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In einem Roman muss es nicht immer um Glanz und das Leben in Villen gehen. In diesem Roman, der die unverwechselbare Handschrift Marie Louise Fischers trägt, steht gleich eine ganze Gruppe von Frauen im Mittelpunkt, die eines vereint: Sie arbeiten im Schreibsaal einer Versicherungsgesellschaft. Unterschiedlicher können die Lebenssituationen von Frauen nicht sein. Trude kämpft dafür, mit ihrer Arbeit das Haus am Stadtrand abzahlen zu können. Helga trennt sich von ihrem untreuen Ehemann. Carola muss erfahren, dass ihre Beziehung zu ihrem angeblichen Mann des Lebens nur auf Schein und Betrug basiert. Sybille lässt ihre Beziehung fahren, um auf zweifelhafte Weise Karriere zu machen. Und Alma lebt unzufrieden nur mit ihrer Mutter zusammen. Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.
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Seitenzahl: 271
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Süßes Leben, bitteres Leben (Frauen hinter Glas)
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2018 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1978 by Goldmann Verlag, Germany
Copyright © 1978, 2018 Marie Louise Fischer und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711718766
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
Als Trude Samt aus dem Bus stieg und die Prinzregentenstraße entlang eilte, sah sie ihre Kollegin Sibylle Kern, die mit elastischen, weit ausholenden Schritten auf das Verwaltungsgebäude der European Insurance Company zustrebte, einer internationalen Versicherungsgesellschaft, bei der sie beide als Phonotypistinnen angestellt waren.
Beim Anblick des jungen Mädchens fühlte Frau Samt sich schlagartig dick, unelegant und verbraucht, und das, obwohl sie noch zu Hause vor dem Spiegel mit ihrem Aussehen ganz zufrieden gewesen war.
Sibylle Kern war so schmalhüftig, so langbeinig, und wirkte durch die Art, wie sie den Kopf mit dem seidigblonden, schulterlangen Haar hoch erhoben trug, so selbstsicher, daß ein gewöhnliches weibliches Wesen Minderwertigkeitskomplexe bekommen mußte.
Jetzt verhielt sie einen Augenblick, um den Sitz ihres rechten Strumpfes zu begutachten, und es gelang Trude Samt, die Jüngere einzuholen.
»Sagen Sie nur, wie machen Sie das, so schlank und so schick auszusehen?« fragte sie neidvoll.
Sibylle Kern blickte wohlgefällig an ihrem knapp sitzenden braunseidenen Hemdblusenkleidchen herab. »Ich stecke das, was andere vielleicht fürs Essen ausgeben, in meine Garderobe!«
»Ja, Sie können das! Aber wenn man wie ich eine Familie versorgen … wenn man täglich kochen muß …«
»Ach, ärgern Sie sich nicht«, erwiderte Sibylle unbefangen, »in Ihrem Alter spielt das doch gar keine Rolle mehr!«
Sie hatte ihre Bemerkung ganz ohne Bosheit gemacht, nur sachlich und nüchtern ihrer Überzeugung Ausdruck gegeben, aber das machte die Sache für Trude Samt auch nicht besser; sie schnappte nach Luft.
Sibylle merkte, daß sie die Kollegin gekränkt hatte, aber sie tat keinen Rückzieher. »Ist doch wahr«, bestätigte sie statt dessen, »Sie haben Ihr Rennen schon hinter sich, wir stehen noch am Start. Wäre doch Blödsinn, mit uns konkurrieren zu wollen.« Begütigend legte sie ihren Arm um die Schultern der jungen Frau.
Trude Samt hatte sich schon wieder gefaßt. »Eines muß man Ihnen lassen, ehrlich sind Sie!«
»Auch nur da, wo ich’s mir leisten kann«, behauptete Sibylle, »ich bin gerne ehrlich, stimmt. Aber damit kommt man in der Geschäftswelt wohl nicht weiter.«
»Und Sie wollen weiterkommen?«
»Na klar! Sonst wüßte ich etwas Besseres, als mich an einem so schönen Frühlingstag in den gräßlichen Schreibsaal einsperren zu lassen, und das acht Stunden lang. Am Montag fällt’s mir immer besonders schwer. Und Ihnen?«
»Einerseits. Andererseits kann man übers Wochenende auch wieder neue Kräfte schöpfen.«
»Sie Glückliche!« Sibylle lachte und entblößte dabei regelmäßige, etwas zu kleine Zähne. »Ich verausgabe mich immer total!«
Plaudernd gingen sie weiter, und je näher sie dem Versicherungsgebäude kamen – einem fast quadratischen, siebzehnstöckigen Bau, dessen Fassade, ausschließlich aus Glas und Aluminium bestehend, in der Sonne schimmerte –, desto mehr verdichtete sich der Menschenstrom, der demselben Ziel zustrebte. Es waren hauptsächlich Frauen und Mädchen; sie gehörten zum Hauptsekretariat, arbeiteten im Verwaltungsservice, als Locherinnen in der computergesteuerten Buchhaltung, in der Registratur, im Archiv, in der Kantine.
Die Männer waren durchweg unter vierzig und trugen den traditionellen grauen Anzug, Hemd, Krawatte und korrekten Haarschnitt. Es waren Sachbearbeiter der einzelnen Ressorts. Die Abteilungsleiter pflegten erst eine halbe oder auch eine Stunde später zu kommen, und ihre Sekretärinnen, an Überstunden gewöhnt, richteten sich danach.
Dort, wo der plattenbelegte Zugang zum Hauptportal das schmale, geradezu verschämt wirkende Stückchen Rasen überbrückte, der das Gebäude ringsum umgürtete, stießen sie auf Carola Anders.
