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Sylt ist von der Außenwelt abgeschnitten! Kurz vor Heiligabend peitscht ein eiskalter Wintersturm über die Nordseeküste. Im Hafen von List finden mehrere Fischkutter Zuflucht vor den tosenden Wellen. Doch der vermeintlich sichere Hafen wird zum eisigen Grab, als Thore Hansen, der Kapitän eines der Boote, leblos im zugefrorenen Hafenbecken treibt.
John Benthien, Hauptkommissar der Flensburger Kriminalpolizei, will auf seiner Heimatinsel eigentlich Überstunden abfeiern, doch stattdessen übernimmt er mit seinem Team - und mit Hilfe seines Vaters - die Ermittlungen. Ein Mordfall zeichnet sich ab, und die Hintergründe sind so undurchsichtig wie die winterliche Nordsee ...
Dieser Krimi ist zeitlich nach dem Roman "Kalte Marsch" von Nina Ohlandt und Jan F. Wielpütz angesiedelt. Wie jeder Kurzkrimi der "Jahreszeiten-Reihe" kann er eigenständig und ohne Kenntnis der anderen Benthien-Krimis gelesen werden.
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Sylt ist von der Außenwelt abgeschnitten! Kurz vor Heiligabend peitscht ein eiskalter Wintersturm über die Nordseeküste. Im Hafen von List finden mehrere Fischkutter Zuflucht vor den tosenden Wellen. Doch der vermeintlich sichere Hafen wird zum eisigen Grab, als Thore Hansen, der Kapitän eines der Boote, leblos im zugefrorenen Hafenbecken treibt.
John Benthien, Hauptkommissar der Flensburger Kriminalpolizei, will auf seiner Heimatinsel eigentlich Überstunden abfeiern, doch stattdessen übernimmt er mit seinem Team – und mit Hilfe seines Vaters – die Ermittlungen. Ein Mordfall zeichnet sich ab, und die Hintergründe sind so undurchsichtig wie die winterliche Nordsee …
Dieser Kurzkrimi der „Jahreszeiten-Reihe“ ist zeitlich nach dem Roman „Schwarze Dünen“ von Nina Ohlandt und Jan F. Wielpütz angesiedelt.
Die Scheibenwischer des alten Citroëns XM kamen nur ruckelnd gegen die Schneeflocken an, die aus dem Nachthimmel herabrieselten und eine dichte Schicht auf der Windschutzscheibe bildeten. John Benthien, erster Hauptkommissar der Flensburger Kriminalpolizei, hatte die Scheibe nur notdürftig freigekratzt, für mehr war keine Zeit gewesen. Er stellte den Wischerhebel auf höchste Stufe und folgte langsam der verschneiten Hafenstraße in Richtung des Lister Hafens. Links und rechts lagen die Häuser noch im Dunkeln. Der Schnee hatte sich wie eine Haube aus Zuckerwatte auf die Reetdächer gelegt.
Der Anruf aus dem Präsidium in Flensburg hatte ihn vor einer Viertelstunde um kurz vor fünf Uhr erreicht. John hatte in seinem alten Friesenhaus in den Lister Dünen neben dem prasselnden Kamin auf dem Sofa gesessen und in einem Buch gelesen. Wie so oft in den vergangenen Wochen hatte er nicht schlafen können. Einer Legende nach gab es, was die Nachtruhe betraf, lediglich zwei Arten von Menschen: Die einen taten auf Sylt grundsätzlich kein Auge zu, während die anderen wie die Murmeltiere schliefen. John hatte nie an solches Seemannsgarn geglaubt, schließlich war er auf der Insel aufgewachsen und hatte sämtliche Zwischenstadien erlebt. Doch in letzter Zeit wachte er mitten in der Nacht auf und konnte partout nicht mehr einschlafen. Vielleicht lag es am Alter, die fünfzig rückten unaufhaltsam näher.
Nach dem Telefonat mit dem Präsidium hatte er sich schnell Hose und Jacke angezogen. Von dem alten Kapitänshaus, das er sich mit seinem Vater Ben teilte, waren es weniger als zwei Kilometer bis zum Lister Hafen. Bei diesen Wetterverhältnissen aber kam er nur im Schneckentempo voran. Zum Glück waren ansonsten keine Autos auf der Straße.
