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Dieses E-Book entspricht 168 Taschenbuchseiten ... Paris, Stadt der Liebe, Ende des 19. Jahrhunderts: Die schöne Lilou soll in der Metropole an der Seine als Dienstmädchen Disziplin und biederen Ernst erlernen. Doch in der Stadt der Bohème und Lust dauert es nicht lange, bis sie den sündigen Verlockungen erliegt. Wie eine knospende, nektarreiche Blüte öffnet sie sich und kostet Männer und Frauen. Mit jedem Abenteuer ahnt sie mehr, dass es für sie keinerlei Tabus mehr geben wird ... Diese Ausgabe ist vollständig, unzensiert und enthält keine gekürzten erotischen Szenen.
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Seitenzahl: 187
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Impressum:
Sündiges Paris - Abenteuer eines Dienstmädchens | Erotischer Roman
von Lilou Diaz
Lilou Diaz wurde 1991 in der französischen Stadt Pau am Fuße der Pyrenäen geboren und galt schon früh als wilder Wirbelwind. Was Eltern und Lehrer anfänglich mit Sorgen beobachteten, entfaltete sich schon bald zu einer schier zügellosen Neugier auf das Leben. Eine Neugier, die sich in ihrer Berufswahl, der Liebe zur Musik und nicht zuletzt in ihrer Sexualität widerspiegelt.Seit einigen Jahren ist sie selbstständige Autorin und verknüpft in Romanen und Gedichtbänden immer wieder persönliche Erfahrungen mit aromatischen Fantasien.Zuletzt hat sie das Genre des Erotikromans für sich entdeckt und genießt es dabei gleichermaßen, sich darin auszuleben wie Menschen zu Neugier zu inspirieren.
Lektorat: Claudia Rees
Für Jamie
Originalausgabe
© 2022 by blue panther books, Hamburg
All rights reserved
Cover: © bobshepherd @ 123RF.com
Umschlaggestaltung: MT Design
ISBN 9783750738171
www.blue-panther-books.de
Prolog
Novembernebel zieht herauf. Legt sich glänzend auf die Pflastersteine. Trübe Laternen schicken ihr Licht in die Nacht hinaus. Hilflos verschwimmt der Schein mit dem Nebel. Gleich wird der Wagen kommen, mich zum Fluss und dann nach Hause bringen.
Zu Hause, dieser helle Fleck am Ende des Tunnels, durchdrungen von Stimmen und Erinnerungen. Wenn ich am Fenster stehe, driftet mein Geist zurück, legt sich gemeinsam mit mir in sommerliche Streuobstwiesen, spürt, wie Grashalme meine Wangen kitzeln, meine Finger mit dem Saum meines Lieblingskleides spielen.
Ich wuchs in einer anderen Zeit, manche sagen einer einfacheren, unweit von Rouen auf. Das Dorf war klein und wir waren arm. Ein Umstand, den ich lange Jahre gar nicht wahrnahm. Die engen Grenzen unseres Städtchens erkundete ich dagegen bereits mit den ersten Schritten. Früh mussten meine beiden älteren Brüder und meine große Schwester auf dem Hof helfen. Viel zu oft schlich ich mich fort, um allein durch Wiesen zu streunen, auf Bäume zu klettern und solange von den sauren Kirschen zu naschen, bis mir der Bauch wehtat.
Die bösen Blicke meiner Geschwister sah ich nicht. Ich war gern allein; mit mir und meinen Gedanken.
***
»Lilou, wo warst du nur wieder?«
Mit eher resignierter denn sorgenvoller Stimme hielt mich meine Mutter an den Schultern fest und stellte mich vor sich.
»Ach Maman …«, quengelte ich, als ihre Finger begannen, mir das braune, wild zerzauste Haar glatt zu streichen. Ich war damals sieben und hatte mehr Schrammen, blaue Flecken und Kletten im Haar als meine Brüder und der Hofhund zusammen.
