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Kattenstroth und Schücking sehen sich mit einer Ghulkolonie unterhalb der Stadt konfrontiert. Um der Lage Herr zu werden, suchen sie nach Verbündeten. Dabei stellen sie überraschend fest, dass sie sich an einem ereignisreichen Wochenende im Juli 1986 bereits einmal begegnet sind. Mit den Erinnerungen kommen neue Probleme, denen sie nicht länger aus dem Weg gehen können.
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Anja Kuemski
Summer of 86
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Kapitel
2. A Kind of Magic
3. Boys Don't Cry
4. On My Own
5. Showing Out (Get Fresh At The Weekend)
6. Everybody Have Fun Tonight
7. Touch me
8. A Question Of Lust
9. Strangers By Night
10. Being Boiled
11. Underground
12. When Tomorrow Comes
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
Impressum neobooks
Es ist noch dämmrig draußen, als er in die Küche kommt. Schücking ist noch nicht da. Johannes überlegt, ob er das Frühstück für ihn vorbereiten soll, kann sich aber nicht zu einer Entscheidung durchringen, was sein Mitbewohner denn wohl essen möchte. Zögernd geht er die Treppe wieder hinauf in den ersten Stock und bleibt vor der Schlafzimmertür stehen. Er weiß, er soll das nicht tun. Sie haben klare Regeln. Aber er muss doch wissen, was Schücking zum Frühstück essen will. Das ist wichtig. Er hinterfragt nicht, warum das so dringend geklärt werden muss. Aber es ist viel zu still. Schücking ist Frühaufsteher. Er muss jetzt nachsehen, was mit dem Mann ist.
Johannes klopft leise an die Tür. Ein grummelndes Geräusch ist die Antwort. Er klopft etwas lauter. Ein unwilliges Brummen kommt von drinnen. Schücking ist ein Meister der Kommunikation. Er würde solche Geräusche nicht von sich geben, wenn er stattdessen die Möglichkeit sähe, Johannes einen langen Vortrag über unerwünschtes Stören zu halten.
Vorsichtig öffnet Johannes die Tür und späht in die Dunkelheit. Vom Bett aus schauen ihn zwei kränklich gelbe Augen an. Das stimmt nicht. Schücking hat blaue Augen. Und ohne Kontaktlinsen sind sie ein grauer Nebel. Niemals gelb und krank. Kattenstroth möchte sich umdrehen und weglaufen. Aber er bleibt. Die Frühstücksfrage ist ungeklärt.
»Was wollen Sie zum Frühstück?«, fragt er und ärgert sich über seine zitternde Stimme.
Ein krächzendes Röcheln dringt aus Schückings Kehle. Die gelben Augen fixieren ihn beinahe hungrig. Gierig.
Johannes schluckt schwer.
»Was ist mit Ihren Augen, Schücking?«
Er macht zwei Schritte Richtung Bett.
»Ich … sehe … besser, Katten…«, kommt es bellend und keuchend aus Schückings weit geöffnetem Mund.
»Ihre Zähne sehen unnatürlich lang aus.«
»Ich will … fressen.«
Schücking schlägt die Bettdecke zurück und steigt aus dem Bett. Er landet auf allen Vieren.
Der Geruch eines nassen Hundes wabert Johannes entgegen. Schücking richtet sich auf seine Beine, seine Hinterläufe, auf. Sein Mund verformt sich, Krallen wachsen aus seinen Fingern.
»Fressen«, jault er und stürzt sich auf Johannes.
*
Schweißüberströmt erwachte Kattenstroth und stellte irritiert fest, dass er neben seinem Bett auf dem Fußboden lag. Er setzte sich ächzend auf und rieb sich mit den Händen energisch das Gesicht.
»Alles in Ordnung?«, kam Schückings Stimme von jenseits der Tür.
»Ja ja.«
»Frühstück fällt aus. Sie haben die Milch gestern leer gemacht, ohne rechtzeitig neue zu kaufen.«
»Ist schon gut, ich kaufe welche«, rief Kattenstroth matt. Er konnte sich gerade nicht auf eine Haushaltsdebatte einlassen.
»Müssen wir das durch die Tür besprechen?«
»Wir müssen das gar nicht besprechen, Schücking! Ich gehe gleich einkaufen. Lassen Sie mich doch einen Moment in Ruhe!«
Er traute sich nicht, zur Tür zu gehen. Der Anblick Schückings, der sich vor seinen Augen in einen Hundskopf verwandelte, hatte ihn zu sehr mitgenommen. War es das, was ihn eines Tages erwartete? Nicht nur in einem Albtraum, sondern ganz real?
»Ich warte unten«, rief Schücking.
Kattenstroth hörte ihn die Treppe hinuntergehen.
Warum bestand sein Mitbewohner darauf, dass sie gemeinsam einkaufen gingen? Vielleicht hatte er auch schlecht geschlafen. Er wollte es nur ungern zugeben, aber möglicherweise war langsam der Zeitpunkt gekommen, an dem sie ohne psychologische Hilfe nicht mehr zurechtkamen.
Es war inzwischen fast ein Jahr her, dass sein Beerdigungsinstitut abgebrannt war, aber die Albträume wurden nicht weniger. Dass Schücking ihn bei sich aufgenommen hatte, war einerseits ein Segen gewesen, aber andererseits auch ein ständiger Quell neuer Probleme. Nicht zuletzt deshalb, weil Schücking große Erinnerungslücken und eine wahrscheinlich grauenvolle Kindheit hinter sich hatte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Stadt offenbar von hundsköpfigen Wesen untertunnelt wurde. Und niemand wusste, ob Schücking sich nicht eines Tages in ein solches Wesen verwandeln würde. Die Alternative war, dass sie beide längst den Verstand verloren hatten und sich diese ganze Sache mit den hundeartigen Ghulen nur einbildeten.
