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"Winter auf Sylt - es ist kurz vor Weihnachten und der Lockdown hat die Inselbewohner fest im Griff. Seit der Verhaftung ihres Bruders führt Inge das "Blanke Hans" allein, doch dann wird sie Zeuge einer merkwürdigen Unterhaltung. Kurz darauf bricht Bo Knudsen vor dem Hotel tot zusammen. Inge ahnt, dass mehr hinter diesem Todesfall steckt und ermittelt auf eigene Faust. Bald schon kommt sie einem Geheimnis auf die Spur, das nicht nur sie in Gefahr bringt. Ein Inselkrimi mit viel Regionalkolorit und jede Menge Spannung
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Seitenzahl: 295
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Sylter Jöölboom
Arne-Christian Bornemann
Arne-Christian Bornemann, studierter Diplom-Kaufmann, eigentlich kein Mann der vielen Worte, überraschte sich und sein Umfeld mit seinem Debütkrimi Sylter Biike. Entstanden ist er, als er ein Jahr lang in Hörnum lebte. Nun folgte der zweite Syltkrimi Sylter Jöölboom. Seine Liebe zu Sylt wurde ihm förmlich in die Wiege gelegt, schon seit seiner frühen Kindheit ist er mehrmals im Jahr auf der Nordseeinsel unterwegs und beobachtet scharfsinnig. Er kennt die Insel, ihre Bewohner, Besucher und Eigenheiten gut.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Arne-Christian Bornemann
Sylter Jöölboom
Ein Insel-Krimi
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2022 Arne-Christian Bornemann
Umschlaggestaltung: Marina Rudolph
Lektorat, Korrektorat: Renate Jung
Buchsatz und Layout: Verena Blumenfeld – Veanyu Buchdesign
Verlag & Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany
ISBN (Paperback): 978-3-347-70546-3
ISBN (ebook): 978-3-347-70547-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für meine Familie, meine Kinder, die ich über alles liebe und meine geliebte Frau, die mich in Allem bestärkt, immer wieder auf’s Neue inspiriert und ermutigt meine Träume zu leben…
Prolog
Sylt, 31. Oktober 2020, Samhain
Nebelschwaden verhüllten die Auffahrt zum Hof der Knudsens. Wie so oft befiel Jule Knudsen ein beklemmendes Gefühl, wenn sie zu ihrem Elternhaus zurückkehrte, ohne genau zu wissen, was genau diese Beklemmung auslöste.
Auch jetzt, als sie ihren kleinen Wagen durch das Hoftor lenkte und vor den Stallungen parkte, krampfte sich ihr Magen wie von einer unsichtbaren Faust gepackt zusammen.
Lag es an den Ereignissen des vergangenen Jahres? Ihre Schwester Meret Knudsen war im Februar des letzten Jahres nach langer Abwesenheit auf die Insel zurückgekehrt und kurz darauf ermordet worden, so zumindest der Verdacht. Die Gerichtsverhandlung gegen den Hauptverdächtigen Jannis Petersen, den Eigentümer des »Blanke Hans«, stand noch aus.
Es hieß, er habe Meret aus dem Fenster seines Hotels gestoßen, weil sie gedroht hatte, Straftaten zu enthüllen, die Jannis begangen hatte.
Jule war wie ihre Geschwister Bo und Ole und Oles Frau als Zeugin geladen, doch wegen der seit dem Frühjahr weltweit grassierenden Corona-Pandemie war der Prozessbeginn immer wieder verschoben worden.
Jule schaltete den Motor aus und zog den Schlüssel ab. Sie schaute auf das Haus und seufzte tief.Nur im Erdgeschoss brannte Licht.
Oben, im ersten Stock, hatte sich einst das Zimmer befunden, das sie sich mit Meret geteilt hatte.
Jule schloss kurz die Augen, eine Erinnerung tauchte auf. Sie war noch klein gewesen, erst vier oder fünf, ein Sommertag.
»Schau, Jule, was ich gefunden habe!« Meret kam die Treppen nach oben gestürmt wie ein Wirbelwind. Auf ihrer Hand saß ein hellblauer Moorfrosch.
»Oh, kann ich ihn anfassen?«
»Na, wenn du dich traust!« Meret hielt ihr das Tier hin. »Du musst ihn küssen. Damit er sich in einen Prinzen verwandelt.« Ruckartig bewegte sie die Hand mit dem Frosch Jule entgegen, die kreischend zurücksprang.
Ein Lächeln huschte über Jules Gesicht bei dieser Erinnerung, gefolgt von einer Träne, die über ihre Wange rollte.
Als ihre Schwester älter geworden war, waren die Dinge zwischen ihnen beiden schwieriger geworden. Meret hatte sich verändert, sich mehr und mehr zurückgezogen und schließlich die Insel verlassen.
Entschlossen wischte Jule die Träne weg und stieg aus. Sie ging auf das Haus zu und klopfte.
Tine öffnete. Ihr Haar war zerzaust, sie wirkte müde, soweit Jule das im schwachen Widerschein des Flurlichts erkennen konnte.
»Jule?«, fragte Tine erstaunt. »Was machst du denn hier?«
»Dir auch einen schönen Abend«, sagte Jule. »Ich hatte Bo eine Nachricht geschrieben. Ich brauche ein paar Sachen vom Dachboden. Ist es okay, wenn ich hochgehe und nachsehe?«
Tine starrte sie eine Weile ausdruckslos an, zuckte dann mit den Schultern und trat beiseite.
»Bo ist nicht da«, sagte sie und ging zurück in die Küche. Der Geruch von geschmortem Fleisch lag in der Luft.
