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»Sylter Welle« ist der erste Roman von Autor, Sänger und Instagramphänomen Max Richard Leßmann. Eine schmerzhaft schöne Liebeserklärung an eine vom Aussterben bedrohte Generation: die Großeltern. Jeden Sommer seiner Kindheit und Jugend hat Max mit seinen eigenwilligen Großeltern auf Sylt verbracht. Nicht etwa im noblen Westerland, sondern auf dem Campingplatz. Jetzt fahren Oma Lore und Opa Ludwig noch ein allerletztes Mal auf die Insel und laden ihn ein, sie drei Tage lang zu besuchen. Und alles ist genau wie immer. Nur eben überhaupt nicht. Die nordische Tieffront Oma Lore, der Pate der Familie, gibt sich gewohnt kühl. Wenn sie ihre Liebe zeigt, dann ausschließlich im exzessiven Mästen ihrer Familienangehörigen. Der liebenswürdige Opa Ludwig nimmt die Sache mit seinem einzigartigen Humor. Doch irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Oma Lore will davon natürlich nichts wissen. Doch die Sylter Brise wird auch sie für einen ganz kurzen Moment erweichen. Würden wir unsere Familienangehörigen auch lieben, wären sie nicht mit uns verwandt? Dieser Frage bleibt Max auf der Spur. Und das so lange, bis Sylt eines Tages im Meer versinkt.
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Seitenzahl: 200
Max Richard Leßmann
Roman
Buch lesen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Max Richard Leßmann
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Widmung
Motto
Tag eins
Tag zwei
Tag drei
Abschied
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Für meine Großmutter, die auch eine harte Frau mit weichen Wangen ist
Inhaltsverzeichnis
»So, so you think you can tell heaven from hell«
Pink Floyd
Inhaltsverzeichnis
Ich steige am Bahnhof von Westerland aus dem verspäteten Intercity.
Anderthalb Stunden sind wir mindestens zu spät und alles nur wegen eines einzigen Halts auf völlig freier Strecke, zu dessen Ursache sich das Zugpersonal fast schon beneidenswert dickfellig ausschwieg.
Wir standen einfach so still, grund- und ahnungslos, mitten auf dem Hindenburgdamm, und ich bildete mir ein, beobachten zu können, wie das Wasser um uns herum langsam anstieg.
Die anderen Passagiere in meinem Abteil waren schnell ziemlich wütend geworden, mir wurde ein bisschen schlecht von der allgemeinen Ungehaltenheit. Zorn und gekochte Eier sollten per Grundgesetz in Zügen verboten werden.
Ohne diese beiden Luftverpester ist für mich jede Verzögerung im Betriebsablauf ein kleines bisschen Wellness. Das Reisen meist noch mehr als das Ankommen, meine ich, selbst oder vielleicht sogar genau dann, wenn es aus gänzlich unnachvollziehbaren Gründen wieder einmal etwas länger dauert. Die Reise ist für mich immer ein Raum der absoluten Unantastbarkeit, vor allem, wenn ich mit dem Zug unterwegs bin. Schon mit dem Einstieg gebe ich alle Verantwortung ab, Minuten später verabschiedet sich der Handyempfang und schließlich, im finalen Akt, löst sich irgendwo zwischen Elmshorn und Itzehoe die eigene ewige Zuverlässigkeit endgültig in Luft auf. Jede Minute Verspätung ist für mich also keine Strafe, sondern nicht weniger als die großzügige Verlängerung meines kurzzeitig ewigen Lebens.
Außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass Essen unterwegs, so teuer und ungesund es auch sein mag, weder echtes Geld kostet noch echte Kalorien hat. Der Bahnhof als flackerndes Tor zum Raum-Zeit-Vakuum. Ich mit zwei Ditsch-Pizzen und einem 7 Euro teuren Saft von Dean&David unter dem Arm. Unverwundbar.
Oma Lore muss ich mit so was natürlich nicht kommen. Die friert gerade einfach nur. Es ist immerhin schon Ende September, gerade auf der Kante von Haupt- zu Nebensaison, weil die Ferienwohnung in einem der hässlichen Betonklötze direkt am Strand dann 20 Euro günstiger die Nacht ist. Eigentlich natürlich immer noch viel zu teuer für meine erzsparsame Großmutter, aber mit Meerblick, immerhin.
