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Superhero E-Book

Anthony McCarten

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Beschreibung

Donald Delpe ist 14, voller unerfüllter Sehnsucht, Comiczeichner. Er möchte nur eines wissen: Wie geht Liebe? Doch er hat wenig Zeit – er ist schwerkrank. Was ihm bleibt, ist ein Leben im schnellen Vorlauf. Das schafft aber nur ein Superheld. Donald hat sogar einen erfunden – MiracleMan. Aber kann MiracleMan ihm helfen, oder braucht Donald ganz andere Helden?

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Seitenzahl: 304

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Anthony McCarten

Superhero

Roman

Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

Titel der 2005 bei Random House Inc., Neuseeland, erschienenen Originalausgabe: ›Death of a Superhero‹ Die vorliegende Übersetzung basiert auf der 2006 bei Alma Books, Limited, Richmond/Surrey, England, erschienenen revidierten britischen Erstausgabe Copyright © 2006 by Anthony McCarten Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 im Diogenes Verlag Umschlagfoto von Henry Steadman (Ausschnitt) Copyright © Henry Steadman

Dieser Roman ist frei erfunden. Ebenso frei erfunden sind Namen, Personen, Orte und Handlung. Irgendwelche Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, Orten, Institutionen oder mit Personen, seien sie lebend oder tot, sind rein zufällig.

All rights reserved Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2015

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Erster Akt  [9]

Zweiter Akt  [147]

Dritter Akt  [241]

Outtakes und gestrichene Szenen  

[7] Superhero

[9] Erster Akt

[11] Aufblende… DONALD DELPE. Vierzehn. Magerer Junge, Schultern dürr wie ein Kleiderbügel. Schräger Vogel. Keine Augenbrauen, keine Haare. Gesicht wie eine Pellkartoffel. Stapft mit Schuhen Größe 46 durch Watford, in den Nordostser hinein, ein Regenschirmkiller direkt aus Sibirien. Strickmütze tief in die Stirn gezogen, Stöpsel in den Ohren, iPod voll aufgedreht, ist er unterwegs durch die wolkenverhangene Stadt. Wut ist seine Standardeinstellung. Wehmut auch. Die meiste Zeit blickt er zu Boden. Eine Sonnenblume im Regen.

Sein größtes Problem? Sex im Kopf, wie immer, seit ein-zwei Jahren schon. Ein Acidtrip, nur mit Testosteron, scheißeinsam, jeder zweite Gedanke nicht jugendfrei. Wenn die Filme in seinem Kopf je in die Kinos kämen, würden die Zensoren nur noch Schnipsel übriglassen, würden sie verpixeln und ihnen mit Bleeps und schwarzen Balken jede Realität austreiben, würden daraus den Frei-ab-zwölf-Langweiler machen, für den die ganze Welt Donald F. Delpe hält.

Flap-flap-flap machen die Riesenlatschen, als er düster durch diese Stadt nördlich von London geht, so vertraut, daß er jederzeit die Augen schließen kann und trotzdem weiß, wann er an einer Bürgersteigkante den Fuß heben [12] muß oder wann ein Links-rechts-links ihn an seinen Lieblingsplatz im Kentucky Fried Chicken bringt, an die rote Plastiknische mit den Arschmulden, den Platz direkt am Fenster mit Blick auf die riesige Reklametafel auf der anderen Straßenseite, wo rund ums Jahr wunderbare Weiblichkeit im Großformat zu bestaunen ist: ein Wäschemodel, zehn Meter groß, eine Schlampe (sein Lieblingswort), deren mannsgroße Brüste sich in ihrem gigantischen Büstenhalter wie in zwei Hängematten räkeln, eine Schaukel zwischen Bäumen, in der er mit Freuden sein ganzes langes Leben verbringen würde (wenn er denn ein langes Leben vor sich hatte); den gestreckten Körper auf den Ellbogen gestützt, ein Fußballfeld aus Fleisch mit Gänsehaut, wirft sie Donald F. Delpe über die Straße hinweg ihren aufreizenden, verführerischen Blick zu, sein Inbegriff sehnlichen Verlangens.

Ist er krank im Kopf? Muß er sich irgendwie abartig fühlen, weil er bei diesem Plakatgirl im Superformat einen Ständer kriegt? Quatsch. Er ist vierzehn. Eine vierzehnjährige männliche Jungfrau. Klar kriegt er von der Reklame einen Ständer.

Aber heute sieht er kaum zu seiner gigantischen Freundin auf, er muß weiter, er hat zu tun, er ist genauso beschäftigt wie die Leute in den Straßen ringsum, wie die Stadt, von der er ja oft denkt, daß er sie verteidigt und beschützt – gestern noch ein verschlafenes Kaff, heute die Augen weit aufgerissen im Amphetaminschock, weil über Nacht das Filmbusiness gekommen ist und die Einheimischen Überstunden machen, damit sie soviel wie möglich von dem Profit einheimsen können, den die [13] Zauberlehrling-Filme jetzt als weltweite Kassenschlager abwerfen, ein Sensationserfolg, der den Namen dieser Londoner Schlafstadt bekanntgemacht hat und Schauspieler, die bis dahin in der Regionalliga spielten, zu Stars.

Der augenfälligste Beweis ist, daß sich ganze Viertel von Watford und Leavesden in Freiluftstudios verwandeln. Gewaltige Latexmonster bedrohen die alte Ankunftshalle des kleinen Flugplatzes; Plakate von gräßlichen Ungeheuern mit blutunterlaufenen Augen und riesigen Reißzähnen grinsen aus den Fenstern von Läden, die Toaster oder Gasgrills verkaufen; ein zwanzig Meter langer Drache hat seine Klauen ins Dach des Kinos geschlagen und könnte mit einer einzigen Bewegung seiner schuppigen Flügel den ganzen Laden in die Hölle schleppen.