»Das gute Kleid, schon wieder eingerissen.« Sie atmete hörbar aus und legte mir die Handfläche auf die Wange. Eine Ohrfeige in Zeitlupe und dabei doch wirkungsvoller als ein echter Klaps. Denn obwohl das beige Sommerkleid ganz gewiss nicht für Klettereien und das Herumstromern durch Felder und Wälder bestimmt war, freute sie sich insgeheim, dass es mir so gut gefiel. – Schließlich hatte sie es selbst genäht und besaß ich die Wahl, zog ich es stets den wenigen gekauften Kleidungsstücken vor. »Was soll ich nur mit dir machen, Kind?«
Ich biss mir auf die Unterlippe, zuckte mit den Schultern und schaute sie mit meinen großen, braunen Augen an. Das funktionierte meistens.
»Na los, wasch dich und hilf dann deiner Schwester beim Tischdecken. Das Abendessen ist gleich fertig.«
Drinnen im Haus bedachte mich meine Schwester nur mit einem Blick, der in etwa so viel sagte wie: ›Igitt!‹
Viel früher als meine Mutter hatte es Claudine aufgegeben, mich mit mahnenden Worten zur Raison zu bringen. Tatsächlich war sie aber nur enttäuscht darüber, dass sie bisher noch kein Prinz, Pirat oder Bankier aus dem Kuhstall gerettet hatte. – Und dieser Tage wuchs ihr außerdem ein dicker Pickel auf der Nase. Ebenso wortlos wie sie, streckte ich ihr kurzerhand die Zunge heraus und begann, die großen weißen Teller mit den abgeschlagenen Kanten auf den Tisch zu stellen.
***
Zu meiner Freude und zum Leidwesen meiner bedauernswerten Eltern änderte sich mein Verhalten auch in den folgenden Jahren nur wenig. Viel mehr blühte ich weiter auf, was unter anderem zu einem verprügelten Nachbarsjungen, welcher mich doch tatsächlich hatte küssen wollen, einem Rudel adoptierter Tiere, einer mehrtägigen Flucht in mein geheimes Baumhaus und allerlei anderen Dingen führte, die weder Mädchen geschweige denn junge Frauen tun sollten.
***
So habe ich nie wirklich erfahren, wann und wie sie beschlossen, mich fortzuschicken. Und trotzdem hatte ich stets ein bestimmtes Bild dazu im Kopf.
Es muss ein später Novemberabend im Jahr 1889 gewesen sein. Vielleicht wehte der Wind trommelnd kalten Regen gegen die Fensterscheiben, während Vater und Mutter im Licht einer einzigen kleinen Lampe am Tisch saßen. Ganz sicher hatte er sich eine Pfeife angezündet, um seine Nerven zu beruhigen. Rauchschwaden züngelten sich zur Decke empor und herber Tabakduft erfüllte die Luft.
»Es ist bestimmt das Beste für alle.« Seine Stimme klang belegt und wenig überzeugend.
»Das Beste? Aber… Bertrand, wir können ihr doch nicht einfach das Zuhause nehmen.« Schniefend tupfte sie sich mit dem Taschentuch die Tränen von den Wangen. Sie saßen sich gegenüber. Unsicher spielte meine Mutter mit dem Stoff in ihren Händen.
»Das tun wir doch gar nicht.« Er legte die Pfeife in den Aschenbecher, ließ die Arme über die Tischplatte streichen und nahm ihre in seine Hände. »Jusette, Liebes. Sie ist einfach zu wild geworden.« Sie fühlte die Schwielen, die Wärme, die stets, selbst in diesem Moment, von seinen Fingern ausging.
»Aber sie ist unsere Jüngste …«
»Gerade deshalb kann es so nicht weitergehen. Was soll denn hier aus ihr werden?« Schon immer war mein Vater der Vernünftige gewesen. Ohne groß darüber zu reden, hatte er sich der Erziehung meiner Brüder angenommen und mich gemeinsam mit meiner Schwester unserer Mutter überlassen. Damit schien es nun vorbei zu sein.
»Erinner dich, du warst in ihrem Alter schon verheiratet. Doch statt sich für Männer zu interessieren, verprügelt sie lieber jeden, der versucht, sich ihr zu nähern. Inzwischen machen alle einen weiten Bogen um sie. Dabei ist sie eine so hübsche junge Frau geworden.«
»Ja, das ist sie. Ich hatte … hatte immer gehofft, sie würde einen netten Mann finden und in eine gute Familie einheiraten. Sie kann so sanft sein.« Tiefe Schluchzer begleiteten ihre Worte.