Im Autoradio, das noch ein Kassettenfach hatte, endeten gerade die Nachrichten. Ein Sturmtief hing seit knapp einer Woche über der Nordsee zwischen zwei Hochs fest, eine Blockadelage, die auch in den kommenden Tagen Nordfriesland und die Inseln mit Schnee, Eis und Wind überziehen würde. Alle Fährverbindungen waren eingestellt, ebenso der Zugverkehr über den Hindenburgdamm, und an einen geregelten Flugverkehr war nicht zu denken. Sylt blieb wie Amrum und Föhr vorerst vom Festland abgeschnitten.
Eigentlich keine schlechte Sache, dachte John. Die übliche Invasion der Festtagsgäste würde vielleicht ausbleiben und das Weihnachtsfest wirklich ein besinnliches werden.
Er spürte, wie er zu zittern begann, und schob den Heizungsregler auf Maximum. Doch es kam nur lauwarme Luft aus dem Gebläse. Der betagte Motor brauchte schon unter normalem Witterungsbedingungen viel zu lange, um warm zu werden. Vermutlich konnte John froh sein, dass er überhaupt angesprungen war.
Das Wetter drohte auch seine Festtagsplanung durcheinanderzuwirbeln. Noch eine Woche bis Weihnachten, und er wollte Heiligabend mit seiner Tochter Celine und seinem Vater hier auf der Insel verbringen. Ben war vorgestern mit einem der letzten Züge angekommen. Ob Celine es unter den derzeitigen Umständen ebenfalls hierher schaffen würde, war mehr als fraglich.
Obwohl sie mittlerweile volljährig war und bestens allein klarkam, bedauerte John inzwischen, dass er nicht bei ihr in Flensburg geblieben war. Er musste Überstunden abfeiern und hatte die freien Tage dazu nutzen wollen, das Kapitänshaus auf Vordermann zu bringen und alles für gemütliche Festtage mit seinen beiden liebsten Menschen herzurichten.
Blieb zu hoffen, dass sich bis Weihnachten noch ein kleines Wetterwunder einstellte.
John steuerte den Citroën auf den Fähranleger zu und blieb hinter dem Notarztwagen und dem Rettungsdienst stehen. Davor parkten zwei Streifenwagen. Das Blaulicht flackerte in der Nacht und erhellte die bunten Fassaden der Läden und Restaurants auf dem Hafenvorplatz.
Bevor er ausstieg, klappte John den Innenspiegel auf seiner Seite herunter. In der Eile hatte er auf die morgendlichen Instandsetzungsmaßnahmen verzichtet. Die braunen Haare, in die sich die ersten silbernen Strähnen schlichen, standen ihm strubbelig vom Kopf, und unter seinen müden Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. Er fuhr sich mit der Hand über die Wange, wo die grauen Bartstoppeln sprossen. Etwas zerknittert, dachte er, aber nach der durchwachten Nacht hätte es schlimmer sein können.
Der eisige Wind wehte ihm die Schneeflocken ins Gesicht, als er die Wagentür öffnete. John stieg aus, schloss den Reißverschluss seiner Jacke und schlug den Kragen hoch. Dann ging er zu den drei Streifenpolizisten hinüber, die mit den Rettungssanitätern und einem Mann in Zivil, vermutlich dem Notarzt, am Rand des Hafenbeckens in einem Halbkreis standen.
John ließ den Blick kurz über den Hafen schweifen. Wie gewöhnlich lag der Seenotkreuzer Pidder Lüng hier, ebenso das Forschungsschiff Mya II, der Whiskykutter The Angel’s Share und zwei Schiffe der Adler-Ausflugslinie. Die Stammgäste hatten allerdings unerwarteten Besuch von fünf Fischkuttern bekommen, die Zuflucht vor dem Sturm gesucht hatten. Sie lagen in einer Reihe an der Hafenmauer vertäut. Ihre Festmacherseile, die an Land reichten, waren mit Schnee bedeckt, und lange Eiszapfen hingen an ihnen herab.
Das Hafenbecken war zu weiten Teilen zugefroren. Lediglich eine schmale Furt war von der Einfahrt in Richtung der Schiffe zu erkennen, wo das Eis offenbar erst vor Kurzem aufgebrochen worden war.
