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Der Astronaut Kallistus Urian überlebt eine Katastrophe an Bord des Raumschiffes Infinity, von der unklar ist, wer oder was sie verursacht hat. An Bord fand man Spuren totaler Verwüstung, offenbar nach einem Überlebenskampf. Man will herausfinden, ob ihn Schuld am Tod seiner Crew trifft, denn er schweigt beharrlich. Mit allen Mitteln versucht die NASA, ihn zum Reden zu bringen und bedient sich dabei auch einer verführerischen Frau. Bald steht für Dr. Cory Abel nicht nur ihr Leben auf dem Spiel, sondern die Existenz der gesamten Menschheit...
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Seitenzahl: 284
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S. Pomej
Switch
Einer unter Milliarden
Wie öfters nach dem Erwachen wusste sie nicht, ob der lebhafte Traum nun zu Ende ist, weitergeht oder erst beginnt. Das diffuse Gefühl wich erst, als sie ihren gelenkigen Körper streckte und mit beiden Füßen den kalten Boden ihres winzigen Appartements berührte, doch zwölf Quadratmeter reichten für eine Person. Und als sie aufstand, versank ihr Bett im Boden, was den Raum noch optisch vergrößerte. Sobald sie zu ihrer Nasszelle schritt, erwärmten sich die Bodenfliesen auf Körpertemperatur und nahmen ihre Lieblingsfarbe Türkis an. Ihre Lebensgeister erwachten und schon genoss sie das in großen Tropfen auf sie herabregnende Warmwasser, sowie die aus hunderten Düsen hervorquellenden Massagewasserstrahlen und den wohltemperierten Trocken-Luftstrom danach. Durch die von der Außenseite her blickdichte Glaswand hatte sie eine herrliche Aussicht auf Devons frühlingshafte Küstenszenerie in Hartland, mit der von den Wellen aufgewirbelten weißen Gischt, die beständig gegen einige Felsen am Strand schlug. Der gesamte Küstenverlauf zeigte sich noch so urwüchsig wie vor über 100 Jahren, nur der uralte Leuchtturm war natürlich schon längst einem modernen Energiemast gewichen, welcher aber dessen Aussehen imitierte, um die Schönheit der Landschaft nicht zu unterbrechen, die keiner technischen Verschönerung bedurfte.
Viel Auswahl bei der Kleidung brauchte Cory nicht, um in den für sie so wichtigen Tag zu starten, denn die angenehme Unterwäsche war - wie alle seit 2087 hergestellten Stoffe unterschiedlichster Gewebearten - schmutzresistent & abriebfest, nahm die Farbe der jeweiligen Stimmung ihres Trägers an und die Strumpfhose aus der Spraydose formte die Beine - obwohl bei ihrem durchtrainierten Körper nicht nötig - und verlieh noch verführerischen Glanz.
Beim kargen Frühstück, bestehend aus einem süßlichen Proteinsirup, den sie aus einem neben der Tür befindlichen, ausziehbaren Plastikschlauch genüsslich in sich einsaugte, überlegte sie sich schon den Ablauf des bevorstehenden Meetings. Das erste ihres beginnenden Berufslebens, um das sie ihre vielen Kollegen wohl sehr beneiden würden, wüssten sie davon. Doch damit zu prahlen lag ihr nicht.
Der erste Auftrag! Noch dazu von so hoher Stelle! Sie konnte ihr Glück kaum fassen und in ihrem Gehirn feuerten die Neuronen Glückshormone wie Lasergeschosse ab. Ausgewählt aus der akademischen Schicht einer Menschenmasse von circa 14 Milliarden - Tendenz stark steigend seit aus schnellwachsenden Algen und Insekten schmackhafte Nahrung erzeugt werden konnte. Überdies kam das Angebot prompt kurz nachdem sie ihren Doktortitel auf ihrem implantierten Mikrochip gespeichert hatte. Während sie daran dachte, stand sie bereits aufgeregt in ihrem Metallic-Kostüm, das sie mittels Farbtaste ihres Computers daheim marineblau eingefärbt hatte - ebenso wie die Schuhe mit acht Zentimeter-Blockabsatz, an der Rampe zum Einstieg in die Personenkapseln der Submare-Bahn. Diese ermöglichte ein schnelles Reisen unter dem Atlantik. Gepäck brauchte sie keines, denn die Fahrt im knapp bemessenen Kokon in einer Lichtfaserkabel-Leitung dauerte nur knapp 45 Minuten mit Höchstgeschwindigkeit, ohne lästiges Verkehrschaos, wie es oberirdisch noch vor 100 Jahren üblich war.
Etwas aufgeregt legte sie sich in den Kokon hinein. Bevor sich der Deckel mit dem noch dunklen Monitor der Kapsel schloss, konnte sie in dessen Spiegelung noch einmal ihr Aussehen überprüfen: ein ebenmäßiges Gesicht mit leuchtenden Augen, das von hellen, asymmetrisch gekürzten Haaren umrahmt, den noch ungetrübten Optimismus ihrer 23 Jahre ausstrahlte.
In der sehr bequemen Reise-Kapsel, die mit 2 mal 1,5 mal 1,5 Meter angenehmen Liegekomfort gewährte, liefen zwar die News, doch in der Zeit, in welcher sie wie in einem zwar geräumigen aber doch leicht beklemmend wirkenden Sarg lag, ließ sie all ihr angelesenes Wissen faktisch im Schnelldurchlauf Revue passieren. Sie fühlte sich allen Anforderungen, die auf sie warteten, durchaus gewachsen und ihre Gedanken glitten ab in Tagträume, wo sie ihren Mindestwohnraum verlassen konnte und in ein großes Appartement übersiedeln, mit einem Extra-Raum voll mit schönen Grünpflanzen zur Erholung nach einem harten Arbeitstag.
Aus einem Ausgabe-Schlitz zu ihrer rechten Hand empfing sie ein OK-Plättchen, welches aus einem Obstkonzentrat bestand und alle wichtigen Vitamine und Mineralien enthielt, die ein gesunder Snack bot. Auf der Zunge zerging es langsam und verwöhnte die Geschmackspapillen mit verschiedenen Fruchtaromen, was Cory genoss, während sie weiter tagträumte. Da erweckte doch eine Meldung ihre Aufmerksamkeit: eine amerikanische, puppenhaft wirkende Moderatorin, patriotisch gehüllt in Stars & Stripes, berichtete von dem kürzlich so katastrophal beendeten Raumfahrt-Programm. Hinter ihr erschien ein sehr ramponiertes Wrack, das einmal der Stolz der USA war.
