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Am Sund angekommen, ahnt die Erzählerin nicht, welche Geheimnisse die Gegend birgt. Während sie auf ihre Geliebte wartet, schwappen nachts seltsame Gesänge von der Insel Lykke über das Wasser ans menschenleere Festland – unheimlich und verheißungsvoll zugleich. Sie beschließt, ihre Recherche um die Rolle ihres Urgroßvaters im Nationalsozialismus ruhen zu lassen, und bricht nach Lykke auf. Doch dort beginnt sich die düstere Geschichte der Insel immer stärker mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu verschränken.
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LAURA LICHTBLAU
SUND
Roman
C.H.BECK
Am Sund angekommen, ahnt die Erzählerin nicht, welche Geheimnisse die Gegend birgt. Während sie auf ihre Geliebte wartet, schwappen nachts seltsame Gesänge von der Insel Lykke über das Wasser ans menschenleere Festland – unheimlich und verheißungsvoll zugleich. Sie beschließt, ihre Recherche um die Rolle ihres Urgroßvaters im Nationalsozialismus ruhen zu lassen, und bricht nach Lykke auf. Auf der Überfahrt dorthin lernt sie die Neue kennen. Beide sind als Fremde auf der Insel nicht gern gesehen und werden, widerstrebend zunächst, zu Komplizinnen. Denn irgendetwas stimmt nicht in diesem vermeintlichen Idyll aus Amaranthfeldern und selbst geschleudertem Honig. Die Menschen sind verschlossen, bestimmte Fragen dürfen nicht gestellt werden, und Besuch sollte besser bald wieder verschwinden. Doch die Erzählerin bleibt und findet heraus, dass dieser Ort einst Schauplatz von Zwangssterilisationen war. Während sich zunehmend Parallelen zu ihrer eigenen Familiengeschichte auftun und über der Insel der Dunst aufzieht, wird klar, dass sie auch hier nicht bleiben kann. Wie fragil ist unsere Gegenwart, wenn sie von einer Vergangenheit bestimmt wird, die nicht bemerkt werden soll? «Sund» ist der entschlossene Versuch einer Geisteraustreibung, der vor fantastischen Bildern sprüht und ebenso frei und unangepasst voranschreitet wie seine Erzählerin selbst.
Laura Lichtblau, 1985 in München geboren, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Ihre Lyrik und kürzere Prosa wurden in zahlreichen Magazinen und Anthologien veröffentlicht. Ihr erster Roman «Schwarzpulver» erschien 2020 bei C.H.Beck.
I.
Quiz:
II.
III.
IV.
V.
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Quellen:
Außerdem:
Der Roman enthält Zitate in ableistischer, saneistischer, rassistischer, queerfeindlicher und antisemitischer Sprache.
To say self is to say landscapes, because landscapes are not backdrops.
Édouard Glissant
The present moment is made possible by the fantasy of you (…), given your convenient absence.
Lauren Berlant
Über der Landschaft liegt eine frohe Unruhe. Frohe Unruhe: der geliehene Begriff. Jetzt trage ich ihn herum wie etwas Kühles, Glattes, wie eine Kanone in der Manteltasche etwa, einen Stein.
Der Begriff trifft zu und trifft zu.
Schon wieder Schnappatmung.
Stell dir vor, durch diese Gegend pfeift ein Wind. Als wollte er alles kopfüber werfen. Stell dir vor, dass die Einwohnerinnen sich aber verschanzen und zusehen, wie alles umherfliegt, die Kühe vielleicht, die Kisten mit Fisch, Weizenhalme, frisch an den Strand gespülte Skelette (von Robben). Wie er alles kaputt haut. Wie er alles nach oben wirbelt in einen dunstigen Himmel, der warm ist, viel zu warm für August.
Wie es den Touristinnen die Beine in die Luft reißt.
Wie kein Steg mehr betreten wird und wie es die Markisen zerfetzt.
Wie die Fischerinnen Mühe haben, die Wimpel an den Stellnetzen zu befestigen.