Als John sich der Gruppe näherte, löste sich daraus eine junge Frau in Polizeiuniform und kam ihm entgegen. Ihr Gesicht war vom Wind gerötet, und ihre Augen tränten. Es war Soni Kumari, die neue Polizeichefin von Sylt, die den altgedienten Kollegen Arndt Schäfer ersetzt hatte. Unter ihrer Wintermütze lugte schwarzes Haar hervor.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie und streckte John zur Begrüßung die Hand hin. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie Ihren Urlaub unterbrechen.«
»Kein Problem«, antwortete er. »Wenn Not am Mann ist, bin ich selbstverständlich zur Stelle.«
Kriminalrat Gödecke hatte sich vorhin am Telefon mehrmals dafür entschuldigt, dass er John die wohlverdienten Ferien verdarb. Da er aber nun einmal vor Ort war, bei diesem Wetter und zu dieser nachtschlafenden Stunde … Gödecke hatte im Gegenzug versprochen, einen todesmutigen Hubschrauberpiloten zu finden, der ein paar Kollegen zu seiner Verstärkung auf die Insel flog.
John folgte Soni Kumari. Als sie bei der Gruppe ankamen, traten die Männer beiseite und gaben den Blick auf einen Körper am Boden frei, der mit einer Decke verhüllt war.
Mit einem knappen Nicken grüßte John die Streifenkollegen und sah den Mann in Zivil an. »John Benthien von der Kripo Flensburg. Sie sind der Arzt?«
»Richtig. Tadeus Witmer. Ich … ich habe meine Praxis hier in List erst vor ein paar Monaten eröffnet, und ich … also ganz ehrlich, mit so etwas habe ich noch nicht zu tun gehabt. Ich weiß nicht, was Sie von mir erwarten, aber …«
»Schon gut, beruhigen Sie sich. Die Rechtsmedizin wird sich um alles Weitere kümmern.« John blickte auf den Körper, der vor ihm auf dem Boden lag. »Es geht für den Moment lediglich darum, das wohl Offensichtliche festzustellen.«
»Wenn es nur das ist …« Witmer kniete sich hin und hob die Decke an. »Er ist ganz augenscheinlich tot.«
Der Tote war vollständig angezogen. Dunkelblaue Hose und ein Troyer in der gleichen Farbe. Das Gesicht mit dem dichten Bart war blau marmoriert, und ein grauer Haarkranz lag nass und gefroren um die Halbglatze.
»Ist er ertrunken?«, fragte John.
»Eventuell.« Der Arzt hob den Kopf des Toten an und drehte ihn zur Seite, sodass John das Loch in der Schädeldecke sehen konnte. »Vermutlich war dies der Auslöser für seinen Tod. Entweder hat ihn die Verletzung sofort getötet, oder aber er wurde bewusstlos und ist dann ertrunken. Der Rechtsmediziner müsste feststellen, ob sich Wasser in der Lunge befindet.«
»Könnte die Kopfverletzung von einem Sturz stammen?«
»Das weiß ich nicht … vielleicht ein Sturz aus größerer Höhe auf das Eis.« Witmer zog die Schultern hoch. »Vielleicht aber auch ein Schlag. Das fragen Sie lieber den Rechtsmediziner.«
»Natürlich. Vielen Dank erst mal.«
»Kann ich dann gehen?«
»Einen Moment noch.« John erhob sich, holte sein Smartphone hervor und wählte die Nummer von Gödecke. Als er die Stimme des Kriminalrats hörte, fragte er: »Wie sieht es mit der Spurensicherung aus?«
»Unterwegs, zusammen mit der Verstärkung. Der Pilot konnte mir allerdings nicht garantieren, dass sie es auf die Insel schaffen, aber sie versuchen es.«
»In Ordnung.«
John beendete das Gespräch und wandte sich wieder Witmer zu. »Die Spurensicherung ist auf dem Weg hierher. Sie kümmert sich um den Abtransport. Ich würde Sie und die Sanitäter aber bitten, noch vor Ort zu bleiben, bis die Kollegen eintreffen. Sollten sie wegen des Wetters nicht landen können, müssen Sie die Leiche fortschaffen.« John wandte sich Soni Kumari zu. »Vielleicht können wir einen provisorischen Schutz errichten?«
»Wir kümmern uns darum«, sagte sie und sprach dann kurz mit ihren Streifenkollegen.
»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte John, als Kumari wieder bei ihm war.
