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Dies ist das Abenteuer eines Forschungsraumschiffes. Der Diskus von 700 Metern Durchmesser beherbergt vier Forschungskreuzer der Orion-Klasse. Fernab des heimatlichen Sonnensystems soll es die Galaxis nach den Frog-Kriegen neu erkunden. Die Besatzung des Raumschiffes der Orion-Klasse, eines der vier Forschungskreuzer, steht dabei immer wieder im Mittelpunkt spannender Abenteuer. Dies ist der dritte Teil der Trilogie um den Forschungskreuzer STEPHEN HAWKING, der in Raum und Zeit verschollen ist. Zwei Autoren schrieben die Trilogie um dieses verschollene Forschungsschiff.
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Seitenzahl: 196
Johannes Anders
und
Peter R. Krüger
Sternenlicht 14
Sturz in die Vergangenheit
Saphir im Stahl
Sternenlicht 14
Sturz in die Vergangenheit
e-book Nr: 136
Erste Auflage Termin
© Saphir im Stahl
Verlag Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.saphir-im-stahl.de
Titelbild: Thomas Budach
Lektorat: Joachim Stahl und Rita Blotz
Vertrieb: neobooks
Johannes Anders
und
Peter R. Krüger
Sternenlicht 14
Sturz in die Vergangenheit
Saphir im Stahl
Inhaltsverzeichnis
Was vorher geschah
Das Nichts
Sturz in die Vergangenheit
Ein zu großes Hemd
Herrscher der Vergangenheit
Der Rettungsplan
Die Überwindung des Seins
Die Verschwörung
Juristische Finessen
Meuterei auf der HAWKING
Ein Leben für die Roboter
Das große Versagen
Verkehrte Welt
Die letzte Schlacht der JAGELLOVSK
ALLISTER allein zu Haus
Gefangene des Nebels
Tag der Wahrheit
Das Leben geht weiter
Danksagungen
1
Was vorher geschah
Es gab Warnungen. Wissenschaftlich gut begründete Warnungen. Dennoch war es Jo Rosen nicht gelungen, seinem Vater das brandgefährliche Experiment auszureden. Nun lag das stolze Forschungsschiff der Sternenlichtvereinigung in Trümmern. Ein Lichtspeicher hatte blockiert und eine Schneise der Verwüstung durch die STEPHEN HAWKING geschlagen. Um das Schiff herum war die Raumzeit aufgerissen und hatte das Beiboot TIMOTHY verschlungen. Mit der TIMOTHY war Jo Rosens frisch vermählte Frau Karla Want in der Vergangenheit verschwunden.
Aber es gab auch Hoffnung. Die Crew der MCLANE war durch einen Raumzeitriss gekommen und überbrachte eine Nachricht vom Jo Rosen der Zukunft: Der blockierte Lichtspeicher musste zu seinem Pendant auf der TIMOTHY in die Vergangenheit gebracht werden, um die verschränkten Lichtquanten zu entspannen, nur so konnte dem Universum geholfen werden. Jo Rosens zukünftiges Ich hatte das nötige Werkzeug mitgeliefert: ein Schlundlot, mit dem man die Raumzeitrisse sicher durchqueren konnte. Was also blieb Jo übrig, als seinen Vater zu stürzen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen? Kurzerhand beförderte er Zaya Karan und die Crew der MCLANE auf die HAWKING und machte sich mit der MCLANE alleine auf den Weg in die Vergangenheit, um seine Frau zu retten.
Zaya Karan kam zu ihrem neuen Kommando wie die Jungfrau zum Kind, sie wusste kaum, wie ihr geschah. Als erstes sandte sie Gamma-9-Roboter aus, um Hilfe für die geschundene STEPHEN HAWKING zu holen. Einer davon wurde vom SSD-Kreuzer JAGELLOVSK aufgelesen. Orientierungslos spukte er nachts im Schiff herum, sodass die Crew ihn Nachteule nannte. Nach seiner Reparatur auf der Basis SIGMA-3 forderte er die erstaunte Audienz auf, ihm zur HAWKING zu folgen. Wie der Blitz raste er in den Sternenschweifnebel und verschwand in einem Raumzeitriss. Obwohl die JAGELLOVSK von ihrer letzten Mission schwer angeschlagen war, gab man ihr die Alphaorder, dem Roboter zu folgen. Niemand verstand diese Entscheidung und keiner konnte vorhersehen, was sie für das Universum bedeuten würde ...
