Sylter Sündenfall - Sophie Oliver - E-Book

Sylter Sündenfall E-Book

Sophie Oliver

4,0

Beschreibung

Ein verschollen geglaubtes Meisterwerk eines bayerischen Malerfürsten soll ausgerechnet auf Sylt enthüllt werden. Seine Besitzerin, Henriette Schimmelreiter, ist vor Ort. Dann gibt es einen Mord, einen Diebstahl und einen Skandal und Henriette findet sich an der Seite des nordisch-spröden Detektivs Tehvs Behrens wieder, um hinter das Geheimnis der »Sünde« zu gelangen. Dabei muss sie sich über die feine Sylter Gesellschaft sehr wundern.

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Kurzbeschreibung:

Ein verschollen geglaubtes Meisterwerk eines bayerischen Malerfürsten soll ausge-rechnet auf Sylt enthüllt werden. Seine Besitzerin, Henriette Schimmelreiter, ist vor Ort. Dann gibt es einen Mord, einen Diebstahl und einen Skandal und Henriette findet sich an der Seite des nordisch-spröden Detektivs Tehvs Behrens wieder, um hinter das Geheimnis der »Sünde« zu gelangen. Dabei muss sie sich über die feine Sylter Gesellschaft sehr wundern.

Sophie Oliver

Sylter Sündenfall

Thevs und Schimmelreiter ermitteln

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Sophie Oliver

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Lektorat: Christin Ullmann 

Korrektorat: Tatjana Weichel

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-250-5

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Cover

Kurzbeschreibung

Titelseite

Impressum

Forellenweiher

Wind und Welle

Dissonanz

Frühlingsreigen

Narcissus

Die Sünde

Huldigung an die Malerei

Spazierritt

Herkules und die Hydra

Kämpfende Faune

Der Kampf um die Frau

Das Diner

Tilla Durieux als Circe

Der Wächter des Paradieses

Der Kuss der Sphinx

Sisyphus

Abziehendes Gewitter

Luzifer

Speerschleudernde Amazone

Helena

Salome

Wilde Jagd

Verwundete Amazone

Franz von Stuck (1863-1928)

Geboren im niederbayerischen Tettenweis am 23. Februar 1863, kokettierte der Künstler Franz von Stuck gern mit dem – wahrscheinlich selbst geschaffenen – Mythos, ein derartig glutäugiger, dunkelhaariger, von den Musen geküsster Mann wie er müsse aus der Liaison einer bajuwarischen Frau mit einem römischen Legionär hervorgegangen sein. Also aus der Ahnenreihe einer solchen, womöglich nicht freiwillig eingegangenen Verbindung …

Hochtalentiert und fasziniert vom Leben im München der Jahrhundertwende erfand er sich als wortkargen Künstlerfürst und schuf teilweise skandalöse Bilder voller dunkler Erotik, mystischer Symbolik und einer Schönheit, die keinen Betrachter kaltließ.

Er galt als egozentrisch und ließ sich bereitwillig feiern. Stuck malte nicht nur, er experimentierte mit Fotografie und fertigte Illustrationen und Statuen, vornehmlich aus Bronze. Zusammen mit Frau und Tochter residierte er in der Villa Stuck auf der Münchner Prinzregentenstraße, einem Prachtbau, der nach seinen eigenen Entwürfen entstand und heute sein Museum beherbergt.

Zusammen mit Wilhelm Trübner gründete er 1892 die Münchner Sezession. Als Professor für Kunst an der Akademie in München unterrichtete er ab 1895 – unter anderem Paul Klee und Wassily Kandinsky. 1906 wurde er in den persönlichen Adelsstand erhoben.

Die Leute huldigten ihm freimütig – zu seinem fünfzigsten Geburtstag gab es einen bombastischen Fackelzug zu seiner Residenz. Der Meister erhielt den Mythos um seine Person, den er selbst geschaffen hatte, bis zum Schluss aufrecht.

Franz von Stuck starb am 30. August 1928 in München.

Seine Werke hängen in Museen auf der ganzen Welt.

Forellenweiher

(Franz von Stuck, 1890, Radierung, 30x25cm, Metropolitan Museum of Modern Art, New York)

Präzise in dem Moment, als das Wasser in ihre Gummistiefel schwappte, erhellte ein Blitz den grauen Nachmittagshimmel, unmittelbar gefolgt von krachendem Donner. Das Gewitter stand direkt über Hettie. Es dauerte ein wenig, bis sich ihre Gänsehaut wieder legte. Sie hasste kalte Füße, nasse kalte Füße noch mehr, und es war sicherlich kein Intelligenzbeweis, dass sie sich während eines Unwetters in einem Bach aufhielt. Aber was getan werden musste, duldete keinerlei Aufschub.