»Der Hafenmeister, beim Versuch, das Eis im Hafenbecken aufzubrechen.«
John blickte noch einmal zu der Furt in der Eisdecke. »Das bedeutet, der Tote war im Wasser unter dem Eis?«
»So ist es. Der Hafenmeister hat sich von der Hafeneinfahrt nach innen durch das Eis vorgearbeitet, und dann ist er auf die Leiche gestoßen.«
»Aber wie konnte der Mann ins Wasser gelangen, wenn das Hafenbecken zugefroren war?«
»Der Hafenmeister sagt, dass er mehrmals am Tag versucht, das Becken offen zu halten, damit das Eis nicht zu dick wird. Zuletzt hat er es gestern Abend gegen einundzwanzig Uhr aufgebrochen. Er meinte, danach habe sich das Eis wieder neu gebildet.«
»Wissen wir schon, wer der Tote ist?«
»Tatsächlich, ja. Sein Name ist Thore Dahl. Er war Kapitän der Magellan.« Soni Kumari deutete mit einem Nicken auf einen der Fischkutter. »Das Schiff liegt dort drüben.«
»Wer hat ihn identifiziert?«
»Sein Maschinist. Peter Greve heißt der Mann. Er kam dem Hafenmeister zu Hilfe.«
»Ich möchte mit ihm sprechen.«
»Dachte ich mir. Greve wartet in meinem Auto. Kommen Sie mit.«
Kumari ging voraus zu ihrem Streifenwagen. John warf im Gehen noch einmal einen Blick auf die Magellan. Auf dem Bug des Kutters konnte er in den Schatten die Silhouette einer Frau erkennen. Sie hatte die Arme um die Brust geschlungen und blickte zu ihnen herüber.
»Was, bitte schön, soll das? Warum werde ich festgehalten?« Peter Greve warf John einen zornigen Blick zu, als dieser sich neben ihn auf die Rückbank des Streifenwagens schob und die Tür hinter sich schloss. Soni Kumari nahm auf dem Fahrersitz Platz. Im Wageninneren war es warm, und erst jetzt bemerkte John, wie sehr ihn die wenigen Minuten im Freien bereits durchgefroren hatten.
»Guten Morgen«, erwiderte er auf die schroffe Begrüßung und zeigte dem Mann seinen Dienstausweis.
»Kripo?« Peter Greve schenkte dem Ausweis nur einen kurzen Blick und bekräftigte dann: »Trotzdem kein Grund, mich festzuhalten. Ich werde Beschwerde einlegen!«
Der Maschinist der Magellan war eine hagere Gestalt. Die Wangen in seinem von Wind und Wetter gebräunten Gesicht waren eingefallen, und ein kurzer, grau melierter Bart verdeckte das fliehende Kinn. Die silbergrauen Haare trug der Mann zu einem Seitenscheitel gekämmt. Auf seiner Nase saß eine Brille mit schwarzem Rand. Entfernt erinnerte er John an den amerikanischen Schauspieler Jeff Goldblum.
»Tun Sie das«, sagte John, »aber die Kollegin hat korrekt gehandelt. Sie sind ein wichtiger Zeuge, und sie ging richtigerweise davon aus, dass ich mit Ihnen sprechen möchte.«
»Das könnten Sie auch drüben auf dem Schiff tun.«
John setzte ein Lächeln auf. »Mich interessiert Ihr unverfälschter Ersteindruck. Also, das da drüben ist Ihr Kapitän, Thore Dahl?«
»So ist es.« Greve seufzte, senkte den Kopf, und seine Wut schien Trauer zu weichen. »Ich … weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist furchtbar.«
»Sie halfen dem Hafenmeister, die Leiche aus dem Wasser zu ziehen?«
»Ja. Der Hafenmeister war gerade dabei, das Eis aufzubrechen, als er einen Schreckensschrei von sich gab. Ich bin gleich hin.«
John warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz vor halb sechs. »Um wie viel Uhr war das?«
»Muss zwischen vier und halb fünf gewesen sein.«
»Und wo genau waren Sie, als Sie den Hafenmeister bei seinem Fund beobachteten?«
Greve deutete mit einem Nicken aus dem Fenster. »Dort drüben an der Mole.«
»Darf ich mich erkundigen, was Sie um die Uhrzeit dort getrieben haben?«
»Ich habe Schlafstörungen. Anstatt mich wach im Bett zu wälzen, vertrete ich mir dann lieber die Beine an der frischen Luft.«
Auf die Idee hätte ich auch kommen können, dachte John. Besser als stundenlang wach im Bett zu liegen war das allemal. »Wann brachen Sie zu Ihrem Spaziergang auf?«
»Kurz vorher.«
»Und wie lang lagen Sie schon wach?«, fragte John.