Als Jule an der Küche vorbeiging, sah sie die Kinder am Küchentisch sitzen. Sie winkte ihnen kurz zu und stieg dann die Treppe hoch nach oben.
Tine und Bo waren seit Jahren damit beschäftigt, das Haus zu renovieren und umzubauen, doch so wirklich schienen sie damit nicht voranzukommen. Noch immer hing im Flur die verblasste Blumentapete, die Jule noch aus ihrer Kindheit kannte. Unwillkürlich berührte sie sie mit den Fingerspitzen.
Mit dem Stab angelte Jule nach dem Haken, um den Verschlag des Dachbodens zu öffnen, und stieg dann vorsichtig die ächzende Leiter nach oben.
Staub empfing sie. Sie streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus, tastete sich durch Spinnweben hindurch und fand ihn schließlich.
Das fahle Licht einer einzelnen Glühbirne erleuchtete den niedrigen Dachboden. Es roch muffig hier oben. Überall standen Kisten herum, Zeugnisse und Überreste lang vergangener Zeiten, Spielzeug, Kleidung, Werkzeug, Bücher und Koffer.
Jule seufzte. Sie war auf der Suche nach Büchern, die sie während der wenigen Semester im Fernstudium Psychologie angeschafft hatte, bevor sie die Boutique für Kinderkleidung eröffnet hatte. Irgendwo hier mussten sie doch sein.
Sie wühlte sich durch die Kisten und Kartons und stieß auf so manches, das sie schon längst verloren geglaubt hatte. Da war das aufziehbare Blechspielzeug, mit dem Bo im Hof gespielt hatte, ein Affe auf einem Fahrrad. Die Farbe war längst verblasst, das Blech verrostet, doch es ließ sich noch immer aufziehen.
Da war das Match Box-Auto, ein roter 911er Porsche, mit dem Ole gespielt hatte, ein wenig verbeult, aber immer noch ein Schmuckstück.
In einer Kiste entdeckte sie die Murmeln, mit denen sie oft im Sommer am Strand mit Meret gespielt hatte. Sie hatten sie zur Verzierung für die Sandburgen benutzt, in denen dann ihre Barbiepuppen gewohnt hatten.
Jules Herz wurde schwer, als all diese Erinnerungen auf sie einströmten. Sie musste schlucken – in ihrem Hals steckte mit einem Mal ein dicker Kloß.
Sie schob einen Ständer mit alten Mänteln beiseite, darunter ein Wintermantel ihrer Mutter, feingewebt, mit echtem Pelz. Ein Hauch ihres schweren, viel zu süßen Parfüms hatte sich über all die Jahre erhalten und stieg Jule in die Nase. Dahinter hing Papas Ausgehmantel, schwarz, aus Wolle. Er hatte ihn nur zu wenigen Gelegenheiten getragen, als Bauer mochte er es lieber praktisch. Nun fraßen die Motten daran.
In einem Karton entdeckte Jule die gewünschten Bücher und stieß auf dem Weg dorthin mit dem Fuß gegen eine Zigarrenschachtel.
Verwundert ging sie in die Hocke. In der Schachtel befanden sich Briefe, in einer krakeligen, hastigen Schrift geschrieben, wie sie für Jugendliche üblich war.
Geliebter Ole,
jede Nacht, bevor ich einschlafe, denke ich an dich. Weißt du, dass wir, egal, wo wir sind, immer den gleichen Mond ansehen? Das tröstet mich. Ich habe so viele Fragen an dich, es gibt so vieles, das ich dir sagen möchte.
Doch dann sind mir die Augenblicke, die wir gemeinsam verbringen, zu kostbar, um sie mit Reden zu verbringen, denn gibt es nichts Wichtigeres zu tun? Und können mir deine Hände, deine Lippen, nicht alles sagen, was mein Herz zu hören sich wünscht?
Nichts würde ich lieber tun, als ein gemeinsames Leben mit dir zu planen, auf dieser kleinen, großen Insel, doch obwohl ich dich jeden Tag sehe, ist dieser Traum so fern wie das Lebenauf einem anderen Planeten, und ich weiß, du gibst mir die Schuld daran.
Das Leben, es ist zerbrechlich, widersinnig, es entzieht sich uns, wann immer wir es zu begreifen versuchen. Ich kam auf diese Insel, um mich selbst zu finden. Stattdessen fand ich dich. Und jetzt weiß ich nicht mehr weiter.
In Liebprozentige Beteiliprozentige Beteili,
Anke
Das Papier des Briefs war vergilbt. Behutsam strich Jule mit den Fingerkuppen darüber. Die Verzweiflung und die Sehnsucht, die Anke Thießen in jenem Sommer empfunden haben musste, waren heute noch spürbar, über all die Jahre hinweg.
Anke war tot, seit über 15 Jahren. Als Touristin auf die Insel gekommen, hatte sie bald eine leidenschaftliche Affäre mit Ole, Jules anderem Bruder, begonnen.
Doch dann war sie eines Morgens tot am Strand gefunden worden, erwürgt. Ihr Mörder war noch nicht gefasst, doch im Zuge der Ermittlungen rund um Merets Tod hatte sich herausgestellt, dass Ole der letzte Mensch gewesen war, mit dem Anke gesehen worden war, was den Verdacht auf ihn gelenkt hatte, doch am Ende war ihm nichts nachzuweisen gewesen.
Ole war auf freiem Fuß, doch etwas war an ihm haften geblieben, wie es eben immer war bei diesen Dingen.