2
Das Nichts
Jo Rosen blickte in wütende Gesichter. Verzweifelt drängte er sich an den Sitzenden vorbei, aber statt ihn durchzulassen, stellten sie ihm ihre Beine in den Weg. Ihre Gesichter wurden zu Fratzen, Haut platzte auf und ließ puren Hass zum Vorschein kommen. Reißzähne schnappten nach ihm. Krallen wurden ausgefahren. Er spürte Schmerz am Unterarm. Mit einem verzweifelten Sprung überwand er den letzten Zuschauer und fiel blutend auf das Parkett.
„Karla …“, stammelte er.
Aber seine Frau war weitergelaufen, er sah sie den Saal verlassen. Er rappelte sich auf und folgte ihr, hinterließ dabei eine Blutspur auf dem Parkett. Als er durch die Tür strauchelte, sah er sie bereits weit vorne im Flur laufen. Wenn er sie noch aufhalten wollte, musste er sich beeilen. Während er hinterherrannte, wurde der Flur immer länger und länger, wie ein Kaugummi, das jemand kilometerweit auseinander zog. Karla war nur noch ein kleiner Punkt am Ende des Kaugummis und dann war sie ganz verschwunden.
10-9-8-7 …
Der Countdown hatte begonnen.
Mit kolossaler Kraftanstrengung rannte er immer schneller, bis er endlich den Hangar erreichte.
„Nein Karla, warte! Tu es nicht!“, schrie er.
Karla hatte den Hangar schon fast durchquert. „Verdammt, wir müssen ihn da herausholen!“, schrie sie und stürmte weiter.
Jo hastete ihr hinterher, aber ein Sicherheitsoffizier warf sich ihm entgegen. Als der Mann auf ihn prallte, platzte seine Uniform auf und legte Muskelberge frei. Jo versuchte verzweifelt, ihm auszuweichen, aber das Sicherheitsmonster hielt sein Bein fest und verbiss sich in seiner Wade. Er schrie auf vor Schmerz und versuchte, weiterzukriechen. Auf der anderen Seite der Halle verschwand Karla in der Einstiegsluke des Teleskoplifts.
5-4-3 …
Der Lift schloss sich und wurde hochgezogen.
„Nein, wartet, nehmt mich mit!“
Aber die TIMOTHY erhob sich von ihren Magnetkissen und näherte sich der Schleuse, während das Monster an seinem Bein fraß.
„Nein! Bitte nicht!“
Die TIMOTHY war plötzlich weg. Es war wie ein Filmriss. Wie viel Zeit war vergangen? Bart Zax körperlose Stimme dröhnte aus einem Lautsprecher: „Das schwarze Nichts hat uns verschlungen! Ich weiß nicht, wo wir sind! Ein Planetoid kommt auf uns zu!“
Im Hintergrund hörte man den Kommandanten der TIMOTHY Ausweichmanöver brüllen.
Das Sicherheitsmonster hatte derweil Jos Bein verspeist und begann, sein Herz auszuweiden.
„Wir sehen fremdartige Sternenkonstellationen. Ich verstehe das nicht!“
„Was sagt der Bordcomputer dazu?“
„Moment … Der Computer behauptet, wir seien in die Vergangenheit gefallen. Das kann aber doch nicht wahr sein ...“
„NEIIIN!“ Jo Rosen wachte auf und saß schweißgebadet in seiner Koje. Doch. Es war wahr. Seine geliebte Frau war mit der TIMOTHY 140136 Jahre in die Vergangenheit gefallen. Und noch ein paar Tage mehr.
Jo versuchte, sich zu sammeln.
„Wieder der gleiche Albtraum?“, fragte ALLISTER.