Carolas langes, rotes Haar leuchtete geradezu in der Sonne, und ihre blauen Augen strahlten; sie war so langbeinig wie Sibylle, aber nicht ganz so schmal.
»Hallo, Carola!« rief Sibylle. »Du siehst aus wie eine Katze, die die Maus verschluckt hat!«
»Im Gegenteil! Stell dir vor …« Jetzt senkte Carola ihre Stimme. »Ich habe den Mann meines Lebens kennengelernt!«
Die kleine Betty Troll, so dünn, daß es schon nicht mehr schön war, und mit Pickeln geplagt, drängte sich zwischen sie. »Hast du mit ihm geschlafen?«
Carola wurde blutrot.
Sibylle packte Betty beim Hals und schüttelte sie wie einen jungen Hund. »Mensch, du hast ’ne Art!«
»Na, man wird doch wohl noch fragen dürfen! Wenn ich ’nen Mann kennenlerne, der mir gefällt, steige ich mit ihm sofort ins Bett, denn woher sollte ich sonst wissen …«
»Ach, halt die Klappe!« Sibylle ließ die Kleine unsanft los und nahm Carolas Arm. »Du, das mußt du mir später haargenau erzählen!«
Trude Samt fühlte sich ausgeschlossen.
Der Schreibsaal – von der Firmenleitung beschönigend »Hauptsekretariat« genannt – lag in der dritten Etage des Hauses und nahm diese fast völlig ein; außer dem Großraumbüro befanden sich hier nur noch die Toiletten, die Garderobe und ein Erholungsraum für die Phonotypistinnen.
Man hätte glauben sollen, daß für die sechzig jungen Frauen, die jetzt lachend, eifrig oder schlecht gelaunt, je nach Temperament und Stimmung, im Büro eintrudelten, am frühen Montagmorgen kaum Arbeit vorliegen konnte, und das um so weniger, als Frau Wally Hagen, die Abteilungsleiterin, am Freitag ihre Schäfchen immer wieder zur Eile angetrieben hatte. »Das muß unbedingt heute noch raus!« hatte es dauernd geheißen. »Sehen Sie zu, daß Sie mit dem Band fertig werden!« – Geübte Finger waren über die Tasten der elektrischen Schreibmaschine gesaust.
Aber dennoch wartete auf jeder der mit Kunststoff beschichteten Schreibtischplatten schon wieder eine besprochene Kassette; es gehörte zu den Aufgaben und den Fähigkeiten der Chefin, die Arbeit so einzuteilen, daß niemals Zwangspausen entstanden.
Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, der, größer als die anderen und aus Stahl, ihrer gehobenen Position Ausdruck gab, blickte den Ankommenden lächelnd entgegen und erwiderte freundlich jeden Gruß. Gut gekleidet, das schon ergrauende Haar braun getönt und sorgfältig frisiert, wache intelligente Augen in einem beherrschten, ein wenig zu harten Gesicht, glich sie dem Urbild einer erfolgreichen Frau. Ruhig ließ sie die Phonotypistinnen schwatzen, ohne sie mit einem Wort zur Arbeit zu drängen. Obwohl Frau Hagen persönlich es haßte, Zeit zu vergeuden, wußte sie doch, daß einige der Frauen sich nicht konzentrieren konnten, ehe sie ihre Wochenenderlebnisse nicht losgeworden waren.
Es bestand auch schon deshalb kein Grund, sie auf Trab zu bringen, weil jede für sich das Ausmaß ihrer Arbeit in gewissem Rahmen selber bestimmen konnte. Für ein Grundgehalt von rund 1300 DM brutto mußte jede 40000mal täglich in die Tasten schlagen, ungefähr also 33 DIN-A4-Briefe sauber getippt in die Unterschriftenmappe stecken. Das war das Soll, das aber von den meisten ohnehin überschritten wurde. Mit jeden weiteren Tausend Anschlägen konnten sie sich eine 40-Pfennig-Prämie verdienen.
Frau Helga Gruber, die Tüchtigste, hatte schon ihre Stenorette laufen und einen Hörclip ins Ohr gesteckt; sie pflegte an guten Tagen bis zu 150000 Anschläge zu schaffen.
Es dauerte nicht lange, und ihr gutes Beispiel wirkte ansteckend. Die jungen Frauen begaben sich an ihre Plätze, drückten die Magazine in die Stenoretten, legten sich Briefpapier und Durchschläge zurecht, schoben sie auf die Walzen und begannen zu tippen.
Plötzlich ein Aufschrei. »Ich verstehe kein Wort! Was ist das!? Es ist nichts zu verstehen!« Frau Möhner riß sich ihren Clip aus dem Ohr und sprang auf.
Nur wenige nahmen von dem Zwischenfall Notiz, und selbst diejenigen, die sich Frau Möhner für Sekunden zugewandt hatten, widmeten sich gleich wieder ihrer eigenen Arbeit.
Alma Möhner war nach der Abteilungsleiterin die Älteste im Schreibsaal. Mehr als zwanzig Jahre hatte sie als Sekretärin in der Kaskoschadenabteilung gearbeitet, bis ihr Chef nach London in die Zentrale der Versicherungsgesellschaft versetzt wurde. Man hatte ihr einen wesentlich jüngeren Mann vor die Nase gesetzt. Er empfand Groll über ihre Anwesenheit, ihre Besserwisserei, die er auch dann zu spüren glaubte, wenn sie nichts sagte. Sie hatte versucht, ihn zu gängeln, und es hatte zahllose Reibereien gegeben, unter denen die Zusammenarbeit gelitten hatte. Die anderen hatten mit ihm und nicht mit ihr sympathisiert. Schließlich war es ihrem jungen Chef gelungen, sie abzuschieben.
