Bakker eben. Norder Form AG. Da hab‘ ich mal gejobbt.«
»Norder Form? Mensch, Junge, ich habe Holz gesagt!«
Kniep grinst überlegen; das Gefühl eines Wissensvorsprungs hat er nicht oft, also kostet er es aus. »Klar haben die Stahl bei Norder Form«, sagt er schließlich. »Jede Menge sogar. Kriegen sie in Coils geliefert, die wiegen etliche Tonnen pro Stück! Dann werden die da verarbeitet.«