Später: Gehisste Fahnen.
Das leise Schlagen der Metallösen gegen die Masten. Als wäre das das einzig zulässige Geräusch.
So warm war’s in der Nachsaison noch nie, sagen die Einwohnerinnen hier zueinander: ein Fakt.
Der Boden reißt auf, und in den schmalen Zuflüssen zum Sund steht das trübe Wasser seit Tagen.
Ich beschreibe dir alles. Das Wohnzimmer mit der Glasfassade, die eingezogene Küchenzeile, deren roter Schrank voll ist mit altem Geschirr und abgelaufenem Essen, vaniljekranse und makrel in tomat. Den weiß lackierten Tisch im Eck des staubigen Wohnraums, auf dem meine Notizen liegen, die Aktenordner mit Kopien und ein kleines stoffgebundenes Buch über Eichen. Den Blick in die Birken, das undeutliche Licht, das zwischen ihnen steht, auf den privaten Fahnenmast, an dem an diesem Morgen keine Flagge hängt. Die Schmetterlingsschwärme, die über dem Moos stehen, das sich in feuchten Polstern aus der Erde drückt. Das kleine Schlafzimmer, zwei schmale Einzelbetten, rosa Kreppbettwäsche. Das kalte Zimmer: ganz hinten. Dort sind die Regale mit den Sagenbüchern und den Legenden.
Du beschreibst mir alles: die langen Gänge im Wohnschiff, die Neonröhren an den Decken, die Kabinen mit den Stockbetten, die eng sind und von denen du eine eigene hast. Den Mann, der jeden Tag das Deck fegt und den Leuten am Kai wütend zubrüllt, sie sollten nicht gaffen. Die gestapelten Dosen Faxe Kondi Energy in den Kabinenfenstern, die Spaziergänge ums Hafenbecken, den Wind.
Ich kann mir alles vorstellen.
In dem mageren Birkenwäldchen zwei weiße Stühle aus Plastik. Ein Fasan stolpert schwitzend vorbei.
Wir fragen uns, ob unsere Gegenden ähnlich sind.
Nachts, so steht es in den Sagenbüchern im kalten Zimmer, schreibt die Jugend Poseidon zuliebe mit Wasser.
Die Namen in meinem Text:
Arthur Gütt
Karl Brandt
Max Lange
Ernst Rüdin
Karl Gebhardt
und so weiter.
Die Namen hier:
Hr. Gulve
Fru Forsikring
Hr. Juul-Larsen
Hr. Lundgaard
Fru Kjellund og Fru Knudsen
Im Landesinneren: alles einsehbar. Weite, kurz gemähte Felder. Flache Hügel, die sich nach oben wölben wie erhitzter Teig, zu niedrig, um sich dahinter zu verstecken. Stallungen aus Wellblech, kaum Menschen, nur Tiere. Die Wälder treten gebündelt auf, kleine, struppige Flächen, schon aus der Ferne erkennbar. Hingeschludert, wie gar nicht ernst gemeint. Nachts pumpen sie kalte Luft über die Felder, Nebelschwaden, in denen Rehe verloren gehen und die ich beim Spazierengehen meide: als käme ich da nicht heil wieder raus.
Stell dir vor, wie ich daliege und mir dich vorstelle. Wie ich dein Gewicht spüre, als wärest du da.
Kommst du noch?
Zum Frühstück: trockene Kekse. Zum Mittag: Orthopädie im Nationalsozialismus. Zu Abend: gebratene Panik.
Do you consider yourself to be lonely?
Yes
No
2.
Do you daydream a lot?
Sure
No
3.
Is your fantasy adult-rated?
Ugh! No
Er … yeah
4.
Is most of your days lost in fantasy?
Yeah
No
5.
Do you mix fantasy with the real world?
No
Yeah
O yeah
Und die Bunker, die der Landschaft schwer im Magen liegen.
Sie sind von grünem Flaum bewachsen, schlafende Tiere, die Mägen blähen sich gegen den Schmerz.