Nicht, dass das Ole viel ausmachte. Längst war er schon wieder damit beschäftigt, neue Geschäftsmöglichkeiten auszuloten, »Business Opportunities«, wie er sie nannte. Die Vergangenheit hatte er abgestreift wie eine alte Haut, Jule dagegen wurde weiter von den Gespenstern der Vergangenheit verfolgt.
Sie legte den Brief wieder zurück in die Zigarrenschachtel. Einem inneren Impuls folgend beschloss sie, die Schachtel mitzunehmen, um sie später Inge zu zeigen. Möglicherweise konnte sie ja etwas damit anfangen.
Sie schnappte sich die Bücher, sah sich noch einmal kurz auf dem Dachboden um und ging wieder nach unten. Für heute hatten sie genug Geister heimgesucht.
Die Dunkelheit hatte die Insel bereits fest umschlungen, als Jule ihr Auto wieder auf die Straße lenkte. Nur wenige andere Autos waren unterwegs, die meisten Sylter zogen sich dieser Tage schon früh in ihre Häuser zurück, und nur wenige Touristen kamen auf die Insel, da die Corona-Infektionszahlen seit einigen Wochen wieder bedrohlich angestiegen waren.
Die Nebelschwaden hatten sich aufgelöst, ein seltsam bläulich gefärbter Mond stand am Himmel, der alles in ein unwirkliches Licht tauchte.
Jule fröstelte unwillkürlich.
Als Kind hatte sie die Geistergeschichten geliebt, die ihr Vater zu erzählen wusste: altes Friesengarn von verschollenen Seemännern, trauernden Witwen und übernatürlichen Kreaturen.
Doch je älter sie geworden war, umso größer war die Zahl der Menschen geworden, die sie nun ebenfalls in der Zwischenwelt wusste: Anke, ihre Eltern, Meret. Der Tod war nichts Abstraktes mehr, keine Fantasie, er war Wirklichkeit, hatte ein Gesicht. Und seither jagte es ihr jedes Mal einen Schauder über den Rücken, auch nur daran zu denken, dass die Tore zwischen dieser und der Welt der Toten möglicherweise nicht immer so fest verschlossen waren, wie die Lebenden gerne glaubten.
Heute zum Beispiel, am letzten Tag des Oktobers, dem Tag vor Allerheiligen, hieß es, sei der Schleier zwischen dem Diesseits und dem Jenseits besonders dünn. Die Toten, die mit dieser Welt noch etwas zu klären hatten, kehrten wieder, so wollte es das alte Brauchtum.
Ihre Großmutter etwa hatte in jener Nacht stets eine Kerze und etwas zu essen vor die Tür gestellt. »Für die Toten«, hatte sie gesagt und dabei geheimnisvoll gelächelt, ein alter Aberglaube, doch ungebrochen und nur von einem dünnen Firnis Christentum überlagert.
»So viele Tote«, murmelte Jule nachdenklich und drehte das Radio lauter, in dem gerade ein Nachrichtensprecher die jüngsten Inzidenzzahlen verkündete. »So viele Tote.«
Plötzlich entdeckte sie die Frau am Straßenrand und stieß einen lauten Schrei aus. Die Frau schien aus dem Nichts zu kommen, mitten auf der Landstraße nach Morsum, wo der blaue Mond die Reetdächer der alten Friesenhöfe beschien.
Jule riss das Lenkrad herum, um ihr auszuweichen, verlor die Kontrolle über ihr Fahrzeug und fuhr in den Straßengraben, der glücklicherweise an dieser Stelle nicht besonders tief war.
Benommen und mit rasendem Herzen blickte sie sich um.
Die Frau war verschwunden, die Straße völlig leer.
Jule keuchte. Sie kannte diese Frau, und doch war es vollkommen unmöglich, dass Jule sie gesehen hatte. Ihre Sinne oder das Mondlicht mussten ihr einen Streich gespielt haben.
Die Frau am Straßenrand war Anke Thießen gewesen, die ehemalige Freundin ihres Bruders Ole, ermordet nicht weit von hier an einem Strand, vor über 15 Jahren.
Der Mord an ihr war bis heute ungesühnt.
1. Ein schneller Tod
Hörnum, 04. Dezember 2020
Der Duft von Gänsebraten und Rotkohl waberte durch den von vielen kleinen LED-Lichtern erhellten Gastraum des »Blanke Hans«, in dem seit dem 1. November keine Gäste mehr zum Abendessen eingekehrt waren.
Nur Ole Knudsen und sein neuer Geschäftspartner Christian Barne und Miroslav Zecic, ein Handwerker aus der Umgebung, saßen an der Theke, rauchten und tranken Schnaps aus einer nahegelegenen Brennerei und waren in eine Unterhaltung vertieft, die nur hin und wieder davon unterbrochen wurde, dass sich einer der drei tief über die Theke beugte und durch einen zu einem Röllchen gerollten 50-Euro-Schein eine kleine Line Koks direkt von der Theke sniefte.
Bevor Jannis verhaftet worden war, hatte Ole ihn erpresst und so eine 20-prozentige Beteiligung an dem bislang gut laufenden Restaurant mit Hotel ergaunert. Nun führte er sich als Chef auf und schien zu glauben, er könne sich in »seinem Blanke Hans« alles erlauben. Doch bevor diese Beteiligung etwas hatte abwerfen können, war ihm Corona dazwischengekommen, und jegliche Planung war unmöglich geworden.
»Ich sage dir, sobald sie die Schotten wieder aufmachen, geht es hier richtig rund. Die Immobilienpreise werden dann durch die Decke gehen, vor allem hier auf Sylt«, erklärte Ole gerade.