Hochsommer 2007: der Sommer, in dem so ziemlich jeder hier glaubt, daß er irgendwie mit Hollywood zu tun hat, dem Land der bunten Bilder gleich hinter dem großen Teich; der Sommer, in dem so ziemlich jeder sich im Showgeschäft sieht, wo jeder in Bildern pro Sekunde denkt und in Breitwand träumt, jeder die Welt als Bildermontage wahrnimmt, als Abfolge von Szenen mit guter oder schlechter Regie, als Serie von schnellen Schnitten und langsamen Blenden, Leben als Hit oder Flop, Beziehungen als Komödie mit kitschigem Ende, die Vergangenheit ein Prequel und die Zukunft die noch nicht verkaufte Filmidee – und so spielt sich das ganze Leben, alles Leben, im Hier und Jetzt ab, in der Gegenwart, pures Filmdrehbuch, und selbst der Müllmann kann nicht mehr schlafen, weil er auf den Anruf seines Agenten wartet, und in sämtlichen Friseurläden und Bars hängen Fotos von den Angestellten, den [14] Arm um die Schulter irgendeines Stars gelegt. Es ist der erste Sommer, in dem ein einfaches, aufrechtes Leben mit ehrlicher Arbeit im Vergleich zu den lichtdurchfluteten Zelluloidbildern wie eine düstere Alternative aussieht. Donald spaziert durch ein Gewühl von Komparsen, Lichtdoubles, Bodydoubles auf Abruf, Vertretungen der Zweitbesetzung, Leuten, die es fast bis zum Vorsprechen geschafft hätten, entfernten Verwandten von Kleindarstellern, Möchtegerns aller Arten, die sich dem großen Durchbruch näher fühlen als je in ihrem Leben. Aber Don macht sich so unsichtbar, wie er nur kann. Eine Überwachungskamera erfaßt ihn (heutzutage ist ja jeder im Film), er hört nur seinen eigenen Jungle-Rhythmus, und dann (in der Sprache seiner geliebten Comics) NIMMT DAS VERHÄNGNIS SEINEN LAUF!

Ein unbeaufsichtigtes Kind. Ein heranbrausender Toyota Corolla. Zwei Dinge, die nicht zusammenkommen sollten. Zum ersten Mal blickt Donald von seinen Schuhen auf. Er kneift die Augen zusammen. Ein Fall für Röntgenblick, ein Fall für telemetrische Linsen, ein Fall für Clark Kent. Schon aus so großer Entfernung sieht dieser Knabe alles voraus, was gleich geschehen wird, und er fängt an zu laufen, er läuft so schnell wie ein Auto, wie der Corolla, der sich dem Kind nähert, das da auf die Straße tappt, ein kleines Mädchen, das gar nicht merkt, was es tut; sein Vater sieht nichts, er steht auf dem Bürgersteig und redet Blödsinn über Immobilienpreise (»Weißt du, Bruce, das kommt ganz auf den Zinssatz an und die progressive Steigerung…«), und auch die Fahrerin des Corolla ist in einer eigenen Welt, weil die beiden Kinder auf dem Rücksitz sich um den [15] Gameboy balgen und aus einer ansonsten durchaus tüchtigen Mutter etwas wie eine Säuferin in den letzten Zügen des Delirium tremens machen, die ihre Augen überall hat, nur nicht auf dem Kind auf der Straße vor ihr. Und so schlimm das für alle Beteiligten ist, unser Held Donald ist mit Sicherheit zu weit weg, um noch helfen zu können, auch wenn er jetzt rennt – unmöglich, daß er noch rechtzeitig kommt; und doch, mit einer Reaktionszeit, mit der er in Grand Theft Auto auch ohne kugelsichere Weste überleben könnte, schnappt er sich das Skateboard, das ein schlaffer Typ unter dem Arm hat, schießt mit Raketentempo voran zum Beinahe-schon-Unfallort, setzt mit einem Sprung über die auf dem Bürgersteig ausgestreckten Beine eines Obdachlosen, fügt noch eine preisverdächtige Flip-Kombination aufrecht und seitwärts hinzu, einfach nur, weil er es kann, dann schwingt er sich auf die Straße ohne einen einzigen Gedanken an seine eigene Sicherheit, packt mit einem Arm das Mädchen, hebt es über Stoßstangenhöhe, gerade als der tödliche Chrom kreischend zum Halten kommt (Kriiiiiiiiiii!…), fünfeinhalb Zentimeter von seiner Trainingshose (Adidas).

Standbild. Fünf Sekunden stehenlassen. Unglaublich. HAARSCHARF!

Als die blauen Reifenrauchwolken sich auflösen, hat Donald das Brett schon mit einem sauberen Backflip seinem Besitzer zurückerstattet und das Kind dem hirnamputierten Vater überreicht und ist wieder unterwegs, als sei nichts geschehen. Die Tatsache, daß vier weitere Fahrzeuge hinten auf den Corolla krachen (in Zeitlupe: PENG, KRACH, WUMM, SCHEPPER!!!) und das [16] unglaublichste Blech-Origami kreieren, spielt keine Rolle. Don merkt es überhaupt nicht. Er muß weiter.

Die Menge bleibt zurück und fragt sich staunend: Wer zum Teufel ist dieser Junge?

Für Donald zählt jetzt nur, daß er rechtzeitig zu seinem Termin kommt. Seine Eltern haben gesagt, er darf auf keinen Fall zu spät kommen. Er stapft weiter und zuckt mit keiner Wimper, während aus seinen nagelneuen iPod-Stöpseln ein Song in hirnspaltender Lautstärke dröhnt. Es ist sein momentaner Lieblingssong:

Du sagst, ich habe keine Tugend,

Das ist die Pornographie der Jugend,

Scheiße, so bin ich nun mal drauf,

Mach keine Zicken,

Los, auf!

Unser Held greift in die Tasche, um die Lautstärke zu korrigieren: nach oben. Der Beat wird mörderisch. Bewußtseinsverändernd. Großhirnschädigend. Umpf… umpf… umpf… umpf… umpf… Dann bleibt er stehen. Hier ist er verabredet? Ein merkwürdiger Ort. Er schaut sich um. Wieso steht er mitten auf dem Bahndamm, auf einer Schwelle, eine Schiene zwischen den Füßen? Was soll denn das für eine Verabredung sein?

Ein Güterzug naht, und die ganze Umgebung fängt an zu beben. Doch statt sich in Sicherheit zu bringen, blickt Donald an seinen Beinen hinunter auf die ausgelatschten Vans auf der öligen Schwelle und sieht, daß ein Schnürsenkel aufgegangen ist und sofort seine Aufmerksamkeit [17] braucht. Der linke Dreifachknoten hat sich gelöst, und er muß sich langsam hinknien, auch wenn die Lokomotive schon um die Kurve kommt. In aller Ruhe bindet Don den Senkel neu, löst zunächst den verbleibenden Knoten, bis er zwei gleichmäßig lange Enden hat; als erstes legt er sie überkreuz, dann hält er den Finger auf die neue Verbindung (so wie ein Arzt den Finger auf eine pulsierende Ader legt), macht zwei gleich große Schlaufen, so wie junge Leute überall auf der Welt ihre Schuhe binden, und verknotet sie schließlich fest. Bingo.Der linke Schnürsenkel ist wieder in Ordnung: gute Schleife. Und erst da erhebt er sich mit einem Seufzer und geht vom Gleis, in der Sekunde – exakt der Sekunde! –, in der 10000 Tonnen Metall an seinem Rücken vorbeidonnern, ihn um Millimeter verfehlten, so knapp, daß der Zug Donalds Schatten am Hals guillotiniert.