Hm, dachte sie, wie traurig. Aber die Raumfahrt hatte einen so enormen Schub bekommen, dass es absehbar war, wieder einen Rückschlag einstecken zu müssen. Sie verschwendete keine weiteren Gedanken mehr daran, als auch schon das nächste Thema drankam: die bevorstehende US-Präsidentenwahl. Eben wurde der erste Kandidat namens Stetson Wesson präsentiert, ein bulliger Mann, von dem es hieß, er habe sich Ameisenzellen neben seinem Mikrochip in die Stirn implantieren lassen, um kollektiver denken zu können, als auch schon ihre abenteuerliche Unterwasserfahrt zu Ende war, der Kokon auftauchte, in die Ankunftshalle NYC-Central aufstieg und sie aussteigen musste.
Eine fast so puppenhafte Hostess - wie die eben gesehene Moderatorin in Stars & Stripes gehüllt - hieß sie herzlich in New York City willkommen. Nur die blassgraue Hautfarbe deutete darauf hin, dass sie ein Roboter war und sie geleitete Cory mit anmutigen Bewegungen in einen pompösen Wartesaal. Die ganze Architektur schien wohl auf das Beeindrucken der Besucher ausgelegt. Ob Tore oder Fenster oder Stufen: Alles in Übergröße, aber vielleicht erwarteten die Amerikaner auch, dass ihre Bürger demnächst noch an Körpergröße zulegten.
Das persönliche Zusammentreffen mit einem Patienten war selten geworden, man traf sich per Skype in einer verschlüsselten Leitung oder empfing ein Hologramm. Persönlich traf man nur hochgestellte Persönlichkeiten und gefährliche Verbrecher. Z.B. Pranco Schkrelli, der die momentane Weltbevölkerungszahl von 14 Milliarden als zu hoch eingestuft hatte und ad hoc beschloss, sie drastisch zu reduzieren. So gab es also in den USA nach seiner wenig humanen Maßnahme ganze elf Millionen Menschen weniger. Auf ihn wartete ein Prozess, der sicher die Todesstrafe zur Folge haben würde. Mittlerweile wurde sie mit einem Teilchenbeschleuniger ausgeführt und das Gehirn des Delinquenten wurde ins NdM (Netz des Menschheitswissen) zur allgemeinen Studienmöglichkeit eingespeist.
Hoffentlich ist es nicht dieser Irre, dachte Cory insgeheim, mit so einem Massenmörder spräche ich ungern, obwohl es vom psychologischen Standpunkt wohl äußerst interessant wäre, in solch eine abnorme Psyche eintauchen zu dürfen.
„Sie werden schon erwartet!“, riss sie ein Steward in einer roten Uniform mit blauem Käppi aus ihren sorgenvollen Gedanken und geleitete sie vom Wartesaal sofort zur Runway - einem Laufband mit 12 km/h, welches sie zu einem älteren soignierten Herrn mit weißem Bürstenhaarschnitt beförderte, der ihr verhalten zunickte.
„Ich bin Vize-Direktor Seth Carton und heiße Sie willkommen in den USA!“, begrüßte sie der dunkel gekleidete Abgeordnete des US-Kongresses, den sie bisher nur aus den Nachrichten kannte, mit einer Miene, als litte er an chronischer Magenverstimmung und bedurfte selbst medizinischer Hilfe. „Wir haben einen Kandidaten für Sie, den Sie einer Untersuchung unterziehen sollen.“
„Wie sind Sie ausgerechnet auf mich gekommen?“, wollte sie wissen, denn es gab eigentlich keinen Mangel an Doktoren der Psychosoziologie. Egal, ob man seinen Abschluss nach einem Fernstudium oder nach dem persönlichen Besuch einer Universität feiern konnte.
„Ihre Doktorarbeit hat Interesse erweckt“, gestand er wie beiläufig. „Traumata-Behebung bei bipolaren Borderlinern. Sehr einprägsam abgefasst und sogar für manche Laien verständlich.“
Wow, dachte sie von sich eingenommen, da komme ich wohl gleich mit einem psychisch angeschlagenen Regierungsmitglied zusammen. Stolz schritt sie neben Mr. Carton die langen menschenleeren Gänge entlang bis zu einem geräumigen Personenlift, der sie einige Stockwerke in die Tiefe brachte. Es entging ihr nicht, wie er sie aus dem Augenwinkel diskret musterte. Beim Aussteigen nickte er ihr freundlich zu und ging ihr voran. Wenige Meter später hielt er an und gab seinen Fingerabdruck in das Display einer Türe, die sich sofort unter lautem, abgehackten Sirenenton öffnete. Mindestens einen Meter dick zeigte diese Tresortüre, der offensichtlich nichts und niemand entkommen konnte, dass sie wohl etwas sehr Wertvolles oder auch Gefährliches von der Außenwelt abriegelt. Oder gar etwas sehr Abartiges?
Beide traten ein und als sich die Tür hinter ihnen innerhalb von fünf Sekunden wieder schloss, hörte auch die durchdringende Tonfolge auf.
„Was können Sie mir über den Patienten sagen?“ Diese Frage ließ sie so professionell klingen, als wäre er schon der 100. auf ihrer - bislang noch imaginären - Liste.
Carton sah sie an, als hätte sie ihm ein unsittliches Angebot unterbreitet.
„Wir bekommen Informationen von Ihnen, nicht SIE von uns!“, stellte er unmissverständlich klar und ging zu einer Säule im altgriechischen Stil, zwischen deren Kanneluren zwei Displays zur Auswahl standen.
Unwillkürlich fragte sie sich: hält der mich für eine Hellseherin, die schon beim Anblick ihrer Klienten ein bestimmtes Bild von deren Vergangenheit und Zukunft hat?
„Sie als Psychosoziologin mit Schwerpunkt Psychohygiene sollen seinen Geist sezieren, uns widersetzt er sich!“, gab er mit einem leicht erzürnten Unterton zu, denn er gehörte zu jenen, die ungern eine Schwäche eingestanden.