Mit einem gemurmelten »Ist eh schon wurscht« ging sie in die Knie. Dabei schwappte das Wasser über ihre Oberschenkel, doch was machte das noch für einen Unterschied? Nasser als nass war schließlich nicht möglich. Es goss wie aus Kübeln. Mit beiden Händen griff sie beherzt in das Absperrgitter des Bachlaufs. Büschelweise rupfte sie Schlingpflanzen, Laub und Schilf heraus und warf sie ans Ufer, wieder und wieder. So lange, bis das Gitter frei war und das Wasser wieder ungehindert hindurchfließen konnte. In letzter Minute hatte Hettie den Bach vor dem Überlaufen bewahrt. Die Fische würden ihr diesen furchtlosen Einsatz hoffentlich danken. Ein erneuter Blitz rief sie zur Vernunft. Mit schmatzendem Schuhwerk rannte sie über die Wiese, den Hügel hinauf und zur Hintertür des herrschaftlichen Anwesens, welches ihn krönte. Bevor sie hineinging, schlüpfte sie aus ihren Gummistiefeln und kippte das darin befindliche Wasser in einen Geranientopf, der neben dem altmodischen Klingelzug stand. Vor dem Garderobenspiegel packte sie ein kurzer Moment des Grausens. Erst gestern war Hettie beim Friseur gewesen, hatte für Ansatzfarbe, Schneiden und Glattföhnen der Locken einen obszön hohen Geldbetrag bezahlt. Und jetzt sah ihr rotblondes Haar wie ein nasser Topfreiniger aus. Um genau zu sein, fühlte es sich auch so an. Die saftigen Geräusche, die ihre Socken auf dem Fliesenboden machten, ermahnten sie, sich zuerst um größere Probleme wie die völlig durchnässte Kleidung zu kümmern, und erst danach um die Frisur. Beinahe schaffte sie es ins obere Stockwerk, doch ein Knarzen der alten Holzstufen alarmierte Hetties Mutter.

»Henriette!«

Wie kann eine Frau Mitte siebzig während eines Gewitters ein derartig leises Geräusch durch mehrere Wände und Türen hindurch hören?, fragte sie sich entnervt. Einen Moment lang befürchtete Hettie, ihre Mutter würde in Ohnmacht fallen.

»Wie siehst du aus! Vollkommen verdreckt! Nass! Und deine Frisur! Du hattest doch ordentlich geföhnte Haare.«

»Ich musste den Bachlauf frei machen.«

»Das ist Gregors Aufgabe!«

»Der Gärtner hat geregelte Arbeitszeiten, Mutter. Es ist nicht mehr so wie früher, wo man rund um die Uhr Zugriff auf das Dienstpersonal hatte, weißt du? Heute ist Sonntag, da arbeitet der Gregor nicht.«

»Deswegen musst du noch lange nicht …«

»Muss ich wohl. Gregor hätte die Absperrung schon letzte Woche reinigen sollen. Hat er aber nicht gemacht. Und jetzt wäre der Bach beinahe übergelaufen bei dem starken Regen. Dann hätten wir die Forellen von der Wiese aufklauben können. Wäre dir das lieber gewesen?«

»Gute Güte, nein. Selbstverständlich nicht.« Nachdenklich spielte ihre Mutter mit der Perlenkette um ihren Hals. Enerviert wedelte sie mit der Hand. »Gerade wo sich deine Tante für übermorgen angesagt hat. Natürlich mit ihren Enkelkindern, allen fünf! Die werden genug Dreck machen, da brauchen wir nicht auch noch ein Fischsterben. Jetzt bring dich erst einmal in einen ansehnlicheren Zustand, der Tee wird sonst kalt.«

Fünfzehn Minuten und eine heiße Dusche später betrat Hettie in einem knielangen Strickkleid den traditionell möblierten Salon und stellte erfreut fest, dass im Kamin Feuer brannte.

»Besser.« Unter dem kritischen Blick ihrer allzeit eleganten Mutter kam sich Hettie wie eine Achtjährige vor, obwohl sie bereits fünfundvierzig war. Das würde sich nie ändern. Fröstelnd hielt sie ihre Hände über die Flammen.