Zuerst war sie im Verwaltungsservice gelandet, in dem an die zwanzig Mädchen und Frauen damit beschäftigt waren, für die Sachbearbeiter des Unternehmens Termine festzusetzen, Flug- und Bahnkarten zu buchen und Reservierungen in Hotels vorzunehmen. Aber sie hatte sich an die Arbeit im Großraumbüro nicht gewöhnen können, an das dauernde Klingeln der Telefone und das gleichzeitige Sprechen vieler Stimmen. So war sie in das ruhigere Hauptsekretariat versetzt worden. Doch auch hier fühlte sie sich todunglücklich und ging ihren jüngeren Kolleginnen mit ihrem Lamentieren auf die Nerven.
Bei jeder anderen hätte Frau Hagen sich selber von der Qualität des Diktats überzeugt; in diesem Fall aber schlug sie einen anderen Weg ein. »Fräulein Anders«, stellte sie fest, »Sie haben noch nicht angefangen! Würden Sie so liebenswürdig sein und mit Frau Möhner tauschen? Alma, bitte, tausch mit Fräulein Anders … ja, den Schreibtisch und alles, was dazugehört!«
Nach einem bedauernden Blick zu Sibylle Kern hinüber, neben der sie bisher gesessen hatte, erhob sich Carola und trat an den anderen Schreibtisch. Frau Möhner griff nervös nach ihrer Handtasche, die ihren Fingern entglitt und auf den hochflorigen Perlonteppichboden fiel. Der Verschluß sprang auf, und der Inhalt ergoß sich auf den Boden: Puderdose, Pillenschachtel und Lippenstift rollten. Carola bückte sich und half der älteren Kollegin artig beim Aufsammeln, wofür sie nur ein beleidigt klingendes »Danke« erntete.
Hinter ihrem Rücken zog Carola eine komische Grimasse, die von einigen Mädchen, die den Zwischenfall beobachtet hatten, mit einem kleinen Gelächter belohnt wurde. Dann setzte sie sich an den neuen Arbeitsplatz, ließ das Band zurückspulen, stellte es ein und begann zu tippen.
Frau Hagen war zu ihr getreten. »Na, was ist?« fragte sie.
»Ganz gut.« Carola nickte.
Wally Hagen unterdrückte jeden Kommentar.
Dennoch war Frau Möhner nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Das begreife ich nicht … bei mir eben …«
»Laß es gut sein.«
»Aber ich suche nach einer Erklärung!«
»Bitte, Alma, wenn du schon nicht arbeiten willst, dann störe wenigstens nicht die anderen!«
»Das ist eine Unverschämtheit!« Vom Hals her stieg eine häßliche, ungesunde Röte in Alma Möhners graues Gesicht. »Du unterstellst mir …«
»Alma, bitte!«
Aber Frau Möhner war nicht fähig, sich zu beruhigen; sie drehte sich auf dem Absatz um und stürzte aus dem Raum. Die Abteilungsleiterin machte einen Schritt, als wollte sie ihr nacheilen, verzichtete dann aber darauf und ging zu ihrem Schreibtisch.
Zwanzig Minuten später kam Frau Möhner zurück; ihre Augen waren von Tränen gerötet.
Die wenigsten der Phonotypistinnen suchten die Kantine zum Essen auf. Beliebter war es, im Erholungsraum Gebäck, ein Brötchen, eine Flasche Limo oder Wasser aus dem Automaten zu ziehen.
Carola Anders und Sibylle Kern richteten es so ein, daß sie gemeinsam Pause machten.
»Wann siehst du ihn wieder?« fragte Sibylle.
Carola wußte sofort, wer gemeint war. »Spätestens am Wochenende. Er hat eine Yacht auf dem Chiemsee. Er will mit mir segeln.«
»Na, wenigstens scheint er nicht verheiratet zu sein.« Sibylle entschied, nur einen Apfel zu sich zu nehmen, und trat an den Obstautomaten.
»Verheiratet? Wie kommst du darauf?« rief Carola entsetzt.
»Na, deiner Beschreibung nach scheint der Typ ja mindestens dreißig zu sein, und in dem Alter sind nun mal die meisten verheiratet.«
»Peter nicht!«
»Woher willst du das wissen?«
»Er würde seine Frau nicht betrügen!«
»Junge, Junge, dich scheint’s ja schön erwischt zu haben!« Sibylle biß krachend in ihren Apfel.
Der Erholungsraum war geschmackvoll, ja, geradezu gemütlich eingerichtet. Es gab kleine runde Tische, Sessel und Sofas; Vorhänge und Teppichboden waren in warmen Tönen gehalten, und aus den Fenstern konnte man auf das Prinzregentenbad mit seinen Grünflächen sehen.
Die beiden Mädchen machten es sich gemütlich, und Sibylle hörte sich noch einmal an, wie Carola zufällig, als sie bei einem plötzlichen Regenguß beide auf das gleiche Taxi zugeschossen waren, dem Mann ihres Lebens begegnet war, und was er gesagt und was sie erwidert hatte und wie er sie zuerst ins »P 1« zum Tanz und anschließend in seine Junggesellenwohnung geführt hatte. Sibylle wußte, daß sie diese Geschichte nicht zum letztenmal hörte.