»Vielleicht wird sie das auch. Nur nicht hier. Nicht so. Kratzbürstig, mit verschrammten Knien … In Bäumen und im Stall findet sie gewiss keinen guten Mann.«
***
Damit wurde beschlossen, mich zu meiner Tante in die Stadt zu schicken. Wenn ich selbst dabei zunächst nur an das nur wenige Kilometer entfernte Rouen gedacht hatte, so wurde auch dieser letzte Funken Hoffnung rasch zerschlagen.
Paris. Ein Wort, ein Bild, das gegensätzlicher zu meinem bisherigen Leben nicht hätte sein können, ragte fortan wie eine dunkle Wolke vor meinem inneren Auge auf. Noch vor Weihnachten würde ich zu meiner Tante fahren, die als Haushälterin edlen Herrschaften diente und scheinbar gerne weitere helfende Hände in Anspruch nahm. Es hatte nur zweier Briefe bedurft, die Mutter geschrieben und erhalten hatte, ehe sie mir eines Abends mein neues Leben ankündigten. Einmal gefasst, konnten keine braunen Augen dieser Welt, kein Zetern und kein Schreien sie von dem ersonnenen Plan abbringen. Noch war ich nicht erwachsen, und so begann ich, mich in mein Schicksal zu fügen.
***
Bis zu meiner Abreise waren die Tage düster. Als trauere die Sonne mit mir, versteckte sie sich hinter dicken Wolkendecken, und Regen untermalte mein stilles Ausharren. So verließ ich das Haus kaum noch, bis mich Vater schließlich zum Bahnhof brachte. Eigentlich hatte Mutter auch mitkommen wollen, doch schon als ich mit meinem kleinen braunen Koffer vor ihr in der Stube gestanden hatte, war sie in bitterliche Tränen ausgebrochen.
»Es ist nicht für immer«, waren die letzten Worte meines Vaters gewesen, als er mich am Bahnsteig lange in den Armen hielt und zum ersten Mal in meiner Gegenwart weinte. Ich sollte ihn nie wieder sehen.
***
Da die Gefahr, sich zu verirren, im Reich von Deutung und Interpretation stets hungrig lauert, im Spiegelbild der eigenen Worte womöglich gar am größten ist, sollen die weiteren Geschehnisse von höherer Warte aus betrachtet und geschildert werden.
Denn das Ich ist ohnehin gewandelt. Durch die Zeit und das Erlebte. Umgeformt und ausgeschliffen, mit Spuren versehen, die als offenkundiges Zeugnis doch nur ein blasser Widerschein all dessen sind, was damals meine Welt, mein Leben war. Indes, solange das Erinnern Nächte wärmt und Blicke wachen Auges träumen lässt, kann mich die Zeit nicht schrecken. Denn ich habe das Leben geliebt und die Liebe gelebt.
Paris 1951
Ankunft in Paris
Kalte Dezemberwinde wehten durch die Straßen von Paris, rüttelten hungrig an Hut und Mantel von Lilou und ließen ihre klammen Finger rasch wieder die Zuflucht der warmen Manteltaschen suchen. Der Briefumschlag, auf dem die Adresse ihres neuen Zuhauses in der feinen Handschrift ihrer Tante geschrieben stand, war bereits ganz verknittert.
Den Place Blanche im Stadtteil Montmartre hatte sie recht schnell ausfindig machen können. Nun aber irrte sie schon seit einer gefühlten Ewigkeit durch kleinere Seitenstraßen. Selbst in dunkle Gassen und Hinterhöfe hatte sie sich gewagt. Längst spürte sie die feuchte Kälte in ihre Schuhe kriechen. Die Zehen in den feinen Söckchen sehnten sich nach einer Pause und vor allem Wärme.