Das konnte Cory leicht erkennen, die an beiden Fakultäten studiert hatte, jedoch der Seelenkunde den Vorzug gab, um Mitmenschen schneller durchschauen zu können, wobei zu dem Zweck oft ein Doktortitel nicht reichte.
Carton tippte schnell auf eins der Displays ein, mit einem flinken Zeigefinger und einem hörbaren Atemzug, als tue er das gar nicht gerne.
Es war die geschichtsträchtige Zahl 1492. Trotz seines schnellen Finger konnte sie die Zahlenfolge klar erkennen und wusste sogleich: es handelte sich um das Datum der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus. Welch lustige Analogie, dachte sie, deutet darauf hin, dass die Inbesitznahme des Kontinents noch immer als Grundstein der neuen Welt gilt.
Das Lernen von Jahreszahlen und des übrigen bisherigen Menschheitswissens blieb auch heute keinem erspart, denn Bestrebungen, Wissensinhalte mittels einer Intelligenz-Injektion zu verabreichen oder der Zufuhr beschrifteten Esspapiers, scheiterten bis dato leider alle kläglich. Doch Cory gehörte zu denen, die gerne, schnell und leicht lernten, beseelt von einer Wissensgier und dem Wunsch, den unergründlichen Dingen ihr Geheimnis zu entlocken.
„Mr. Carton! Es würde schneller zum Ergebnis führen, wenn ich seine Akte einsehen-“
„Unterzeichnen Sie die Einverständniserklärung!“, wies er sie an, ohne weiter auf ihren Einwand einzugehen, und legte ihr einen Ausdruck vor, den er sich aus einer ausfahrbaren Konsole in der Säule auswerfen ließ. „Sie wissen schon: Dass Sie oder Ihre Angehörigen die US-Regierung nicht verklagen, um bei Ihrem Todesfall im Safe-Zimmer Regressansprüche zu stellen!“
Sie stutzte, denn etwas auf Briefpapier zu unterschreiben geschah äußerst selten und hieß, dass es im Zentralcomputer nicht aufscheinen musste, was ihr Misstrauen weckte. Außerdem prangte auf dem Briefkopf das Logo der NASA.
Aus der Brusttasche seines dunklen Anzuges holte Carton geschäftig einen goldenen Stift und reichte ihn ihr überaus freundlich. „Hier bitte, Dr. Abel!“
Kurz überflog sie die Zeilen. Das hieß also 15 Minuten Ausgeliefertsein. Einem ihr Unbekannten, der für die NASA arbeitete, mit zweifelhaftem Ruf noch dazu.
„NOCH können Sie absagen!“, erinnerte Sie Carton, als hätte er ihre Gedanken gerade erraten und als könne sie es ab einem gewissen Punkt keinesfalls mehr.
„Nein-nein! Ich stelle mich jedweder Herausforderung“, beeilte sie sich ihm zu versichern und unterschrieb schwungvoll.
„Gut so!“, lobte er sie schnell. „Denn so eine einmalige Chance bekommen nicht viele Ihrer Kollegen schon zu Berufsbeginn!“ Mit einer schnellen Bewegung riss er ihr das Papier aus der Hand, steckte seinen Stift wieder in seinen Anzug ein und lächelte triumphierend, so als hätte er sie gerade übervorteilt.
Noch bevor sie das dumpfe Gefühl des Überrumpelt-worden-seins befiel, hob sich schon die Türe neben der Säule zu einer grell erleuchteten Zehn-Quadratmeter-Zelle, in der ein weiß gekleideter Mann apathisch auf einem von zwei einander gegenüberstehenden, eingebauten Stahlstühlen saß.
Ohne zu zögern trat sie ein und hinter ihr glitt die Tür donnernd herab und verschloss den Raum fugenlos. Ein leises Summen ertönte, als die Wände zu vibrieren begannen. Wie weiche Knetmasse, von unsichtbaren Händen durchgewalkt, vermittelten sie völlige Privatheit. Diese wabernden Wände sollten Abhörung verhindern und wirkten wie Störfunk, auch bei innerhalb der Räume angewandter Technik wie Cellphone, Datenbrille, Armband-Computer, etc. Bestens geeignet für intime Gespräche, bereits erfunden, als es noch die räumliche Psychologie als Wahlfach an der Uni gab. Nur sie und er im Safe-Zimmer durch totale Isolation geschützt.
Sie stand da und bemerkte zuerst, dass auch die Farbgebung ihres Metallic-Kostüms verschwunden war und stand daher in tristem Grau vor … ein ungutes Gefühl durchströmte sie, als sie erkannte, um wen es sich handelte: Den Überlebenden einer Katastrophe.
Kallistus ‚Kall‘ Urian, zehn Jahre älter als sie und von der Körperverfassung sichtlich stark und zäh. Einer der zehn tapferen Astronauten, die mit der Infinity in den Exoraum eingedrungen waren. Auf dem - angeblich kürzesten - Weg zum Andromedanebel, dem fernsten Objekt, das regelmäßig mit bloßem Auge gesehen werden kann. Eine zeitübergreifende Mission, das hieß, dass es zu Lebzeiten der Raumfahrer keine geplante Rückkehr gab. Alle sollten einen Exoplaneten besiedeln und den Fortbestand der Menschheit fernab der Milchstraße garantieren, wo bisher noch kein Mensch gewesen war, und dort einen Außenposten der USA errichten.
Mit dem Exoraum gab es so gut wie keine praktische Erfahrung; kein Wurmloch, sondern ein Raum innerhalb der dunklen Materie. Die Menschheit hatte in den letzten 30 Jahren einen enormen Entwicklungssprung vollzogen. Viele hatten vor diesem Schritt gewarnt, doch die US-Regierung setzte sich letztlich durch und gab grünes Licht für das größte und gefährlichste Projekt in der Geschichte der Raumfahrt bisher: Das Eindringen in den Exoraum, den es bis dahin nur in der Theorie gab und von dem man annahm, dass dort ähnliche Naturgesetze wie im bereits erforschten Weltraum galten. Leider schien es einen großen Unterschied zwischen Theorie und Praxis zu geben. Die Infinity kehrte zurück zur Erde, nach nur einem Jahr und alle bis auf Urian waren tot.