HAARSCHARF!

Ohne Blick zurück, durch seine Ohrstöpsel vom schrillen Schrei der Lokomotive abgeschirmt, geht er weiter, als sei nichts geschehen. Er merkt nur, daß er jetzt ein wenig spät dran ist, und steigert sein Tempo. Er geht bei Rot über die Straße, nimmt Abkürzungen, sprintet zwischen Autos und Leuten hindurch. Hinter dem Café an der High Street biegt er sogar in eine Sackgasse und folgt ihr, bis sie an einer vier Meter hohen massiven Backsteinmauer endet. Wie weiter? Er sieht die Mauer an, wirft einen kurzen Blick über die Schulter, dann setzt er den rechten Turnschuh an die Mauer. Mit einem konzentrierten Schwung, bei dem er die Hüften zugleich auf- und vorwärts bewegt, setzt er den linken Turnschuh neben den anderen! Unter Mißachtung [18] sämtlicher Newtonschen Gesetze steht er nun horizontal an der Wand. Er kann nur hoffen, daß keiner hinsieht.

Dann geht er die Mauer hinauf wie einen glitschigen Bürgersteig – ein wenig vorsichtig prüft er bei jedem Aufsetzen des Fußes, ob er auch hält – und ist in nur sechs Schritten oben, wo ihn ein gekonnter Sprung wieder in die Vertikale bringt. Voilà. Jetzt steht er oben auf der Mauer, sicher, souverän, läßt sich die Spätvormittagssonne ins Gesicht scheinen, schließt eine Sekunde lang die Augen und genießt das Glücksgefühl dieses Moments, bevor er sie wieder öffnet, ja aufreißt, als er hinunterblickt – hinunter in den schwindelerregenden Schlund zu seinen Füßen. Denn was vier Meter tief sein sollte, ist auf der anderen Seite ein achtzig Stockwerke tiefer Abgrund, geradewegs die Fassade eines Wolkenkratzers hinab bis zu einer Großstadtstraße, die nicht ganz echt, nicht ganz glaubwürdig aussieht. Was geht hier vor? Was ist das für eine Mauer, auf der einen Seite der Abschluß einer Sackgasse in Watford, auf der anderen der Blick vom Empire State Building? Klarer Fall, er steht hier an einer Grenze, an der Pforte zu einer magischen Megalopolis, zu der er allein den Zugang hat. Wider alle Vernunft schreckt er nicht zurück, dreht sich nicht um, er zurrt nur seinen Rucksack fest, holt tief Luft, ganz der Herr seines Schicksals, und springt…

Er springt. Bingo. Aus der banalen Perspektive der Gasse in Watford ist er einfach nur ein Junge, der über eine Mauer springt. Sieht überhaupt nicht nach Selbstmord aus. Aber… aber wenn man weiß, was Donald weiß, dann… ja dann…

Manchmal ist nicht alles so, wie es scheint – Augen sind [19] keine verläßlichen Zeugen, Tatsachen und Geheimnis spielen Verstecken, übernehmen abwechselnd die Rolle der Wirklichkeit – denn nur fünfzehn Minuten später wird derselbe junge Mann in einem anderen Teil von Watford gesehen, sicher, unverletzt, unversehrt vor…

Schnitt zu…

…einem Krankenhaus, wo er den richtigen Gebäudeteil exakt zum verabredeten Zeitpunkt betritt, ganz wie die Eltern es wollten. Er nimmt nicht die automatische Drehtür, sondern einen unauffälligen Seiteneingang, den nur regelmäßige Besucher kennen.

Ein gewisser Dr. Fred Sipetka erwartet ihn dort. Donald faßt in die Tiefen seiner Tasche und findet blind die Erhebung zum Abschalten des iPod. Die Musik in seinen Ohren bricht ab, und der Doktor lächelt und sieht, daß es nun möglich ist, mit ihm zu sprechen.

DOKTOR: Hallo, Donald. Alles klar?

Don nickt, und Sipetka führt ihn zu einem Aufzug. Zusammen fahren sie nach oben, acht Stockwerke. Dann den Korridor nach rechts, durch eine Schwingtür mit einem vergilbten Schild darüber. Donald sieht nicht hoch, als er durch die Tür geht. Sein Blick ist auf seine Schuhe geheftet. Er weiß sowieso, was auf dem Schild steht. »Krebsstation.«

Innen. Vorraum. Tag.

JIM DELPE: Wie fühlst du dich, Junge?

DONALD: Als ob ich gleich kotze.

Die Delpes würden sich als aufgeklärte Christen bezeichnen. Statt warmen Worten zum wahren Leben und [20] dem Lohn im Himmelreich suchen sie in der Kirche etwas Handfesteres, Menschlicheres, Konkreteres, und zwar dringend. Sie kommen hierher, weil sie Trost suchen.

Die vierköpfige Familie kommt zu spät. Die Sonntagsmesse hat bereits begonnen.

Die Personen (in der Reihenfolge ihres Auftretens):

RENATA DELPE, Dons Mutter, schmale Lippen (Ende vierzig), vorsichtiger Typ. Vorzüge: energisch, fleißig, liebevoll. Das ist ihre Standardeinstellung. Glaubt an Lebensversicherungen, geht nie unter einer Leiter hindurch, befolgt Sicherheitshinweise, wo sie ihr begegnen, hält immer Ausschau nach einem Stück Holz, damit sie »klopf auf Holz« sagen kann. Hofft, daß sie auf diese Weise dem Schlimmsten, was das Leben bereithält, entgehen kann, auch wenn die Anzeichen sich mehren, daß sie ihm nicht entgehen wird. Aber sie fühlt sich noch jung, sie hat die Kraft einer Frau, die geliebt wird. Das ist nicht einfach nur Glück. Sie verdankt sie ihrer Voraussicht, diese Kraft ist ein Vorrat, den sie für schlechte Zeiten angelegt hat. Sie fordert Zuneigung und läßt nicht zu, daß ihr Ehemann Jim in diesen Dingen seine Pflicht vernachlässigt – und weil er es so mag, weil es ihm gefällt, wenn sie die Peitsche schwingt, wenn sie ihn antreibt, muß sie sich wenigstens um ihre Ehe keine Sorgen machen. Die Kinder, das ist ein anderes Thema.