Kattenstroth war sich nicht einmal sicher, welche Variante ihm lieber gewesen wäre.
*
»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal ein gestörtes Verhältnis zu Hunden entwickeln würde«, klagte Kattenstroth und wartete hinter dem Gartenzaun, bis die Nachbarin mit der sabbernden Dogge um die nächste Straßenecke verschwunden war.
»Das liegt sicher an Ihrer ersten Begegnung mit einem Hundskopf in unserem Garten neulich«, meinte Schücking und hielt ihm geduldig die Gartenpforte auf.
»Ach, wirklich?«
»Ich gebe zu, der Anblick war alles andere als ermutigend. Zu wissen, dass diese Kreaturen unter uns leben, buchstäblich, kann einem schon mal den Schweiß auf die Stirn treiben.«
»Ich finde es ehrlich gesagt noch deutlich beängstigender, dass Sie behauptet haben, Sie würden sich eines Tages in ein solches Wesen verwandeln.«
Kattenstroth hatte das Wesen, welches Schücking als Ghul oder Hundskopf bezeichnet hatte, nur kurz gesehen, aber das hatte ausgereicht, um ihn in Panik zu versetzen und nur noch mehr Albträume zu bescheren. Er hatte diese Kreaturen für Fabelwesen aus Horrorromanen gehalten. Wieso wusste der Rest der Welt denn offenbar nichts von deren Existenz?
Und die Vorstellung, sein Mitbewohner könne eines Morgens am Frühstückstisch anfangen zu jaulen und ihn mit Geifer am Mund gierig über den Rand der Zeitung anstarren, war gelinde gesagt verstörend. Der Albtraum letzte Nacht war sicher nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was ihn erwartete.
»Wollen Sie noch eine Weile warten, ob die Dogge zurückkommt, oder können wir jetzt ins Café gehen?«
Kattenstroth musterte Schücking skeptisch.
»Sie sind echt ein Phänomen. Erst eröffnen Sie mir eher so nebenbei, dass Sie, ebenso wie Ihr Vater, irgendwann zu so einem …«, er ruderte mit den Armen in der Luft herum, auf der Suche nach einem passenden Wort, »zu so einem Wesen mutieren werden und dann verlieren Sie tagelang kein Wort mehr darüber, als wäre nie etwas gewesen.«
Schücking blickte etwas verloren auf seine handgefertigten Lederhandschuhe.
»Ich hatte gehofft, wenn ich es nicht mehr erwähne, dann geht es Ihnen besser. Ich höre, dass Sie schlecht schlafen, seit der Ghul in unserem Garten aufgetaucht ist.«
Kattenstroth hätte wissen müssen, dass seinem Mitbewohner die Albträume nicht verborgen blieben. Schücking war ein sehr aufmerksamer Beobachter.
»Wie viele von denen mag es denn wohl geben in der Gegend?«
Schücking zuckte mit den Schultern.
»Schwer zu sagen. Ich erinnere mich, dass jemand mal sagte, dass sie in Rudeln leben, mehr weiß ich nicht.«
»Jemand? Etwa die Stimme, die Sie manchmal in Ihrem Kopf hören?«
Schücking blieb stehen und dachte einen Moment darüber nach, dann nickte er langsam.
»Ja, könnte sein. Aber ich habe auch eine bildliche Vorstellung davon. Ist sehr vage und verschwommen.«
»Ich weiß genau, was Sie meinen.«
Seit dem Albtraum letzte Nacht fühlte Kattenstroth sich von Bildern verfolgt, die er nicht einordnen konnte. Er musste mal als Kind einen Horrorfilm mit ähnlichen Kreaturen gesehen haben. Damals in den 70ern gab es ja jede Menge schlechter Filme dieser Art. Dass Schücking manchmal der Zugriff auf die Realität entglitt, damit hatten sie sich beinahe schon abgefunden, aber dass es ihm nun hin und wieder auch so ging, war beängstigend.
»Wollen Sie lieber wieder nach Hause gehen?«, fragte Schücking.
Kattenstroth schüttelte vehement den Kopf.
»Etwas Bewegung macht vielleicht den Schädel frei.«
Sie setzten ihren Weg zum Café in der Hagenbruchstraße fort.
Aber Kattenstroth konnte das Thema einfach nicht abhaken. Da Schücking offenbar nicht von allein darüber reden würde, musste er eben nachfragen, bis er etwas mehr verstand, was um sie herum vor sich ging.
»Das war nicht Ihre erste Begegnung mit diesen Ghulen, oder?«
»Ich war mir eine Weile nicht sicher, deshalb habe ich nichts gesagt. Aber ich glaube mich zu erinnern, dass ich welche mit meinem Vater zusammen gesehen habe, als ich noch sehr klein war.«
Kattenstroth wusste nicht, ob es klug war, beim Stichwort Vater nachzuhaken. Aber wenn der alte Mann zu einem Ghul mutierte und Schücking das auch irgendwann tat, musste er mehr wissen.
Er öffnete die Tür des Cafés und hielt sie Schücking auf. Sie suchten sich einen Tisch aus, an dem sie in Ruhe ihr Gespräch fortsetzen konnten.