Du sagst nicht, dass du noch kommst. Auch du wartest: dass das Wetter besser wird und die Steilhänge aus Kreide stabiler.
Dann ruft jemand nach dir. Ob du den Bierkasten zum Baggerschiff fahren könntest, hyphyp!
Die Kollegen, sagst du, die seien ein bisschen herber und derber.
Weg bist du.
Immerhin: seit Kurzem im selben Land.
Was soll ich dir erzählen?
Die Einwohnerinnen hier bepflanzen ihre Gärten spärlich. Ein paar weiße Blumen an der Hauswand, farbloses Gemüse: Was könnte das sein? Schwarzkohl oder Sellerie oder Kartoffeln. Dazu der abrasierte Rasen. Sie halten ihn kurz. Ich wünsche mir, er möge höher wachsen, er möge wuchern, er möge seltsame Blüten tragen!
Ich stelle sie mir vor. Noch in den kärgsten Straßen stelle ich sie mir vor.
Das Bunteste, wovon hier geredet wird, das sind die Karotten. Die sind sogar in der Hauptstadt berühmt.
Die Sprache der Kinder hier: ein einziges Ällabätsch. Mit Fischgräten stechen sie sich in die Rippen und jagen einander die Hügel hinauf und hinab.
Hinten auf den Feldern leuchten die Feuer. Die Einwohnerinnen verbrennen ihre Erinnerungen und ihren Müll, und für sie ist es dasselbe.
Wenn ich zu lang gelesen habe, zersprengt es mir von innen den Schädel, als wäre er eingeklemmt in eines der Messgeräte aus Stahl, die ich in der Medizinischen Wochenschrift von 1937 gesehen habe.
Tagsüber ist die Luft trocken wie Papier, zum Zerreißen gespannt. Nachts ist sie kühl und feucht. Wenn ich den Kopf unter dem Schiebefenster hinausstrecke, riecht es nach Moos und Ozean zugleich.
In dieser Nacht träume ich beharrlich von den Alpen. Mein Urgroßvater hat eine Unterkunft angemietet, tief versteckt in den Bergen. Die Wege dorthin sind kaum passierbar, Schneewehen, schlechte Sicht und Tiefnebel. Er sitzt auf einer Holzbank, den Blick ins Dunkle gerichtet, und schreibt. Es hätte Scheinwerfer gebraucht. Setz dich her, sagt er, und dann stürzt der Schnee von allen Gipfeln.
Vor dem Küchenfenster hat jemand eine Wäscheleine aufgespannt, an der Handtücher im Wind wehen. Ein grün-hellgrün gestreiftes, schon beinahe durchsichtig, ein kleines kariertes, eines bedruckt mit dem Logo von Sprite. Ein T-Shirt in Large. Eine kurze gelbe Hose, noch klamm von der Nacht. Die Grashalme sind kalt und nass vom Tau.
Ich klaue die Hose. Ein auffälliger Diebstahl: Als ich später durch die dunklen Felder gehe, den Hügel hinab Richtung Sund, leuchtet die Hose zwischen allen Halmen.
Auf dem Weg zum Hafen liegt der Sund neben mir, ein gleichgültiges, gleißendes Band. Zwei Schiffe stehen darauf, eine Fähre, ein Schlepper.
Weit weg das leere Kloster, weiß gekalkt vor der flachen, grünen Wiese. Und immer wieder dieselben roten Hütten ohne Menschen, davor zusammengeklappte Tische, zusammengeklappte Stühle, eine zusammengeklappte Saison. Ich bin für alles viel zu spät dran! Jedes Schild, auf dem trotzdem noch kartoffler angeboten werden, tröstet mich. Oder fisk. Oder snaps.
Der Hafen ist schmal, als nähme der Sund nur einen Bissen vom Land. Eine Wassertankstelle mit blauen Tanksäulen, ein geschlossenes Café und aufgebockte Boote mit kleinen Schornsteinen aus Blech.