JIM DELPE (Anfang fünfzig), eins neunzig, schon etwas weniger Haare, schon etwas mehr Bauch, sanfte Stimme. Still und beharrlich hat er es zu etwas gebracht, im Haus und auch in der Welt. Er ist etwas, das man nicht häufig findet: ein uneigennütziger Anwalt. Spezialist für [21] Grundstücksrecht, bringt aber immer noch eine kostenlose Rechtsberatung unter, wenn er kann. Jim S. Delpe, BCM, LLM (Bristol), steht auch als Trainer für den Basketballnachwuchs zur Verfügung. Früher hat er selbst gespielt, war in seinen Zwanzigern sogar ein As, bis dann sein linkes Knie ausstieg. Jetzt ist dieser stille Mann, wenn seine Söhne auf dem Platz sind, unter den zuschauenden Vätern einfach nur derjenige, der sich am besten auskennt. Wenn er sich aufregt, kommt eine andere Seite an ihm zum Vorschein – seht ihn euch an, wenn er die Hände um den Mund legt und brüllt: »Auf den Korb, Donny, auf den Korb!« –, aber das ist selten. Ein beharrlicher, zielstrebiger, hartnäckiger Mensch. Wenn er ein Boot wäre, wäre er eine behäbige alte Schaluppe, verläßlich, stabil, ideal, um sich durch die Eisschollen der Nordwestpassage zu kämpfen.

JEFF DELPE (achtzehn), Dons älterer Bruder. Den größten Teil seines Lebens ein unauffälliger Junge, doch in letzter Zeit macht sich ein mutiertes Gen bemerkbar – so sehr, daß es jetzt sein Wesen bestimmt. Nennen wir es das Bullshit-Gen. Mit einem Male kann er nicht mehr ehrlich sein. Die Wahrheit ist ihm egal, er will nur noch beeindrucken. Er hat fünfundsechzig Freundinnen, wird mit dreißig Multimillionär; kann, wenn es drauf ankommt, die Meile unter vier Minuten laufen. Dieses eine übergeschnappte Gen macht ihn unerträglich. Seine Eltern sind nicht so, man müßte schon bis zu Renatas Vater zurückgehen – zweimal im Knast und zwanzig Jahre lang eine Geliebte nebenher –, bis man einen Vorläufer fände, aber vielleicht können Gene ja hüpfen wie die Springer beim Schach. Die Eltern haben jedenfalls alle Erziehungsmaßnahmen [22] eingestellt und hoffen einfach nur, daß Jeff entweder sich oder seinen Namen ändert. Oder daß Gott sich ihrer erbarmt.

Im Vorraum, wo sein Vater an der Haupttür bereitsteht, um sie für ihn aufzuziehen, greift sich Don an den Hinterkopf und knotet die Maske auf, die er zum Schutz gegen Infektionen tragen soll. Das ist die Chemotherapie. Jede Bazille kann ihn erwischen. Aber seine Mütze läßt er auf. Seinen Beanie braucht er. Der Beanie kommt ihm nicht vom Kopf. Er ist jetzt soweit, er kann hineingehen, auch wenn er das nicht will. Er faltet das Baumwolltuch zusammen und steckt es in die Tasche, dann atmet er zum ersten Mal seit einer Stunde wieder ungefilterte Luft.

JIM: Fertig?

Donald nickt. Er ist fertig. Die Familie betritt den Kirchenraum.

Innen. Kirche. Tag.

Wie finden Priester nur immer wieder etwas, worüber sie reden können? Das ist die Denkblase, die über Donald schwebt, als er auf der harten, kalten Holzbank sitzt und einem sexuell enthaltsamen (oder angeblich enthaltsamen) Mann lauscht: Jungfrau lauscht Jungfrau, der Blinde weist dem Blinden den Weg. Wie viele Gewißheiten kann es geben, die sich mit soviel Gewißheit an einem Sonntag morgen vor einem ganzen Kirchensaal voller Menschen ausbreiten lassen, die von Gewißheit gar nicht weiter entfernt sein könnten, mal abgesehen von der seit den Anfängen des Glaubens immer wieder erneuerten Versicherung – die für all die Trostbedürftigen offenbar niemals ihren Glanz verliert –, daß Gott einen liebt?

[23] Das ist die Langfassung dessen, was Donald durch den Kopf geht. Die Kurzfassung lautet: Ja und? Diese zwei Worte schweben über ihm, umrahmt von einer mit Fineliner (Künstlerqualität) gezeichneten Linie, und eine Kette von immer kleineren Blasen (alle leer) erstreckt sich bis seitlich an seinen Kopf, den Ausgangspunkt.

Er hört mürrisch zu, ganz und gar untröstlich, und blickt in die Runde. Und seine Augen erblicken…

…erblicken ein gewisses Mädchen. Weit weg. Am anderen Ende der Kirche. Umwerfend. Halleluja, ruft sein Chorknabenherz. Hosianna in der Höhe. Gloria in excelsis deo. Glückseligkeit. Brünett, braungebrannt, ungefähr sein Alter. Eine Eva mit Mittelscheitel, eine strahlende Schönheit, ein Anblick, der sein Herz schlagen läßt wie eine Trommel. Ich bin erlöst, sagt die Denkblase über seinem Kopf. Das sieht doch schon eher nach Himmelreich aus! So hat er sich den Himmel auf Erden vorgestellt. Endlich jemand Anbetungswürdiges, jemand, bei dem sich das Auf-die-Knie-Fallen lohnen, jemand, für den er notfalls einen Pakt mit dem Teufel schließen würde. Das mindeste, was diesem Mädchen vorbestimmt ist, ist eine Hauptrolle in seiner neuesten Liebeskomödie, sie ist ein Starlet, das er (ohne dessen Zustimmung) für ein alles andere als jugendfreies Filmprojekt (in seinem Kopf) besetzen wird, einen Film, der mit einer heißen ersten Verabredung beginnt, einer Knutsch- und Fummelorgie gefolgt von einem ganzen Jahr Glück, bei dem kein Gummiband heil bleibt, deren Höhepunkt an beider sechzehntem Geburtstag der Beschluß ist, die schmutzige Liaison mit einer gemeinsamen Wohnung (winzig und heruntergekommen) zu festigen, wo [24] das Geschirr ungespült im Becken steht, aber was kümmert sie das schon, sie haben ihre leidenschaftliche Liebe und nur Augen füreinander, das Mädchen legt vier-, fünf-, sechsmal pro Tag die Beine um ihn, hält ihn fest, ihre Füße flattern auf seinem Rücken wie Engelsflügel; sie kennt alle erotischen Geheimnisse, er ist ihr seliger Schüler, er strotzt vor Gesundheit, und alles wird in alle Ewigkeit so bleiben.