Von ihrem Haus in der Lessingstraße bis hierher war es ein angenehmer, kurzer Spaziergang, den sie inzwischen regelmäßig unternahmen. Da Kattenstroth nur stundenweise arbeitete und Schückings Arbeit seiner Meinung nach ziemlich obskur war und ihn selten zwang, das Haus zu verlassen, fiel ihnen daheim oft die Decke auf den Kopf. Anfangs hatte Kattenstroth gedacht, er würde sich eingeengt fühlen. Schücking konnte sehr anstrengend sein. Aber erstaunlicherweise kamen sie sehr gut miteinander aus. Er hatte sich an das Leben in ihrer Zweier-WG gewöhnt. Sofern nicht gerade Ghule durch den Garten schlichen.
»Ihre Nichte Alina hat mir gesagt, Ihr Vater lebe in einem Altenheim. Stimmt das denn nicht?«, fragte Kattenstroth, nachdem sie sich am Frühstücksbuffet bedient und Getränke bestellt hatten.
»Doch, doch. Nun, gewissermaßen. Es ist ein extrem teures und sehr privates Pflegeheim.«
»Und ist er jetzt ein …« Kattenstroth wedelte mit den Händen in der Luft herum. Er konnte das Wort nicht laut aussprechen, weil es das noch viel realer gemacht hätte.
»Ist er. Nicht gänzlich natürlich. Ich glaube nicht, dass die Pflegekräfte bereit wären, sich um ihn zu kümmern wenn sie einen richtigen Ghul betreuen sollten. Egal, wie viel man ihnen bezahlt. Mal abgesehen davon, dass es zu Verletzungen und Todesfällen kommen würde.«
»Die fallen Menschen an?«
»Wenn sie sich stark genug fühlen, im Rudel, ja.«
»Aber Ihr Vater ist schon alt, über 80.«
»Und weil er kein reiner Ghul ist, hat sein Gehirn die Verwandlung nicht gut verkraftet. Er hat den Verstand eines Hefepilzes.«
Kattenstroth musterte Schücking besorgt. Der lachte amüsiert auf.
»Was? Denken Sie, ich werde mich gleich hier zwischen Rührei und Käsebrötchen verwandeln wie der Hulk?«
»Ich hoffe nicht.«
»Nein, diese Veränderungen gehen sehr, sehr langsam vor sich.«
»Heißt das, Ihr Vater ist das Ergebnis einer Paarung von Mensch und …?«
»Das heißt es.«
»Demzufolge wären Sie aber dann nur zu einem Viertel …?«
»Ich sehe, Sie klammern sich an dasselbe Fünkchen Hoffnung wie ich.«
Kattenstroth nickte nachdenklich und blickte aus dem Fenster. Zwei Straßen weiter war noch immer das Sam’s, da hatte er früher viel Zeit mit seinen Kumpels verbracht.
Aus den Lautsprechern dudelte leise ein Lied, das eine Coverversion eines älteren Hits war. Er dachte darüber nach, kam aber nicht drauf. Früher wäre ihm das nicht passiert. Man hörte nie wieder so intensiv Musik wie als Teenager, fand er. Als Jugendlicher hatte er sich oft am Wochenende hier in der Altstadt vergnügt. Er grinste bei der Erinnerung. Der Türsteher vom Sam's war ein Kumpel gewesen, der ihn schon durchgewunken hatte, als er noch nicht einmal volljährig war.
»Was grinsen Sie denn so?«
»Ach, nur so. Mir war gerade wieder eingefallen, dass ich früher oft hier in der Ecke gewesen bin.«
»Früher? Mit Ihrer werten Gattin?«
»Nee, noch früher. Als Halbstarker.«
Nun grinste Schücking ebenfalls.
»Sie und halbstark? Etwa so ein Rocker mit Lederjacke und Moped?«
»Nee, mit Jeansjacke und Fahrrad.«
Schücking schmunzelte. Dann runzelte er die Stirn, als sei ihm etwas eingefallen, das nicht ins Bild passte. Er schüttelte sich, als müsse er den Gedanken loswerden, und nahm einen Schluck Kaffee.
»Wo sind Sie denn so hingegangen als Teenager?«, fragte Kattenstroth. Er wollte nicht noch einmal auf das Thema Julius Schücking zurückkommen. Jetzt nicht. Auf Dauer würde es sich natürlich nicht vermeiden lassen. Aber er wusste inzwischen ganz gut, wann ein Themenwechsel bei seinem Mitbewohner angebracht war.
»Ich bin nicht ausgegangen.«
»Nie?«
Wieder runzelte Schücking die Stirn, als müsse er mühsam einzelne Bilder aus der Vergangenheit hervorholen. Oder verdrängen. Das wusste man bei ihm nie so genau.
»Nein, nie. Das gesellige Herumgehopse war noch nie nach meinem Geschmack.«
»Dabei kann ich Sie mir sehr gut vorstellen, so im Gothic Look der 80er. Blass geschminkt, Haare hochtoupiert, minimalistische Bewegungen auf der Tanzfläche. Ich wette, die Mädels standen Schlange. Einige Typen sicher auch.«
Wie aus dem Nichts hatte Kattenstroth auf einmal das Bild eines ernsten, blassen Jungen vor Augen, das so real war, als stünde er hier vor ihm.
»Womit haben Sie denn die Pubertät durchgestanden? Die ersten Computerspiele? Atari und so?«
»C64. Aber ich habe nicht viel Zeit mit Spielen verbracht.«
»Womit dann?«
»Wissen Sie, Kattenstroth, da gibt es so ein Ding, da wird Papier zusammengeheftet und darauf sind Zeichen aufgedruckt, die man Wörter nennt. Alles in allem ist dieses Buch-Ding eine recht nützliche und unterhaltsame Sache. Sie sollten es einmal probieren.«
Kattenstroth schnaubte verächtlich.