„Ja“, bestätigte Jo matt und schlug sich die Hände vor den Kopf. „Er wird immer schlimmer.“
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er nur zwei Stunden geschlafen hatte.
„Solche Ereignisse müssen für euch Humanoide schwer zu verarbeiten sein“, mutmaßte ALLISTER.
Jo nickte. Es war ihm bewusst, dass KIs keine Gefühle hatten. Aber ALLISTER simulierte sein Mitgefühl glaubwürdig. Die Crew der MCLANE hatte ihn gut trainiert.
„Ist es die Hölle für dich?“
„Nein, die Hölle war es, als ich nicht wusste, wo und wann Karla gestrandet war. Aber nun weiß ich es. Und bin auf dem Weg zu ihr.“
*
Auf der Brücke summten die Instrumente, als wäre nichts geschehen. Nur ein Blick auf die angezeigten Daten belehrte eines Besseren. Nichts davon ergab einen Sinn. Alle Displays waren dunkel und das Holo über der Astroscheibe zeigte das schwarze Nichts.
„Wie lange sind wir unterwegs?“
„Elf Tage Eigenzeit“, informierte ihn ALLISTER.
„Und warum dauert das so lange? Die TIMOTHY hat sich schon wenige Minuten nach dem Sturz in die Vergangenheit zurückgemeldet, bevor die Verbindung dann kollabiert ist, weil der Raumzeitriss sich schloss.“
„Raum und Zeit gibt es um uns herum nicht mehr“, erklärte ALLISTER. „Die Raumzeit ist aufgerissen und wir sind eine Insel im Nichts. Deshalb ist die Frage nach dem Wie-lange-Noch gegenstandslos.“
„Wir wissen also nicht, ob wir jemals ankommen werden?“
„Doch. Wir vertrauen auf die Selbstheilungskräfte des Universums. Es will die verschränkten Lichtquanten zusammenbringen. Wir werden deshalb ankommen.“
„Bloß, ob das heute, morgen oder in hundert Jahren geschieht, können wir nicht sagen?“
„Hoffen wir das Beste. Möchtest du nun zu den Kristallen gehen, wie jeden Tag?“
„Ja. Lass uns gehen.“ Jo Rosen wusste natürlich, dass ALLISTER nicht gehen musste, sondern einfach ins Labor umschalten konnte. Aber ALLISTER spielte das Spielchen mit, damit Jo nicht durchdrehte. Er war unermüdlich darin, jeden Tag die gleichen Dialoge mit Jo zu führen.
„Du bist ein sehr angenehmer, erfahrener Bordcomputer“, lobte ihn Jo. „Es tut mir leid, dass ich dich von der MCLANE-Crew getrennt habe.“
„Du hast richtig entschieden, Jo Rosen. Zaya Karan und ihre Leute haben ihre Bindungen in der Gegenwart. Du hast deine Frau in der Vergangenheit. Deine Entscheidung ist ein Gewinn für alle.“
„Aber was ist mit dir?“
„Ich bin nur eine KI, ein Bordcomputer.“
„Was wird dein Schicksal sein?“
„Ich werde viele Jahrtausende ungenutzt in einem Hangar stehen und mit dem Schiff zerfallen. Das ist mir vorherbestimmt.“
„Das tut mir leid. Ich hoffe, du wirst dabei nicht verrückt werden.“
„KIs werden nicht verrückt. Vielleicht werde ich in der langen Zeit den Sinn des Universums berechnen. Und wenn ich die Lösung gefunden habe, wird niemand davon erfahren. Das wird schade sein.“
Jo Rosen lachte auf. „Hast du einen Clown gefrühstückt?“, fragte er. „Der Sinn des Universums ist 42. Das weiß doch jeder.“
„Ja. Stimmt. Und was ist mit dir, Jo Rosen? Wirst du verrückt werden, wenn unsere Reise noch sehr lange dauert?“
„Niemals! Ich halte durch, bis ich Karla wieder in den Armen halte, selbst wenn ich dann ein Greis sein sollte. Soviel ist sicher.“
Sie schwiegen einen Moment.