»Die Eisheiligen bringen immer kaltes Wetter. Besonders schlimm, dieses Jahr.«

»Die sind erst in zwei Wochen, Mama. Es ist einfach nur ein mieser, verregneter April.«

»Na, dann wirst du ja froh sein, wenn du Bayern den Rücken kehren und mich hier allein lassen kannst.«

Amüsiert goss sich Hettie eine Tasse Tee ein. »Du tust so, als würde ich in die Karibik auswandern. Ich fahre nach Sylt, wo es sicher alles andere als tropisch werden wird. Und ich bleibe nur ein paar Tage. Außerdem kommt sowieso Tante Mausi.«

»Gerade da bräuchte ich deine Unterstützung. Die Mausi hat die ganze Rasselbande im Schlepptau, die werden hier alles auf den Kopf stellen!«

»Papa ist auch noch da.«

»Der wohnt aber mittlerweile quasi auf dem Golfplatz.«

»Dann geh halt mit Golf spielen, Mama, meine Güte! Du weißt doch, dass ich das Bild zur Ausstellung bringen muss. Das gebe ich nicht aus der Hand.«

»Ich verstehe nicht, weshalb du so ein Gewese um das Ding machst.«

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich seit zwei Jahren allein für die Ausbildung meiner Kinder aufkomme? Ich weiß, du sprichst nicht gerne über den schnöden Mammon, aber so eine Uni in England ist nicht gerade billig. Und überhaupt fliegt mir das Geld nicht zum Dach rein. Wenn ich das Bild auf der Ausstellung präsentiere, gibt es sicher den ein oder anderen Interessenten und falls nicht – der Vorsitzende der Kunstfreunde Sylt möchte es sicher haben. Der macht ein Kaufangebot nach dem nächsten, obwohl er es noch nicht mal gesehen hat.«

»Du willst es verkaufen?« Nun wirkte ihre Mutter allen Ernstes frappiert.

»Lieber dieses Gemälde als eines aus dem Familienbesitz. Ich nehme an, du hast nichts dagegen, wenn ich es für einen guten Preis abstoße?«

»Natürlich nicht. Es hat keinerlei emotionalen Wert für uns, zumal es doch der Schimmelreiter erstanden hat.« Damit bezog sie sich auf Hetties Mann, Friedrich Schimmelreiter.

»Lass bitte den Fritz aus dem Spiel.«

»Immer noch auf seiner Seite, was? Na, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Finde dich besser endlich damit ab, Henriette. Der kommt nicht wieder. Wobei sein Verschwinden das einzig Anständige ist, was dieser Betrüger jemals für uns getan hat.«

»Mutter!«

»Du musstest ihn ja unbedingt haben, damals. Weil er so ein wilder Kerl war. Ein irrsinniger Aufschneider, mehr steckte nicht dahinter. Wenigstens hat er dir zwei Söhne beschert, besser als nichts …«

Hettie schaltete auf geistigen Durchzug. Wie das täglich grüßende Murmeltier leierte ihre Mutter immer wieder dieselben Tiraden herunter, sobald die Rede auf Friedrich Schimmelreiter kam. Um sich nicht aufzuregen, dachte Hettie lieber an die Insel. Sie würde der Ausstellungseröffnung der Stiftung Kunstfreunde Sylt beiwohnen, viel Fisch essen, die Seeluft genießen und es sich richtig gut gehen lassen. Und wenn sie nach ein paar Tagen wieder heimkäme, wären Tante Mausi und ihre schreckliche Brut längst abgereist.

Am späten Nachmittag verzog sich das Gewitter, der Himmel klarte auf. Hettie schlang sich einen Wollponcho um die Schultern und ging hinaus. Sie atmete tief durch, um die herrliche Luft bis in die hintersten Winkel ihres Körpers dringen zu lassen. Ihr Haar war erwartungsgemäß zu wilden Wellen getrocknet, dahin war die liebe Mühe der Friseurin.

Seit dem Verschwinden ihres Mannes lebte Hettie wieder auf Schloss Rieding, dem Landsitz ihrer Eltern. Weil ihre beiden Söhne im Ausland studierten und sie nicht allein in Frankfurt bleiben wollte, war sie in die bayerische Heimat zurückgekehrt. Schon als Kind hatte sie die Höhenzüge der Alpen geliebt, die sich beim Blick in die Ferne vor ihr erhoben. Die scheinbar unveränderlichen Berge gaben ihr das Gefühl von Stabilität. Egal, wo sie im Leben stand, ob es ihr gut ging oder schlecht, ob als kleines Mädchen oder erwachsene Frau – die Berge waren immer da, immer gleich, immer konstant. Für Hettie verkörperten sie Heimat – mehr noch als Schloss Rieding. Ihr Vater hatte vergeblich versucht, ihr die Namen der einzelnen Silhouetten beizubringen. Dabei kam es ihr darauf nicht an. Sie wollte nichts auswendig lernen, sondern ihre Gedanken auf die Reise schicken. So wie jetzt, als das sanfte Licht des Nachmittags die regennassen grünen Wiesen zum Glitzern brachte. Die Wälder, die nach und nach verschwanden, je höher die Hänge anstiegen. Und schließlich die verschneiten Gipfel, auf denen sich ihre Augen ausruhen konnten, bis sich Hettie besser fühlte. Das funktionierte immer.