»Junggesellenwohnung, da hast du es!« rief Carola triumphierend. »Wie kann er denn da verheiratet sein!?«
»Vielleicht wohnen seine Frau und seine Kinder außerhalb Münchens und … nein, laß nur, ich will dich nicht ärgern, wirklich nicht. Du weißt doch, daß ich dir alles Glück wünsche!«
Als sie in den Schreibsaal zurückkehrten, winkte Frau Hagen Sibylle zu sich; sie war dabei, die inzwischen fertiggestellte Post auf die Zahl der Anschläge und eventuelle Tippfehler zu überprüfen, unterbrach aber jetzt ihre Tätigkeit.
»Sie sind jetzt über ein Jahr bei uns, Fräulein Kern«, sagte sie nachdenklich.
»Im September werden es zwei Jahre!«
»Es ist Ihnen sicher nicht immer leichtgefallen, durchzuhalten.«
»Bestimmt nicht. Ich hatte mir meinen Beruf ganz anders vorgestellt!«
»Das kann ich mir denken. Trotzdem ist es gut, daß Sie bei der Stange geblieben sind. Ich habe Sie jetzt für das SK vorgeschlagen.«
»Das Sekretärinnen-Kolleg?« Sibylles leicht gebräunte Wangen röteten sich. »Soll das heißen, daß ich in die Chefetage komme?«
Frau Hagen lächelte über Sibylles Eifer. »Ziehen Sie bitte keine voreiligen Schlüsse. Es hängt davon ab, wie Sie sich im Kolleg bewähren. Und natürlich, ob eine Stelle als Sekretärin vakant wird.«
»Aber ich bin vorgesehen?!«
»Das waren Sie von Anfang an. Sonst hätte ich Sie gar nicht ermutigt, bei uns zu bleiben.«
»Frau Hagen, ich bin so glücklich! Sie sind ein Schatz! Wann kann ich anfangen?«
»Wenn Sie wollen, melde ich Sie sofort an. Schulgeld und Gebühren übernimmt die Company. Aber arbeiten müssen Sie selber!« Frau Hagen reichte ihr einen Prospekt. »Daraus entnehmen Sie alle Einzelheiten!«
Den Prospekt über den Kopf schwenkend, wandte sich Sibylle dem Schreibsaal zu und rief: »Kinder, was sagt ihr dazu! Ich hab’s geschafft! Ich komme ins SK!«
Ihre Kolleginnen, die den Hörclip im Ohr, mehr erraten als verstanden hatten, gratulierten; einige sprangen sogar auf, um Sibylle die Hand zu drücken.
Frau Hagen duldete den Aufruhr lächelnd. Sie wußte, daß dies einer der Momente war, der den Ehrgeizigen unter den Phonotypistinnen Auftrieb gab, die tägliche Fron weiter durchzustehen.
»Du, da mußte aber einen ausgeben!« verlangte Betty Troll.
»Mach ich«, gab Sibylle gutgelaunt zurück, »gleich morgen. Heute werd’ ich abgeholt.«
Kurz nach fünf stoben die jungen Mädchen und Frauen in einem Schwarm aus dem Portal des Versicherungsgebäudes auf die Prinzregentenstraße.
Sibylle Kern entdeckte Hans Kiesewetter, der schräg gegenüber am Rand des Bordsteins wartete, löste sich von den anderen und eilte auf ihn zu. »Fein, daß du schon da bist!«
»Ich werd’ dich doch nicht warten lassen!« Mit einer besitzergreifenden Geste schob er seine Hand unter ihren Arm.
Hans Kiesewetter war einen halben Kopf größer als Sibylle, ein kräftiger junger Mann mit halblangem, blondem Haar und sehr blauen Augen mit hellen Wimpern. Der Blazer, den er über sein buntkariertes, am Hals offenes Baumwollhemd gezogen hatte, spannte ein wenig an den Schultern.
»Du, ich habe tolle Neuigkeiten!« platzte sie heraus. »Ich geh ins Sekretärinnen-Kolleg!«
»Ausgerechnet!« Er ließ sie los.
»Da staunst du, was? Und du hast immer behauptet, daß ich es nicht schaffen würde!«
Hans Kiesewetter blickte düster, mit gerunzelter Stirn auf Sibylle herab. »Erwartest du etwa, daß ich jetzt jubele?«
»Ja, warum denn nicht? Das ist doch wunderbar. Für uns beide! Ich werde mehr Geld verdienen, wir werden uns mehr leisten können …« Sie unterbrach sich. »Aber darüber brauchen wir uns doch nicht auf der Straße zu unterhalten. Wo steht dein Auto?«
»In der Holbeinstraße.«
»Komm!« Sie nahm seinen Arm und wollte ihn mit sich ziehen.
Aber er blieb stehen und hielt sie fest. »Im Ernst, Billy, konntest du das nicht verhindern?«
»Verhindern?« Sie riß die großen braunen Augen auf.
»Tu nicht so, als ob ich chinesisch spräche. Du hast mich sehr gut verstanden. Sag mir nicht, daß du nicht genauso gut hättest ablehnen können.«
»Ablehnen, Hans? Aber warum? Warum sollte ich so was denn tun!?«
»Na, zum Beispiel, weil du ’ne Menge Zeit damit vertrödelst, die wir besser nutzen könnten!«
»Du bist ja nicht bei Trost! Seit wann vertrödelt man Zeit, wenn man was lernt?«
»Ich weiß schon, was man in solchen Sekretärinnenkursen lernt: Wie man seinem Chef um den Bart gehen muß!«
»Du bist eifersüchtig! Das ist ja zu blöd!« Sibylle riß sich los und stürmte davon.