„Ach, und außerdem muss ich ja auch noch das Universum retten“, fügte er hinzu.
*
Belgrave thronte leuchtend auf den Labortisch. Jo Rosen betrachtete die Apparatur mit dem an ein Kühlsystem angeschlossenen Speicherkristall. Damit das gefrorene Licht in dem Kristall blieb, musste es auf ein Millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt heruntergekühlt werden. Dadurch bildeten sich Bose-Einstein-Kondensate, in denen sämtliche Atome einen einzigen Zustand einnahmen und völlig synchron agierten.
„Es ist schon ein Wunder!“, sinnierte er.
„Du meinst, dass verschränkte Lichtquanten in unterschiedliche Zeiten und Orte transportiert werden können und dass man damit kommunizieren kann?“, versicherte sich ALLISTER.
„Ja, das meine ich.“
„Das hat ja nicht funktioniert. Bei dem Versuch ist die Raumzeit aufgerissen.“
„Ja, es war dumm, das Universum herauszufordern. Meinst du, dass wir es schaffen können? Dass wir alles wieder in Ordnung bringen?“
„Ich bin optimistisch, Jo. Allein schon, dass dieser Schlund uns in die gleiche Zeit führt, in die es Ikardem verschlagen hat, ist ein Hinweis darauf, dass die Natur ihre klaffende Wunde heilen möchte.“
„Werden wir wirklich in genau der gleichen Planck-Zeit herauskommen wie die TIMOTHY?“
„Alles andere ergibt keinen Sinn.“
„Falls ich dann nicht mehr lebe, weißt du, was zu tun ist. Wiederhole es mir noch einmal!“
„Die Photonen in Ikardem und Belgrave müssen gleichzeitig erwärmt werden und synchron die Speicher verlassen. Danach ist die Gefahr für das Universum gebannt. Es wird keine neuen Risse mehr geben.“
„Und wie erreichst du, dass die TIMOTHY dich unterstützt?“
„Ich sende dem Kommandanten die Nachricht, die du vorbereitet hast.“
„Und wenn etwas schiefläuft?“
„Besser, du bleibst jung und gesund, Jo Rosen. Es ist besser für das Universum.“
3
Sturz in die Vergangenheit
Professor Bilmen Okan unterdrückte das Gefühl der aufkommenden Panik. Die Wissenschaft hatte ihm immer Sicherheit gegeben, denn wissenschaftliche Erkenntnisse waren nachprüfbar und verlässlich. Aber die Daten, die die Instrumente nun anzeigten, ergaben überhaupt keinen Sinn mehr. Sie schwankten hin und her und widersprachen sich. Und die Astroscheibe zeigte seit Stunden nur ein schwarzes Nichts an.
Bilmen wollte schlucken, aber die Zunge klebte an seinem trockenen Gaumen. Verzweifelt betrachtete er seine zitternden Hände. Die Panik ließ sich kaum beherrschen, sie wirkte unterschwellig weiter, zermürbte ihn, fraß kontinuierlich Teile seines Verstands, der ihm vorgaukelte, in das schwarze Nichts zu fallen. Gehetzt sah er sich um. Auch die anderen Besatzungsmitglieder der JAGELLOVSK standen unter dem enormen Druck. Walt Kargons Finger krallten sich an den Rändern des Kommandosessels fest, während er in das schwarze Nichts starrte. Liane Chryss’ Blick hing orientierungslos an der Astrogationskonsole, die ihr nur unsinnige Daten vorgaukelte. Auch Gella Hailey hatte es die Sprache verschlagen. Die Sicherheitsoffizierin konnte nicht für Sicherheit sorgen, während sie die absolute Unsicherheit umgab.