Barne maß ihn mit einem abschätzigen Blick. »Du meinst, nachdem hier über Monate keiner auch nur einen Fuß auf die Insel setzen durfte, kaufen die Leute dann ausgerechnet hier Immobilien, Ole? Und was, wenn diese Corona-Sache noch Jahre dauert? Die Leute brauchen keine Wohnungen auf Sylt. Woher willst du Geld bekommen? Sag es mir, mein Freund!«
Obwohl Ole im Augenblick vermutlich nur wenige Immobiliengeschäfte abwickelte, trug er einen schicken Anzug. Nur der Drei-Tage-Bart ließ erahnen, dass auch er es in letzter Zeit nicht mit allem so genau nahm. Sein Haar war kurz geschnitten und brachte seine stahlblauen Augen zum Leuchten. Augen, die bei Inge immer noch ein Frösteln auslösten.
Inge Petersen beobachtete die Gruppe durch das Fenster in der Schwingtür, die zur Küche führte.
Sie ließ Ole nur selten aus den Augen, wenn er im »Blanke Hans« auftauchte, und seine Begleiter noch viel weniger. Christian Barne stammte nicht von der Insel. Er war verhältnismäßig klein, hatte eine Glatze und kleidete sich betont lässig, setzte dabei aber auf Statussymbole wie eine protzige Uhr oder teure Polohemden. Er war ein Angeber, Aufschneider und ein Aufreißer, und Inge hegte vom ersten Augenblick an eine tiefe Abneigung gegen ihn. Bislang war sie noch nicht dahintergekommen, welche Art von Geschäften Ole und ihn verbanden.
Miroslav Zecic war ein hochgewachsener, schlaksiger Kerl mit schulterlangem schwarzem Haar und wildem Blick. Sein slawischer Akzent war unverkennbar, und Inge mochte es überhaupt nicht, wie er Lisbeth, ihre junge Auszubildende, bei jeder Gelegenheit ansah. Ole beschäftigte ihn mit Reparaturen im »Blanke Hans«, doch Inge war sich ziemlich sicher, dass die beiden nicht nur deshalb ständig zusammensteckten.
Seit der Verhaftung ihres Bruders führte Inge das »Blanke Hans«. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass ausgerechnet sie, die ehemalige Kriminalkommissarin, zu einer Wirtin auf Sylt werden würde, und das auch noch nach ihrer Pensionierung, doch das Leben schlug eben manchmal unerwartete Kapriolen.
Von Anfang März bis jetzt hatte die Corona-Pandemie der Gastronomie- und Hotellerie-Branche kaum Zeit zum Verschnaufen gelassen, von wenigen Wochen im Sommer unter strengen Auflagen einmal abgesehen.
Seit Anfang November befand sich das gesamte Land wieder im Lockdown, der ursprünglich nur auf wenige Wochen begrenzt sein sollte; doch alle hatten geahnt, dass er sich vermutlich bis weit nach Weihnachten, möglicherweise bis ins kommende Frühjahr ausweiten würde.
Die Suche nach einem Impfstoff kam zwar voran, doch nicht schnell genug, um den galoppierenden Infektionszahlen Einhalt zu gebieten, und auf den Intensivstationen herrschte inzwischen der Ausnahmezustand. Aus diesem Grund waren alle touristischen Übernachtungen verboten, Fremde und auch Zweitwohnungsbesitzer durften nicht nach Sylt einreisen.
Auch Restaurants waren geschlossen, einzig Essen zum Mitnehmen war erlaubt, und so hatte sich auch das »Blanke Hans« in diesem Jahr darauf verlegt, »Gans to go« anzubieten, um wenigstens ein bisschen Umsatz zu machen, denn die von der Regierung gepriesenen »Corona-Hilfen« waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein oder ließen auf sich warten.
Vermutlich war das auch der Grund für die griesgrämige Stimmung bei Ole und seinen Geschäftspartnern.
»Ich traue diesen Typen einfach nicht«, murmelte Inge vor sich hin, wischte sich die Hände an der Schürze ab und wandte sich wieder der Anrichte zu. Lisbeth war gerade in die Küche gekommen, um ihr zu helfen, und begann, die Salatgarnitur vorzubereiten.
»Was sagen Sie?«, doch Inge winkte ab.
Für den heutigen Abend gab es nur wenige Vorbestellungen, aber Inge war froh, überhaupt etwas zu tun zu haben. Manche Tage fühlten sich endlos lang an ohne eine sinnvolle Beschäftigung, vor allem jetzt, in der kalten, dunklen Jahreszeit.
Von Woche zu Woche hofften sie, wie so viele andere Gastwirte und Hoteliers auf Sylt und anderswo, auf ein Sinken der Fallzahlen, doch die Realität sah anders aus. Vermutlich würde das Weihnachtsfest in diesem Jahr sehr klein ausfallen, und auch auf die Weihnachtseinkäufe musste verzichtet werden.
Nicht, dass es Inge viel ausmachte, allein zu sein. Seit dem Tod ihres Ehemanns Malte vor vielen Jahren hatte sie sich daran gewöhnt, mit ihren Gedanken nur für sich zu sein, sie mit niemandem zu teilen, doch sie fühlte sich auf der Insel mehr und mehr eingesperrt. Kein Kino, keine Bar, kein Theater hatte geöffnet und bot Abwechslung. Hinzu kamen die ständigen Auseinandersetzungen mit Ole, dem sie nicht über den Weg traute.
Sie war damals die verantwortliche Ermittlerin im Fall Anke Thießen gewesen, und es wurmte sie, dass dieser Mord bis heute nicht aufgeklärt war, obwohl sie Ole für mehr als verdächtig hielt.