»Etwa eine halbe Stunde. Ich bin gegen dreiundzwanzig Uhr zu Bett und habe ein paar Stunden geschlafen, bevor ich wieder aufgewacht bin. Da war es drei Uhr in der Nacht. Dann habe ich erst etwas gelesen.«
»Haben Sie in der Zeit etwas Ungewöhnliches beobachtet? Zum Beispiel, wie Ihr Kapitän ins Hafenbecken stürzte?«
»Nein.« Greve schüttelte den Kopf. »Dann wäre ich ihm doch sofort zu Hilfe geeilt. Auf dem Schiff herrschte absolute Stille. Meine Kabine geht zum Hafenbecken hinaus. Jemanden, der ins Wasser stürzt, hätte ich sicherlich gehört.«
»Halten Sie es für möglich, dass es kein Unglück war, das Ihren Kapitän das Leben kostete?«
Greves Augen weiteten sich hinter der schwarzen Brille. »Sie meinen … dass ihn jemand ermordet hat? Nein, wo denken Sie hin!«
»Ich muss alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.« John blickte hinüber zum Fischkutter, den der tote Kapitän befehligt hatte. »Sie sind Maschinist?«
»Korrekt.«
»War Thore Dahl lediglich der Kapitän der Magellan, oder gehörte ihm das Schiff?«
»Es war seines. Er hat sich das alles in jungen Jahren aufgebaut. Ich war von Anfang an dabei.«
»Dann waren Sie mit ihm befreundet?«
»Kann man so sagen.«
»Wer übernimmt jetzt das Kommando?«
Greve blickte durch das Fenster zu dem Schiff. »Schätze, die da drüben wissen noch nicht Bescheid. Aber ich denke, dass Lys oder Bern jetzt das Ruder übernehmen.«
»Wer sind die beiden?«
»Seine Ehefrau und der Sohn.«
»Dann kommen Sie.« John öffnete die Tür. »Überbringen wir ihnen die schlechte Nachricht.«
John stieg hinter Peter Greve über den verschneiten Steg an Bord der Magellan. Dabei hielt er sich am Geländer fest und achtete bei jedem Schritt darauf, nicht auf dem eisigen Untergrund auszurutschen. Der Maschinist bat ihn, einen Moment bei einem Unterstand zu warten, und machte sich dann auf die Suche nach dem Sohn und der Ehefrau des Kapitäns.
Währenddessen beobachtete John, wie Soni Kumari und ihre Kollegen an Land ein provisorisches Zelt über der Leiche errichteten. Der Wind hatte ein wenig nachgelassen, was das Unterfangen wohl erleichterte.
»Kommen Sie!« Greve sah von einer Treppe zu ihm herunter. John folgte ihm hoch zur Kommandobrücke. Schnee wehte mit ihnen hinein, als Greve die Tür öffnete. Eine ältere Dame und ein junger Mann erwarteten sie.
»Benthien, Kripo Flensburg …«, begann John, doch die Frau unterbrach ihn mit erschrockener Miene.
»Stimmt es, was Peter uns gerade berichtet hat?« Sie hatte halblange graue Haare, die ihr bis zu den Schultern reichten, und ein spitzmausiges Gesicht, das von Falten zerklüftet war.
»Wir haben eine Leiche aus dem Hafenbecken geborgen. Wir gehen davon aus, dass es sich um Thore Dahl handelt.«
Die Frau schlug eine Hand vor den Mund. Der junge Mann blickte John unbewegt an. Die Ähnlichkeit zu dem toten Kapitän war unverkennbar. Er hatte die blonden Haare an einer Seite bis auf die Kopfhaut abrasiert, auf der anderen Seite des Scheitels hing eine lange Mähne herab. Seine Wangenknochen traten deutlich hervor, und er trug einen Kinnbart.
»Lys Dahl und Bern Dahl?«, erkundigte sich John.
Die Frau brauchte einen Moment, bis sie reagierte. »Ja«, sagte sie und wischte sich mit einer Hand die Tränen von den Wangen. Der junge Mann nickte nur.
»Es tut mir sehr leid«, sagte John.
»Was ist … denn mit ihm geschehen?«, fragte Lys Dahl. »Ich … kann mir das gar nicht erklären. Er …«
John bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der junge Mann ihn weiter argwöhnisch musterte. Er hatte noch keinen Ton von sich gegeben.
»Wir wissen noch nicht, was ihm zugestoßen ist. Es sieht nach einem Unfall aus, aber das werden die weiteren Ermittlungen zeigen. Ich werde Ihnen leider einige Fragen stellen müssen.«
Peter Greve schob sich neben Lys Dahl und drückte ihren Oberarm. »Es ist furchtbar. Du musst jetzt stark sein. Wie wäre es, wenn ich uns erst mal einen Kaffee mache?«
Lys Dahl nickte, und Peter Greve verschwand nach draußen.