Zum wiederholten Mal verfluchte sich Bilmen für seine Entscheidung, auf diesem SSD-Kreuzer anzuheuern. Niemals hatte er in den Weltraum gewollt, schon der Gedanke an das Vakuum trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn. Aber auf fremden Planeten gab es die großartigsten phänomenalen Entdeckungen. Und um dort hinzukommen, musste Bilmen sich und das Vakuum überwinden. Dabei hatte er für seinen Wissensdurst schon bitter bezahlen müssen. Der Erinnerungsschmerz flutete sein Gehirn, der Soliamit umklammerte wieder sein Bein und zerquetschte es ganz langsam. Mit flackernden Blicken schaute er an sich hinunter. Die Prothese hatte sich mittlerweile etwas besser an seine Nervenimpulse angepasst, so dass er nicht mehr bei jedem zweiten Schritt stolperte. Sie sendete sogar Impulse zurück, wodurch sich das Bein nicht taub anfühlte. Aber es war trotzdem nicht sein Bein, es war ein Roboterbein! Ein Stück von ihm war auf der Strecke geblieben! Und jetzt auch noch das! Die Schwärze auf der Astroscheibe saugte ein weiteres Quäntchen seines Verstandes ab!
„Warum wir?“, jammerte Bilmen. „Warum schickt der SSD uns ins Verderben? Unser Schiff ist doch beschädigt! Und es standen drei andere zur Verfügung, die voll funktionsfähig waren!“
Niemand hatte Lust, ihm darauf zu antworten. Dieses Thema war längst ausdiskutiert. Keiner verstand die Entscheidung des SSD, nicht einmal Gella konnte sie erklären. Aber nun war es nicht mehr zu ändern, sie waren mitten in der Mission.
„Du weißt doch, was sie gesagt haben“, bequemte sich Liane schließlich doch noch zu einer Antwort. „Commander Krabb wird seine Gründe haben, haben sie gesagt.“ Sie lächelte sarkastisch. „Wir sollen ihm vertrauen.“
Gella Hailey schnaufte missbilligend, äußerte aber nichts. Sie mochte es nicht, wenn Entscheidungen des SSD ins Lächerliche gezogen wurden. Aber sie wollte wohl den Streit über die Mission nicht ein weiteres Mal befeuern. Es war genug.
Das Schweigen war so tief wie das Loch, in das sie fielen. Das Loch, in dem die Naturwissenschaft und die physikalischen Gesetze nicht galten. Bilmen verlor den inneren Halt. Aber er war noch nicht bereit, mit dem Leben abzuschließen. Gab es einen Gott, gab es ein Schicksal, an das man sich wenden konnte? Wo konnte man seine Beschwerde einreichen, wenn es sein musste auch in dreifacher Ausfertigung? Bilmen hatte keine Ahnung. Gott oder Schicksal, dachte er. Karma oder was auch immer. Ich biete euch einen Deal an: Ich schwöre hiermit feierlich, dass ich meinen Dienst quittieren und nie wieder in den Weltraum zurückkehren werde, falls ich diese fürchterliche Mission überleben sollte!
*
Poul Artos schlenderte rastlos durch die Gänge der JAGELLOVSK. Natürlich fürchtete auch er sich vor dem schwarzen Nichts, in das sie schon seit Stunden fielen, aber das war beileibe nicht sein einziges Problem. Während sein Körper verrücktspielte, sein Magen krampfte und seine Finger zitterten, durfte er sich nichts anmerken lassen, denn an Hiro Sato ging das schreckliche Geschehen scheinbar spurlos vorbei, er schien keine Angst zu empfinden. Wie schaffte er es nur, so cool zu bleiben?
Poul hielt das alles kaum noch aus, und so hatte er Hiro und Fay unter einem Vorwand in der Kantine verlassen. Natürlich glaubten sie ihm nicht, dass er so dringend die Werfer kalibrieren musste, aber ihm war keine bessere Ausrede eingefallen. Das lässige Gehabe, die glatte Fassade im Angesicht des Todes, konnte er keine Sekunde länger aufrechterhalten. Stattdessen irrte er durch die JAGELLOVSK, mit Tränen in den Augen. Niemand durfte ihn so sehen, schließlich war er Offizier der Sternenlichtvereinigung, wenn auch der jüngste an Bord. Als Fähnrich hatte man ihm keine Karriere auf einem Erkundungskreuzer zugetraut. Man hielt ihn für naiv und ungestüm. Commander Kargon hatte ihm trotzdem eine Chance gegeben. Er durfte ihn auf keinen Fall enttäuschen!