Woran sie gestorben waren, erfuhr die Welt nicht. Wegen nationaler Sicherheitsbedenken. Sogleich gab es natürlich Spekulationen und es war durchgesickert, dass neun von der Mannschaft einen schrecklichen Tod erleiden mussten. Und, dass Urian daran beteiligt gewesen sein könnte. Gerüchte kamen schnell auf, er hätte definitiv damit zu tun, er hätte den Tod seines Teams verursacht, sei wahnsinnig geworden und hatte sie alle getötet! Und nun saß er da in einem weißen Overall; das dunkle Haar, besonders an den Seiten sehr kurz geschnitten, betonte sein eckiges Gesicht, in dem die Augen dominierten. Diese schwarzen Augen wirkten beunruhigend auf jeden Betrachter, als hätten sie schon alles gesehen und seien nun einem normalen Leben für immer verschlossen.
So saß er teilnahmslos da und starrte ins Leere. Sein markantes Gesicht wie gemeißelt, seine Miene schien ihr leicht verächtlich, das konnte aber auch nur ihr subjektives Empfinden ihm gegenüber sein, das hieß, den wenigen Informationen über ihn, die Medien dem interessierten Volk so preisgeben durften.
Außer den Medienberichten über die spektakuläre Mission wusste sie praktisch nichts über ihn. Ihr erster Eindruck war: oh Mann, das wird ein harter Brocken! Normalerweise verlief eine derartige Sitzung so, dass man davor wichtige Informationen über den Patienten bekam: welche Erbschäden schon vor der Geburt repariert wurden, wie er sozialisiert war, welche Kinderstube er genossen hatte, usw. Doch in ihrem Fall wusste sie außer den beunruhigenden Gerüchten nur, dass er ein Astronaut war, der erfolgreich ein beinhartes, monatelanges Training hinter sich gebracht hatte, und in mindestens zwei Fachgebieten Experte sein musste.
Das war ziemlich wenig und er wirkte absolut nicht so, als ob er in der Laune wäre, ihr irgendwelche Auskünfte über sich und sein bisheriges Wirken zu erteilen. Ganz zu schweigen von einem Geständnis oder Einsicht in seine instabile Psyche, wobei letztere bei Patienten ohnehin nicht vorausgesetzt werden konnte. Die meisten hielten sich für gesund und die anderen für krank.
Langsam kam sie näher und setzte sich vor ihn hin. Ihre Knie zitterten etwas und sie versuchte sich zu konzentrieren. Er wirkte etwas älter als seine 33 Jahre, was aber auch an den Anstrengungen seiner Trainingseinheiten und dem Einsatz selbst liegen mochte. Die Distanz zwischen den beiden betrug eineinhalb Meter. Nicht sicher, ob er sediert war, streckte sie eine Hand nach ihm aus und winkte kurz vor seinen Augen herum, sodass er im Falle von Blindheit den leichten Luftstrom fühlen musste, oder den Geruch ihrer Haut. Keine Reaktion! Kein Augenzwinkern, kein Zucken, nichts! Sie wagte natürlich nicht, ihn anzufassen. Erstens weil das zwischen Arzt und Patient in so einem Fall nicht üblich war, und zweitens hielt sie ihn für nicht ungefährlich. Also lehnte sie sich zurück und versuchte sich entspannt um den Ansatz von einem normalen Gespräch zu bemühen. Die ersten Minuten waren schon vergangen und sie musste nun etwas sagen.
„Es tut mir leid, was mit Ihrem Team geschehen ist, Mr. Urian.“ Cory beobachtete ihn sehr aufmerksam.
Keine Reaktion, vereiste Mimik, sein Blick ging durch sie hindurch. Aber besser, er bleibt ruhig, dachte sie nervös, als er stürzt sich auf mich und- sie vertrieb den negativen Gedanken an mögliche Handgreiflichkeiten sofort wieder.
„Ich werde Sie nichts fragen, sondern einfach von mir erzählen!“, versprach sie und hoffte so, sein Vertrauen gewinnen zu können. „Mein Name ist Dr. Cory Abel und ich-“
Ein leises Knirschen wurde hörbar, sie stockte, waren das seine Zähne? Äußerlich konnte man seinen Kiefern keine Bewegung, die zur geräuschvollen Reibung der Kauflächen führt, ansehen.
„Leiden Sie an Bruxismus?“
Keine Antwort, das Knirschen allerdings erstarb. Mit 33 war Urian am Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit, die Hände ruhten unverkrampft auf seinen Oberschenkeln und es schien ihr kurz, als wäre er eine Statue. Kein Lidschlag, kein Heben des Brustkorbes, keine Mimik, kein Zucken der Gliedmaßen.
„Ähem!“, machte sie und wurde zusehends unsicherer, hatte auch den Faden verloren, was der gegebenen prekären Situation und ihrer Nervosität beim ersten Mal geschuldet war.
„Äh- ich habe bisher vor allem theoretische Erfahrungen gesammelt und darf nun einem so berühmten Patienten wie Ihnen jede Hilfe, die er braucht, zukommen lassen“, setzte sie holprig fort, bemühte sich um seine Sympathie.
Alles, was sie in den Jahren zuvor an einer renommierten Universität gelernt hatte, war in dem Moment wie weggewischt. Auch ihr Doktortitel half ihr hier nicht weiter. Warum hatten sie nicht einen Psychiater geordert, der zusätzlich etwas von Raumfahrt verstand? Man hatte sie nicht geholt, weil man von ihrer Abschlussarbeit beeindruckt war, wie Carton gesagt hatte, oder weil sie die erste im Alphabet war, sondern offensichtlich nur, weil sie jung und hübsch mit ihren Pheromonen den Delinquenten aus der Reserve locken sollte.
So eine Frechheit, ärgerte sie sich, auf die Rolle eines Lockvogels reduziert zu sein, ist blanker Sexismus.
Hatte man sie extra deswegen geholt? Weil sie vor ihm das verführerische Lustobjekt geben konnte? Haben die Verantwortlichen sich erhofft, dass er aus sich herausgeht und sich auf sie wirft? Oder, dass er in der Hoffnung auf einen zweiten Besuch von ihr plötzlich Kooperationswillen zeigt und in Plauderlaune kommt?
Während sie noch auf ihn einredete, erkannte sie wie langsam die Zeit verging, wenn man nicht wusste, was man sagen sollte und einem Menschen gegenübersaß, dem man nicht trauen konnte.