Als sie zu frösteln begann, ging sie wieder hinein, direkt und ohne Umwege in ihre Räumlichkeiten, dieses Mal unbemerkt von ihrer Mutter. Wahrscheinlich hatte die sich den Tee ordentlich mit Hochprozentigem aufgepeppt und schlummerte nun in ihrem Ohrensessel. Gut so.

Natürlich hätte sie das Ölgemälde für die Ausstellung auch versenden können. Aber das kam nicht infrage. Laut einer Expertise, die Friedrich vor dem Kauf eingeholt hatte, lag der Wert des Kunstwerks so hoch, dass Hettie es in jedem Fall persönlich begleiten würde. Vor allem, da sie beabsichtigte, es zu verkaufen – Versicherung hin oder her. Überhaupt machte ihr die Reise nichts aus, im Gegenteil, sie freute sich auf Sylt. Für die Dauer ihres Aufenthalts würde Hettie im Ferienhaus einer Freundin wohnen, die es nur im Sommer ein paar Wochen nutzte und Ende April keinen Fuß auf die Insel setzte. Als sie das Bild in die Hand nahm, um es zu verpacken, genoss sie einen letzten Blick darauf.

Die Sünde, ein typisches Motiv für Franz von Stuck, welches er viele Male verewigt hatte. Es sah dem berühmtesten, aus dem Jahre 1893 stammenden Werk des bayerischen Künstlerfürsten ähnlich, verfügte aber nicht über dessen bombastischen Goldrahmen und das Modell war ein anderes gewesen. Hübscher, wie Hettie fand. Eine nackte Frau mit schwarzem Haar, milchweißer Haut, die von innen zu leuchten schien, Lippen wie Rosenknospen, dazu ein lasziver Blick. Um ihre Schultern lag die obligatorische Schlange, bedrohlich und unproportional mächtig. Ihr fleischiger Körper wand sich fordernd um die Taille der jungen Frau, als ob sie sie jeden Moment erdrücken wolle. Während die Augen des Modells versonnen in die Ferne gerichtet waren, blickte das Tier direkt aus dem Bild heraus. Sein Kopf schob sich über die Schulter, bis an den Busen der Schönen, wo er verharrte und den Betrachter aus provokanten grünen Reptilaugen musterte. Sollte die Schlange züngeln, würde sie an der Brustwarze lecken, war ein Gedanke, der sich unweigerlich aufdrängte. Der Inbegriff der Sünde, ein prächtiges Gemälde. Friedrich war völlig aus dem Häuschen gewesen, als er es erstanden hatte. Von wem und für wie viel hatte Hettie ihn nie gefragt. So war es immer am besten gewesen, wenn es um die Geschäfte ihres Mannes ging.

Manchmal wunderte sie sich, ob ihre Mutter am Ende doch recht hatte. War ihre Ehe reiner Trotz gewesen, um den Eltern eins auszuwischen? Wäre sie nicht sofort schwanger geworden, zuerst mit dem einen Sohn und kurz nach dessen Geburt mit dem zweiten, wäre sie vielleicht viel früher zur Vernunft gekommen. So jedoch hatte Hettie die letzten beiden Jahrzehnte an der Seite eines Mannes verbracht, der sich selbst als Entrepreneur bezeichnete, dabei nichts auf die Reihe brachte und irgendwann verschwand wie ein Kaninchen im Hut eines Zauberers. Abrakadabra, puff und weg. Einfach so. Hinter den Trick war sie freilich noch nicht gekommen, aber es musste ein brillanter sein.

Wind und Welle

(Franz von Stuck, 1928, unvollendet, Öl auf Leinwand, 100x68cm, Privatbesitz)

»Gnädige Frau, Sie sehen hinreißend aus! Wie eine moderne Tilla Durieux.« Das nordische Näseln von Roger Theissen klang zwar sonor, aber irgendwie erinnerte Hettie der Vorsitzende der Stiftung Kunstfreunde Sylt an Theo Lingen, den Schauspieler. Vielleicht weil er auch ähnlich runde, leicht hervorstehende Augen hatte? Oder nach hinten gegeltes Haar?