Er hatte sie mit wenigen großen Schritten eingeholt und packte sie bei der Schulter. »Billy!«
»Au, verdammt! Du tust mir ja weh!« schimpfte Sibylle, blieb aber stehen. »Und überhaupt, was soll denn das? Du kannst mir doch nicht auf offener Straße eine Szene machen. Und ausgerechnet neben der Company! Hier wimmelt’s ja von Kolleginnen. Was glaubst du, wie die mich morgen aufziehn!«
»Tut mir leid«, murmelte er schuldbewußt, »ich wollte bloß in aller Ruhe mit dir darüber reden.«
»Das ist dir ja auch prächtig gelungen!« Mit geradem Rücken, den Kopf mit dem schulterlangen Haar hoch erhoben, ging sie weiter, aufreizend langbeinig und schmalhüftig.
Eine Weile hielt er sich stumm an ihrer Seite. Dann fragte er: »Mal ganz sachlich gefragt: Wie lange soll dieser Kurs denn nun dauern?«
»Sechsunddreißig Wochen.«
»Das ist ja mehr als ein halbes Jahr!«
»Doch nur samstags.«
»Auch das noch! Das heißt also sechsunddreißig verkorkste Wochenenden! Hör mal, lieber will ich schwarzarbeiten, damit wir so bald wie möglich heiraten können.«
Sibylle wirbelte zu ihm herum. »Darum geht’s ja gar nicht! Ich möchte raus aus dem Schreibsaal. Raus aus dem Stumpfsinn! Endlich das werden, was ich gewollt habe: eine richtige Sekretärin!«
Er gab nach, aber es war zu spät. Sie war zu enttäuscht, weil er sich nicht mit ihr gefreut hatte. Ein Schatten war über ihre Liebe gefallen.
Wie immer war Frau Hagen noch zurückgeblieben, als der Großteil der Phonotypistinnen das Haus bereits verlassen hatte. Sie berechnete die Zahl der Anschläge – über jede einzelne der ihr unterstellten Frauen führte sie Listen –, überflog die Briefe auf Tippfehler hin und sortierte verschiedene Seiten aus. Ihr gutgeschnittenes Gesicht zeigte einen konzentrierten Ausdruck.
Das Großraumbüro wirkte jetzt sehr leer und sehr still. Außer Frau Hagen war nur noch die unermüdliche Helga Gruber am Werk. Aber auch sie machte Schluß, stellte ihre Stenorette ab und brachte der Abteilungsleiterin die prall gefüllte Unterschriftenmappe.
»Das wär’s für heute«, sagte sie erschöpft, »ich wette, daß ich hundertvierzigtausend geschafft habe!«
»Ich denke nicht daran, die Wette anzunehmen!« Frau Hagen betrachtete die junge Frau aufmerksam. »Sie sehen müde aus.«
»Kein Wunder!« Helga Gruber fuhr sich mit der Hand über die Stirn; sie war sehr schlank, fast mager, hatte ein schmales Gesicht mit grauen, tief umschatteten Augen, und trug das dunkle Haar glatt und kurz geschnitten.
»Ich habe Sibylle Kern heute ins SK geschickt!«
»Ach, deshalb der Trubel! Ich hatte es nicht richtig mitbekommen.«
»Üblicherweise schicken wir zwei Damen, aber ich weiß diesmal nicht …« Frau Hagen sprach den Satz nicht zu Ende.
»Wie wär’s mit Carola Anders? Sie ist hübsch und intelligent.«
»Ja, aber sie hat keine Handelsschule. Sie hat ihre Mittlere Reife am Gymnasium gemacht und ist dann gleich bei uns angelernt worden.«
»Soll das heißen, daß sie überhaupt keine Chance hat, weiterzukommen?«
»O doch. Wenn sie durchhält. Man kann schließlich alles lernen. Vorläufig ist sie noch zu jung. Aber wie wäre es mit Ihnen selber, Frau Gruber? Hätten Sie immer noch keine Lust?«
»Lieb, daß Sie an mich denken.« Helga Gruber, die den ganzen Tag gesessen hatte, begann mit kleinen Schritten vor dem Schreibtisch auf und ab zu gehen. »Sie wissen doch, ich habe einen sehr anspruchsvollen Mann. Als Sekretärin müßte ich Überstunden machen. Nein, das kann ich mir nicht erlauben.« Sie lächelte und wirkte auf einmal sehr jung und sehr charmant. »Seien Sie mir nicht böse, Frau Hagen, auch jetzt hab’ ich’s eilig!«
Frau Hagen hob die Hand. »Einen Augenblick noch, bitte! Sie sind jetzt sechsundzwanzig, nicht wahr?«
»Stimmt.«
»Wenn Sie sich jetzt nicht schnell entscheiden, haben Sie den Absprung verpaßt! Und wie lange, glauben Sie, können Sie die Arbeit hier in diesem Tempo durchhalten?«
»Keine Ewigkeit, das weiß ich.«
»Keine drei Jahre mehr. Und was dann?«
»Ich hoffe, daß mein Mann bis dahin seine eigene Karriere geschafft haben wird. Er ist Schauspieler und …«
»… und bis dahin müssen Sie für ihn mitverdienen?«
Helga Grubers Gesicht verschloß sich.
»Ich will mich nicht in Ihr Privatleben mischen«, behauptete Frau Hagen, »aber das eine möchte ich Ihnen doch sagen: Nur die wenigsten Menschen können Aufopferung ertragen. Denken Sie mal darüber nach.«
»Ja, danke, das werde ich«, versprach Helga Gruber.