Wo konnte er sich verstecken? In der Krankenstation? - Bloß nicht! Doc Smith würde ihn einkassieren und dortbehalten, wenn er ihn so erwischte. Vielleicht in einer Phönix. Dort kam selten jemand hin.
Als Poul die Richtung zur Phönix änderte, kam ihm ausgerechnet der Kommandant entgegen. Schnell wischte er sich die Tränen weg und versuchte, einen normalen Eindruck zu erwecken.
„Junior, was ist denn los?“, fragte Walt. „Geht es dir nicht gut?“
„Do-doch, alles in Ordnung.“ Poul wollte dem Gespräch aus dem Weg gehen, aber er befürchtete, dass Walt in seinem Gesicht lesen konnte wie in einem offenen Buch.
„Ich bin gerade auf dem Weg in die Kantine. Auch im Angesicht der Gefahr müssen wir bei Kräften bleiben. Magst du vielleicht mitkommen? Dann können wir uns etwas unterhalten.“
„Nein, mir ist schlecht.“ Das stimmte zwar, aber hauptsächlich war Poul vor Fay und Hiro geflohen, nun wollte er nicht wieder dorthin zurück.
„Dann lass uns zur Krankenstation gehen!“
„Nein, Doc Smith kann mir nicht helfen!“
Walt musterte ihn nachdenklich. „Ach, es ist diese Art von Übelkeit“, vermutete er. „Es ist nicht allein der Sturz ins Nichts. Liebeskummer?“
Poul schwieg vielsagend.
„Wir können auch einfach ein wenig umhergehen, wenn du darüber reden möchtest.“
Poul nickte zögerlich.
„Mir ist schon aufgefallen, dass ihr oft zu dritt zusammensitzt, seit Hiro an Bord ist. Macht er dir Konkurrenz?“
Ein krächzendes „Ja“ entrang sich Pouls Kehle, die plötzlich durch irgendetwas versperrt war, durch einen Frosch oder dergleichen. Poul schluckte es hinunter. „Hiro weiß so viel über Roboter und KIs. Darüber plaudert er ständig mit Fay. Und sie hört ihm begeistert zu. Ich kenne mich nur mit Werfern und Zielerfassung aus. Das interessiert keinen Menschen.“
„Na, nun mach dich mal nicht so klein! Armierungsoffiziere sind wichtig für so eine schwierige Mission wie unsere.“
„Ja, aber ich bin noch jung und mir fallen keine unterhaltsamen Geschichten ein. Außerdem habe ich eine Scheißangst vor dem schwarzen Nichts, in das wir fallen, und mir fehlt die Kraft, meine Panik ständig zu überspielen. Hiro scheint das alles gar nichts auszumachen.“
„Meinst du denn, dass es gut ist, deine Gefühle zu verbergen?“
„Natürlich! Fay steht nicht auf Warmduscher!“
„Woher willst du das wissen? Warum glaubst du, dass sie auf Machos steht?“
„Weil … weil …“ Poul wusste es nicht.
„Nicht zu seinen Gefühlen zu stehen ist kein besonders erwachsenes Verhalten. Schau mal, Poul, ich habe auch Angst. Wir fallen seit Stunden in etwas, das wir nicht kennen und haben keine Ahnung, wo das enden wird. Da ist es doch ganz normal, sich zu fürchten.“
Poul sah ihn überrascht an. „Wirklich, Walt? Ich habe nicht gedacht, dass du jemals Angst hättest. Die Offiziersschule … Es hieß immer, dass Kommandooffiziere besonders unerschrocken sein müssten. Kann man denn ein Raumschiff führen, wenn man ängstlich ist?“
„Natürlich, Poul! Die Angst ist ein wichtiges Warnsignal vor Gefahr. Sie wahrzunehmen und zu berücksichtigen heißt ja nicht, dass ich mich von ihr beherrschen lasse. Schließlich haben wir auch noch einen Verstand.“
„Ja“, sagte Poul. „Stimmt.“
Walt lächelte. „Denk einfach mal darüber nach.“
„Meinst du denn, Fay könnte mich mögen, obwohl ich ängstlich bin?“
„Nein“, sagte Walt bestimmt. „Nicht obwohl, sondern weil du ängstlich bist.“
*
Als Poul am Abend die Kantine betrat, saßen Fay und Hiro schon an einem Tisch. Er trat an den Replikator und bestellte sich Schinkenbrot und Orangensaft. Dann setzte er sich zu den beiden. Sie begrüßten ihn freundlich.