Und so hob sich die Türe, nachdem sie ihm sogar noch von ihren Haustieren als Kind erzählt hatte - ein Hamster namens Frank und ein Goldfisch namens Sunny -, sie stand auf und ging ein paar Schritte rückwärts, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren und ihm nicht den Rücken zuzudrehen. Erst als die Tür wieder hinuntergedonnert war, wandte sie sich um und blickte Carton ins interessierte Gesicht.
„Hat er mit Ihnen gesprochen?“
„Nein!“, sagte sie merkbar enttäuscht. Es war ihre Sache nicht, sich zu verstellen, auch wenn sie sich Vorteile davon erhoffen konnte.
„Das dachte ich mir schon“, frohlockte er regelrecht, worauf sie sich über die spontane Antwort ärgerte. Es wäre wesentlich diplomatischer von ihr gewesen, ihn darüber im Unklaren zu lassen.
„Nun brauchen wir nur noch weitere 15 Minuten Ihrer Zeit, um den Bericht darüber zu schreiben!“, sagte er und führte sie in eine ganz kleine Kammer, in der ein uralter Computer stand.
Fragend sah sie ihn an.
„Mit der höchsten künstlichen Intelligenz kommen SIE nicht zusammen!“, sagte er überheblich und verzog seine schmalen Lippen zu einem kurzen Lächeln. „Das ist die älteste. Funktioniert noch ganz altmodisch mit dem Tippen ihrer Finger auf eine reale Tastatur, anstatt virtueller oder per Diktat. Ist doch eine nette Abwechslung.“
Damit fiel die Tür hinter ihr zu und sie setzte sich auf den Drehstuhl aus einer früheren Epoche und ließ ihre Hände langsam auf die Tastatur niedersinken.
Normalerweise hätte sie nun schreiben müssen:
Patient verhält sich nicht kooperativ und verweigert jede Dialogbereitschaft, versinkt in totaler innerer Blockade. Entspannungsdrogen empfehlenswert, danach ein weiterer sozialer Kontakt mit einfühlender Gesprächstherapie möglich.
Das wäre passend und angebracht gewesen. Schon wollte sie die vorgefasste Expertise hinschreiben. Allerdings entschied sie sich in dem Moment, in dem ihre Fingerspitzen die Tastatur berührten, spontan anders, als sie sich die vorangegangene prekäre Situation in Erinnerung rief: als Köder missbraucht, um die niedersten Instinkte eines Gestörten zu stimulieren und dank dem Zufall seines Desinteresses überlebt! Die kalte Wut kochte in ihr hoch. Zudem ärgerte sie sich über diese herablassende Art, mit der sie dieser Regierungsschnösel behandelt hatte…
Die Gedanken in ihrem Gehirn tanzten Tango.
Denen schreib ich jetzt etwas Pfiffiges! Ihr werdet euch noch wundern, versprach sie sich und ihre Finger glitten furios ganz wie von selbst über die veraltete Tastatur und formten mit jedem leisen Klicken die Buchstaben zu ziemlich aussagekräftigen Sätzen:
Mein erster Eindruck: hier sitzt eine gequälte Kreatur, deren Trotz übermächtig wurde, als man sie mit allen Mitteln zu brechen versuchte. Auf seine toten Kameradinnen und Kameraden angesprochen, zeigte er kein Zeichen von Trauer, sondern starrte weiter in die Irre. Mir schien, als stelle er sich seine gescheiterte Mission noch einmal vor seinem geistigen Auge vor und suchte verzweifelt nach einer Lösung für das Unabänderliche. Als ich ihn mit dem Satz ‚Ihre Mission kann man nicht als von Erfolg gekrönt bezeichnen.‘ provozierte, zuckte er mit einem Mundwinkel. - Das hätte ich zu ihm sagen sollen, fiel ihr leider zu spät ein, aber egal. Keinen Gedanken an Vergangenes verschwenden, solange man mit Konzentration auf die Gegenwart die Zukunft bestimmen kann.
Nun schrieb sie einfach weiter in der eingeschlagenen Richtung, entweder die Überwacher enttarnten ihre Lüge und sie enttarnte damit die Abhörsicherheit des Safe-Zimmers als Mythos oder man ging ihr auf den Leim: Er schien meinen Geruch wahrzunehmen, denn seine Nasenflügel bebten leicht. - Das hätte ich besser beschreiben sollen, aber es wäre falsch zurückzusetzen, denn alles, was ich schon eingetippt habe, bleibt sowieso erhalten und es würde einen schlechten Eindruck machen, wenn ich nachträglich etwas verändere, überlegte sie, während sie weiter wild ein von der Realität abweichendes Märchen in die Tasten einhämmerte:
Seine Pupillen erschienen mir geweitet, allerdings kam ich bei näherer Betrachtung zum Schluss, dass er einfach eine schwarz Iris hat. Seine Augen schienen mich zu durchbohren, als wolle er mir nonverbal etwas Außergewöhnliches mitteilen. Nach meiner Meinung muss er damit etwas gesehen haben, das über den normalen Menschenverstand hinausgeht und sich mit Worten nicht beschreiben lässt. Das Ergebnis ist sichtbare Sprachlosigkeit und ein durch Verachtung geprägter Gesichtsausdruck. Eine längere einfühlsame Gesprächs-Therapie könnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit leichte Abhilfe schaffen und ihn wieder in die menschliche Gesellschaft integrierbar machen. Auch die Möglichkeit eines weiteren beruflichen Einsatzes stünde dann wieder im Raum. Keine Option ist weitere soziale Deprivation (Isolationshaft), da sie eine völlige Introversion zur Folge hätte und eine Kommunikation über sein erlebtes Trauma auch zu einem späteren Zeitpunkt völlig unmöglich macht.
Zufrieden, ja sogar ein wenig stolz auf den aufgebrachten, an Frechheit grenzenden Mut betrachtete sie ihr getipptes Werk am Bildschirm des alten Computers, sich durchaus dessen bewusst, dass sie stellenweise zwar ziemlich dick aufgetragen hatte, aber damit jedenfalls mehr Eindruck als mit bloßen Fakten hinterließ.