Dafür saß ihr Bruder nun im Gefängnis, für den Mord an Oles Schwester Meret. Das alles war zum Verrücktwerden, weshalb Inge so häufig wie nur möglich zu langen Spaziergängen aufbrach, ganz allein, um wieder frei atmen zu können und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.
»Nichts«, sagte Inge und zwang sich zu einem Lächeln. »Wie weit bist du mit den Salaten? Die Kunden sind bestimmt gleich da. Ich nehme nur rasch die Klöße aus dem Wasser.«
Sie ging zu dem großen Topf, fischte jeweils zwei dampfende Klöße heraus und gab sie in die dafür bereitgestellten Styroporverpackungen. Dann zog sie den großen Bräter aus dem Backofen und verteilte möglichst gleich große Portionen Gans mit viel Soße.
Lisbeth garnierte das Ganze mit Salat, und Inge stellte die Packungen in die Durchreiche zum Gastraum.
Lisbeth hatte im Herbst ihren Job hier im »Blanke Hans« begonnen, trotz der Pandemie. An manchen Tagen tat sie Inge leid, denn einen normalen Betrieb hatten die letzten Wochen nun wirklich nicht zugelassen, doch auf der anderen Seite war es vermutlich immer noch besser, als einfach nichts zu tun. Eine Menge junger Leute saßen all diese Monate auf der Wartebank und mussten Ausbildung, Studium, Praktika und Reisen verschieben.
Inge wusste selbst nicht, was sie davon halten sollte. Wie konnte ein einziges Virus die ganze Welt so aus dem Takt bringen? Andererseits hatte sie erfahren, dass eine Kollegin aus ihrem alten Revier in Nordrhein-Westfalen an der Krankheit verstorben war.
Die Tür schwang auf und Ole kam herein.
»Bekommen wir hier heute noch etwas zu essen?« Er stierte Inge und Lisbeth an. »Wir verhungern da draußen.«
Inge stemmte die Hände in die Hüften. »Nun, wenn wir die zahlenden Gäste versorgt haben, können wir uns gerne um euch kümmern. Was darf es denn sein, die Herren?« Ihr spöttischer Unterton war nicht zu überhören.
Ole blinzelte. Dann reckte er kampfeslustig das Kinn.
»Wie wäre es zur Abwechslung mal mit etwas Leckerem und nicht mit dem üblichen Einheitsfraß?«
Mit diesen Worten verließ er die Küche wieder.
Inge starrte ihm wütend hinterher. »Oh, wenn ich könnte, ich würde diesen Kerl achtkant hinauswerfen. Aber ich kann leider nicht …«
Wegen der Pandemie fehlte es ihr an Geld, um Ole auszubezahlen.
Mehr als einmal hatte sie in den letzten Wochen darüber nachgedacht, das »Blanke Hans« zu verkaufen und einfach zu verschwinden; immerhin bezog sie eine gute Pension. Doch erstens war es mitten in der Pandemie gar nicht so einfach, einen Käufer für ein Hotel zu finden, und zweitens wüsste sie gar nicht, wohin.
Sylt war ihre Heimat, ihr Zuhause, auch wenn sie sich das lange Zeit nicht hatte eingestehen wollen. Außerdem war Inge nicht mehr die Jüngste. In wenigen Wochen stand ihr 66. Geburtstag an. Das war nicht das beste Alter, um an einem fremden Ort noch einmal von vorne anzufangen.
Die Wahrheit war, dass Inge zwar nicht das Alleinsein, wohl aber eine gewisse Form der Einsamkeit fürchtete, die Geister und Schatten, die auf sie zu krochen, sobald das Tagwerk erledigt war.
Also harrte sie aus, wartete ab, auch, weil der Prozess immer wieder verschoben wurde. Dann erst, so versprach sie sich, würde sie eine Entscheidung treffen.
»Dieser ungehobelte Kerl!«, erregte sich Inge. »Sein feiner Zwirn kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein Ganove ist. Das sind die Schlimmsten! Oh, wenn ich nur könnte, wie ich wollte!« Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
Aufgebracht schritt sie zum Fenster und blickte nach draußen zum Parkplatz. Wie erwartet, waren nur wenige Autos zu sehen, unter anderem der Kastenwagen, den sie nun fuhr, Oles Porsche Cayenne, der BMW von diesem Barne und der Lieferwagen, mit dem Miroslav Zecic herumfuhr, den Inge für mindestens ebenso undurchsichtig hielt wie Ole.
Ole stand im Eingangsbereich des Restaurants, sein Gesicht hell erleuchtet. Er hielt sein Handy ans Ohr und rauchte, während er erregt auf- und ab ging.
»Vermutlich macht er gerade jemand anderem das Leben schwer«, seufzte Inge. »Na, dann wollen wir mal. Aber ich kann nicht garantieren, dass ich den Herren nicht in die Suppe spucke.« Sie wandte sich den Töpfen zu.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Ole sich draußen vor der Tür plötzlich mit starrem Gesichtsausdruck an die Brust griff und zu Boden sackte.
Lisbeth, die ebenfalls gerade aus dem Fenster blickte, stieß einen Schrei aus.
Inge stürmte zur Tür, riss sie auf und rannte durch den Gastraum, wo Barne und Zecic sie verwundert anschauten.
Vor der Eingangstür lag Ole, das Gesicht verkrampft, die Lippen blau.
»Schnell«, schrie sie. »Ruft einen Rettungswagen!«
Es war bereits weit nach Mitternacht, als Inge viele Stunden später über die verlassene Landstraße von der Nordseeklinik auf Westerland zurück zum »Blanke Hans« am südwestlichen Zipfel der Insel fuhr. Die Außentemperaturanzeige zeigte Minusgrade an und warnte vor überfrierender Nässe.