»Wie bitte?«

»Tilla Durieux, eine österreichische Schauspielerin. Sie stand Franz von Stuck Modell für die Circe, eines seiner berühmtesten Werke.«

»Ach so. Und Sie finden, ich sehe so aus?« Verwirrt bedankte sie sich für das Kompliment – vermutlich war es eines – und ließ sich an seinem Arm durch den Ausstellungsraum führen. Noch war der Kunstfrühling Sylt nicht eröffnet, lediglich Stiftungsmitglieder durften vorab schon einmal die Preziosen bewundern. Unangefochtener Stargast war natürlich Die Sünde, auf die alle gespannt warteten. Theissen enttäuschte die Anwesenden mit der Ankündigung, er werde das Werk bis zur offiziellen Eröffnungsfeier unter Verschluss halten. Er selbst hatte sich begeistert davon gezeigt, es ausgiebig studiert und dann im Tresor des Stiftungsgebäudes verstaut.

»Wie er mit Licht und Schatten gespielt hat, beeindruckend, finden Sie nicht?«

»Wie bitte?« Hettie hatte kurz nicht aufgepasst und keine Ahnung, was Theissen meinte.

»Von Stuck. Das Gemälde.«

»Ach so, ja«, sagte sie brav, »stimmt.«

»Ich verehre Franz von Stuck über die Maßen. Wussten Sie, dass er für sein Werk Dissonanz selbst Modell stand?«

Soweit Hettie sich erinnerte, zeigte dieses Bild zwei Faune: einen kleinen Jungen, der anscheinend wenig harmonisch auf einer Panflöte blies, und einen Erwachsenen, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zuhielt. Er wird sich wohl kaum als Kind verewigt haben, dachte sie, und sagte laut: »Ach wirklich? Sah er sich denn als Faun?«

»Der Meister konnte sein, was er wollte.« Theissens Antwort erinnerte Hettie an einen Teenager, der von seinem Idol schwärmt. »Er fertigte verschiedene Studien für das Gemälde an, Fotografien von sich in Pose, nackt auf einem Stuhl sitzend.«

»Hielt er sich dabei auch die Ohren zu?«

»Aber ja, meine Liebe, ganz richtig!« Begeistert referierte Roger Theissen weiter und Hettie fragte sich, mit welcher ihrer Äußerungen sie ihn wohl dazu ermutigt hatte. Höflichkeit war nicht immer von Vorteil, entschied sie. Dennoch nippte sie geduldig an ihrem Proseccoglas und lächelte freundlich all den fremden Gesichtern zu, die ihr vorgestellt wurden. Gerade stand ein unrasierter Herr vor ihr, mit ausgreifender Stirnglatze, schulterlangem Grauhaar und einem Paisleyschal um den Hals – sicher ein Künstler, dachte sie –, der ihr die Hand schüttelte.

»Schimmelreiter?«, wiederholte er nachdenklich ihren Namen. Heute hatte noch niemand den unvermeidlichen Witz über Theodor Storms Novelle gemacht, deswegen rüstete sich Hettie für eine Entgegnung. Doch der alte Kalauer blieb aus. Stattdessen machte sich so etwas wie Resignation auf dem Gesicht des Mannes breit.

»Das ist Professor Kollenbosch«, half Theissen. »Er hält den Lehrstuhl für Malerei an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und verbringt seine vorlesungsfreie Zeit hier auf der Insel.«

»Schimmelreiter«, wiederholte Kollenbosch noch einmal, was Roger Theissen offensichtlich auf die Nerven ging, denn er zischte den Professor regelrecht an: »Ja, Henriette Schimmelreiter. Aus Bayern. Ihr gehört Die Sünde. Das wissen Sie doch!«

Nach einigen Floskeln bemühten Smalltalks rückte sich Kollenbosch seine kreisrunde, mit einem übertrieben dicken braunen Rahmen ausgestattete Brille auf der Nase zurecht und verabschiedete sich. Er schien ein wenig tüdelig zu sein. Theissen zog Hettie weiter zu einem wohlbeleibten und über und über mit Schmuck behängten Paar, das er als Ehepaar Harmsen vorstellte. Jens und Georg Harmsen.

Insgeheim befand Hettie, dass die Mitglieder der Kunststiftung ein interessanter Mix waren. Im direkten Vergleich war die oberbayerische Kunstszene geradezu spießig. Wer hätte gedacht, dass die Nordlichter so progressiv waren?