Ich habe mehrmals versucht, sie anzurufen, während ich mir vorstellte, wie der Zug auf dem Hindenburgdamm überschwemmt und sich in ein rot-weißes U-Boot verwandeln würde. Das Bordpersonal würde Ölspuren an den Händen und tiefe Augenringe im käsigen Gesicht haben, wie die Besatzung der legendären U 96, und im Bistro würde Essen serviert, von dem man mit der Zeit Skorbut bekäme. Was das anging, würde sich eigentlich gar nicht so viel ändern.
Sie war nicht ans Telefon gegangen, auch nicht beim fünften Versuch, und das, obwohl es sehr wahrscheinlich war, dass meine Großmutter mittlerweile die Hände gegen Wind und Kälte in die Jackentasche gesteckt hatte, gleich neben das Handy, das so alt ist, dass die Vibration wahrscheinlich immerhin etwas Wärme erzeugt.
Der Intercity war nicht untergegangen, aus mir war kein Leutnant Werner wider Willen geworden und ich musste nicht bis an mein Lebensende Pommes frites aus der Mikrowelle essen, also steige ich am Bahnhof von Westerland aus dem verspäteten Intercity.
Der Bahnsteig ist so überfüllt mit Rentnern und Rentnerinnen in bunter Outdoorausrüstung, dass ich meine Großmutter nicht gleich unter ihnen ausfindig machen kann. Ich frage mich ernsthaft, wofür man in Westerland Bergschuhe braucht, als mir ein verträumter Expeditionsteilnehmer fast auf die Füße tritt. Auf Dünen steht kein Gipfelkreuz.
Ich stelle mir Oma Lores Gesicht vor. Die ohnehin schon strengen Züge eingefroren von Wut und Septemberwind, die immer wachsamen Schakalsaugen suchend zusammengekniffen. Ihr Unterkiefer ist, wahrscheinlich vom jahrzehntelangen Zähneknirschen, leicht verschoben, was ihr etwas Verschlagenes gibt, in ihren winzigen Ohrläppchen hängen standesgemäß dicke goldene Creolen. Ihr Haar ist, seit ich denken kann, kurz und hochtoupiert. Obwohl sie nicht uneitel ist, färbt sie es schon immer lieber selbst, anstatt zum Friseur zu gehen. Wahrscheinlich trägt sie, dem maritimen Motto der Insel angepasst, ihren blau-weiß gestreiften Pullover, darüber die violette Fleecejacke, die sie im Türkeiurlaub so günstig gekauft hat, dass sie nicht aufhören kann, davon zu erzählen. Sparen ist ihr Elixier, Anekdoten über die allerneuesten Schnäppchen wichtige Talkingpoints in beinahe jedem Gespräch, dem sie ohnehin unweigerlich ihren ganz eigenen Takt gibt. Das Sparbuch ist ihr Gotteslob.
Was sie allerdings eisern für sich behält, ist das Geheimnis ihrer immerjungen Seidenhaut. Oma Lore ist vielleicht eine harte Frau, aber sie hat die weichsten Wangen der Welt.
Den linken Arm hält sie immer leicht angewinkelt, konnte ihn nie ausstrecken, weil ein unkonzentrierter Arzt ihn schon bei der ersten Möglichkeit mit einer Zange zerquetscht hatte. Noch bevor sie überhaupt auf der Welt war, zeigte diese sich ihr schon von ihrer schmerzhaftesten Seite. Und sie machte ja auch so weiter mit ihr, die Welt. Doch meine Großmutter blieb beinah unverwüstlich stehen, ein Hafenpoller im Windkanal. Einzig die Erwähnung zweier Namen schafft es, sie wirklich aus der Fassung zu bringen, weswegen ich mich bemühe, den einen selten und den zweiten nie auszusprechen. Der Schmerz, der in ihren Augen aufsteigt, wenn sie selbst diese Namen nennt, schöne zweisilbige Namen, ist selbst für mich schon kaum auszuhalten, auch wenn ich nur einen der beiden kannte. Auch ich vermisse ihn.