»Nee, das soll ganz schlecht für die Augen sein.«
Er deutete vielsagend auf Schückings Brille, dann auf sein eigenes, brillenloses Gesicht.
»Und Sie wollen mir wirklich weismachen, dass Sie die ganze Zeit nur Bücher gelesen haben, während die Hormone verrückt spielten?«
Schücking schaute mit gerunzelter Stirn in seine fast leere Kaffeetasse.
»Mag sein, dass ich mich nicht an alles erinnere. Ich war 14 als meine Mutter sich umgebracht hat, um die Zeit herum fehlen mir ziemlich viele Dinge.«
Kattenstroth hätte sich ohrfeigen können. Er hätte nicht so drängeln dürfen.
»Sorry. Und ich Idiot bohre auch noch nach.«
Schücking zuckte mit den Schultern und starrte in die Kaffeetasse.
»Wollen wir gehen? Ich müsste noch eben schnell hier nebenan ins Reformhaus.«
Schücking nickte und zückte sein Portemonnaie.
»Nee, lassen Sie mal stecken. Ich bin dran.«
Anstatt wie üblich zu widersprechen, steckte Schücking die Geldbörse wieder ein. Anfangs hatte er darauf bestanden, immer zu bezahlen, weil Kattenstroth so wenig Geld verdiente. Aber inzwischen hatten sie eine Routine entwickelt, abwechselnd zu zahlen, was sich auch beim Einkaufen im Supermarkt sehr bewährt hatte, weil sie sich dann viel seltener an der Kasse vor aller Ohren stritten.
Sie verließen das Kachelhaus und bogen in die Goldstraße ein. Plötzlich beschleunigte Schücking, sodass Kattenstroth ihm kaum folgen konnte. An der Kreuzung zur Ritterstraße wäre er beinahe von einem Radfahrer umgefahren worden, der laut schimpfend weiterfuhr.
»Mensch, Schücking! Passen Sie doch auf!«
Kattenstroth rannte ein paar Schritte, um aufzuholen. Er warf einen Seitenblick auf Schücking, der stur eine bestimmte Stelle in der Straße ansteuerte. Abrupt blieb er vor einem Hauseingang stehen und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe.
»Darf man fragen, was das gerade sollte?«, maulte Kattenstroth.
»Ich war schon mal hier.«
»Ach, was Sie nicht sagen? Sie wohnen schon Ihr ganzes Leben in dieser Stadt. Wir gehen seit Wochen regelmäßig in dieses Café. Wir sind bestimmt schon mal hier durch die Notpfortenstraße gegangen.«
»Nein, sind wir nicht. Wir gehen immer den Weg in die andere Richtung, durch die Goldstraße zurück oder Richtung Niedernstraße.«
»Dann waren Sie eben aus einem anderen Grund schon mal in dieser Straße.«
»Ich rede von diesem Hauseingang.«
»Vielleicht kannten Sie mal Leute, die hier wohnten.«
»Ich sagte nicht, dass ich je durch diese Haustür geschritten bin. Hören Sie besser zu, Kattenstroth.«
Schücking ging ein Stück die Straße zurück bis zur Kreuzung und blickte in die Ritterstraße. Wieder runzelte er ein wenig ratlos die Stirn.
»Da gegenüber vom Parkhaus und hier vorne die Ecke, sah das alles nicht früher anders aus?«
»Hier war mal der Eingang zu einer Disco. Eine oben, eine im Keller, wenn ich mich recht erinnere. Eher was für die Popper. Nicht mein Fall.«
Schücking schloss die Augen und nickte langsam.
»Ja, ich erinnere mich.«
»Also waren Sie doch tanzen?«
Schücking hatte sich die Arme um den Leib geschlungen, als sei ihm kalt, was bei den aktuellen Temperaturen nicht verwunderlich war. Aber dann begann er, sich merkwürdig zu bewegen, als höre er Musik in seinem Kopf.
»Äh, Schücking?«
Er öffnete die Augen und blickte Kattenstroth skeptisch an.
»Ist es meine eigene Erinnerung oder habe ich das in einem Film gesehen?«
»Keine Ahnung, Mann. Was machen Sie denn in der Erinnerung?«
»Ich … nun, tanzen wäre vielleicht zu viel gesagt.« Er schloss erneut die Augen. »Da ist eine blonde Frau. Sie ist viel zu nahe.«
»Oha. Sind Sie sicher, dass Sie mir das hier mitten auf der Straße erzählen wollen?«
Schücking sah ihn irritiert an.
»Wieso denn nicht?«
»Tja, na gut, wenn es Sie nicht stört? Intime Einzelheiten können Sie mir aber ersparen.«
Ungebeten tauchten in seinem Kopf Bilder von Schücking und einer Blondine auf, einem sehr jungen Schücking, so wie er ihn sich gerade eben noch vorgestellt hatte, im Gothic Look. Wieder wirkte diese Vorstellung erstaunlich real.
»Vielleicht sind wir uns mal begegnet in jungen Jahren«, mutmaßte er.
»Meinen Sie nicht, dass wir uns daran erinnern würden?«
»Nicht, wenn es eher eine flüchtige Begegnung war. Außerdem habe ich viel gekifft damals.«
Schücking schüttelte energisch den Kopf.
»Ich aber nicht.«
»Ihr Gedächtnis ist aber ohnehin etwas lückenhaft. Es wäre also denkbar.«
»Dann ist meine Erinnerung an das Tanzen mit dem blonden Mädchen vielleicht echt?«
Schücking sah nicht begeistert aus. Kattenstroth feixte.