Jens und Georg entpuppten sich als äußerst amüsante Gesprächspartner, bei denen Hettie gern stehen blieb. Sehr zum Verdruss von Roger Theissen, der wohl allen Ernstes vorgehabt hatte, sie jedem einzelnen Anwesenden vorzustellen – was sie hiermit verweigerte. Schließlich gab er es auf und setzte seine Begrüßungsrunde allein fort.

Nach einer weiteren halben Stunde blickte Hettie verstohlen zuerst auf ihre Uhr, dann ans andere Ende des Raums, wo sich Theissen gerade aufhielt.

»Falls Sie sich absetzen wollen, zeige ich Ihnen den Hinterausgang«, flüsterte Georg Harmsen verschwörerisch. Er war mindestens fünfzehn Jahre jünger als sein Ehemann und sah beinah aus wie einer dieser Puttenengel, mit Pausbacken und einem fröhlichen Gesicht.

Ertappt spürte Hettie, wie sie rot wurde. »Ich dachte nicht, dass der Sektempfang so lange dauert. Ehrlich gesagt, habe ich noch nicht einmal meine Sachen ausgepackt, weil Herr Theissen schon auf mich gewartet hat.«

»Roger kennt keine Gnade, wenn es um seinen Lieblingskünstler geht. Dabei gibt es außer Bildern und Skulpturen auch ein richtiges Leben, das scheint er gerne zu vergessen. Er ist besessen von der Kunst und besonders von Franz von Stuck.«

»Bei dem Drachen, den er zu Hause hat, sei ihm das verziehen.« Jens Harmsen kicherte boshaft, wobei sein Doppelkinn lustig mitwippte, und ignorierte den strafenden Blick seines Mannes.

»Kommen Sie.« Die zwei hakten Hettie unter und zogen sie in einen Nebenraum, der auf den Flur hinausführte. »Er sieht gerade nicht rüber, das ist Ihre Chance.«

Dankbar ging Hettie mit den beiden. Nach der Anreise und dem anstrengenden Empfang stieg ihr der Prosecco schnell zu Kopf. Gegessen hatte sie auch noch nichts. Sie würde sich auf dem Weg zum Ferienhaus irgendwo ein vorgezogenes Abendessen zum Mitnehmen besorgen und dann gemütlich die Füße hochlegen. Der Strandspaziergang würde warten müssen, draußen war es windig und regnerisch und sie fühlte sich erschlagen. Immerhin musste sie für die offizielle Ausstellungseröffnung am nächsten Tag wieder fit sein. Nur leider kam es gar nicht erst dazu.

Dissonanz

(Franz von Stuck, 1910, Öl auf Holz, 70x76cm, Museum Villa Stuck, München)

Polizeichef Nanne Bruns fühlte sich wie von einer Dampfwalze überrollt. Sämtliche Herausforderungen, die er beruflich zu meistern hatte, waren nichts gegen die lähmende Schlaflosigkeit, die mit der Geburt seines Sohnes zu Hause eingezogen war. Er hatte ihm doch eben erst das Fläschchen gegeben, wieso lärmte er schon wieder? Unwirsch stieß er seine Frau neben sich im Bett an.

»Du bist dran«, murmelte er im Halbschlaf.

»Nein«, kam die ebenso schlaftrunkene Antwort. »Das ist dein Diensthandy, nicht dein Sohn. Aber wenn du nicht sofort drangehst, wird er aufwachen …«

Bloß das nicht. Bruns sprang so schnell auf, dass ihm schwindlig wurde, griff nach dem Telefon und stürmte damit aus dem Schlafzimmer. Nur nicht das Baby aufwecken, das wäre der Supergau.

»Wir haben einen Einbruch-Diebstahl, Chef«, schnarrte die Stimme seines Assistenten Schmitz aus dem Hörer. Er klang nicht müde, sondern aufgeräumt wie immer.

»Wissen Sie, wie spät es ist?«, zischte Bruns.

»Halb fünf. So was passiert meistens nachts. Statistisch gesehen …«

»Mich interessiert um diese Uhrzeit keine Statistik, Schmitz. Warum wickeln Sie den Vorgang nicht ab?«

»Weil man ausdrücklich nach Ihnen verlangt hat. Ist etwas heikel, die Sache.«

Langsam kam Bruns zu sich. Müde war er immer noch und gleichzeitig genervt. »Wer hat nach mir verlangt? Drücken Sie sich bitte ein wenig genauer aus.« Durch die Schlafzimmertür hörte er, dass das Baby anfing zu weinen. Na toll.