So, das hat gesessen, freute sie sich diebisch, eure Psycho-Sachverständige lässt schön grüßen, ihr hinterlistigen Schlaumeier, und sich nicht unterkriegen. Ha, entweder sie akzeptieren es oder ich verliere den Job sowieso, noch bevor ich ihn richtig antreten konnte. Aber was soll es, Niederlagen gehören zum Leben, heutzutage genauso wie in grauer Vorzeit. Es gibt eben Dinge, die sich nicht ändern, auch wenn unsere Gesellschaft immer hochtechnisierter wird…
Als sie aus dem Raum heraustrat, empfing sie der ebenfalls dunkel gekleidete Minister of Defense und Direktor der NASA, Dr. Jeremiah Garner, den sie bereits aus ihren Recherchen über die aktuelle US-Regierung im Netz kannte - ein Mann mit harten Gesichtszügen und einer prägnanten, großen Nase, was ungewöhnlich war, denn jeder konnte solche Makel leicht abschaffen lassen - und setzte ein kurzes anerkennendes Lächeln auf.
„Gratuliere, Sie haben den Job, Dr. Abel!“, ließ er mit knarziger Stimme verlauten.
Mühsam konnte sie ihre Verwunderung verbergen, denn es schien ihr ratsam, eine gewisse Souveränität bezüglich ihrer beruflichen Fähigkeiten auszustrahlen. Wer Schwäche zeigte, galt schnell als unprofessionell - ein berufliches Todesurteil, für das es später keine Revision mehr gab. Wer also Karriere machen wollte, der tat gut daran, sich keine Blöße zu geben und im Notfall zu improvisieren. Das hatte sie eben vor allem aus Wut getan!
„Danke, Dr. Garner! Ich bin sehr zuversichtlich, dass ich bald an ihn herankomme.“
„Nach einigen Fehlgriffen unsererseits, bin ich auch davon überzeugt, dass wir in Ihnen die richtige Person gefunden haben. Können Sie morgen um dieselbe Uhrzeit wiederkommen?“
„Selbstverständlich!“
Seth Carton begleitete sie wieder den Weg, den er mit ihr hergekommen war, zurück und fragte dabei wie beiläufig: „Sie haben sicher einen Freund, den Sie schon lagen kennen?“
Ein kurzes Lächeln huschte über ihr hübsches Gesicht, nicht weil es der Gedanke an ihren privaten Lichtblick erhellte, sondern, weil sie natürlich genau wusste, dass sie ausgiebig durchleuchtet worden war von Leuten, die das wirklich beherrschten, und ihre oftmaligen Kontakte mit ihrem Liebling nicht unbemerkt geblieben sein konnten. „Sicher, ich kenne ihn schon seit fünf Jahren.“
„Also Ihre Jugendliebe!“
Bestimmt hat er das exakte Datum vorher feststellen lassen, dachte sie, bevor sie hinzufügte: „Wir haben uns beim Zivilprojekt kennengelernt, das er zu dieser Zeit geleitet hat. Dabei entdeckten wir viele Gemeinsamkeiten.“
„Richtig, in Europa ist es ja üblich, bei Erreichen der Volljährigkeit ein Projekt zum Wohle der Allgemeinheit zu absolvieren“, fiel ihm ein.
„Oh ja, das wäre hier in den Vereinigten Staaten von Amerika doch auch keine schlechte Idee, meinen Sie nicht, Mr. Carton?“, regte sie in Anspielung auf diesbezügliche Unterschiede zwischen den Kontinenten an.
Kurz sah er sie irritiert über diese Suggestivfrage von der Seite her kritisch an, ging allerdings nicht darauf ein und riet ihr eindringlich: „Es versteht sich von selbst, dass Sie über Ihre Tätigkeit mit dem Patienten keinesfalls mit ihm sprechen dürfen.“
Es entging ihr nicht, wie er dabei das Wort ‚keinesfalls‘ aussprach und ihr dabei einen Blick zuwarf, wie weiland die Medusa ihren Opfern kurz vor deren Versteinerung.
„Selbstverständlich! Und ich kann Sie beruhigen: ich rede auch nicht im Schlaf!“
Diese kleine Frechheit verschlug ihm offenbar die Sprache, denn er blieb nur stumm an der Gangway stehen und blickte ihr noch einige Sekunden nach.
Nichts bleibt verborgen
Zurück in Hartland verließ Cory die Kapsel und wollte so schnell wie möglich heim, um nicht von Nachbarn gesehen zu werden, in ihrem trostlos grauen Kostüm, dem die Farbe verlorengegangen war. Doch die sehr auf ihre Außenwirkung bedachte Frau aus Block D16 erwischte sie und lächelte gekünstelt. Zum dritten Mal hatte sie in ihrem Gesicht eine Änderung vornehmen lassen, doch der arrogante Ausdruck darauf ließ keinen Zweifel daran, wer sie war: die eingebildete Tratschtante des ganzen Landstrichs.
„Nanu, Dr. Abel!“, begrüßte sie Cory, die sich nicht wunderte, dass sie schon von ihrem neu erworbenen Doktortitel wusste, denn Mageny Malox arbeitete in der Datenzentrale und bewohnte ein sehr komfortables 90 m2-Appartement mit ihrer Familie, von der sich fast alle genauso eingebildet zeigten.
„Hallo, Mrs. Malox!“, grüßte Cory und hob den Blick zu ihr hoch, denn die Nachbarin schwebte aufrechtstehend einen halben Meter über dem Boden; um ihre Taille schon den neuen leise summenden Hover-Gürtel, der ihr dieses Kunststück ermöglichte und wie kunstvoll ausgestanztes Aluminium aussah.
„Was für eine wunderbare Idee, einmal auf die Farbgebung zu verzichten, das muss ich auch einmal probieren“, machte sie ihr sogar ein Kompliment und sah dabei an sich herab, so als gefiele ihr das kirschrote Mantelkleid, das sie momentan trug, gar nicht mehr.
„Tja, ich dachte, so kann man auch auffallen“, begründete sie ihren modischen Fauxpas, da sie unsicher war, ob Malox Kompliment nicht Sarkasmus sein sollte.