Die Straße war verlassen, Inge war tief in ihre Gedanken versunken.
Ohne lange zu überlegen, war sie mit dem Auto dem Krankenwagen gefolgt und hatte von unterwegs aus Jule angerufen, um sie über den Notfall ihres Bruders zu informieren.
Im Krankenhaus hatten sie nicht mehr viel für Ole tun können, sondern nur noch seinen Tod festgestellt. Jule stand unter Schock, und Inge hatte sie nach Hause gebracht. Bo und Tine kümmerten sich um alles Weitere.
»Manchmal kommt der Tod schnell«, murmelte Inge.
»Du klingst wie eine dieser alten Frauen aus den Gruselfilmen«, bemerkte Malte, der auf dem Beifahrersitz erschienen war.
Inges Blick streifte ihn. Aus dem Augenwinkel sah es aus, als säße Malte dort wirklich und leibhaftig, in seinem Tweedjackett und seinen zerbeulten Jeans, genau so, wie er auch im Leben ausgesehen hatte.
Natürlich wusste Inge, dass Malte nicht tatsächlich dort saß. Malte war tot, hatte sich erhängt, vor vielen Jahren, in einem Keller in ihrem Haus in Essen, hatte sie zurückgelassen, ohne irgendeine Erklärung.
Seit seinem Tod hatte sie Zwiegespräche mit ihm geführt, erst nur in ihren Gedanken, später auch laut, und irgendwann war es wie selbstverständlich gewesen, ihn sich auch vorzustellen, wie er neben ihr saß oder lag, im Sessel am Fenster, neben ihr im Auto oder auf den langen Spaziergängen in den Dünen. Auf diese Weise hielt sie die Einsamkeit in Schach, die sie aus den Ecken heraus beschlich.
»Sie sagen, es war ein Herzinfarkt«, sagte Inge. »Aber Ole war doch ein gesunder junger Mann. Wie kann das sein?«
»Nun, du hast doch selbst gesehen, dass er Drogen genommen hat, mit diesem Miroslav«, gab Malte zu bedenken. »Und Kokain und vor allem seine Beimischungen können das Herz schädigen. Jedes Jahr zählt die Drogenstatistik entsprechende Todesfälle.«
Inge lächelte. Die Fantasiegestalt Malte klang manchmal viel zu sehr wie sie selbst, das entging ihrem kritischen Verstand bei aller Selbsttäuschung durchaus nicht, trotzdem hielt sie die Illusion aufrecht. Sie tröstete sie über die Isolation hinweg, die wie ein Abgrund auf sie zuraste, wenn sie sich nicht länger ablenken konnte.
»Ich hoffe, dass die klinische Leichenschau Anhaltspunkte für eine gerichtliche Obduktion ergibt«, sagte Inge. »Denn nur dann können wir auf konkrete Hinweise auf die wirkliche Todesursache hoffen.«
»Schlechtes Koks?« Malte hob die Augenbrauen. »Wen willst du dafür verantwortlich machen? Ein paar Dealer aus Holland? Diesen Barne?«
»Malte, mein Bauch sagt mir ganz deutlich, dass es hier um mehr geht. Überleg doch mal! Es ist noch kein Jahr her, da wurde Meret ermordet, genau an diesem Ort. Und jetzt fällt Ole einfach so tot um, beim Telefonieren? So viele Zufälle kann es doch gar nicht geben.«
»Der Mensch ist besessen davon, nach Mustern zu suchen«, warf Malte ein. Auf einmal hielt er seine Pfeife in der Hand, eben jene, die er abends so gerne vor dem Fernseher geraucht hatte.
Der Duft von Tabak und Vanille erfüllte den kleinen Innenraum des Wagens, und Inge wurde es warm ums Herz.
»Du kannst nichts dagegen tun, Inge, das macht dein Gehirn. Es sucht nach dem Bekannten, nach Zusammenhängen, selbst da, wo es keine gibt.
Ole hat gekokst, getrunken und geraucht. Die Gefahr von Blutgerinnseln ist auch in seinem Alter groß. Die Insel hingegen ist klein, die Anzahl der Orte, an denen er sich während der Pandemie aufhalten konnte, gering. Ein Zufall ist sehr wahrscheinlich. Es gibt keine Anzeichen von Fremdeinwirkung. Wen möchtest du verdächtigen? Mit welchem Motiv?«
»Herrgott, Malte, das alles weiß ich doch noch nicht, ich weiß nur, dass mein Bauch mir mit aller Macht sagt, dass an der Geschichte etwas nicht stimmt. Tagein, tagaus saß Ole mit diesem Miroslav und diesem Barne zusammen. Ich habe mich bei Piet Brons mal über ihn erkundigt. Dieser Barne war vorher Banker, jetzt investiert er in irgendwelche dubiosen Start-Ups, was auch immer das sein soll, und dieser Zecic, das ist ein windiger Hund, der ist alles, aber kein einfacher Handwerker. Vermutlich ist er Oles Dealer, und wenn Ole an dem Koks gestorben ist, ist Miroslav daran schuld. Ob mit Absicht oder aus Versehen, wird sich noch herausstellen«, sagte Inge.