Der Film wird ein Reinfall, keine Frage; nur zu seinem eigenen Vergnügen gedreht, voller obsessiver Wiederholungen, aber er wird nicht ein einziges Bild herausschneiden. Er muß sie nur ansehen, auf der anderen Kirchenseite, und die betörendsten Einstellungen erscheinen vor seinem inneren Auge und bieten genau das, was jeder Film bieten sollte: vollständige Versenkung, absolute Identifikation. Aber dann juckt es ihn. Ein Jucken, das nicht im Drehbuch steht. Unter seiner Mütze. Ein monströses Kopfjucken, das er nur in den Griff bekommen kann, wenn er diese wollene Verkleidung abnimmt, nur durch echte Finger, die sich in echte Haut krallen. Gott, betet er. Gott, wo bist du?

Er nimmt die Mütze ab.

Und ausgerechnet in diesem Augenblick schaut sie zu ihm hin, das Mädchen, das seinen Ring tragen sollte, sein Kind haben wollte, sich im Bett mit ihm tollte. Ihre Blicke treffen sich. Donalds Finger erstarren mitten im Kratzen. Er senkt das Kinn, stülpt sich die Mütze wieder über; angewidert von sich selbst blickt er ins Gesangbuch und findet die Zeilen: Mag uns der Tod auch schrecken / Gott wird uns erwecken. Schon schlimm genug, steht in Dons Denkblase, daß er praktisch keine Augenbrauen mehr hat, aber ohne den Beanie sieht er wie einer von diesen glatzköpfigen [25] Untergebenen auf der Enterprise aus, die Leute, von denen Captain Picard sich die Koordinaten geben läßt. Lieber Gott, steht in seiner neuesten Gebetsblase, bitte spar dir bei mir das Erwecken.

Das ist alles, worum Donald Delpe an diesem Vormittag beten kann: seinen eigenen Abgang. Aber er betet inbrünstiger als jeder andere in diesem Saal. Im Vergleich zu ihm sind die anderen Betenden Amateure.

Später, als die Messe fast vorüber ist, das Ende zum Greifen nah, riskiert er noch einmal einen Blick zu seinem Traummädchen. (Orgelmusik beherrscht den Soundtrack.) Wie der Rest der Gemeinde singt sie laut ein weiteres Loblied auf Tod und Erlösung, mit lieblichen roten Lippen. Sie blickt hinüber zum Priester, aber kein einziges Mal mehr sieht sie Donald an, diesen bescheuerten Yoda in der hintersten Reihe, kein einziges Mal gibt sie ihm das Zeichen, das der Anfang ihrer Romanze sein könnte. Statt dessen läßt sie die Casting-Chance ihres Lebens verstreichen, wie so viele, und es bleibt nichts außer einem gebrochenen Herzen und einem Gefühl des Verlorenseins.

»Schnitt!« brüllt irgendwo angewidert ein Regisseur (vielleicht Gott). Die Abteilungsleiter treffen sich zu einer improvisierten Besprechung und sind sich auf Anhieb einig. Dieser Film ist erledigt. Gestorben. Geschichte. Titel: Der Loser schlägt wieder zu.

Innen. Badezimmer / Haus Delpe. Tag.

Freak, denkt der Junge, als seine Kotze in die Kloschüssel platscht, und Freak mit jedem neuen Schwall, Freak, Freak, Freak, als er durch dieses Loch in den Kanal kotzt, [26] alles tut ihm weh mit jedem Zug dieser inneren Quetschkommode, alles was eklig ist, schwimmt vor seinen Augen im Spiegel der Schüssel – Krankheit, Schleim, Erbrochenes – auch Blut, scheint ihm. Ich will sterben, steht in der letzten Denkblase, die sich jetzt von einem übelriechenden Aufwind emporgetragen über seinem Kopf formt. Er hat einfach nichts mehr im Magen, was noch herauskann, und er rappelt sich auf und sieht sich in dem echten Spiegel an, dem an der Wand. Ich will sterben. Und so zieht er das T-Shirt aus und betrachtet die durchsichtige Röhre, die unterhalb der Schulter aus seiner Brust hervorsticht und in einem Kunststoffventil endet: ein »Permaport«, ein Katheter, durch den die Medikamente für die Chemotherapie verabreicht werden. Freak. Die Stelle, wo die Röhre durch die Haut dringt und in seinem Körper verschwindet, ist so wund und rot wie der Mund innen hinter der Unterlippe. Don mag nicht, was er da sieht, und versetzt dem Spiegel des Medizinschränkchens einen Hieb. Ein glatter Schlag. Der Spiegel zerbricht. KLIRR! Seine Rechte hat es in sich. Er hätte ein kräftiger Bursche sein können, hätte inzwischen Muskeln haben können wie sein Vater, auch mal ein bißchen Basketball werfen. Na, ziemlich unwahrscheinlich. Er ist eher in die andere Richtung unterwegs. Verschrumpelt. Kein Mumm in den Knochen. Dünn und blaß in der Collage, die die Glassplitter aus seinem Spiegelbild machen.

Er sieht seine Faust an. Nicht zu glauben, aber sie blutet nicht, kein Tropfen – toller Zeitpunkt für Unverletzlichkeit. Aber er spürt den Schmerz, er reibt seine Hand. Das tut gut. Was er an Trost noch so hat. Die eigene Hand, die sanft über den Körper fährt.

[27] Das Klopfen seiner Eltern an der verschlossenen Tür klingt wie aus einem ganz anderen Film.

Innen. Dons Zimmer. Tag.