Zu Anfang waren ihr immer wieder Passanten begegnet, die eilig über das Pflaster schritten, ohne dass sie auf die Idee gekommen wäre, jemanden nach dem Weg zu fragen. Inzwischen bereute sie diesen Anflug von Sturheit bitterlich, denn im Grau der Straßenzüge schien zu dieser Stunde plötzlich niemand mehr unterwegs zu sein. Mit großen Schritten senkte sich die Nacht herab. Lichter begannen die Fenster der Häuser zu erleuchten und ließen sie wie zufriedene Augen in die aufziehende Dunkelheit blicken, versprachen sie doch gemütliche Geborgenheit. Auch etliche der Laternen warfen bereits trübe Lichtkegel auf den Boden. Doch bei Weitem nicht alle! Den Hut mit der linken Hand festhaltend, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, sah die Straße hinunter und fand, was sie erhofft hatte. Hörbar hastig eilten ihre Schuhe einen Wimpernschlag später über den Gehsteig.
»Entschuldigen Sie bitte.«
Verdutzt ob der ausbleibenden Reaktion, blieb sie einen Moment still stehen. Der untersetzte Herr mit den breiten Schultern und aufgeschlagenem Kragen schien sie gar nicht wahrgenommen zu haben. Stattdessen hantierte er weiter mit einer langen Apparatur herum, an deren Ende eine kleine offene Öllampe mit dem Luftzug kämpfte. Sie schluckte schwer, hielt sich mit der rechten Hand dank einer aufkommenden Befürchtung den kleinen Lederkoffer vor ihre Brust und tippte ihrem Gegenüber mit der freien Linken auf die Schulter.
»Ich bitte um Verzeihung für die Störung.« Ihre Stimme klang schwach und leise. Wie das Piepsen einer Maus. Sie hasste das.
»Höh …«
Wenn der Ausruf als Einleitung für eine Frage gedacht gewesen sein sollte, so ging der wichtigste Teil davon in dem metallenen Scheppern unter, den die Stange des Nachtwächters verursachte, als diese gegen den Laternenpfosten stieß.
Erschrocken und beschwichtigend zugleich verzog Lilou das Gesicht.
»Was zum …« eilig wischte sich der Mann das heruntergetropfte Öl vom Handrücken. Erst danach blickte er die Störerin an.
»Es tut mir leid. Ich wollte Sie gewiss nicht erschrecken. Nur… nach dem Weg fragen.«
»Halb so wild.« Die Zigarette im Mundwinkel ließ seine Worte zu einem kaum verständlichen Nuscheln werden.
»Wo solls denn hingehen?«, fragte er, fasste seine Apparatur aufrechtstehend neben sich und befreite die bärtigen Lippen von dem glimmenden Besucher.
Überrascht, da Lilou mit einem Fluch in gröbster Kutschbockmanier gerechnet hatte, beeilte sie sich, den Briefumschlag aus der Manteltasche zu wurschteln. Es wurde stetig dunkler. Eine der braunen Strähnen ihres vollen Haares aus dem Gesicht streichend, hielt sie das Papier in den Lampenschein. »Dieses Haus suche ich.«
Doch trotz des wenigen Lichts konnte sie die ungläubig geöffneten Augen des Mannes bestens erkennen.
»Dieses Haus? – Bist du dir da sicher, Kind?« Er zog an der Zigarette und sein Lächeln wurde in graue Schwaden gehüllt.
Lilou konnte sich nicht helfen, aber irgendwie lag mit einem Mal etwas Raubtierhaftes in seinen Zügen. Dennoch bejahte sie: »Das bin ich. Meine Tante dient dort edlen Herrschaften. Zu ihr möchte ich.«
»Herrschaften sind Monsieur und Madame Ledoux ganz gewiss, auch wenn ich ein anderes Wort als edel benutzen würde.« Er zog geräuschvoll die Nase hoch. »Aber was weiß ich schon.« Einen letzten Zug nehmend stippte er den Glimmstängel in den Rinnstein. »Weit hast dus nicht mehr. Siehst du die Kreuzung dort vorne?« Er wartete ihr Nicken kaum ab. »Geh dort links und dann, nach ein paar Schritten, stehst du direkt davor. Du kannst es gar nicht verfehlen.«
»Vielen, vielen Dank«, sagte Lilou mit einem erleichterten Lächeln, verstaute den Brief, nahm den Koffer in die Hand und wandte sich zum Gehen.