John blickte sich um und sah nichts, was man auf der Brücke eines Kutters nicht erwartet hätte. Das Steuerrad war an einem Pult voller Kontrollanzeigen und Schalter befestigt. Davor ein im Boden verankerter Stuhl für den Steuermann. Auf dem Pult war hinter dem Steuer ein kleiner Weihnachtsbaum befestigt, dessen Lichter blinkten.
Durch die Fenster ringsum konnte man das Hafenbecken überblicken. John sah, wie Soni Kumari zum Schiff herüberkam, während die Streifenkollegen zurückblieben.
»Wie lange sind Sie schon auf den Beinen?«, fragte John.
Lys Dahl und ihr Sohn wechselten einen verwunderten Blick.
»Wir sind gerade aufgestanden, warum?«, fragte sie.
John deutete mit einem Nicken auf das Hafenbecken. »Ich habe mich gerade gefragt, warum lediglich Ihr Maschinist dem Hafenmeister zu Hilfe kam.«
»Dem Hafenmeister?«
»Er fand die Leiche Ihres Mannes beim Versuch, das Eis aufzubrechen. Ich haben mich nur gewundert, dass niemand von Ihnen mitbekommen hat, was dort drüben vor sich ging.«
»Wir haben geschlafen«, sagte Bern Dahl mit Bassstimme. »Ich bin vorhin von dem Blaulichtgeflacker wach geworden. Ich habe nachgesehen, doch … viel konnte ich von Weitem nicht erkennen. Mutter ist ebenfalls davon aufgewacht.«
»Wann war das?«
Der junge Mann hob die Schulter. »Vor einer halben Stunde.«
»Und was war mit Ihrem Vater? Sie müssen ihn doch vermisst haben … wenigstens Sie, Frau Dahl.«
»Mein Mann und ich schlafen in getrennten Kojen«, erklärte sie. »Er schnarcht.«
»Also ging keiner von Ihnen beiden in seine Koje, um ihn zu wecken? Spätestens da müsste Ihnen doch aufgefallen sein …«
»Wir haben uns erst mal angezogen und beobachtet, was da drüben geschieht«, sagte Bern Dahl. »Wir wollten Vater schlafen lassen. Er war krank und musste sich erholen, um wieder zu Kräften zu kommen. Er hatte am Abend eine Schlaftablette genommen …«
»Eins nach dem anderen.« John hob eine Augenbraue. »Sie haben also zugesehen, was dort drüben los war. Da muss Ihnen doch Ihr Maschinist aufgefallen sein. Sie sind nicht rüber, um zu erfahren, was er mit der Polizei zu schaffen hatte?«
»Wir haben Peter nicht gesehen«, erklärte Bern. »Nur Ihre Kollegen und die Sanitäter.«
Möglich wäre es, dachte John, vielleicht hatte Soni Kumari zu dem Zeitpunkt Peter Greve schon in ihren Streifenwagen gepackt. Seltsam genug war es trotzdem, dass niemand von der Magellan an Land gegangen war. Andererseits hatte das auch auf den anderen Kuttern keiner getan.
»Sie sagten gerade, Ihr Vater sei krank gewesen?«, nahm John den Faden wieder auf.
»Ja«, brummte Bern.
»Woran litt er?«
Bern wechselte einen Blick mit seiner Mutter, die antwortete: »Eine Vergiftung.«
John hob die Augenbrauen. »Wie kam es dazu?«
»Ein Petermännchen«, sagte Bern. »Es hatte sich im Netz verfangen, und Vater muss beim Einholen damit in Berührung gekommen sein.«
»Das ist ein Giftfisch, nicht wahr?«
»Ja, einer der wenigen in der Nordsee. Ein Stachelflosser. Er hat an der Rückenflosse Giftdrüsen, und am Kiemendeckel sitzt ein giftiger Dorn. Vater war unvorsichtig.«
»Wann hat sich der Zwischenfall ereignet?«
»Wie gesagt, beim Netzeeinholen. Vor etwa zwei Wochen.«
»Und wie machte sich die Vergiftung bemerkbar?«
»Thore hatte zunächst Schmerzen«, erzählte Lys Dahl. »Dann wurde es rasch schlimmer. Er bekam Schwindel, musste sich übergeben … und dann das Fieber.«
»Wie behandelten Sie ihn?«, fragte John.