Jetzt aber vermisse ich erst einmal Oma Lore, die ich noch immer nirgendwo entdecken kann. Nicht auf dem Gleis, nicht vor der kleinen verklinkerten Empfangshalle. Keine lila Fleecejacke, kein tadelnder Blick, nichts.
Sie hat mich schon oft hier abgeholt. In den fast 20 Jahren, in denen wir gemeinsam aus dem Westerländer Parkhaus auf den Wenningstedter Campingplatz fuhren, veränderte sich zwischen uns wenig. Ich war der Enkel, sie die Oma, die Dynamik war einfach und zuverlässig. Das Konzept wurde auch dann nur sehr leicht überarbeitet, als ich irgendwann volljährig war, Enkel bleibt man für immer. Allein die verschiedenen Generationen ihres unvermeidbaren Opel Vectras zeigten pflichtschuldig an, wie um uns herum wohl doch die Zeit verging. Es war erst ein blauer, dann ein grüner und zuletzt ein weißer Wagen gewesen, in dem es ewig gleich nach Haarwasser und sauren Apfelringen roch.
Mir wurde bei Autofahrten schon immer sehr leicht übel, und die zuckrig grünen, mit weißem Schaum gestärkten Süßigkeiten machten es nicht wirklich besser. Trotzdem lehnte ich sie nie ab, wenn meine Großmutter die halbdurchsichtige Verpackung mit geübter Geste und gespielter Beiläufigkeit aus dem Handschuhfach zog. Wenn ich Glück hatte, war es eine bereits angefangene Tüte, die Lore mit einem dicken roten Gummiband nur notdürftig verschlossen hatte.
Das führte dazu, dass die meisten Ringe noch deutlich zäher waren als sonst schon und manche besonders kostbare Exemplare sogar steinhart.
Meine Oma wusste, wie sehr ich diese seltene Kostbarkeit eines solchen beinahe unzerstörbaren Apfelrings liebte.
Dabei war diese auf den ersten Blick recht unschuldige Leckerei in der Vergangenheit einer der Gründe dafür gewesen, dass meine Mutter und Großmutter doch für einige Jahre nicht oder nur mit still leidenden Mienen miteinander gesprochen hatten. Meine Mutter achtete damals recht streng auf meine Ernährung. Vor allem Zucker war absolut tabu, weil er mich als Kind derart aufkratzte, dass ich am ersten Tag nicht schlafen konnte und den zweiten Tag ohne Pause weinte. Meine Oma aber wollte das nicht einsehen. Die Firma Ferrero hatte einen Großteil ihrer Schokoladenprodukte doch wohl nicht ohne Grund mit dem Schlagwort »Kinder« beschriftet, und Fruchtzwerge waren irgendwie doch auch Obst. Und so kam ich regelmäßig mit braunen Mundwinkeln und blank liegenden Nervenenden von großelterlichen Wochenendbesuchen nach Hause, was immer in einen Streit mündete, den ich nie ganz verstand und oft unbeholfen zu schlichten versuchte. Was es aber stets nur noch schlimmer zu machen schien.
Aber auch in der Zeit, in der die Gräben zwischen den beiden Frauen am tiefsten waren, verging keine Opel-Vectra-Autofahrt ohne diese herrlich verbotene süßsaure Übelkeit.
Mit der gleichen Sturheit, mit der Oma Lore auch nach zwei Krebserkrankungen und unzähligen Schicksalsschlägen nicht nur am Leben bleibt, sondern auch jeden Morgen immer wieder aufsteht, verteidigte sie schon damals ihr Königreich aus Industriezucker und Maggi Fondor gegen meine gesundheitsbewusste Mutter. Meine Mutter ist eine sture Frau. Aber Oma Lore ist nun einmal sturer.
Und jetzt, wo ich erwachsen bin, holt sie mich plötzlich nicht mehr mit dem Auto ab, sondern zu Fuß. Keine Apfelringe mehr für mich. Es wäre natürlich ein Leichtes, mir einfach selbst welche zu kaufen, aber das käme mir wie ein Verrat an unserer gemeinsamen Sache vor. Ich will keine Apfelringe essen, ohne dass meine Großmutter und ich damit gemeinsam den Familienfrieden riskieren. Ich will keine Apfelringe essen, ohne dass Oma Lore sich hinter ihrer strengen Miene darüber freut, wie gut es mir schmeckt.