Es ist schwer für Renata, mit ihrem Sohn zu sprechen, wenn dabei eine tragbare Travenol-Pumpe auf dem Boden neben seinem Bett über einen Schlauch und durch den Permaport an der Schulter Chemikalien in seinen Körper transportiert. Es ist unglaublich schwer, nicht weil die Pumpe zu laut wäre; sie gibt nur dann und wann ein Klicken und ein kaum hörbares Surren von sich. Was es so schwer, ja geradezu unmöglich macht, ist das Wissen, daß die Travenol-Pumpe in diesem Augenblick, in dem sie vor sich hin plappert, die abscheulichsten Gifte in ihren geliebten Sohn befördert, die ein menschlicher Körper überhaupt aushalten kann, ein chemotherapeutischer Ansturm, der die gesunden wie die wuchernden Zellen zerstört, der ohne Unterschied tötet, bis nichts mehr von ihrem Sohn übrig ist; es ist der Gedanke, daß das letzte Stück, das von ihm stirbt, ein gesundes Stück sein könnte. Ein riskantes Spiel, aber Chemotherapie ist wie ein Flug ins All, und da ist es verdammt schwer, so neben seinem Sohn zu sitzen und etwas Ruhiges, Beherrschtes, Aufmunterndes, Mütterliches zu sagen, wo sich vor ihren Augen eine Tragödie abspielt.

In einem verzweifelten Versuch, ihren Schmerz besser in den Griff zu bekommen, hat sie sämtliche Amazon-Bestseller zum Thema Tod bestellt, alle auf einmal, um Porto zu sparen. Das Ergebnis war nicht ganz überzeugend: Das Übermaß an Informationen erschloß ihrem Kummer neue Dimensionen, sie wurde Expertin für T-Zellen, für weiße [28] Blutkörperchen, für Computertomographie und Nekrosestatistik. Sie weiß alles über MRI und ECG und CEA, über Metastasen und monoklonale Antikörper, Enzymtherapie, die Simontonmethode, Burzynskis Antineoplastontherapie, über Hoxsey, Revici, Burton und die Janker-Klinik, wo Bob Marley gestorben ist. Lance Armstrongs Autobiographie hat sie mit Anmerkungen und Ausrufezeichen versehen, sie setzt Hoffnungen auf die Gerson-Diät und weiß alles über die Erfolgsaussichten sämtlicher Behandlungsmethoden – wer mit welchen Überlebenschancen wirbt, mit welcher Erklärung und seit wann. Sie weiß also ganz genau, daß ihr Junge in diesem Augenblick umgebracht wird, Zelle für Zelle, im Mikrokosmos, immer in der Hoffnung, daß sich so das Ganze retten läßt: stalinistische Medizin, die ganze Völker opfert, damit die Idee des Staates Bestand hat.

Don setzt sich in seinem Bett auf und blickt melancholisch zum Fenster, während Renata ihn mit mütterlichen Röntgenaugen durchleuchtet, Augen, die tatsächlich den Weg des Giftes durch den Körper verfolgen können, von Organ zu Organ, die hineinsehen können in seine Adern, wo das Blut gelb wird wie ein eitriger Yangtse, sie sieht mit an, wie die inneren Organe zurückzucken, sich zusammenziehen, sich verkriechen, als der Fluß sie erreicht, in sie eindringt, sie zum Würgen und Verschrumpeln bringt, und sie sieht all das, als habe man ihm bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen. So ist das, wenn man einen Sohn besucht, der gerade eine Krebsbehandlung macht.

RENATA (mit schwachem, erschöpftem Lächeln): Noch drei Tage, Liebling. Dann hast du’s geschafft. Dann bist du [29] fertig mit dem Zeug. Hoffentlich für immer – klopf auf Holz. (Streckt die rechte Hand nach dem Schreibtisch gerade außerhalb ihrer Reichweite aus.) Du hattest eine Panikattacke, das kommt von dem Reglan, sagt der Arzt. Zum Glück hast du dir nicht weh getan, das ist das wichtigste. Das passiert vielen Patienten. Angstzustände. Oft ist es sogar noch schlimmer. In Ordnung? (Keine Antwort.) Soll ich dir vorlesen? Ich habe ein Buch gekauft. (Hält es in die Höhe.) Es gibt da eine Stelle, die ich dir vorlesen wollte. Hier: »Im Sommer« – das ist die Stelle – »im Sommer sehnen wir uns nach dem Winter, doch wenn der Winter erst mit seiner Kälte kommt – der Winter mit seiner Kälte kommt… «

Aber Donald hat schon genug gehört und steckt sich die Stöpsel ins Ohr, lehnt all die mütterlichen Bemühungen ab, die Wunderheiler, die Geist-über-der-Materie-Typen, die Kristallkugeln, die fernöstlichen Weisheiten, all ihre aus Selbsthilfebüchern zusammengeklaubten Ratschläge.

Renata hört mit dem Lesen auf und sieht ihn an. Auch das ist nicht leicht für sie, diese emotionale Abschottung. Aber was kann sie machen? Sie ist erschöpft von den Versuchen, in ihm ein Bewußtsein für seine Krankheit zu wecken, den Versuchen, ihn zum Mitmachen im großen Kampf zu bewegen. Er hat ausgezeichnete Chancen, die Krankheit zu besiegen, aber er selbst trägt nichts dazu bei. Sie ist so erschöpft, sie könnte zusammenbrechen. In ihrer Verzweiflung versucht sie es mit einem anderen Ansatz, mit etwas aus ihrer eigenen Kindheit (das letzte Mittel), und reißt ihm die Stöpsel aus den Ohren.

RENATA(laut): Donald! Wirst du mir jetzt verdammt [30] noch mal zuhören? Du hörst mir jetzt zu, verstanden? (Atmet tief durch.) Wir! müssen! uns! gegenseitig! helfen!

Doch Donald greift nur nach einem Fineliner (Künstlerqualität) und einer Kladde auf seinem Nachttisch und beginnt zu zeichnen, mit raschen, sicheren Strichen. Er ist unerreichbar.

Renata gibt auf, sie spürt, wie ihr die Tränen die Wangen hinunterlaufen. Sie wischt sie fort, bevor er sie sehen kann. Sei stark, sei stark, sei… alles, nur keine Heulsuse. Die Musik sickert kläglich aus den Ohrhörern in ihrer Hand. Ihre Aufgabe ist entschieden zu groß für sie. Ein Holzwurm in einer Kathedrale. Aber was kann sie tun?

Sie reicht ihm die Ohrhörer zurück. Er nimmt sie ohne einen Blick und stopft sich von neuem die Ohren zu. Sie steht auf, erschöpft an Leib und Seele, dabei ist es gerade erst elf Uhr. Sie betrachtet die sanft surrende Travenol-Pumpe und geht hinaus.

Innen. Eßzimmer / Haus Delpe. Abend.

Renata, Jim und Jeff essen zu Abend. Für Don ist gedeckt, aber sein Platz bleibt leer. Besteck klappert auf Tellern. Langes Schweigen. Jeff ist der schnellste Esser und scheint am wenigsten angegriffen von den Ereignissen des Tages. Genauer gesagt, scheint er kein bißchen angegriffen. Er ist das Bild eines hungrigen jungen Mannes, der versucht, das ganze Leben auf die Zinken einer Gabel zu spießen.