»Wir gaben ihm Schmerzmittel, die auch das Fieber ein wenig senkten.«
»Eigentlich wird so etwas rasch wieder besser«, fügte Lys Dahl an. »Aber Thores Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Sein Kreislauf machte ihm Probleme.«
»Zogen Sie in Erwägung, ihn abbergen zu lassen?«
»Als es schlimmer wurde, ja. Aber das lehnte Vater ab«, sagte Bern Dahl. »Erst als wir hier in List eingelaufen waren, kam ein Arzt an Bord. Er verpasste ihm eine Tetanusimpfung und gab ihm Antibiotika. Vater sollte sich ausruhen und das Bett hüten.«
»Den Namen des Arztes, bitte. Wann war er hier?«
»Vorgestern.« Lys Dahl nannte ihm einen Allgemeinmediziner in Westerland.
»Ging es Ihrem Mann anschließend besser?«
»Ein wenig.«
»Vater ist im Fieberwahn manchmal umhergelaufen.« Bern Dahl blickte zum Hafenbecken hinaus. »Wenn er in der Nacht draußen alleine an Deck war …«
In dem Moment wurde die Tür der Brücke aufgezogen. Ein Kälteschwall und Schneeflocken wehten mit Soni Kumari herein.
Hinter ihr schob sich eine junge Frau durch die Tür.
»Karla«, sagte Bern Dahl und ging zu ihr hinüber.
»Um Himmels willen, was ist denn hier los?«, fragte die junge Frau. Sie hatte ein sommersprossiges Gesicht und dunkelbraune Augen. Ihre langen braunen Haare sahen zerwühlt aus, als wäre sie gerade aus der Koje gestiegen. Sie trug Jeans und einen beigen Rollkragenpullover.
Bern Dahl legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ganz ruhig. Es ist etwas Schlimmes geschehen …«
John hätte gerne zugehört, was die beiden sich zu sagen hatten, doch Soni Kumari zog ihn zur Seite.
»Es gibt etwas, was Sie wissen sollten«, begann sie, doch da wurden sie von lautem Rotorengeräusch unterbrochen.
John blickte aus dem Fenster und sah einen Hubschrauber über dem Hafen auftauchen.
Der Polizeihubschrauber kreiste einige Minuten über dem Hafen, bis der Pilot sich entschied, auf der Parkfläche des Fähranlegers runterzugehen. Wegen des wieder auffrischenden Winds brauchte er mehrere Anläufe, bis die Maschine sicher aufsetzte. John machte sich mit Soni Kumari auf den Weg. Bis sie das Hafenbecken umrundet hatten, waren die Passagiere des Hubschraubers bereits ausgestiegen und kamen ihnen in geduckter Haltung unter den langsam auslaufenden Rotorblättern entgegen.
Kriminalrat Gödecke hatte ihm seine Kollegen und Freunde Lilly Velasco und Tommy Fitzen geschickt.
Lilly zog mit einer Hand die Mütze über ihrem messingfarbenen Haar zurecht, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. In der anderen hielt sie ein Wienerbrød, ein dänisches Blätterteiggebäck, in das sie herzhaft hineinbiss. Sie trug eine orangefarbene Daunenjacke und Thermohose. »Ist verdammt kalt heute. Und reichlich früh«, begrüßte sie John.
»Sorry«, antwortete er. »Ließ sich nicht anders machen.«
»Der Flug war furchtbar«, sagte Tommy. Er trug wie immer die speckige Lederjacke, die er über alles liebte. Johns Kindheitsfreund war noch nie besonders wählerisch bei seiner Garderobe gewesen und zog gerne das an, was ihm beim Öffnen des Kleiderschranks als Erstes entgegenfiel. Der Dreitagebart gehörte ebenfalls zu Tommy, neu hingegen war seine Frisur. Er hatte sich die dunklen Haare an den Seiten kurz schneiden lassen und das gewellte Deckhaar nach hinten gekämmt.