Dieses Spiel aber bleibt uns nun also versagt, weil meine Großeltern nicht mehr mit ihrem Wohnwagen in den Urlaub fahren. Dabei hat das Campen in meiner Familie eine lange und äußerst stolze Tradition. Als mein Vater und seine Brüder noch klein waren, war die Familie noch mit einem riesigen Zelt unterwegs gewesen, das sie sich mit anderen Nützlichkeiten umständlich auf das Dach ihres damaligen Opels schnallten. Erst als die Kinder aus dem Haus waren, konnten meine Großeltern sich schließlich einen Wohnwagen leisten. Nicht irgendeinen, sondern DEN Wohnwagen, der auch mich nun schon mein ganzes Leben begleitete, als wäre er selbst ein zugegebenermaßen recht schweigsames, aber immer fürsorgliches Familienmitglied. Sie machten, Stand heute, fast 60 Jahre lang Campingurlaub. 30 Jahre davon in diesem schmutzig weißen Kugelblitz der Firma Hymer mit einem braun-roten Streifen an der Seite.
Als meine Großmutter den damals nigelnagelneuen Wohnwagen vom Autohändler aus der nächstgrößeren Stadt abholte, sei sie so selig gewesen, dass sie auf dem ganzen Heimweg sang, so der Mythos. Opa Ludwig war damals noch schwer berufstätig und konnte auch bei diesem familiären Meilenstein nicht dabei sein.
Im Innenraum des Wohnwagens, der aus zwei winzigen Räumen, einer Kochnische und einer Toilette bestand, roch es immer etwas nach Gas und der mysteriösen blauen Substanz im Tank der Toilette. Trotzdem liebte ich diesen Ort. Ich liebte es, mit Wasser in den Ohren im Vorzelt zu sitzen und Grillgut oder halbe Hähnchen zu essen. Oder morgens zähe Campingplatzbrötchen mit Opa Ludwigs eigenem Bienenhonig. Der Wohnwagen war, egal, wo er gerade stand, immer ein Zuhause für mich, wobei meine Großmutter hier wohl schnippisch angemerkt hätte, dass er ja dafür schließlich auch gebaut worden war, das wäre ja noch schöner.
Ausgerechnet bei ihrer letzten großen Campingfahrt nach Wenningstedt war ich dann aber nicht dabei gewesen, ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, warum. Als ich dann später hörte, dass sie den TÜV des alten Wagens nicht mehr erneuern wollten und schließlich sogar das Kennzeichen abmeldeten, war ich so wütend auf mich selbst geworden, dass ich heulte.
Die Campingfahrten dokumentierte Opa Ludwig fein säuberlich in einem schmalen Heft, 80 waren es insgesamt zwischen 1969 und 2017. Von all den Tagebüchern und Notizen, die mein Großvater seit den Fünfzigerjahren anfertigt, sei dieses Heft das einzig brauchbare, findet meine Oma. Ich blätterte es am braun gefliesten Küchentisch durch und tippte mit dem Finger auf die Fahrten, bei denen ich sie begleitet oder besucht hatte. Das erste Mal war 1994 am Bodensee, kurz nach meiner Beschneidung. Meine Großmutter stellte mir jeden Abend einen Eierbecher voll Kamillentee hin, in dem ich dann meinen Penis baden sollte. Mein letzter Besuch in Wenningstedt war fünf Jahre her, im darauffolgenden Jahr hatten die beiden ihre letzte Wohnwagenfahrt gemacht, und ich war zu beschäftigt gewesen, sie dabei zu besuchen. Wahrscheinlich hatte ich auch deshalb dieses Mal sofort einen Zug gebucht, als Oma Lore mir am Telefon erzählte, einmal wollten sie nun doch noch nach Sylt. Und wegen der Sache mit Opa Ludwigs letztem Tagebuch.