»Und grüß mir die Dame des Hauses«, rief der Nachtwächter ihr nach, als sie sich bereits einige Schritte von diesem entfernt hatte. Kurz drehte sie sich um. »Gerne, von wem soll ich Grüße ausrichten, mein Herr?«
»Einfach von dem Mann mit der Stange«, hörte sie ihn antworten, begleitet von einem lauthals durch die Nacht schallenden Lachen. Auch wenn sie die verhallende Stimme einigermaßen verwirrt zurückließ, gönnte sie dem Zögern nicht mehr als zwei, drei Atemzüge. Viel zu sehr sehnte sie sich danach, endlich anzukommen.
Doch die Beschreibung des Nachtwächters stellte sich schon bald als wahr heraus. Zumindest schien es so. Zwei Minuten nachdem sie die Kreuzung passiert hatte, stand Lilou unschlüssig vor einem großen Gebäude. Drei breite Treppenstufen führten zu einer braunschwarzen Doppeltür, die eingerahmt von Säulen und beschlagen mit gusseisernen Knäufen war. Helle Lichter im Innern beschienen schwere, rote Vorhänge und erhellten den Gehsteig weit mehr, als es die Laternen vermochten. Sah man auf die Stoffe, fühlte man bereits heimelige Wärme. Gedanken an weiche Teppichböden und dunkles Holzparkett stahlen sich als Vorahnung selbst von draußen in ihren Geist.
Und hier soll ich richtig sein?, fragte sie sich in Gedanken, als sie langsam die Stufen hinaufging, nun doch etwas unschlüssig stehen blieb, den abgestellten Koffer an ihrem Bein spürte und mit der zur Faust geballten Hand klopfte. Erst zaghaft und leise, dann beim dritten und vierten Mal wesentlich lauter.
Als eine Seite der Flügeltür schließlich aufschwang, fluteten Licht und Musik gleichermaßen in die Nacht hinaus. Ein kleiner Mann mit großem Backenbart und freudig funkelnden Augen erschien im Licht. Sein praller Bauch wurde durch die Weste mit der goldenen Knopfleiste und der gleichfarbigen Uhrenkette auf elegante Art und Weise betont. Zumindest schien er das zu glauben.
»Nanu… welch süßer Vogel flattert hier wohl durch die Nacht?«
Gleichwohl verdutzt und erheitert, schien Lilou für einen Augenblick das Sprechen verlernt zu haben. Was war das nur für ein lustiger kleiner Kerl? Mit einem abschätzenden Lächeln blitzte ihm der Schalk aus den braunen Knopfaugen. »Offenbar ein stummer Piepmatz.«
Endlich besann sich Lilou der von Mutter gebetsmühlenhaft wiederholten Worte, machte einen höflichen Knicks und stellte sich vor.
»Nun denn, Mademoiselle Lilou, wie kann ich behilflich sein?«
»Ich bitte um Verzeihung wegen der späten Störung, mein Herr, aber wenn ich mich nicht in der Tür geirrt habe, dient hier meine Tante Odette, die mich bereits erwartet.«
Aus dem neugierigen Lächeln wurde ein breites Lachen, und Monsieur Ledoux riss die Arme nach oben als würde er einen verloren geglaubten Sohn begrüßen. »Aaaah, diese Lilou! Ich bitte untertänigst um Entschuldigung, es war ein ereignisreicher Tag und die Nacht wird diesem in nichts nachstehen. Ganz im Gegenteil. Anscheinend habe ich vollkommen vergessen, dass wir heute Zuwachs bekommen.«
Mit großen Augen ob Art und Dauer des Redeschwalls fehlten ihr nun tatsächlich die Worte. Ein Umstand, der ihr Gegenüber nur noch freundlicher dreinschauen ließ.
»Nun komm herein, komm nur herein. Denn die Nacht ist kühl und voller Schatten.« Einladend und höflich, ein Gebaren, das man, soviel wusste auch Lilou bereits, eher einer edlen Dame denn einer Bediensteten angedeihen ließ, legte er ihr die flache Hand sanft in den Rücken und führte sie ins Haus.