RENATA (schwer besorgt): Er tut überhaupt nichts mehr. Nur diese… diese häßlichen Comicbilder zeichnet er noch.

[31] JIM: Dann laß uns seine Freunde einladen. Michael und den anderen. (An JEFF.) Wie heißt der andere?

JEFF: Raff.

JIM: Wieso kommen die nicht mal vorbei? Sag ihnen Bescheid.

RENATA: Wir brauchen Hilfe. Don braucht Hilfe. Die brauchen wir alle.

JIM: Laß uns ein paar Freunde hierherbringen. (Bedrückende Pause.) Das ist doch das mindeste, was wir tun können, oder?

Innen. Elternschlafzimmer. Später Abend.

Dons Eltern haben schon seit fünf Monaten keinen Sex mehr gehabt. Stress, Streit, Anspannung, ein Gefühl, daß es unter den Umständen nicht richtig wäre – all das fordert seinen Tribut. Es fordert Tribut in allen Bereichen des Lebens, aber greifbar ist es im Schlafzimmer, wo die Zahl Null wie ein peinlicher Heiligenschein über dem Doppelbett schwebt. Doch diese Nacht haben sie zur Nacht erwählt, in der die Zeit der Dürre enden soll. Heute sollen die Sprungfedern quietschen. Keiner von ihnen hätte je gedacht, daß es einmal soweit kommen würde, daß sie den Sex Tage im voraus planen (es ist Freitag, und die Entscheidung haben sie am Montag beim Müsli getroffen), aber so sind die Dinge nun mal.

Jim hat Springsteen aufgelegt. Er ist erregt. Erstaunlicherweise. Ihm hat sogar das Planmäßige daran geholfen, er findet im Tick-tick-tick der Uhr etwas Verruchtes, Aufputschendes, er findet es sexy. Aber für Renata war das Warten zuviel. Die lange Vorbereitung hat sie gelähmt. Als [32] die Zeit kommt, zu ihrem Liebhaber (nackt, bereit für sie) ins Bett zu schlüpfen, vertrödelt sie zwanzig Minuten, wäscht sich, putzt die Zähne, nimmt Zahnseide für die Zwischenräume, entfernt ihr Make-up, trägt Peeling-Gel auf, appliziert Maske, deappliziert Maske, reibt sich die Wangen mit Nachtcreme ein, den Bereich um die Augen mit Antifaltenserum, und dann steigt sie ins Bett – und sträubt sich vom ersten Augenblick an. Als Jim über ihr in Stellung geht, in einer Position, die an einen Sprinter auf dem Startblock erinnert, bittet sie ihn, es langsam anzugehen.

RENATA: Es ist schon so lange her, Schatz.

So waren sie schon immer: Jim eifrig, drängend, wenn es soweit ist, jetzt oder nie; Renata zögernd, langsam, voller Komplikationen, das Gesicht fettig von Kosmetika. Wie bei so vielen Männern und Frauen ist auch bei den Delpes Sex wie Einkaufen. Männer wollen rasch in den Laden, bekommen, was sie wollen, rasch wieder hinaus. Frauen wollen sich umschauen, Sachen anprobieren, finden an etwas Gefallen und verwerfen es dann wieder, probieren etwas anderes: alle Zeit der Welt. Aber heute nacht hat Renata ihm versprochen, daß sie genau weiß, was sie will, und daraufhin hat Jim sich bereit erklärt, doch noch einmal mit ihr einkaufen zu gehen, er hat ihr vertraut. Nun wartet er wieder ungeduldig, während sie sich ziellos im ganzen Laden umsieht. Sie merkt überhaupt nicht, wie lange sie braucht, und in ihm steigt Wut auf; sie begreift nicht, daß sie aus seiner Sicht im Halteverbot stehen und daß mit jeder Minute ein weiterer Strafzettel unter dem Scheibenwischer klemmt. Schließlich gibt er auf. Lächerlich; keine Spur von [33] Leidenschaft. Jetzt ist sein Stolz gekränkt. Sie hat ihr Versprechen gebrochen. Und als sie nicht protestiert, vielleicht sogar erleichtert ist, dösen sie beide ein, wahrscheinlich schlechter dran denn je.

Doch als sie am nächsten Morgen aufwachen, den Plan vom Vorabend und dessen Scheitern noch gut im Gedächtnis, zu schläfrig, um noch einmal einkaufen zu gehen oder sich gegenseitig Vorhaltungen zu machen, gehen sie statt dessen zum Kiosk. Einfach und schnell. Da gibt es nur ein einziges Regal mit einer einzigen Ware, und mit einem Male weiß Renata, daß sie diese Ware will. Sie nimmt sie. Und er auch. Es ist so einfach. Warum ist es nicht immer so einfach? Geschafft. Beide stoßen sie einen Seufzer aus. Sie haben tatsächlich etwas gekauft. Zusammen! Sie seufzen noch einmal, immer noch im Halbschlaf. Von null auf eins.

Außen. Haus Delpe. Tag.

Jim hat heute den Rasensprenger angeschlossen. Alles sieht nach einem trockenen, heißen Sommer aus. Man hört das Gras geradezu seufzen vor Erleichterung, als das Wasser mit einem Zischen auf die Halme trifft. Donald sitzt auf der Verandatreppe und beobachtet die drei rotierenden Arme, die die Tröpfchen wie Hühnerfutter um sich streuen. Das monotone Sschh – Sschh – Sschh des Rasensprengers läßt ihn an eine Mutter denken, die ihr Kind beruhigt. Bald werden die Vögel herunterkommen, die Vögel, die in sicherer Entfernung auf der Hochspannungsleitung warten. Wenn der Rasen schön weich ist, steht in der Denkblase über seinem Kopf, dann kommen sie und picken nach [34] Würmern. Don wartet schon seit einer Stunde auf diesen Augenblick. Auch als er nach drinnen gehen und kotzen mußte, hatten sie sich nicht vom Fleck gerührt. Sie warten anscheinend darauf, daß er endgültig verschwindet, so wie er darauf wartet, daß sie herunterkommen und ihre Würmer holen, und wahrscheinlich können sie es kaum abwarten, bis es endlich soweit ist. Es ist ein Spiel. Wer kann länger warten, Mensch oder Tier? Klarer Fall. Alle Tiere warten auf den Tod. Unseren. Er gibt den Vögeln eine eigene, gemeinsame Denkblase. Darin steht: »Klar, wir sind immer noch da, Arschloch. 150 Millionen Jahre und kein Ende abzusehen, Kumpel. Und wenn’s sein muß, warten wir noch mal 150 Millionen Jahre, bis ihr Krachmacher, ihr selbstsüchtigen verfressenen mörderischen Mistkerle euer eigenes Nest dermaßen gründlich verdreckt habt, daß ihr von der Bildfläche verschwindet und uns echte Tiere da weitermachen laßt, wo ihr uns dazwischengekommen seid. Ohne Umweltverschmutzung, ohne Waldsterben, ohne Speisekarten, auf denen unsere Namen stehen. Ein Spiel unter Gleichberechtigten. Das Paradies. Weißt du noch?« Kein Wunder, daß Tiere im Warten Weltmeister sind. Die haben schließlich jede Menge Übung. Ein Tier weiß, daß das Leben fast nur aus Warten besteht.