Aber Frau Hagen wußte, daß sie es nur tat, um dem Gespräch ein rasches Ende zu bereiten; noch bevor sie den Büroraum verlassen hatte, würde sie ihre Warnung vergessen haben.
Die Abteilungsleiterin überprüfte und rechnete Helga Grubers Post durch und kam auf 148000 saubere, fehlerfreie Anschläge: eine eindrucksvolle Leistung.
Mit einem tiefen Seufzer öffnete sie dann die Unterschriftenmappe, die Alma Möhner abgegeben hatte. Hier genügte kein flüchtiges Überfliegen der Zeilen, sondern es mußte Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe gelesen werden.
Alma Möhner hatte einen besonders schlechten Tag gehabt. Immer wieder stieß Frau Hagen auf verstellte Buchstaben, fehlende Satzzeichen, und nahm behutsam Korrekturen vor. Zwei Briefe waren völlig unbrauchbar; sie konnten so nicht zur Unterschrift vorgelegt werden.
Normalerweise hätte Frau Hagen sie aus der Mappe heraus genommen und der nachlässigen Phonotypistin zur Abschrift auf den Schreibtisch gelegt. Aber im Fall Alma Möhner entschied sie sich anders. Sie wollte nicht schon wieder eine Szene heraufbeschwören. Obwohl sie wußte, daß Alma Möhner sich auf die Dauer nicht im Hauptsekretariat würde halten können – nicht, solange sie nicht bereit war, sich anzupassen.
Frau Hagen war sich darüber klar, daß ihre ehemalige Kollegin sie haßte, so wie sie jede Chefin und jeden jüngeren Chef gehaßt haben würde. Es lag nichts Persönliches in diesem Haß. Alma Möhner fühlte sich, seit sie ihren Status als Sekretärin verloren hatte, degradiert und gedemütigt. Frau Hagen verstand sie. Sie wußte nicht, ob sie selber in einer ähnlichen Situation weiser und beherrschter reagiert hätte.
So nahm sie sich die Briefe vor und schrieb sie selber noch einmal ins reine.
Danach vergewisserte sie sich, daß genügend Kassetten für den Beginn des morgigen Tages im Aufzug lagen, nahm sie heraus und schloß sie in einen eigens dafür vorhandenen Stahlschrank und die Listen in ihren Schreibtisch ein.
Die Unterschriftenmappen stapelte sie in dem kleinen Wagen, fuhr ihn zum Aufzug und sortierte sie, nach Abteilungen getrennt, hinein.
Damit ging ihr langer Arbeitstag zu Ende. Im Waschraum erfrischte sie sich und betrachtete dann ihr Gesicht in dem zu kleinen Spiegel über dem Bekken. Mit Puder und Lippenstift versuchte sie, ihre etwas harten Züge zu mildern.
Nein, sie hatte keinen Grund, unzufrieden mit ihrem Leben zu sein. Sie verdiente gut und hatte es zu etwas gebracht. Nach menschlichem Ermessen würde sie ihren Posten bis zur Pensionierung behalten können.
Und zu Hause wartete ihr Sohn auf sie.
Alma Möhner wohnte mit ihrer Mutter in der sehr lauten und verkehrsreichen Richard-Strauß-Straße. Aber die Wohnlage hatte für sie den Vorteil, daß sie, um zur European Insurance Company zu kommen, kein Verkehrsmittel zu benutzen brauchte, und an den Lärm hatte sie sich längst gewöhnt. Nachts wurde es ruhiger, und man konnte sogar die Fenster öffnen.
Heute hatte sie sich Zeit für einen Umweg genommen. Sie hatte bei »Feinkost-Käfer« frische, pikant angemachte Salate und drei Semmeln gekauft.
Als sie die Wohnungstür aufschloß, tönte ihr eine vorwurfsvolle Stimme entgegen: »Daß du jetzt erst kommst, Kind! Der Tee ist schon ganz schwarz geworden.«
»Macht nichts! Dann trinken wir eben Bier!«
Ihre Mutter saß am gedeckten Wohnzimmertisch, eine zierliche Frau mit weißem Haar und sehr lebendigen Augen in einem kleinen verrunzelten Gesicht, eine graue, selbstgehäkelte Stola um die schmalen Schultern gelegt.
Alma Möhner beugte sich über sie und küßte sie leicht auf die Schläfe. »Guten Abend, Mutter!« – Sie legte ihre Paketchen und die Tüte mit den Semmeln auf den Tisch.
»Oh, hast du uns was mitgebracht?« Eifrig machte sich die alte Dame ans Auspacken.
Alma Möhner nahm das Papier weg und stopfte es in den Mülleimer in der kleinen Küche; sie holte eine Flasche Bier aus dem Eisschrank und brachte sie, zusammen mit zwei entsprechenden Gläsern, in das Zimmer. Ihre Mutter hatte inzwischen die Semmeln in den Brotkorb gelegt und die Pappschälchen mit dem Salat auf dem Tisch arrangiert. »Na, wie war’s?« fragte sie, während sie sich einen Löffel Teufelssalat auf den Teller klackste. »War dein Chef nett zu dir?«
»Wie üblich.«
Alma Möhner hatte versucht, die alte Dame über ihre veränderte Stellung in der Company zu informieren; besonders damals, als ihr Chef nach London versetzt worden war und es täglich Ärger mit seinem sehr viel jüngeren Nachfolger gegeben hatte.