»Sie sind mir ja ein ganz schlimmer Finger. Tun so harmlos und haben damals reihenweise die Mädels abgeschleppt.«
»Nein, das glaube ich nicht.«
Wieder schien er in sich hineinzuhorchen.
»Das Mädchen, sie wollte …, sie wollte …« Er ließ die Schultern hängen. »Ich weiß es nicht mehr.«
»Hm, so schwer wird das wohl nicht zu erraten sein. Hatten Sie noch Ihre Klamotten an?«
Schücking blickte an sich herunter, als müsse er das überprüfen.
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Okay, das reicht. Mehr muss ich wirklich nicht wissen.« Kattenstroth legte sich demonstrativ die Hände auf die Ohren. »Das kann ich nie wieder ungehört machen.«
»Ich denke, wir sollten jetzt besser gehen. Reformhaus. Da wollten Sie doch hin, oder?«
Schücking drehte sich abrupt um und steuerte den Eingang zum Laden an. Kattenstroth entging jedoch nicht, dass das Gesicht seines Mitbewohners knallrot angelaufen war. Grinsend folgte er ihm.
*
»Es war das Zazoo«, sagte Schücking wie aus heiterem Himmel.
»Hä?«
Kattenstroth erwachte aus seinem Halbschlaf und setzte sich etwas aufrechter hin. Der Fernseher zeigte Bilder von wilden Tieren irgendwo an einem Fluss. Nichts half ihm besser beim Einschlafen als die langweiligen Dokus, die Schücking hin und wieder abends anschaute.
»Die Disco in der Ritterstraße. Wo wir gestern gestanden und gerätselt haben, wie der Schuppen hieß.«
Kattenstroth musterte Schücking grinsend.
»Und wieso fällt Ihnen das jetzt wieder ein?«
»Weil in der Hechelei eine PC69-Revival-Party angekündigt ist. Steht in der Zeitung.«
Kattenstroth rieb sich die müden Augen und überflog die Seite, die Schücking ihm hinhielt. Eine Lesung in der Stadtbibliothek, ein missglückter Einbruch ins Museumsarchiv, PC69-Revival-Party.
»Sie haben mich irgendwo unterwegs verloren. Was hat die Revival-Party vom PC69 mit dem Zazoo zu tun? Und warum fällt Ihnen ein Zeitungsartikel vom Vormittag ein, wenn Sie eine Doku über …«, er blickte angestrengt auf den Fernseher, »über die Tiere am Mississippi gucken?«
»Da waren Spuren von Paarhufern im Schnee.«
»Aha.« Die Tatsache, dass er nun wach war, Schückings Worte aber trotzdem keinen Sinn ergaben, kam Kattenstroth inzwischen nicht einmal mehr seltsam vor.
Er wartete. Aber mehr kam nicht von Schücking. Der schien wieder ganz aufmerksam die Sendung zu verfolgen.
Stöhnend ließ Kattenstroth den Kopf auf die Sofalehne sinken.
»Jetzt sagen Sie es schon.«
»Was denn?«
»Den Zusammenhang zwischen den Paarhufern am Mississippi und einer Bielefelder Disco aus den 80ern. Ich komme nicht drauf. Ich weiß, es ist bestimmt total naheliegend. Aber im Augenblick stehe ich auf der Leitung.«
»Es ist keineswegs naheliegend. Im Gegenteil. Es ergibt überhaupt keinen Sinn. Es sei denn, man ist dabei gewesen.«
»Wobei?«
»Als es ein einziges Mal Sinn ergab.«
»Och, nö. Schücking. Jetzt reicht es aber. Entweder Sie erklären mir jetzt alles ohne kryptische Andeutungen oder ich gehe sofort ins Bett. Das ist mir heute Abend zu kompliziert.«
Schücking schaltete den Fernseher aus und drehte sich zu ihm um.
»Sie sagten gestern, Sie hätten damals viel gekifft.«
»Was?«
Mit diesem Themenwechsel hatte er überhaupt nicht gerechnet.
»Äh, ja. Schon. Ist aber lange her. Wenn Sie was brauchen, müssen Sie sich einen anderen Dealer suchen. Meinen Sie, das Zeug hilft Ihnen gegen Ihre Panikattacken?«
»Nein, das tut es nicht. Aber darum geht es auch gerade nicht. Erinnern Sie sich noch an die Sommerferien 1986?«
»Schücking!«
»Nein, bitte. Beantworten Sie die Frage. Es wäre mir peinlich, bestimmte Dinge zu erwähnen, wenn sich meine Vermutung als ein Irrtum erweisen sollte.«
»Dass Ihnen überhaupt mal etwas peinlich sein könnte, macht mich jetzt aber ziemlich neugierig. Also, Sommerferien 1986, lassen Sie mich nachdenken. War da etwas Besonderes? Da war ich sechzehn. Bin runter von der Schule.«
»Falls es Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge hilft: Es war drei Monate nach Tschernobyl. In der Folge gab es ein Konzert gegen Atomkraft in der Nähe von Wackersdorf, gleich am ersten Wochenende der Ferien.«
»Wackersdorf …, Wackersdorf …, ach ja, richtig, da war was. Meine Freundin ist hingefahren.« Ihr Name wollte ihm gerade einfach nicht einfallen. »Und ich … hm, ich habe mit den Jungs einen draufgemacht.«
»Ah, tja dann.«
Schücking schaute wieder Richtung Fernseher, schaltete ihn aber nicht ein. Er wirkte enttäuscht.