»Hatte ich das nicht gesagt? Roger Theissen, der Vorsitzende der Stiftung Kunstfreunde Sylt. Hohes Tier. Heute Nacht wurde aus dem Stiftungshaus ein wertvolles Gemälde geklaut, und er tickt gerade völlig aus. Irgendeine vornehme Dame aus Bayern ist auch hier, der gehört das Bild. Und weil die Alarmanlage losgegangen ist, drückt sich die gesamte Nachbarschaft ebenfalls hier rum. Besser, Sie kommen gleich, Chef.«

Mit schicksalsergebenem Gesichtsausdruck und dem schreienden Baby auf dem Arm marschierte seine Frau an ihm vorbei in die Küche, um ein Fläschchen zuzubereiten. Das erleichterte Bruns die Entscheidung. Laut sagte er in den Hörer: »Wenn es unbedingt sein muss, Schmitz, dann mache ich mich sofort auf den Weg.«

Die Villa der Stiftung, ein großes, reetgedecktes Haus, lag in Kampen, ein wenig abseits des Zentrums. Im Garten standen zahlreiche Skulpturen, die in der Dunkelheit nur dadurch von den Schaulustigen zu unterscheiden waren, dass sie sich nicht vom Fleck rührten, als Polizeihauptmeister Schmitz alle des Grundstücks verwies, die hier nichts zu suchen hatten. Selbstverständlich erst, nachdem sämtliche Personalien aufgenommen waren. Bruns holte sich kurz die wichtigsten Informationen und trat dann auf Roger Theissen zu. Der hatte sich offenbar in Eile angekleidet, denn der Kragen seiner Wachsjacke war nach innen umgestülpt und die Cordhose hing ohne Gürtel tief auf der Hüfte. Auch die Frisur wirkte derangiert. Gerade strich er sich unwirsch eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihm aber sofort wieder nach vorn rutschte. Bruns konnte sich Theissens Wutausbruch bildlich vorstellen, das knallrote Gesicht des älteren Herren fiel sogar unter der spärlichen Straßenbeleuchtung vor dem Grundstück auf. Hoffentlich war es nur Ärger und keine Herzproblematik, denn einen medizinischen Notfall brauchte Bruns in dem ganzen Chaos nicht auch noch.

»Kriminalkommissar Nanne Bruns«, stellte er sich vor. »Ich bin der Chef der Kriminalpolizei auf Sylt und kann Ihnen versichern, dass wir alles tun werden, um Ihr gestohlenes Gemälde schnellstmöglich wiederzufinden.«

Während Theissen Luft holte, um etwas zu sagen, schritt eine große Frau von der Seite ein. »Mein Gemälde. Es gehört mir, nicht ihm.«

»Und Sie sind?«

»Henriette Schimmelreiter.«

Ein amüsiertes Zucken spielte für einen Moment um Bruns‘ Mundwinkel. An und für sich wäre es unsichtbar gewesen, hätte der Kommissar nicht ein außerordentlich ernstes Gesicht, welches durch jedwede Gefühlsregung schlagartig verändert aussah. Daher konnte er sicher sein, dass sie das verdrückte Grinsen bemerkt hatte. Peinlich. »Sie stammen aber nicht von hier?«

»Nein. Ich bin extra mit meinem Stuck aus Bayern angereist, um ihn auf Herrn Theissens ausdrücklichen Wunsch hin bei seiner Ausstellung zu präsentieren.«

»Was ist ein Stuck?«

Nun ergriff Theissen das Wort. »Franz von Stuck. 1863 bis 1928, der Maler des geraubten Werks! Mann, Mann, Mann …«

Während sie ins Haus gingen, raunte Bruns Schmitz zu: »Muss man den kennen?«

Hinter ihnen protestierte Theissen lautstark, weil er draußen vor dem Gartenzaun bleiben musste. Schmitz wiederum zückte sein Smartphone und tippte mit beiden Daumen, dann las er ab: »Franz von Stuck war ein berühmter bayerischer Maler, der die sogenannte Münchner Sezession mitbegründete. Kann ich ja später mal weitergoogeln, was das sein soll. Jedenfalls malte dieser Stuck gerne öfter das Gleiche, zum Beispiel Faune, Zentauren und vor allem nackte Frauen. Berühmt wurde er durch seine Interpretation von Eva mit der Schlange. Das Ganze nannte er jedes Mal Die Sünde. Selbes Thema, mehrere Varianten.« Er steckte das Handy wieder weg. »Eine neu aufgetauchte ebensolche gehört Frau Schimmelreiter, sollte morgen bei der Ausstellung vorgestellt werden, wurde heute Nacht gestohlen und ist nach Aussagen der Besitzerin fast eine halbe Million Euro wert. Wobei ich diese Summe infrage stellen würde, scheint mir doch ordentlich hoch angesetzt zu sein. Kann ich aber auch googeln.«