Die Mutter hatte ihren Schilderungen und Berichten begierig gelauscht, ohne sich je von ihrer optimistischen Überzeugung abbringen zu lassen, daß »doch noch alles gut« werden würde. Als es dann trotzdem schlecht lief, hatte sie es nicht zur Kenntnis genommen. Zuerst hatte Alma um ihr Verständnis gekämpft, sehr rasch aber hatte sie eingesehen, daß es doch ganz tröstlich für sie war, wenigstens in den Augen ihrer Mutter nicht als gescheiterte Existenz dazustehen.
»Früher hast du mir mehr erzählt«, quengelte die alte Dame.
»Früher war auch mehr los.« Alma öffnete die Flasche und ließ Bier in die Gläser fließen. »Oder es ist mir auch nur so vorgekommen. Auf die Dauer wird eben alles zur Routine.«
»Das würdest du auch sagen, wenn du diesen … diesen … na, wie hieß er doch … diesen Itaker geheiratet hättest!«
»Josef Greindl. Und er war kein Itaker, sondern ein Südtiroler.«
»Na und? Sind Südtiroler etwa keine Italiener?«
Alma verzichtete auf eine Antwort. Sie hatte keine Lust, ein hundertmal durchgesprochenes, längst erledigtes Kapitel ihres Lebens noch einmal durchzuhecheln.
»Diese Ehe wäre für dich heute auch schon längst Routine. Wenn nicht was noch Schlimmeres!«
»Ich mache dir ja keinen Vorwurf, Mutter«, sagte Alma müde.
»Das ist das Neueste!«
»Wenn er der Richtige gewesen wäre, hätte ich mich nicht davon abhalten lassen, ihn zu nehmen – auch von dir nicht!«
»Na, siehstdu! Habe ich dich also richtigberaten!«
Alma blickte in die triumphierenden Augen ihrer Mutter, und plötzlich war es ihr, als ob die alte Dame alles, aber auch alles über sie wüßte.
»Ja, Mutter«, sagte sie ergeben und fragte dann, um dem Gespräch eine Wendung zu geben: »Was gibt es heute abend im Fernsehen?«
Am nächsten Morgen stürmte ein junger Mann in den Schreibsaal. Er war jung, braungebrannt und hatte blondes, ziemlich kurzgeschorenes Haar.
Es war neun Uhr vorbei, die Phonotypistinnen waren mitten in der Arbeit und wären normalerweise blind oder doch zumindest taub gewesen für alles, was sich in ihrer Nähe zutrug. Aber das Erscheinen eines Mannes in dieser Etage, in der es nur Frauen gab, war etwas so Ungewöhnliches, daß einige sofort, andere durch einen Anstoß ihrer Kolleginnen aufmerksam wurden.
Der Schreibtisch von Frau Hagen stand, etwas erhöht, am Ende des großen Raumes, den der junge Mann in seiner ganzen Länge durchqueren mußte. Sein Alleingang wurde mit Gekicher und spöttischen Bemerkungen begleitet.
»Schicker Junge, wie?«
»Nicht meine Kragenweite.«
»Noch ein bißchen feucht hinter den Ohren.«
Leises Gekicher.
»Aber die Krawatte ist gut!«
Wieder verhaltenes Gekicher.
Er hatte rote Ohren, als er vorne ankam.
»Ja, Sie wünschen?« fragte die Abteilungsleiterin mit ruhiger Distanz.
»Der Brief … dieser Brief hier …« Er wedelte ihr ein Schriftstück unter die Nase. »Unerhört! Einen Tippfehler lasse ich mir ja noch gefallen, aber das ist sinnentstellend … sinnentstellend, meine ich!«
Wie eine Schildkröte zog Frau Hagen den Kopf zurück. »Sie täten mir einen Gefallen, wenn Sie ruhiger und deutlicher sprechen würden!«
Die Mädchen und Frauen lachten, als hätte sie einen prächtigen Witz gemacht.
»Da, sehen Sie selber!« Er klatschte den Brief vor Frau Hagen auf den Schreibtisch. »Hier, dies Wort! Eine irrsinnige Tippo …«
»Erlauben Sie!«
»Entschuldigen Sie, ich wollte sagen, eine Irrsinnige hat hier Tippographie geschrieben.«
Wieder brandete Gelächter auf.
»Was?!«
»Ja, lesen Sie selber! Tippographie, nein, entschuldigen Sie, Typographie, wo ich ganz sicher bin, Topographie diktiert zu haben!« Der junge Mann war jetzt über und über rot geworden; er tupfte mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Ihr Name, bitte!« forderte Frau Hagen kalt.
»Wozu?«
»Ich brauche Ihren Namen und Ihre Abteilung, um das entsprechende Band kontrollieren zu können«, erklärte Frau Hagen in einem Ton, wie ihn vielleicht eine Lehrerin einem geistig zurückgebliebenen Kind gegenüber anwenden würde.
»Aber wozu brauchen Sie das zu kontrollieren, wenn ich Ihnen doch sage …«
»Es ist Vorschrift!«
»Doktor Mayr«, stellte sich der junge Mann unbehaglich vor.
Frau Hagen ließ sich von dem Titel nicht beeindrucken; die meisten Sachbearbeiter in der Schadensabteilung waren ausgebildete Juristen. »Und Sie arbeiten in der Kraftfahrzeug-Schadensabteilung?«
»Ja, das steht doch da!«
Frau Hagen schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln. »Reizend von Ihnen, mich darauf aufmerksam zu machen.« Sie blickte an ihm vorbei in das Sekretariat. »Fräulein Kern, Sie haben diesen Brief geschrieben. Seien Sie doch so freundlich und kommen Sie einmal her.«
Sibylle kam, und ihr Anblick trug dazu bei, Doktor Mayr noch mehr zu verwirren. Sie hatte ein knappes, zweiteiliges Kleidchen an – weißer Faltenrock, Oberteil in einem blau-roten Hahnentrittmuster, dazu Kragen, weiße Manschetten und weiße Blenden aus dem Stoff des Faltenrockes. Diese Aufmachung unterstrich nicht nur ihre blonde Schönheit, sondern ließ sie gleichzeitig sehr anständig und sehr wohlerzogen erscheinen.