»Falsche Erinnerung?«
»Es kam mir so real vor.«
»Sie denken wirklich, wir sind uns schon mal begegnet?«
»Je länger ich drüber nachdenke, desto realer wirken die Bilder. Aber ich muss mich wohl täuschen.«
Kattenstroth empfand Mitleid mit ihm. Er litt ohnehin schon unter Wahnvorstellungen und erheblichen Gedächtnislücken. Wenn jetzt auch noch falsche Erinnerungen hinzu kamen, machte es die Sache nur noch komplizierter.
»Nee, kann ja sein«, sagte er mit deutlich übertriebenem Optimismus, was ihm einen tadelnden Blick von Schücking einbrachte.
»Es wäre schon ein arger Zufall.«
»Aber ist auch nicht auszuschließen. Wir sind gleich alt und haben auch damals schon beide hier in der Ecke gewohnt. Warum also nicht?«
»Aber wenn Sie sich doch nicht erinnern? Meinen Erinnerungen ist ja offenbar nicht zu trauen.«
»Man erinnert sich nicht an Leute, denen man vor dreißig Jahren mal flüchtig über den Weg gelaufen ist.«
Er versuchte sich Schücking vorzustellen, wie er als Teenager ausgesehen haben könnte. Wieder war da der ernste Junge im Gothic-Look, der so real wirkte.
»Haben Sie ein Foto von sich aus der Zeit?«
»Nein.«
Es war Kattenstroth schon aufgefallen, dass es im ganzen Haus keine Familienfotos gab. Inzwischen wusste er auch, warum. Die Schückings waren weit davon entfernt gewesen, eine normale Familie zu sein. Aber es hätte ihm jetzt immerhin weiterhelfen können. Er selber besaß auch keine Fotos von sich, da alles beim Brand in seinem Beerdigungsinstitut vernichtet worden war. Vielleicht sollte er seine Mutter mal fragen. Bestimmt hatte die ein paar Erinnerungsfotos von damals.
»Erzählen Sie mir noch ein paar Einzelheiten aus Ihrer Erinnerung, vielleicht fällt mir dann noch mehr ein. Ich verspreche auch, ich mache keine blöden Bemerkungen, dass es peinlich werden könnte.«
Schücking druckste noch ein wenig herum, dann schaute er ihn entschlossen an.
»Ich war das erste und einzige Mal im PC69 an jenem Wochenende im Juli 1986. Und ich glaube, Sie waren auch da.«
»Ich war nicht oft im PC69.«
Als er Schückings enttäuschtes Gesicht sah, war er schon drauf und dran, sich etwas auszudenken. Aber Lügen halfen ihnen niemals weiter.
Dann fiel ihm etwas ein.
»Wir könnten gucken, was für Filme in den Kinos liefen oder welche Musik damals in den Charts war. Das hilft einem doch immer auf die Sprünge.«
Schücking strahlte ihn an und stand sofort auf. Er ging zum Sekretär und holte den Laptop.
»Im Kino liefen: Männer, Momo und Tod eines Handlungsreisenden.« Schücking stutzte kurz und starrte auf den Laptop, dann räusperte er sich und suchte weiter. » In den Charts standen Songs wie A Question Of Lust von Depeche Mode, Lessons In Love von Level 42, Venus von Bananarama. Hier ist ein Link, wollen Sie sich die Sachen anhören?«
»Unbedingt.« Kattenstroth lehnte sich zurück, schloss die Augen und hörte eine Weile zu. Die alten Sachen transportierten ihn sofort zurück in seine Teenagerjahre. Die meisten Songs erkannte er schon nach wenigen Tönen, aber die Interpreten wollten ihm oft nicht einfallen. Er öffnete ein Auge und warf einen Blick auf Schücking, der amüsiert die Kommentare zu den Videos las.
»Kommt Ihnen das auch alles bekannt vor?«
»Ich habe etwas zurückgezogen gelebt, nicht in einer fernen Galaxie, mein lieber Kattenstroth.«
»Von wem war das noch mal?«, fragte er, als der nächste Song anfing. Klassischer Synthie-Pop. Er erwartete geradezu, den Nicht-Gesang von Dieter Bohlen zu hören. Stattdessen setzte eine dünne weibliche Stimme ein. “Hätte ich eher Modern Talking zugeschrieben”, murmelte er.
»Das ist nicht ganz verkehrt. Das wurde von Herrn Bohlen produziert. Der Name der Sängerin lautet CC Catch«, murmelte er und runzelte die Stirn. Kattenstroth hatte ebenfalls das Gefühl, da wäre eine Erinnerung mit verbunden.
»Warten Sie. CC Catch?«
Irritiert schaute Schücking ihn an.
»Dass ausgerechnet diese Musik Sie triggert, wundert mich jetzt aber doch ziemlich.«
»Tut sie nicht. Nur der Name. Da war was. CC …, Sissi.«
»Die österreichische Kaiserin?«
»Nein. Da war dieser Junge …« Kattenstroth starrte Schücking mit weit aufgerissenen Augen an. »Jesus, Maria und Josef! Sie sind Sissi!«
Juli 1986
»Henner, kannst du mal eben noch den Anzug von Familie Böckmann abholen? Ich will gleich anfangen, den Großvater herzurichten.«
Alma Kattenstroth wartete gar nicht erst, bis Johannes mit beiden Füßen im Geschäft stand, da hagelte es schon Aufträge.
»Mama, kann ich bitte erst mal was essen?«
»Ja ja. Aber wenn du den Anzug abgeholt hast, kannst du dann auch gleich zum Friedhof fahren, zum Grab von Brindöpke? Ich glaube, dem Floristen ist ein Fehler bei einem der Kränze unterlaufen. Guck mal, was auf der Schleife steht. Ich glaube, die haben Brindöpke mit zwei p geschrieben. Da ist heute Nachmittag die Trauerfeier, das wäre doch zu peinlich.«
Johannes stöhnte auf und schlurfte mit hängenden Schultern durch den Ausstellungsraum mit den Särgen nach hinten in den Wohnbereich des Hauses Kattenstroth.