„Stell dir vor, was Hiro mir erzählt hat“, begann Fay das Gespräch. „Er hat mir gestanden, dass er eine Scheißangst vor dem Sturz in den Schlund hat, der uns gerade verschlingt.“
Hiro nickte. „Ja, das geht mir sehr nahe. Ich bin nicht immer der größte Held. Das scheint nur manchmal so.“
„Ich finde es toll, wie er zu seinen Gefühlen stehen kann. Und ich muss ehrlich sagen, dass ich mich auch total fürchte. Mir ist eigentlich permanent schlecht bei dem Gedanken an unseren Sturz. Wie kommt es nur, dass du so cool dabei bleiben kannst?“
Poul schluckte.
„Das scheint nur so“, erklärte er dann. „In Wirklichkeit habe ich auch Angst.“ Aber es klang nicht besonders authentisch, es klang eher erbärmlich, wie ein Abklatsch von Hiros Worten. Das Wunderkind war Poul zuvorgekommen und nun konnte er nicht einfach alles nachplappern. Poul fühlte sich zum Sterben. Aber er schwor sich, trotzdem niemals aufzugeben, denn seine Liebe zu Fay war jede Anstrengung wert.
*
Als Bilmen die Brücke betrat, stellte er fest, dass Walt, Carl und Liane anwesend waren. In ihren Augen spiegelte sich das schwarze Entsetzen, das sich ihnen über die Astroscheibe vermittelte. Mehrere Tage lang fielen sie nun schon ins Unbekannte und keiner hatte eine Idee, ob und wo das enden würde. Obwohl man nichts daran ändern konnte, kamen die Besatzungsmitglieder der JAGELLOVSK immer wieder auf die Brücke, um wie hypnotisiert in die Leere zu blicken. Warum nur? Warum bin ich selbst auf die Brücke gekommen?, fragte sich Bilmen. Vielleicht muss ich mich immer wieder davon überzeugen, dass es nicht noch schlimmer geworden ist.
Aber plötzlich tauchte ein heller Punkt in der Mitte der Astroscheibe auf. Walt fuhr alarmiert aus dem Kommandosessel hoch und Bilmen versteifte sich erschrocken.
„Armierungsoffizier in den Kampfstand!“, befahl der Kommandant.
Poul war innerhalb von Sekunden auf seinem Posten.
Aber es schien nicht nötig, kampfbereit zu sein. Der helle Punkt vergrößerte sich und gab den Blick auf das All frei. Man konnte Sterne sehen.
„Endlich! Das Licht am Ende des Tunnels“, seufzte Carl Ruyther erleichtert.
Die Schwärze wanderte zu den Rändern der Astroscheibe und gab immer mehr vom Weltall preis.
„Ortung!“, befahl Walt.