Angekommen in wohliger Wärme, wollten sich die Augen vor Erstaunen einfach nicht verkleinern. Derart nah zeigte sich die Realität der gehegten Ahnung: Im Empfangsbereich schmeichelte ein dicker, roter Teppichboden müden Füßen, führte einen direkt auf einen nussbraunen Tresen zu, wie ihn Reisende womöglich aus Hotels und sehr feinen Gaststätten kennen würden. An diesem lehnte eine wunderschöne Frau in einem wallend schwarzen Kleid mit Rüschen und Spitze. Augenblicklich fühlte man sich an eine argentinische Tangotänzerin erinnert. Zur schmalen Taille hin verjüngte sich der Stoff zu einer am Rücken geschnürten Korsage. Das wohlgeformte Dekolleté mit dem festen Busen war mit feiner roter Spitze abgesetzt und musste den Blick von Mann und Frau gleichermaßen anziehen. Wenngleich manche Augen zweitgenannten Geschlechts bisweilen neidvoll dreinschauen würden.
»Liebes, sieh doch, wen der Nachtwind uns gebracht hat.« Freudestrahlend geleitete er Lilou, noch immer mit der Hand auf ihrem Rücken, weiter in den Raum. »Odettes Nichte!«
Auch im Gesicht der schönen Frau regte sich ein Lächeln. Doch weniger ungestüm, dafür bedächtiger und schwerer als das ihres Mannes. Gleichwohl erschien ihr Blick ähnlich prüfend. Fast samtweich spürte ihn Lilou von Kopf bis Fuß über den eigenen Körper wandern. Leicht errötend war ein tiefer Knicks die Folge.
»Madame.«
»Ein hübsches Vögelchen«, entgegnete die Dame des Hauses und lächelte mit vollen roten Lippen. Ihre tiefschwarzen Haare hatte sie zu einem Dutt gebunden.
»Oh ja«, bekräftigte ihr Gemahl, entließ Lilou seiner führenden Hand und stellte sich zur weiteren Überprüfung des Neuankömmlings neben seine Frau. Mit übertrieben deutlicher Geste führte er seinen Zeigefinger an den Mund, tippte sich mehrfach auf die Unterlippe und schien dabei einen tieferen Gedanken zu verfolgen. Wobei die zarte Röte auf Lilous Wangen einfach nicht weichen wollte. Im ersten Moment schob sie es auf die plötzliche Wärme nach dem langen Gang durch die kühle Nacht, ahnte insgeheim jedoch, dass es hierfür noch andere Gründe geben mochte.
»Na los, Hugo! Steh hier nicht so herum… hol’ Odette, damit sie Lilou …?«, begleitet von einem kurzen Lächeln unterbrach sie die ansonsten harsch wirkenden Worte.
»Ja, Madame.«
»… auch begrüßen kann.«
Amüsiert ob des gespielten Tadels löste sich Monsieur Ledoux von seiner viel größeren Frau und eilte durch eine schmale Tür neben dem Empfangstresen.
Ein weiterer warmer Schauer der Unsicherheit wallte in Lilou auf, als sie sich der nun herrschenden Stille bewusstwurde. Wenngleich sie die Herrschaften nicht erschreckten, sondern viel mehr ihre Neugier befeuerten, wusste sie noch nicht so recht mit ihnen und ihrem Verhalten umzugehen. Sie schienen so anders als alles zu sein, was das Mädchen vom Lande über edle Leute zu wissen glaubte. Vorsichtig blickten ihre braunen Augen unter den Wimpern hervor, während sie mit den Händen noch immer schüchtern den kleinen Koffer vor sich hielt. Dieses Kleid sah so umwerfend aus, sie musste es einfach anschauen.
Mit der linken Hand grazil auf ihrer Hüfte ruhend, schien auch die Hausherrin ihrerseits die Begutachtung noch nicht beendet zu haben. »Wie alt bist du?«
»Neunzehn, Madame.«
»Tatsächlich?« Nun flammte auch in den Augen von Madame Ledoux ein eigenartiges Feuer auf. Allerdings konnte sich Lilou nicht lange fragen, was das bedeuten mochte, denn unüberhörbar hatte ihre Tante sie ebenfalls entdeckt. Eine seltsame Mischung aus familiärer Wiedersehensfreude und peinlich berührtem Tadel entfloh Odettes Mund, noch ehe sie ihre Nichte in die Arme geschlossen hatte.