»Guten Morgen!« Hinter den beiden tauchte Claudia Matthis auf, die Leiterin der Kriminaltechnik, eine sportliche Enddreißigerin mit brauner Kurzhaarfrisur. »Womit haben wir es zu tun?«
John berichtete ihr, Lilly und Tommy, was er wusste, und ging mit ihnen zu dem toten Thore Dahl hinüber. »Wir müssen in Betracht ziehen, dass es sich um ein Tötungsdelikt handeln könnte. Wenn ihr mit der Spurensicherung an der Leiche fertig seid, wäre es daher gut, wenn wir sie schnellstmöglich in die Rechtsmedizin schaffen würden.«
»Wir beeilen uns«, sagte Claudia Matthis. »Was ist mit dem Kutter, kommt er als Tatort in Betracht?«
»Durchaus. Wir sollten uns dort umsehen. Gödecke besorgt uns gerade die entsprechenden Beschlüsse.«
Matthis deutete mit einem Nicken auf den Hubschrauber, aus dem inzwischen fünf weitere Männer und Frauen ausgestiegen waren und Kisten mit Gerätschaft ausräumten. »Ich habe auch schon mit Gödecke gesprochen und vorsichtshalber gleich einen Taucher mitgebracht.«
»Kann er denn bei den Temperaturen runtergehen?«, fragte John.
»Ist nicht das erste Mal. Er hat seine Spezialausrüstung dabei. Ich schlage vor, wir verschwenden keine Zeit.« Sie wandte sich ab und ging zu ihrem Team.
»Und wo fangen wir an?«, fragte Lilly.
»Wir sprechen mit der Mannschaft«, sagte John. »Vielleicht hat ja doch jemand etwas bemerkt. Tu mir einen Gefallen, Tommy, und ruf hier mal an.« John gab ihm die Nummer des Westerländer Arztes, der Thore Dahl behandelt hatte. Dann wollte er mit den beiden zur Magellan aufbrechen, doch Soni Kumari hielt ihn am Arm zurück.
»Da ist etwas, was ich Ihnen erzählen muss. Am besten jetzt, bevor ich mich um die Schaulustigen kümmere.« Sie blickte zu den Läden und Restaurants hinüber, wo die ersten Türen aufgeschlossen wurden und Lichter angingen.
»Geht schon mal vor«, wies John Lilly und Tommy an.
Soni Kumari zog ihn ein Stück zur Seite, vor die Fassade einer Eisdiele, wo sie ein wenig vor Schnee und Wind geschützt standen. »Ich hatte bereits gestern mit Thore Dahl zu tun, wenn auch nicht direkt.«
»Jetzt haben Sie meine Aufmerksamkeit. Erzählen Sie.«
»Der Hafenmeister rief gestern Nachmittag auf der Wache an, weil es hier Ärger gab. Ein Streit unter Seeleuten.« Sie deutete mit einem Nicken zu einem Fischkutter auf der anderen Seite des Hafens, genau gegenüber der Magellan. »Die Adama Marit. Dort waren zwei Männer aneinandergeraten.«
»Und einer davon war Thore Dahl?«
»Das sagte zumindest der Hafenmeister. Dahl muss mit dem Kapitän der Adama Marit gestritten haben. Als wir ankamen, hatte sich der Trubel allerdings gelegt.«
»Haben Sie die Beteiligten befragt?«
»Ich habe zuerst mit dem Kapitän der Adama Marit gesprochen, Reno Merik Nickelsen. Er hat den Streit geleugnet.«
»Und Thore Dahl?«
»Den habe ich nicht zu packen bekommen. Sein Sohn, Bern Dahl, hat mich abgewimmelt. Angeblich lag sein alter Herr mit Fieber in der Koje.«
»Aber der Hafenmeister ist sich sicher, dass er Thore mit Nickelsen streiten sah?«
»Ja, er hat das später noch mal bestätigt.«
»Seltsam.« John betrachtete abwechselnd die beiden Kutter. »Wenn Thore Dahl so krank war, wie alle sagen, warum hat er sich dann aus der Koje gemüht und zur Adama Marit geschleppt, um einen Streit mit diesem Nickelsen vom Zaun zu brechen?«
Wenig später betrat John die Kabine von Thore Dahl an Bord der Magellan und betätigte den Lichtschalter neben der Tür. Die Deckenlampe bestand aus einer runden Messingeinfassung und einem milchigen Deckglas, unter dem sich die kleinen Körper von leblosen Fliegen und Mücken angesammelt hatten. Ihr fahles Licht reichte gerade aus, um den Raum zu erhellen. Die Kabine mochte ungefähr vier mal vier Meter groß sein und bot genügend Platz für ein Bett, einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank. Ringsum waren die Wände mit dunklem Holz vertäfelt, was die Stimmung im Raum zusätzlich dämpfte. Es war kalt hier drin, und der Geruch von abgestandenem Pfeifentabak kroch John in die Nase. Vor dem Bullauge ging der Schnee in dicken Flocken nieder.