„Was immer es war, es ist verschwunden“, meldete Carl. „Die Instrumente arbeiten wieder. Der Sternenschweifnebel ist noch da, aber wir befinden uns ein gutes Lichtjahr abseits. Das Phänomen scheint uns hinausgetragen zu haben.“ Dann fuhr er überrascht von seiner Konsole hoch. „Unbekannte Sternenkonstellationen!“, keuchte er. „Anscheinend haben wir die Galaxis verlassen. Aber das kann nicht sein, der Sternenschweifnebel ist ja noch da!“
„Nun mal keine Panik!“, beruhigte ihn der Kommandant. „Das wird sich schon noch aufklären. Was ist das da vorne?“
„Gelber Hauptreihenstern der Spektralklasse G, mehrere Planeten.“
„Irgendwelche Spuren von der STEPHEN HAWKING? Oder von Nachteule?“
„Keine Spuren von der HAWKING. Aber ich habe Nachteule auf dem Radar. Der Gamma-9-Roboter fliegt mit seinem Transporter auf die gelbe Sonne zu.“
„Er sollte uns doch zur STEPHEN HAWKING führen!“, wunderte sich Liane. „Was will er nun in diesem System?“
„Rätselhaft!“, rief Carl. „Vielleicht versteckt sich die HAWKING hinter der Sonne?“
„Warum sollte sie das tun?“, fragte Walt.
„Oder sie ist auf einem der Planeten gelandet?“
„So ein großes Schiff landet man nicht auf Planeten. Man fliegt mit Shuttles hinunter.“
„Nachteule geht in den Orbit um einen Planeten“, meldete Carl.
„Liane, Kurs setzen! Wir fliegen hinterher“, befahl Walt.
Bilmen war hocherfreut, als die grüne Kugel über der Astroscheibe auftauchte. Er würde alles daran setzen, seine Füße auf festen Boden zu bekommen und hoffentlich nie wieder ins All zu müssen.
„Ich verstehe trotzdem nicht, warum unsere Sternenkarten nicht mehr stimmen“, meldet sich Carl noch einmal.
Egal, dachte Bilmen. Dafür würde sich eine Erklärung finden. Hauptsache, er musste nicht mehr durchs All fliegen.
4
Ein zu großes Hemd
Im Holo über der Astroscheibe sah Zaya Karan, wie sich der Raumzeitriss der MCLANE näherte. Ein Kommunikationsschirm zeigte zugleich die letzten Bilder von Jo Rosen, der als Letzter auf der MCLANE verblieben war. Er blickte konzentriert auf die Instrumente, während er den Eintritt in den Riss erwartete. Zaya hatte ein Gefühl der Unwirklichkeit, als der Schlund die MCLANE verschlang und das Bild von Jo Rosen verschwand.
„Commander?“
Eine Stimme bedrängte sie. Konnte man sie nicht eine Sekunde lang in Ruhe lassen? Es war doch alles so schon schwer genug.
„Zaya!“
Sie schreckte aus ihrer Erinnerung auf und sah sich um. Die Brückenbesatzung der STEPHEN HAWKING ging ihrer Beschäftigung nach und erfüllte ihre Pflicht. Hoffentlich hatte niemand mitbekommen, dass die Kommandantin einen kurzen Moment lang geistig abwesend gewesen war. Die Skepsis gegenüber ihren Führungsfähigkeiten war auch so schon groß genug.
Vor ihr stand Chivan Swo, der neue Forschungsleiter der HAWKING. Jo Rosen hatte es so bestimmt, er hatte Zaya und ihrer Crew die Leitung der HAWKING übertragen, bevor er die Reise in die Vergangenheit antrat.
„Gibt es etwas Neues, Swo? Wissen wir endlich, ob Jo Rosen Erfolg gehabt hat?“
„Leider ist das immer noch nicht sicher. Die Raumzeitrisse vermehren sich etwas weniger schnell, aber das kann auch eine natürliche Fluktuation sein.“
„Wenn Jo Rosen das Problem in der Vergangenheit gelöst hätte, müssten wir die Auswirkungen doch jetzt spüren? Die Spreizung der Lichtquanten hatte doch 140.000 Jahre Zeit abzuklingen?“
„Zeit spielt in diesem Fall leider eine untergeordnete Rolle, denn die Raumzeit ist ja gerade das, was durch das Experiment der HAWKING beschädigt wurde. Wir müssen also weiter abwarten.“
„Aber Abwarten bedeutet doch auch, Zeit vergehen zu lassen! Sagtest du nicht gerade, dass das nichts bringt, weil die Zeit beschädigt wurde?“