»Ich bitte um Verzeihung, Madame, Monsieur. Aber anscheinend ist Lilou ein Bauerntrampel in Frauengestalt.« Und zischend an ihre Nichte gewandt: »Wie konntest du nur die Herrschaften am Haupteingang belästigen? – Ich hatte deiner Mutter doch ausdrücklich geschrieben, du solltest dich am Dienstboteneingang einfinden.«
»Ich …«
»Nicht der Rede wert, Odette«, warf Madame Ledoux schützend ein. »Es war uns eine große Freude, unser neues Zimmermädchen persönlich willkommen zu heißen. Ist es nicht so, Hugo?«
»Ganz ohne jeden Zweifel.« Einem Magier gleich drehte er die Innenflächen seiner Hände langsam nach oben. »Willkommen in der Maison de Entrevue.«
***
Wie im Fluge vergingen die ersten Tage. Denn es gab bei Weitem viel zu viel zu sehen und zu lernen, um sich ausschweifend Gedanken über das neue Leben zu machen, in das man Lilou wie in kaltes Wasser geworfen hatte.
Doch zu ihrer größten Überraschung schien ihr das zunächst nichts auszumachen. Natürlich vermisste sie ihre Eltern, ihre Brüder; ihre langen einsamen Ausflüge, von denen niemand wusste, und all die vielen kleinen Dinge, die zu ihrem alten Leben gehört hatten – ein wenig vermisste sie sogar Claudine, doch all diese Gefühle vermochten gegen die Spannung und Neugier der neuen Umgebung nicht anzukommen.
Demzufolge überrascht zeigte sich ihre Tante von dem Arbeitseifer, den Lilou vom ersten Tag an zeigte. Hatte sie nach den Schilderungen ihrer Schwester doch mit einem widerspenstigen Derwisch gerechnet, der sich von einer Maßregelung zur nächsten hangelte.
Kaum zu erwarten gewesene Freiheiten waren die Folge. Lilou fing als Zimmermädchen an. Denn wie sich gleich zu Beginn ihres neuen Lebens herausgestellt hatte, war dieses Haus kein normales Heim reicher Leute, sondern ein ganz besonderes Etablissement. So ganz hatte sie es auch nach längerer Zeit noch nicht verstanden, doch sicher war eines: In der Maison de Entrevue trafen sich allein an einem Tag und in einer Nacht mehr Schauspieler, Künstler, Musiker und wohlhabende Herrschaften, als Lilou in ihrem bisherigen Leben zusammen gesehen hatte. Freilich achtete ihre Tante wie eine alte Eule darauf, dass sie ihrer kaum zu verhehlenden Neugier nicht blindlings nachgab. Sie hatte Betten zu machen, aufzuräumen, Staub zu wischen und in der Küche zu helfen. Mehr nicht. Doch diese Aufgaben hinderte sie keinesfalls daran, ihren Blick schweifen zu lassen. Und dieses Schweifen war noch spannender als die seltenen Abende, sobald Papa sie zu Hause zu den Festen des Bürgermeisters mitgenommen, und sie einmal sogar ein Grammophon zu Gesicht bekommen hatte.
Selbst Freunde fand sie. Claude zum Beispiel. Claude war ein einäugiger, alter Kater, dessen Reich sich vom Dachboden bis zum Keller, vom Hinterhof bis zur Küche erstreckte. – Aus Letzterer wurde der schwarze Teufel, wie ihn Tante Odette nannte, zwar stets unter wütenden Rufen und einem noch viel wütenderen Besen vertrieben, doch Lilou fand in ihm gerade jenes kleine Bisschen rebellisches Spiegelbild, das sie bei jeder Begegnung wissend schmunzeln ließ. Oft verbrachte sie Stunden damit, Claude zu kraulen und zu streicheln. Die Kratzer und Bisse, die ihr dieser Wagemut zu Anfang beschert hatte, waren längst unter dem genüsslichen Schnurren vergraben.