»Und so was nennt sich dann Sommerferien«, maulte er.
»Was hast du gesagt?«
Sein Vater kam mit hochgekrempelten Ärmeln aus dem Aufbahrungsraum und steckte sich eine Zigarette an.
»Bist du schon vom Friedhof zurück? Wo ist der Anzug für Opa Böckmann?«
Johannes richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schaute seine Eltern vorwurfsvoll an.
»Heute fangen die Sommerferien an. Ich hatte soeben meinen letzten Schultag. Für immer. Wäre es möglich, dass ich davon auch was habe?«
Die Eltern tauschten einen erstaunten Blick.
»Aber natürlich, Junge. Wieso denn nicht? Du sollst doch nur eben …«, begann die Mutter.
»… den Anzug holen und zum Friedhof radeln. Genau. Und wenn ich damit fertig bin, fällt euch noch was Neues ein, was ich mal eben schnell erledigen könnte. Ich habe Ferien!«
»Mit anderen Worten, du willst die ganzen sechs Wochen auf der faulen Haut liegen und bis mittags pennen?«, fragte der Vater kopfschüttelnd.
»Ach, lass mal den Jungen, Alwin. Nach den Ferien fängt ja der Ernst des Lebens für ihn an. Obwohl ich es besser gefunden hätte, wenn er noch aufs Gymnasium gewechselt wäre. Mit dem Abitur kann man doch viel mehr anfangen.«
»Wozu braucht der Junge denn Abitur? Der wird ab sofort Bestatter und übernimmt mal den Laden.«
»Oh, Laden ist ein gutes Stichwort. Wenn du vom Friedhof kommst, könntest du da eben noch schnell in den Laden springen und …«, begann die Mutter, wurde dann aber von Säuglingsgeschrei unterbrochen. Seufzend legte sie die Kladde auf dem Tisch ab, in der sämtliche Termine vermerkt wurden, und begab sich hinauf ins Kinderzimmer.
Johannes dankte seiner kleinen Schwester im Geiste für das gute Timing und warf sich seinen Rucksack wieder über die Schulter. »Anzug und Friedhof. Danach habe ich Ferien.«
Er verschwand aus dem Haus, bevor dem Vater noch weitere Botengänge einfielen, die der Junge doch mal eben schnell erledigen konnte. Er hasste diese Formulierung. Alles war immer nur mal eben schnell zu erledigen. Dass in der Summe von ganz viel ‘nur mal eben schnell' gar nichts mehr mal eben und erst recht nicht schnell war, sahen sie natürlich nicht ein. Dann hieß es wieder, er sei einfach faul und würde sich noch umgucken, wenn er erst einmal erwachsen wäre und selber eines Tages das Bestattungsunternehmen führte.
Johannes hatte nie einen einzigen Gedanken daran verschwendet, das nicht zu tun. Weder er selbst noch irgendjemand sonst hatte je angezweifelt, dass er die lange Familientradition fortsetzen würde. Wer sonst hätte es auch tun sollen? Aber nun hatte er eine Schwester bekommen. Sehr überraschend für die ganze Familie war Alma Kattenstroth mit 40 noch einmal Mutter geworden. Das hatte den Haushalt ziemlich auf den Kopf gestellt und Johannes hatte deutlich mehr Pflichten übernehmen müssen, als zuvor abgesprochen. Klein Kerstin war ein lautes Kind, daher war er nicht böse, wenn diese Pflichten ihn aus dem Haus führten. Aber Johannes war sechzehn. Und da hatte man nun mal andere Interessen, als unbezahlter Handlanger für einen Bestatter zu sein, erst recht, wenn es sich um den eigenen Vater handelte.
Johannes radelte zuerst zum Sennefriedhof, um sich diesen dämlichen Kranz mit Schreibfehler auf der Schleife anzuschauen. Er malte sich aus, wie der teure Verblichene aus dem Grab stieg und vehement protestierte, dass das ja gar nicht sein korrekter Name sei und er von Rechts wegen also noch leben müsste. Solche schrägen Ideen würde er sich in Zukunft wohl besser verkneifen.
Die Wahrheit war, dass Johannes sich noch nicht bereit dafür fühlte, ab sofort Bestatter zu werden. Er hatte seit ein paar Tagen ernsthaft erwogen, doch noch auf das Gymnasium zu wechseln und Abitur zu machen, einfach, um Zeit zu schinden. Das Erwachsenwerden kam auf einmal sehr plötzlich. Dabei hatte er sich doch noch gar nicht richtig ausgetobt. Offenbar gingen seine Eltern davon aus, dass er in den nächsten Wochen von einem kiffenden Teenager zu einem seriösen Bestatter mutierte. Johannes sah das nicht so.
Er parkte sein Fahrrad am Eingang des Friedhofs und schloss es ab. Eilig bewegte er sich durch die Reihen der Gräber bis zu einer frisch ausgehobenen Grabstätte, um die herum bereits zahlreiche Kränze ausgelegt waren. Er ging einen nach dem anderen durch und las die kurzen Grußworte auf den Schleifen. Kein einziger Schreibfehler. Was auch immer seine Mutter da zu sehen geglaubt hatte, hier war kein Fehler zu entdecken. Na toll. Den Weg hätte er sich sparen können.