„Sehr richtig!“, stimmte ihr Mageny zu und ließ gleich einen Schwall von Worten auf Cory los: „Meine kleine Tochter Magneta fragte mich, warum Roboter graue Hautfarbe haben müssen, um nicht mit Menschen verwechselt zu werden. Man sollte ihrer Meinung nach Roboter und Menschen gleichbehandeln! Ach, diese Kinder! Welch abstruse Gedankenwelt sich in den kleinen Köpfen verbirgt. Und außerdem ist der Recycle-3D-Drucker gestört, wo ich mir gerade auch so hübsche Schuhe drucken lassen wollte, wie Sie sie tragen.“
„Oh, das ist schade, aber Sie brauchen, wie ich sehe, ja nicht mehr zu gehen und um Störungen kommen wir in unserer hochtechnisierten Welt nicht herum.“
„Und das empfinde ich als eine große Frechheit, sogar als anachronistische Zumutung, als unserer Zeit unwürdig“, beschwerte sich Mrs. Malox mit einer bösen Miene, die allerdings ob ihres Eingriffes nicht die kleinste Falte auf ihr Antlitz warf. „Ich denke, dass solche lästigen Pannen im Jahr 2123 einfach nicht mehr vorkommen dürfen. Wo kommen wir denn dahin, wenn solche selbstverständlichen Kleinigkeiten schon nicht mehr klaglos klappen.“
Wahrscheinlich hätte sie noch eine Weile auf Cory eingeredet, doch ein Nachbar erregte ihre Aufmerksamkeit, als er mit seinem neuen Flycar neben ihnen landete. Als er ausstieg, wandte sie sich ihm zu und schwebte langsam von Cory weg.
Erleichtert strebte diese in ihre kleine Wohneinheit - und da lauerte er schon wieder einmal auf sie: ihr ganz persönlicher Trollsker!
Wie eine Spinne in der oberen linken Ecke hockend, begann er in gespenstischer Weise zu einem ansehnlichen nackten Mann zu morphen, welcher heruntersprang und breiteinig vor ihr stand. Mit dieser Mischung aus Troll und Stalker hatte sie seit dem letzten Semester Probleme, was nahelegte, dass es sich bei dem Verursacher um einen ehemaligen, abgewiesenen Kommilitonen handeln konnte. Manche Männer konnten eine Abfuhr - auch eine höfliche - nicht verkraften und bekamen die absonderlichsten Ideen. Ein grotesker Avatar, der in Form eines comicartigen Hologramms in unregelmäßigen Abständen auftauchte, kaum angekommen anzüglich zu sprechen begann und dann bald verschwand.
Noch bevor er seine komischen Lippen öffnete, sagte sie seufzend: „Oh nein, nicht schon wieder!“
Auf der anderen Seite des Atlantiks führten Seth Carton und Dr. Jeremiah Garner in dessen feudalem Büro einen pikanten Dialog.
„Wenn sie heimkommt, wird sie bestimmt Sex mit ihrem Freund haben!“, prophezeite Carton.
„In der Lebensphase ist das erwartbar, die Frage ist nur, verrät sie ihm etwas oder nicht?“, überlegte Garner.
„Hm, sie schien mir professionell genug, um nicht in eine Falle zu tappen.“ Carton stand am Panoramafenster und genoss die Aussicht auf unzählige Wolkenkratzer, in allen architektonischen Ausprägungen.
Garner lehnte sich in seinem bequemen Stuhl etwas zurück, worauf aus den seitlichen Armstützen zwei dreifingrige Hände herauswuchsen, die ihm sanft die Schläfen massierten, und fragte: „Hat sie außer ihm noch jemanden?“
„Nein, auch während ihrer Studienzeit war sie ihm treu. Ganz anders als ihre glücklose Vorgängerin, die sogar mit Professoren rege Sexbeziehungen unterhielt, um immer die Bestnote zu ergattern.“
„Ach jaaa“, seufzte Garner in Erinnerung an diese, wobei seine knarzige Stimme sogar einen weicheren Ton annahm, „die hat sogar mit mir heftig geflirtet und mich schwer in Versuchung geführt. Eigentlich schade um sie.“
Verwundert wandte sich Carton zu ihm um: „Aber Herr Direktor! Denken Sie nicht mehr an die andere. Wir haben die richtige Wahl getroffen. Die entzückende Dr. Abel hat eine so unterkühlte Art, die unser Problemkind erst so richtig heiß und gesprächig machen wird. Glauben Sie mir.“
„Abwarten!“
„Was willst du von mir?“, herrschte Cory ihren unerwünschten Besucher an. „Gib dich zu erkennen oder-“
„Cory-Schaatz“, begann der Trollsker zu wispern und ließ dabei seine Kinnlade nach ganz unten fallen, wie eine Schlange, die sich beim Verschlingen ihrer Beute zuerst den Kiefer ausrenken muss, um sie hernach als Ganzes verschlucken zu können.
„Hau ab, du störst!“
„Du warst in Amerika!“ Sein Unterkiefer schnappte wieder zurück und der Gesichtsausdruck schien kritisch. „Zuerst dachte ich, du flüchtest vor mir, aber dann sah ich, dass du nur einen Job antrittst.“
„Ich trete dir gleich in den Hintern, du Nacktmull! Verschwinde endlich!“ Wild fuchtelte sie mit den Händen durch seinen virtuellen Körper, was ihn mit einem leisen Pfiff zum Platzen brachte, beinahe so wie ein Luftballon, dem die Luft ausging.
Es war ihr allerdings bekannt, dass es auch Holos gab, die eine feste Form annehmen und den Grad der Belästigung entsprechend steigern konnten. Dazu bedurfte es allerdings mehr technischen Könnens ihrer Verursacher.
Enerviert setzte sie sich auf den vom Boden ausfahrbaren Sessel und linkte sich ins virtuelle PC-Programm ein. Ein Anruf kam herein, ihr Freund Jeb schien laut Display schon öfters versucht zu haben, sie zu erreichen, also nahm sie die Skype-Verbindung mit ihm auf: „Jeb, hattest du Sehnsucht nach mir?“
„Immer! Hast du schon einen Job, Cory?“
„Ich bin nie arbeitslos gewesen! Es gibt immer etwas zu tun!“ Den Besuch bei ihrem ersten Patienten hätte sie auch ohne Warnung von Carton geheim gehalten.
„Verstehe!“
Ehe er weitersprechen konnte, berichtete sie ihm von ihrer Nachbarin: „Übrigens, unsere umtriebige Frau Weiß-und-sieht-alles hat sich schon den Hover-Gürtel umgeschnallt und flattert schnatternd damit noch neugieriger in der Nachbarschaft herum! Ich frage mich, womit sie ihn sich wohl verdient hat.“
„Eine abgehobene Erfindung für eine abgehobene Person“, meinte er lächelnd. „Würde dir aber auch stehen.“
Seine lustigen Augen blitzten bei der Bemerkung auf und verliehen seinem spitzbübischen Gesicht Charme.