»Und was sollte das Motiv sein, Frau Kommissarin? Ohne Motiv kein Mord, das lernt doch jeder Anfänger.«
»Geld, Malte, das einfachste Motiv der Welt. Gier. Ole hat sich in krumme Geschäfte verwickeln lassen, dieser Barne riecht förmlich danach. Und er sieht nicht aus wie einer, der Rechnungen unbezahlt lässt. Ich habe doch gehört, wie sie ständig über Geld redeten. Ole hat ihm dieses oder jenes versprochen, doch die Pandemie hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Weißt du, wie oft mich Ole in den letzten Wochen wegen Geld bedrängt hat? Ich nehme an, er hat sich bei diesem Barne Geld geliehen und konnte es ihm nicht zurückzahlen, und jetzt hat er eben mit seinem Leben bezahlt.«
»Du klingst wie aus einem schlechten Vorabendkrimi. Deine Motive waren auch schon einmal besser. Bist du dir sicher, dass dir nicht einfach schrecklich langweilig ist und du nun verzweifelt nach jedem Strohhalm greifst, der sich irgendwie ein wenig wie Ablenkung anfühlt?« Malte sah sie mit erhobenen Augenbrauen an.
Inge erwiderte seinen Blick nicht.
»Ich konstruiere keinen Mordfall«, entgegnete sie. »Ich höre auf meinen Ermittlerinstinkt, und der lag noch nie falsch. Ich habe schon die ganze Zeit ein komisches Gefühl bei Ole, wie bei einem Pulverfass, das jederzeit hochgehen kann. Um ehrlich zu sein, habe ich eher damit gerechnet, dass er wieder jemanden umbringt, nicht, dass er das Opfer sein könnte.«
»Du weißt, dass du hier auf sehr unsicherem Boden stehst? Weder ist bewiesen, dass Ole schon einmal jemanden umgebracht hat, noch, dass er jetzt Opfer eines Mordes wurde. Alles, was du hast, sind Vermutungen, meine Liebe, nicht einmal Indizien gibt es. Ich wäre an deiner Stelle vorsichtig …«
Inge ließ Malte oder den Geist auf den Beifahrersitz nicht aussprechen. »Morgen rufe ich Piet an und erzähle ihm von dem Koks. Vielleicht kann er dafür sorgen, dass auf jeden Fall eine gerichtliche Obduktion angeordnet wird.«
»Wegen deines Bauchgefühls, Inge?« Malte riss sie aus ihren Überlegungen.
»Ja, denn damit lag ich bei Meret auch schon richtig. Und was Anke anging, hatte ich auch da den richtigen Riecher, auch wenn es nicht unmittelbar zu einer Verurteilung führte. So ein Unglück, dass Ole jetzt nie wieder dafür zur Rechenschaft gezogen werden kann!« Sie ballte unwillkürlich die rechte Hand.
In der Ferne war der Leuchtturm zu sehen, dessen rotierendes Licht im Minutentakt die Fenster des »Blanke Hans« streifte. Hellweiß kroch es über die Dünen und Felsen der Insel, die von Raureif und Eis bedeckt waren.
Als Inge wieder zum Beifahrersitz hinübersah, war Malte verschwunden.
Kampen, 29. Dezember 1978
Der Sturm heulte wie ein wildes Tier. Die Fensterläden schlugen an die Hauswand, die Kälte kroch durch die Ritzen in das alte Steinhaus.
Immer wieder legte Stine Jansen neues Holz in den Ofen, doch es reichte kaum aus, um die große Stube zu heizen.
Die kleine Bente Jansen lag dick eingepackt in ihrem Bettchen und schlief, und Stine überlegte, ob auch sie diese Nacht lieber in der Stube in der Nähe des Ofens schlafen sollte, denn oben im Schlafzimmer würde sie ganz sicher frieren, vor allem ohne Lars.
Lars. Da war er wieder. Der scharfe, unerträgliche Schmerz, der sich durch ihr Herz bohrte und ihr die Luft zum Atmen nahm.
Lars war tot. Sein toter Körper trieb irgendwo bei Spitzbergen im Eismeer, im endlosen, dunklen Meer. Sein Schiff war gesunken, bereits Anfang November, nur wenige Wochen, nachdem er aufgebrochen war. Es hatte das letzte Mal sein sollen, die letzte Fahrt, der letzte Winter ohne ihn. Jetzt würde er nie mehr zurückkehren. Sie war gerade 20 und schon Witwe.
Ihr Verstand weigerte sich einfach, das Unbegreifliche zu begreifen. Seit sie denken konnte, war sie mit Lars zusammen gewesen, schon als Kinder hatten sie miteinander gespielt, immer hatte festgestanden, dass sie eines Tages heiraten und den Hof seiner Eltern übernehmen würden. Ihr Glück war perfekt gewesen, als die kleine Bente unterwegs gewesen war.
Und nun war Lars tot. Er war tot.
Ein lautes Schluchzen brach aus Stine heraus, und sie schlug sich rasch die Hand vor den Mund.
Wieder schlug ein Fensterladen gegen das Haus, so heftig, dass sie zusammenzuckte. War er wieder da? Langsam stand sie auf und ging zur Haustür, um zum wiederholten Male zu überprüfen, ob sie abgeschlossen war. Sie ertrug den Gedanken nicht, dass er da draußen stand und sie beobachtete. Der Sturm hielt ihn hoffentlich davon ab.
Sie hasste ihn. Nie hätte sie gedacht, dass sie zu einer solchen Gefühlsregung überhaupt imstande war, doch was Wolf Barth in ihr weckte, war genau das: Hass.
Hass und Kummer, diese beiden Gefühle brannten in ihrer Brust, ließen sie nicht schlafen und nachts ruhelos im Haus umherirren.
Sie setzte sich an Bentes Bettchen. Ein Gefühl sanfter Zärtlichkeit durchströmte sie und Tränen traten ihr in die Augen. Bente sah so friedlich aus, wie sie dalag. Sie liebte sie so sehr, und sie sah ihrem Vater so ähnlich. Würde sie sich überhaupt an ihn erinnern können? Wohl nicht. Nun, sie würde ihr alles über ihn erzählen, von seinen roten Haaren, von seinem schiefen Lächeln, von den Dingen, die er gerne getan hatte und davon, wie sehr er seine Tochter geliebt hatte.