Ein lautes Rascheln und Fiepen ließ ihn herumfahren. Auf jedem Friedhof gab es eine Menge Getier, aber er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, seinen zukünftigen Arbeitsplatz mit Ratten teilen zu müssen.
Wieder raschelte es. Das Fiepen ging in ein leises Wimmern oder Jaulen über. Definitiv keine Ratte. Zögernd machte Johannes ein paar Schritte in die Richtung, aus der er die Geräusche vernommen hatte, und blickte sich nach allen Seiten um. Aber es war niemand zu sehen außer ihm und einem Jungen im dunklen Anzug, der ungefähr in seinem Alter war und vollkommen unbeweglich vor einem Grab ganz in der Nähe stand.
Da, schon wieder das Rascheln. Johannes schaute schnell zu dem Jungen hin, aber der hatte sich nicht bewegt. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten zwischen den Büschen verschwinden, die um eines der großen Familiengräber gepflanzt waren. Johannes umrundete den Grabstein. Vor kurzem hatte offenbar jemand frische Blumen abgelegt, die nun zertrampelt waren. In der aufgewühlten Erde konnte Johannes Abdrücke von Tierpfoten erkennen. Er vermutete, ein Hund habe das angerichtet, was immerhin zum Jaulen und Fiepen passte. Obwohl die Abdrücke eher wie Hufe und nicht wie Pfoten aussahen. Ziegen? Wohl kaum.
Er warf einen letzten Blick zu dem anderen Jungen hinüber und stellte fest, dass dieser ihn anstarrte. Allerdings war sich Johannes nicht sicher, ob auf dem Gesicht des Jungen eher Ablehnung oder Sorge zu erkennen war. Merkwürdig. Sollte er ihn ansprechen? Aber dann fiel ihm wieder ein, dass er noch den Anzug abholen musste und anschließend verabredet war. Immerhin waren doch Ferien! Er würde möglichst viel Zeit mit Mareike verbringen. Die Aussicht, sechs Wochen lang mit seiner Freundin Freizeitaktivitäten unternehmen zu können, ließ ihn breit grinsen. Das würden großartige Ferien werden. Er zwinkerte dem anderen Jungen fröhlich zu und machte sich auf dem Weg zu seinem Fahrrad.
*
»Wie war der letzte Schultag?«
Annette Schücking blickte ihren Bruder skeptisch an, als er seine Ledermappe sorgfältig auf dem Küchenstuhl abstellte und sich dann daran machte, Kaffee zu kochen.
»Wie immer. Musst du nicht arbeiten?«
»Oh, was für eine nette Begrüßung. Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie sehr man vom eigenen Bruder geschätzt wird.«
Clemens stellte die Dose mit dem Kaffeepulver unnötig geräuschvoll auf der Anrichte ab und drehte sich zu seiner Schwester um.
»Führt dieses Geschwafel noch zu irgendetwas? Willst du etwas von mir?«
»Warst du auf dem Friedhof?«
»Wieso fragst du?«
Annette seufzte, wie es nur ältere Schwestern konnten, bevor sie ihren jüngeren Brüdern einen Vortrag hielten, um den diese nicht gebeten hatten.
»Schau, Clemens, ich verstehe ja, dass du um Mama trauerst. Aber du musst dich wirklich nicht verpflichtet fühlen, jeden Tag an ihr Grab zu gehen. Sie würde es dir nicht verübeln, wenn du nicht jeden Tag kommst.«
»Woher weißt du das? Plaudert ihr manchmal nett miteinander?«
»Sei nicht albern, Clemens. Ich will dir doch nur helfen.«
Er hätte ihr gern an den Kopf geworfen, dass er ihre Hilfe weder brauchte noch wollte. Aber das stimmte nicht. Sie war sein Vormund. Wenn es seiner Schwester mit ihm zu bunt wurde, dann konnte sie dafür sorgen, dass er in ein Heim kam. Das musste er unter allen Umständen verhindern. Also gab er sich zerknirscht und ließ die Schultern hängen.
»Ich weiß. Aber ich habe das Gefühl, ich vergesse sie viel zu schnell.«
»Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Das ist normal. Du bist erst sechzehn. Mama würde wollen, dass du nach vorn schaust und dein eigenes Leben lebst.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, sagte er halbherzig. Ihr zuzustimmen war erfahrungsgemäß der schnellste Weg, sie loszuwerden.
Er goss sich eine Tasse Kaffee ein, räumte alle Utensilien wieder weg und putzte über die Anrichte. Er brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, dass Annette ihn kopfschüttelnd beobachtete. Was konnte er dafür, dass andere Jungs in seinem Alter schlampig und unordentlich waren? Er bevorzugte es, alles beim nächsten Mal wieder so vorzufinden, wie es sein sollte.
Mit seinem Kaffee in der Hand wollte er die Küche verlassen, aber Annette war noch nicht fertig.
»Du willst doch nicht die ganzen Sommerferien in deinem Zimmer verbringen, oder?«
»Hatte ich nicht gerade eben erwähnt, dass ich nach der Schule auf dem Friedhof war?«
»Ich meinte, außer dem Friedhof. Was machen denn die anderen Jungs aus deiner Klasse so in den Ferien?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Habt ihr euch nicht darüber unterhalten?«
Dieses Mal war es an Clemens, schicksalsergeben zu seufzen.
»Annette, wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich gehöre nicht gerade zum erlauchten Kreis meines Jahrgangs. Niemand erzählt mir, was er oder sie im Urlaub macht. Und um ehrlich zu sein, bin ich echt froh darüber, denn es interessiert mich nicht die Bohne.«
»Ach komm, es wird doch wohl irgendjemanden in deinem Jahrgang geben, mit dem du redest.«