„Auf so nützliche Accessoires verlässt die sich nicht, sondern hat schon wieder in ihrer Visage herumschnitzen lassen.“
„Und wie sieht sie jetzt aus?“, wollte er wissen.
„So als kämpfte die obere mit der unteren Gesichtspartie um die Vorherrschaft, hätte allerdings gerade einen Waffenstillstand vereinbart“, scherzte sie.
„Grotesk! Versprich mir, dass du so etwas unterlässt“, forderte er und ließ eine virtuelle Hand in Richtung ihres Kopfes aus dem PC wachsen.
„Lass das!“, sie beugte sich zurück und die Hand verschwand. „Wer weiß, was die Zeit mit sich bringt. Sie kann so gnadenlos sein.“
„Oh ja! Schon vernommen, was eurer Musterschülerin Letaly Forbes passiert ist?“, brachte er die Unterhaltung zu einem neuen Thema.
„Der Jahrgangsbesten? Nein, was denn?“
„Sie hat keinen Unterkörper mehr!“
„Wirklich? Wie ist denn das passiert?“, wollte sie erfahren.
„Den Unfallbericht konnte ich nicht einsehen, es hieß nur, eine zu schnell schließende Tür habe sie eingeklemmt.“
„Huch“, machte sie entsetzt und dachte spontan an die Tür zu Urians Zelle, verscheuchte den Gedanken aber sofort wieder. Doch sie musste erst noch lernen, Berufliches strikt von Privatem zu trennen, um daheim vollends entspannen zu können.
„Cory! Warst du mit ihr so eng befreundet?“
„Nein, aber die Arme hat nun ein körperliches Problem, welches zwar ihre Karriere nicht behindert, aber ihre Familienplanung beschränkt.“
„Stimmt, sie kann sich nur mehr klonen lassen, um ihr Erbgut weiterzugeben“, sagte er und machte nun auch ein betroffenes Gesicht.
„Hmmm“, machte sie nachdenklich, obwohl das Thema Weitervermehrung für sie noch nicht zur Debatte stand.
Es entstand eine kurze Pause, in der er sie begehrlich musterte oder vielmehr sie mit seinen Augen auszog. Die Tatsache, dass er nicht mit ihr zusammenwohnen konnte, ließ ihre körperliche Liebe frisch bleiben.
„Was gibt’s sonst noch?“, fragte sie, während sie - um sich von der verstörenden Nachricht abzulenken - noch in einem Seitenfenster ihre Post kontrollierte. Außer einigen Werbemails und Superfood-Proben fiel ihr nichts Interessantes auf.
„Ich hatte Sorge, weil du laut Tracer 15 Minuten tot warst! Hattest du auch einen Unfall?“, erkundigte er sich echt besorgt.
„Ich war nur kurz offline“, erklärte sie erstaunt darüber, dass er den Tracer wegen ihrer Absenz bemüht hatte. Solch ein Gerät war nicht jedem zugänglich.
„Nein, es gab 15 Minuten keine Herztöne! Warst du in irgendwelchen Schwierigkeiten?“
„Vergiss es!“, hauchte sie und zwinkerte ihm aufreizend zu, während sie sich langsam aus ihrer Kleidung schlängelte, dabei jedoch nicht vergaß, den Privat-Button am PC zu aktivieren, der einen unerwünschten Zugriff Außenstehender abwehrte.
Natürlich wusste er, was das bedeutete und entledigte sich ebenfalls seines praktischen Overalls und ließ wie zufällig seinen trainierten Bizeps kurz spielen, um sie von seiner Fitness zu überzeugen. Danach wiederholte er den Trick mit der virtuellen Hand, die ihr Haar berührte.
Aufgekratzt griff sie sich flink ihren in ihrer Reichweite befindlichen Cybersexanzug und schlüpfte mit lasziven Bewegungen in das hautenge, glänzende Gewand mit den zahlreichen vibrierenden Sensoren, die ein gefühlsechtes Sexerlebnis garantierten, hinein. Nichts gegen den herkömmlichen, natürlichen Sex, aber solch eine elektronische Erfindung bot ebenfalls ihre reizvollen Akzente zum Austausch körperlicher Erfahrungen.
Wie elektrisiert tat er es ihr gleich und begann das erotische Spiel, welches Liebenden auch aus der Entfernung den körperlichen Kontakt sehr schmackhaft machen konnte.
Während des innigen intimen Erlebnisses mit Jeb dachte sie andauernd an Urian - aber Gedanken durften ja frei sein - und erlebte sogar in kurzer Zeit zwei Orgasmen. Ihr lustvolles Stöhnen trieb Jeb, der keine Ahnung hatte, durch wen er in ihren Gedanken ersetzt wurde, zu einem ausgiebigen, sehr einfallsreichen Nachspiel an, was beiden ausgesprochen guttat.
„Cory, du bist einmalig!“, stöhnte Jeb dabei und ließ die Erregung langsam abklingen, worauf der Kontakt abbrach.
Daraufhin schälte sie sich langsam aus dem Anzug und begab sich in ihre kleine Nasszelle, wo sie sich die Haare mit dem gut nach Jasmin duftendem Wachstumsshampoo Fast-Grow wusch. Je nach Einwirkzeit in Minuten konnte man bis morgen die Zentimeter des Längenwachstums bestimmen. Ganze 20 Minuten ließ sie dem Shampoo Zeit, ihre Mähne aus der Kopfhaut zu locken, während der sie sich ihre Nägel manikürte. Nach einer Dusche mit weichem, lauwarmen Wasser überlegte sie noch, welche Farbe sie ihrem Kostüm morgen geben sollte, entschloss sich jedoch dann, das hellgrüne Stoffkostüm anzuziehen, da es im Safe-Zimmer die Farbe behalten würde, und legte sich in ihr Bett, wobei an Schlaf nicht zu denken war. Was sollte sie ihren ersten Patienten fragen? Was bedrückt sie? Wollen Sie nicht mit mir reden oder dürfen Sie es nicht? Können Sie Ihre Erlebnisse nicht in Worte fassen? Glauben Sie nicht, dass es Sie erleichtern würde, wenn Sie sich bei mir aussprechen? Wie kann ich Ihnen helfen?