»Du glaubst es nicht. Wir alten Leute sind bald nichts mehr wert.«
Oma Lore hat anscheinend aufgehört, sich die Haare zu färben. Es steht ihr ziemlich gut. Sie wirkt plötzlich deutlich verletzlicher, gleichzeitig strahlt sie so noch mehr Strenge aus als ohnehin schon. Sie umarmt mich. Einarmig und beiläufig, aber nicht ohne Herzlichkeit, keine Ahnung, wie sie das hinbekommt, aber wenn das jemand schafft, dann sie.
Bevor ich mich fragen kann, was sie so auf die Palme bringt, breitet sie den Sachverhalt auch schon in ihrer unvergleichlichen Art der Empörung vor mir aus. Meine Großmutter, die, wie erwartet, frierend, aber eisern die anderthalb Stunden am Bahnhof gewartet hatte, war irgendwann müde und durstig geworden und wollte sich ausnahmsweise auswärts einen Cappuccino gönnen. Diesen aber verwehrte man ihr mitleidlos, solange sie sich nicht mit der Luca-App als Kundin registrierte.
Und mit ihrem alten Nokia-Knochen hätte sich nun selbst beim besten Willen kaum eine Verbindung zum App Store aufbauen können.
»Nichts mehr wert«, wiederholt sie kopfschüttelnd, während wir den Bahnhofsvorplatz passieren.
Wieder fällt mir auf, wie sehr die Sylter Luft nicht nur nach Salz, sondern auch nach Sand riecht. Von Wind und Trekkingsandalen in jeden Winkel der Insel getragen, verströmt er überall seinen sehr eigenwilligen Duft, der sich irgendwo zwischen Regenwurm und Nasenbluten einordnen lässt.
Ich kann leider nicht wirklich sagen, dass ich ihn mag. Weder den Duft noch den Sand selbst eigentlich.
Ich wuchs in Husum an der Nordsee und mit dem heimischen Dockkoog an einem Strand aus Rasen und Asphalt auf. Und das machte mich in diesem Fall, und auch wirklich nur in diesem, sehr pragmatisch. Sand zwischen den Zehen ist zwar ein schönes Gefühl, aber kühler Rasen und heißer Asphalt sind auch nicht so schlecht und machen viel weniger Umstände. Sand wird man nicht mehr los. Ich jedenfalls finde nach nur einem einzigen Strandspaziergang noch Wochen später kleine farblose Steine in Hosentaschen und Schuhen und schlafe auch nach intensivem Abklopfen und dreimaligem Umbeziehen immer noch in sandigen Laken ein. Die spitzen Körnchen bohren sich dann in meine Haut wie ein aggressives Peeling und machen Schlaf für immer undenkbar.
Aber eigentlich ist ein anständiger Strandspaziergang mir diese anschließenden Qualen schon auch wert. So pragmatisch bin ich dann doch wieder nicht.
Ich frage mich aber, was meine Großmutter wohl von Sand hält. Wie sie das aushält, von so vielen potenziellen minikleinen Eindringlingen in ihrer penibel reinlichen Routine umgeben zu sein. Eigentlich wäre der grüne Asphaltstrand meiner Husumer Heimat mehr ihr Ding.
Am Husumer Dockkoog, den sie schon immer mit ansteckender Ignoranz »Hotdog« nennt, haben Ludwig und sie auch einige Male gecampt. Etwa bei der Taufe meiner Schwester oder anderen Familienfeiern. Wenn sie frei wählen konnte, ist es dann aber immer wieder die Insel geworden, Sand hin oder her. Vielleicht ist sie ja doch romantischer veranlagt, als ich bis dato dachte.
Die riesenhaften grünen Figuren, die sich prustend gegen den Westwind stemmen, mochte ich schon immer. Und ich fühle ihren Schmerz. Jeder Mensch, der einmal versucht hat, in Nordfriesland Fahrrad zu fahren oder eine Zeitung auszutragen, tut das. Auch, dass einige der Figuren den Kopf verkehrtherum auf den Schultern tragen, sorgt da nicht unbedingt für Verwunderung.