Dr. Mayr, den man als Jungen gelehrt hatte, daß es sich nicht gehört, kleine Mädchen zu ärgern, wurde noch unsicherer.
»Fräulein Kern«, forderte Frau Hagen, »natürlich können wir nicht verlangen, daß Sie sich an diesen Brief erinnern, aber vielleicht sagen Sie uns, was die Worte Typographie und Topographie bedeuten?«
»Ja, gerne!« Sibylle entblößte beim Lächeln ihre regelmäßigen, etwas zu kleinen Zähne. »Typographie hat was mit Buchdruckerei zu tun … und Topographie bedeutet so was wie Ortsbeschreibung durch Landvermessung. Im übrigen würde ich nie etwas anderes schreiben, als diktiert worden ist, wenn ich auch nur eine einfache Tippse bin!«
Jubel hallte gegen die schallschluckende Wabendecke des Hauptsekretariats. Die Phonotypistinnen klatschten ihrer kecken Kollegin Beifall. Die picklige kleine Betty Troll kreischte geradezu vor Vergnügen.
Dr. Mayr, Sachbearbeiter in der Kfz-Schadenabteilung, stotterte vor Verwirrung. »Ent … entschuldigen Sie, ich … ich wollte wirklich nicht …«
Sibylle Kern lächelte undurchdringlich.
»Möchten Sie das Band jetzt noch abhören?« fragte die Abteilungsleiterin. »Es ist noch nicht gelöscht.« Sie stand auf und trat an den Stahlschrank, in dem sie die Magazine aufbewahrte.
»Nein, nein, danke!« Dr. Mayr hatte nur noch den einen Wunsch, so schnell wie möglich aus dem Brennpunkt des Interesses zu rücken. »Ich … es hat wohl an mir gelegen … ich muß mich verirrt … ich meine, versprochen haben.«
»Das glaube ich auch, Herr Doktor«, erklärte Frau Hagen mit Bestimmtheit. »Achten Sie bitte in Zukunft darauf, deutlich und fehlerfrei zu diktieren.« Sie kam an den Schreibtisch zurück. »Bitte, Fräulein Kern, schreiben Sie den Brief mit der gewünschten Verbesserung noch einmal ins reine.« Dr. Mayr zugewandt fügte sie hinzu: »Wir schicken ihn dann gleich hinauf. Guten Tag, Herr Doktor.«
Damit war Dr. Mayr entlassen und mußte den Rückweg durch den Saal antreten, der ihm diesmal noch länger erschien als bei seinem Eintritt.
Das Gelächter der Frauen dröhnte ihm noch in den Ohren, als er schon den rettenden Lift erreicht hatte.
Obwohl durch den Zwischenfall Zeit verloren war, hatte er die allgemeine Stimmung doch ungemein gehoben. Alle, selbst Alma Möhner, die abgesägte Sekretärin, hatten es genossen; denn die zukünftigen jungen Chefs waren ihr ein noch größerer Dorn im Auge als die Abteilungsleiterin.
Auch die anderen Frauen neigten dazu, sich von den Männern, für die sie arbeiteten, beeindrucken zu lassen. Die Chefs erschienen ihnen als entfernte Wesen, die, wenn sie gelegentlich zur Erde herabstiegen, den Status quo gewöhnlich unheilvoll durcheinanderbrachten. Ein junger Mann wie Dr. Mayr, mit wenig Autorität im Rücken, bot ihnen, wenn er sich in ihr Schußfeld wagte, eine willkommene Zielscheibe.
Frau Hagen wußte das. Sie verstand auch, daß ihre Schützlinge hin und wieder Dampf ablassen mußten, und hatte ihnen deshalb die Gelegenheit gegeben.
Wenn es immer wieder passiert, daß eine Phonotypistin mitten im Diktat zu hören bekommt: »Ach, entschuldigen Sie, ich vergaß … von diesem Brief brauche ich vier Kopien, Fräulein!« – von undeutlichem Gemurmel und falsch konstruierten Sätzen einmal ganz abgesehen –, dann sammeln sich im Lauf der Zeit schon einige Aggressionen an.
So wurde noch nach Feierabend, als sich die Gruppe der jungen, ledigen und durch keine Haushaltspflichten gebundenen Phonotypistinnen aus dem Hauptsekretariat in der Schenke von »Feinkost-Käfer« zusammenfand, von nichts anderem als diesem erhebenden Zwischenfall geredet.
Sibylle hatte telefonisch in dem Feinschmecker-Restaurant einen großen Tisch bestellt. Ihr Eintritt in das Sekretärinnen-Kolleg war es ja, der gefeiert werden sollte. Wie eine Schar zwitschernder Schwalben ließen sich die jungen Damen auf den Bänken und Stühlen nieder. Sibylle, die Heldin des Tages, spendierte einen Cocktail für jede. Betty Troll, die Jüngste, überreichte ihr im Namen der Kolleginnen einen prächtigen Blumenstrauß. Man ließ sie hochleben, aber dann wandte sich das Gespräch wieder dem Ereignis des Tages zu.