Jims Auto biegt in die Einfahrt, Blinker gesetzt, obwohl meilenweit kein anderer Wagen zu sehen ist. Typisch Jim, immer gesetzestreu. Würde nie abbiegen, ohne vorschriftsmäßig zu blinken, weil Schludrigkeit bekanntlich immer weitere Kreise zieht, und ehe man sich’s versieht, sitzt man als Axtmörder im Gefängnis. Aus dem Wagen steigen Michael und Raff. DAS VERHÄNGNIS NIMMT SEINEN LAUF!

[35] MICHAEL REEVES und RAFF BENNETT (beide gerade fünfzehn geworden), Donalds Freunde seit der Grundschule. Mit zehn gründen sie eine Gang, eine Clique, eine Bande von Gesetzlosen, deren erstes Ziel ist, Konventionen zu brechen und zivilen Ungehorsam zu schüren. Sie bauen sich ein Clubhaus im Ginstergestrüpp auf einem Stück Brachland, die Wände aus Apfelkisten, das Dach aus geklautem Wellblech. Die Regeln des Clubs sind einfach, doch unumstößlich: Sobald sich zwei oder mehr Mitglieder im Clubhaus treffen, müssen sie in jedem Satz, den sie sagen, mindestens einmal Fuck oder Scheiße sagen. Das ist gar nicht so einfach, wie es klingt, und wer es nicht schafft, läuft Gefahr, sofort aus der Bande ausgeschlossen zu werden. Zehn Jahre alt. Noch vor dem Stimmbruch. Kleine Jungs, die so tun, als wären sie Männer. Ein Klopfen an der Tür des Clubhauses: »Fuck, wer ist da?« – »Mann, Fuck, ich bin’s, Raffy. Mach die Scheißtür auf.« – »Na gut, scheiß drauf. Und was ist das Scheißpaßwort?« Kurzes Nachdenken. »Fuck. Jetzt schließ endlich die Scheißtür auf.« Der Schlüssel dreht sich im Schloß. Das ist ihre erste kindliche Widerstandsbewegung. Das schlimmste ist das Nachhausekommen. (MUTTER: Wo bist du gewesen, Schatz? SOHN: Kann dir doch scheißegal sein.) Zack. Eingebuchtet. Eine Woche. Aber der Club hält trotzdem zusammen und steigert sich bis heute weiter in seiner Verruchtheit; mittlerweile betreiben die Jungs einen kleinen, aber einträglichen Handel mit schwarzgebrannten CDs, ein Geschäft aus der Schultasche mit hundert Pfund Umsatz pro Woche. Doch seit Donald krank ist und sich von der Szene zurückgezogen hat – ihm gehört der hochwertige CD-Brenner [36] (Übertragungsrate 7800 KB pro Sekunde) –, verfehlen sie regelmäßig ihr Umsatzziel. Mist.

Schnitt zu Don…

…Sein Gesicht zeigt Entsetzen, als Mike und Raff aus dem Auto steigen. Die beiden sind die allerletzten, die er sehen will. Freunde zu Besuch? Er hat keine Freunde. Nicht mehr. Er will auch keine mehr haben. Jedenfalls nicht solange er so aussieht, solange er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen kann: haarlos, augenbrauenlos, bleich, klapperdürr, ein wandelndes Kondom. Er kann nur ahnen, was die in der Schule für Schauergeschichten über ihn erzählen werden: daß Donald aussieht wie ein Wattestäbchen, ein Durex, ein Trommelschlegel, ein Thermometer, ein Pimmel mit Beinen. Er ist seinen alten Kumpels fast sechs Monate lang nicht begegnet, und das hat ihn einige Anstrengung gekostet. Nicht angenommene Anrufe. Versäumte Verabredungen. Geschickte Vermeidungstaktik. Und dann kommt dieser Wichser von Vater auf die glorreiche Idee, sie hierherzubringen! Don fühlt sich vergewaltigt, unter Druck gesetzt, auf frischer Tat ertappt, wie Michael Jackson, der mit einem Teleobjektiv fotografiert wird, wie er nackt mit ein paar Noch-nicht-mal-Zehnjährigen durch den Garten tollt. Was zum Teufel bildet sich sein Vater eigentlich ein?

Don springt auf und stürmt nach drinnen. Die Haustür fällt ins Schloß.

In der Einfahrt drehen sich Michael und Raff um und blicken fragend Jim Delpe an; er steht noch in der offenen Fahrertür, aber seine Miene macht klar, daß er schon jetzt sieht, daß das ein Schlag ins Wasser war. Totgeburt…

[37] Innen. Dons Zimmer. Tag.

Als er hört, wie sein Vater den Motor anläßt, tritt Donald ans Fenster seines Zimmers im ersten Stock, zieht die Gardinen beiseite und beobachtet, wie sein Vater langsam rückwärts aus der Ausfahrt setzt, den Arm über die Sitzlehne gelegt, Warnblinker angeschaltet – der gute alte Dad; als er auf die Straße einbiegt, sieht Don einen kurzen Augenblick lang seine Kumpels auf der Rückbank, dann sind sie fort.

Donald bleibt eine Weile am Fenster stehen, sein Blick sucht die Vögel auf der Hochspannungsleitung, aber sie sind weg, verscheucht. Dann holt er seine Windjacke, zieht seine Vans an, macht einen Dreifachknoten, womöglich zum letzten Mal, verabschiedet sich mit einem coolen Blick von seinem Zimmer, macht einen großen Schritt über die Travenol-Pumpe und geht hinaus.

Außen. Brücke. Tag.