Ich würde gerne kurz stehen bleiben und sie mir endlich mal wieder genauer ansehen, aber meine Oma hat sich mittlerweile mit ihrem guten Arm bei mir eingehakt und zieht mich fest entschlossen in Richtung Westerländer Kauf- und Amüsiermeile. Vielleicht hätte ich sonst sogar ein giftgrünes Riesenbein mit beiden Armen fest umschlossen, so wie mein Vater damals als Jugendlicher regelmäßig im Arheimer Holz uralte Bäume umarmte. Sehr zur Irritation meiner Großmutter natürlich. Dabei hätten sie es eigentlich schon wissen müssen. Bergmanns Uli, eine Freundin aus dem Kegelklub, die meinen Vater ihr Leben lang vergötterte, hatte bereits einen Tag nach seiner Geburt zu meiner Großmutter gesagt: »Lore, das ist ein anderer.« Und sie sollte recht behalten. Wenn ich an meinen Vater denke, fällt es mir wirklich schwer, Spuren meiner Großeltern an und in ihm zu entdecken.
Weder die Härte meiner Großmutter noch den tänzelnden Leichtsinn von Opa Ludwig scheint er geerbt zu haben. Schon immer nimmt mein Vater jede noch so kleine Erschütterung der Welt und gleichzeitig irgendwie doch auch überhaupt nichts um sich herum wahr.
Als ich ihm nach einem Besuch bei meinen Großeltern etwa erzählte, dass fahrlässige Forstarbeiter wegen eines Missverständnisses eine mindestens 500 Jahre alte Eiche in der Nähe seines Heimatdorfes gefällt hatten, sprach er zwei Tage lang fast kein Wort und ging nach jedem Essen gleich in sein Arbeitszimmer, wo ich ihn leise Gitarre spielen und dazu singen hörte. Das war seine Art, mit diesem Verlust umzugehen. Er hatte diesen Baum geliebt, wahrscheinlich mehr, als ich das je werde begreifen können.
Auch einen gezogenen Backenzahn betrauerte er ungefähr eine Woche lang und schrieb ihm einen herzzerreißenden Abschiedsbrief. Kurzzeitig hörte er dieses Mal sogar ganz auf zu sprechen, weil das fast unhörbar leise Pfeifen der Atemluft durch die neu entstandene Lücke ihn zu sehr an seinen nun für immer verlorenen Wegbegleiter erinnerte. Die Endlichkeit macht ihn einfach fertig. Vor allem dann, wenn sie so stumpfsinnig von Menschenhand beschleunigt wird, wie etwa durch eine Kettensäge oder eine Zange.
Mein Vater hatte früh angefangen zu zeichnen und malte später Tausende Aquarelle seiner Heimatlandschaft, die heute wie ein Erkennungszeichen in jeder Wohnung, in jedem Haus zu hängen scheinen, in dem jemand aus unserer Familie wohnt. Eigentlich war er schon immer zu zart und zu fein, um mit der knallharten Bodenständigkeit meiner dickfelligen Großeltern klarzukommen. Aber weil er schon als Kind meistens schwieg und das Seltsame an sich nur im Verborgenen preisgab, stand er bei meiner Großmutter trotzdem stets hoch im Kurs. »Er war immer so schön artig«, sagt sie heute noch, fast schwelgerisch. In Wirklichkeit aber ist er die meiste Zeit gar nicht anwesend, »wohl hier, aber nicht ganz da«, wie mein Großvater sagen würde. Und was wirklich in ihm vorgeht, kann keiner von uns wissen, was natürlich auf eine Art ein Allgemeinplatz ist, aber bei niemandem stimmt es so sehr wie bei meinem Vater. Auch für mich ist er irgendwie immer »ein anderer« geblieben.
»Mein Gott«, sagt Lore, der jetzt erst wieder einfällt, weshalb sie so gefroren hat. Ich bin natürlich schuld daran, dass ihr die Idee mit dem blöden Cappuccino überhaupt erst gekommen ist. Eine wirkliche Unverschämtheit. Dabei trinkt sie doch eigentlich eh am allerliebsten Instantkaffee. Wiener Melange der Marke Krüger.
Als Kinder schütteten mein Cousin Felix und ich uns den Inhalt aus den dünnen blauen Tütchen am liebsten gleich direkt und völlig unverdünnt in den Mund und prügelten uns anschließend im Zucker- und Koffein-Rausch auf der mit Waschbeton gefliesten Terrasse meiner Großeltern mit großen Stöcken. Wenn man dort hinfiel, rissen einem die großen, mit Zement gebundenen Steine tiefe Löcher in die Kinderknie, und von meiner Oma konnte man in diesem Fall eher einen Anschiss als ein Pflaster erwarten.