Tränen rannen über ihr Gesicht. Stine wischte sie beiseite, ohne sie zu bemerken. Das Weinen war inzwischen ein Teil ihres Alltags geworden.
Der Wind heulte und pfiff.Noch am Vormittag war das Wetter erstaunlich milde gewesen, doch dann war es plötzlich umgeschlagen, und nun fegte ein eisiger Sturm mit Schneefall über die Insel hinweg. Hoffentlich wurde es nicht schlimmer.
Stine schlang ihren Schal enger um ihren Hals und rieb sich die klammen Finger. Wenn doch nur die Angst vor Wolf Barth nicht wäre. Wieso nur ließ dieser Widerling sie nicht einfach in Ruhe? Sie wagte nicht, ihrem Vater zu erzählen, dass ihr Nachbar sie belästigte und ihr nachstellte, denn ihr war die ganze Sache peinlich und unangenehm. Mehr noch: Sie fürchtete sich. Etwas an Wolf Barth, an der Art und Weise, wie er sie anstarrte, war unheimlich.
Sie stieß einen leisen Schrei aus, als es plötzlich an der Tür klopfte. Sie reckte den Kopf und sah nur einen Schatten vor der Tür. Wer mochte das sein? Niemand wagte sich bei diesem Wetter vor die Tür. Sicher war es Wolf Barth.
»Wer ist da?«, rief Stine.
Keine Antwort, stattdessen ein weiteres Klopfen, diesmal nachdrücklicher.
»Wer ist da?«
Langsam erhob sich Stine und ging zur Tür.
»Ich will nur nachsehen, ob es dir gut geht«, hörte sie Wolf Barths dröhnende Stimme.
»Gehen Sie weg!«, rief Stine. »Ich habe es Ihnen oft genug gesagt. Lassen Sie mich in Ruhe! Sonst rufe ich die Polizei!«
Ein Lachen war zu hören, höhnisch und boshaft. »Viel Spaß dabei. Bei diesem Wetter kommen die ganz sicher nicht hier raus. Also, hab dich nicht so, mach die Tür auf! Du bist doch da drin ganz allein!«
»Und wenn schon! Wir brauchen nichts!«
»Was stellst du dich so an? Was bist du so arrogant, du kleines Flittchen? Machst mir erst schöne Augen und bist jetzt schwer zu haben? Dir werde ich es zeigen!«
»Gehen Sie weg!«, schrie Stine. Ihre Stimme überschlug sich. Ihr Herz pochte schneller. Die Angst drohte sie zu überwältigen. Panisch sah sie sich nach etwas um, mit dem sie sich verteidigen konnte, falls Wolf Barth versuchen sollte, ins Haus einzudringen.
Der Schatten vor der Tür verschwand.
Erleichtert atmete Stine auf. »Dieser verdammte Mistkerl!«
Sie ging zurück zu Bente. Das Kind schlief noch immer. Sanft strich sie ihr über die Wange.
»Alles gut, meine Kleine. Der böse Mann ist weg«, flüsterte sie.
Das Klirren von Glas ließ sie zusammenfahren. Das Geräusch kam aus der Küche. Hatte der Sturm einen Baum ins Fenster gejagt?
Stine wandte sich vom Bettchen ab in Richtung Küche. Dann ging alles ganz schnell. Grobe Hände packten sie zugleich am Genick und an der Hüfte und versuchten, sie zu Boden zu drücken.
Stine stieß einen erstickten Schrei aus und versuchte, sich loszureißen. Der Eindringling bekam sie am Rock zu fassen, der Stoff zerriss. Stine rannte los, zurück in die Küche.
Wolf Barth kam ihr hinterher, die Augen wild und weit aufgerissen, die Hände gierig nach ihr ausgestreckt.
»Komm her!«, brüllte er. »Du willst es doch auch! Ich sehe doch, wie du mich ansiehst. Seit dein Mann tot ist, brauchst du es doch, das weiß ich! Du zeigst dich extra am Fenster!«
»Nein!«, kreischte Stine. »Nein!«
Panisch blickte sie sich um. Der Messerblock stand auf der Anrichte, doch Barth versperrte ihr den Weg dorthin. Also blieb ihr nur noch die Flucht, hinaus in den Garten, hinaus in den Sturm.
Sie wirbelte herum und eilte zur Tür. Sie bekam sie nicht gleich auf und fühlte, wie Wolf Barth näherkam. Im letzten Augenblick gelang es ihr, die Tür aufzureißen, und sie rannte hinaus in den Sturm, nur auf Strümpfen.
Eiskristalle peitschten ihr ins Gesicht und machten sie fast blind.
»Komm zurück!«, hörte sie ihn hinter sich brüllen wie einen wilden Stier, doch sie rannte weiter, weiter und weiter. Wenn sie es bis zum Haus ihrer Eltern schaffte, konnte sie die Polizei anrufen.
Bente! Sie hatte das Kind zurückgelassen. Ob er ihr etwas antun würde? Stine blieb stehen und überlegte, ob sie zurückgehen sollte, doch das würde bedeuten, sich ihm auszuliefern.
Die Kälte stach sie, sie fror schon jetzt erbärmlich. Es war, als ob der Wind ihr direkt auf die Knochen blies, er zerrte an ihren Haaren und toste in ihren Ohren.
»Stinchen«, hörte sie da eine Stimme rufen. »Stinchen!«
So hatte Lars sie genannt.