Mittlerweile hatten die zwei Beamten das Büro des Stiftungshauses im ersten Stock erreicht. Herr Theissen regte sich draußen immer noch auf. Und Frau Schimmelreiter bestand darauf, in ihr Ferienhaus zurückgebracht zu werden, teilte ihnen einer der Kollegen mit. Bruns war das recht. Er würde die beiden in Ruhe befragen, nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte. Theissens autoritäre Art flößte ihm keine Angst ein. Seit seinem Amtsantritt auf Sylt vor einem Jahr war dem gebürtigen Hamburger aufgefallen, dass es hier anscheinend überproportional viele Einwohner gab, die sich wahnsinnig wichtig nahmen und gern anderen respektlos über den Mund fuhren, wenn sie ihr Gegenüber für sozial nicht gleichwertig hielten. Selten spiegelte sich Bruns‘ Abneigung gegen derartige Zeitgenossen in seinem gleichmütigen Gesichtsausdruck wider, aber bei Theissen konnte er sich nur schwer beherrschen. Es war Antipathie auf den ersten Blick. Unprofessionell, schon klar. Weil Bruns ein Profi war, würde er seine persönlichen Präferenzen daher hintenanstellen und Roger Theissen genauso behandeln wie jeden anderen auch.

»Statistisch gesehen ist das Hauptmotiv für Kunstraub Bereicherung«, unterbrach Schmitz die Gedanken des Kommissars, »und wird meist von Profis als Auftragsarbeit durchgeführt. Allerdings ist der Aspekt des Versicherungsbetrugs nicht zu vernachlässigen«, fügte er hinzu, als könnte er einen Einwand vorausahnen.

Bruns würde sowohl Theissen als auch diese Frau Schimmelreiter erst einmal als Verdächtige behandeln. Wieso musste die Dame mit einem sündhaft teuren Gemälde eines bayerischen Malers, den hier im Norden sicher kein Mensch kannte, durch die gesamte Republik reisen? Das machte irgendwie einen dubiosen Eindruck.

»Der Tresor wurde nicht aufgebrochen«, sagte Schmitz gerade.

Bruns betrachtete das mannshohe, in die Wand eingemauerte Ungetüm. Auf mehreren Etagen lagen zusammengerollte Leinwände, Schatullen und antik aussehende Bücher. Das unterste Fach war so hoch, dass man auch kleinere Keilrahmen darin abstellen konnte. Es sah aus, als wäre außer Der Sünde nichts gestohlen worden. Schmitz bestätigte dies.

Nachdem er alles genau in Augenschein genommen hatte, trat Bruns wieder nach draußen. Die Sonne ging gerade auf und ein frischer Wind hätte die letzten Anzeichen von Müdigkeit aus seinem Gesicht vertreiben können, wenn nicht sein Schlafkonto aufgrund des Babys ohnehin hoffnungslos im Minus gewesen wäre. So freute sich Bruns zwar über die angenehme Seeluft, sah aber übernächtigt und deutlich älter aus als seine sechsunddreißig Jahre.

Weil seine Frau es nicht erfahren würde, schnorrte er von einem Kollegen eine Zigarette und inhalierte den Rauch tief. Dabei glitt sein Blick zu einer der im Garten stehenden Skulpturen. Zwei nackte Männer, die im Stil der griechischen Antike miteinander rangen. Ihre Schenkel waren muskelbepackt, ebenso die Arme, die Gesichter in Anstrengung verzerrt. Bruns wunderte sich, warum der Künstler den beiden Marmorgiganten nur winzige Penisse zugedacht hatte, verfolgte den Gedanken jedoch nicht weiter, denn schon war Schmitz wieder an seiner Seite.

»Hatten Sie nicht aufgehört?«, fragte er und zeigte mit dem Finger auf die Zigarette.

»Doch. Das ist eine Ausnahme.«

»Ist klar. Die Spurensicherung braucht noch eine Weile. Wir werden die Ergebnisse erst in einigen Stunden bekommen. Vorher macht es auch keinen Sinn, eventuelle Verdächtige zu befragen. Sie wissen schon, Theissen, Schimmelreiter und die Stiftungs-Typen. Wir könnten nach Hause fahren. Immerhin wäre theoretisch noch nicht Dienstbeginn.«

Bruns musste nicht lange überlegen. »Fahren Sie heim, Schmitz, wir sehen uns später auf der Wache.«