Jedenfalls könnte kein Bahnhofskaffee der Welt mit diesem wirren Traum aus Puderzucker und Kakao, aus Vanillearoma und sofort löslichem Kaffeestaub mithalten. In diesem Sinn haben der verspätete Intercity, die unnachgiebige Verkäuferin und ich meine Großmutter sogar gemeinschaftlich vor einer ziemlich herben Enttäuschung bewahrt. Aber das behalte ich vorsorglich lieber für mich.
»Du hättest ja wenigstens mal anrufen können.«
»Hab ich doch«, sage ich.
»Was?«, sagt meine Großmutter böse.
»Stimmt«, sage ich. »Tut mir leid.«
Die Innenstadt von Westerland ist wirklich schwer auszuhalten. Es kommt mir fast so vor, als hätten sich findige Städteplaner das alles genau so ausgedacht, damit der Strand und das Meer noch schöner, noch erhabener wirken. Die ursprünglich raue Schönheit der Natur im harten Kontrast zu den architektonischen Schandflecken, in denen man dringend Segelschuhe oder Softeis mit roter Grütze kaufen muss, um sich die wenigen Schritte bis zur rettenden See doch noch irgendwie erträglich zu machen. Der alte Gosch, ewiger Pate der Insel, hat sich gerade das einzig schöne Gebäude in der gesamten Hauptstraße gesichert und baut es kostspielig um. Meine Großmutter erzählt mir davon, als wäre der Sylter Meeresfrüchte-Godfather ein lieber alter Freund von ihr. Wenn sie von seinem neuen Wenningstedter Dünenbungalow mit begrüntem Flachdach schwärmt, klingt sie sogar fast ein bisschen stolz. Oma Lore hat immer an ihn geglaubt. Selbst dass die Krabbenbrötchen in Krisenzeiten einmal beinahe 15 Euro kosteten, verzieh sie ihm schnell und großmütig. Wir anderen mussten indes vor ihrer internen Kartei erzittern, in der sie präzise all unsere Verfehlungen aufbewahrte und gerne in größerer Runde zum Besten gab.
Meine Liste ist da natürlich besonders lang, mir wird ein bisschen heiß, wenn ich nur daran denke.
Aber auch mit sich selbst geht sie durchaus hart ins Gericht. Auf dem Weg zur Ferienwohnung erzählt sie mir, wie sie gestern die falschen Kartoffeln gekauft hat, mehligkochende nämlich statt der festen, und die sind für Bratkartoffeln völlig unbrauchbar. Kartoffeln sind in meiner Familie schon immer eine ziemlich große Sache. Immerhin sind sie für meinen Opa Ludwig wichtiger Bestandteil jeder warmen Mahlzeit. Die anderen beiden Säulen seiner allmittäglichen Dreifaltigkeit heißen Fleisch und Soße.
Bei einem seiner obligatorischen Geburtstagsanrufe riet er mir einmal in sehr ernstem Ton, unbedingt noch ein Kotelett mit Pommes frites zu essen und eine Flasche Sekt zu öffnen. Als ich dem nicht gleich zustimmte, fügte er, nun ehrlich besorgt, hinzu:
»Mensch, Lerge, sonst weißt du doch gar nicht, dass heute ein besonderer Tag ist.«
Ohnehin ist ihm kaum etwas so wichtig wie das tägliche Mittagessen, das Lore, egal, unter welchen Umständen, pünktlich um 12 Uhr serviert, ohne Ausnahme. Das hält ihn, das hält die Beziehung am Leben, das betont er bei jeder Gelegenheit. Und warm muss das Essen sein, warm und »erquickend«. Auf »Butterbrote mit Margarine«, genau so sagt er das, könne man schließlich kein Leben aufbauen.
Opa Ludwig hat gehungert. Damals auf der Flucht aus seinem schlesischen Heimatdorf. Wenn überhaupt, dann hat es trockenes Brot, alte Kartoffeln oder Graupen gegeben. Als er meine Großmutter heiratete, hatte sie ihm versprechen müssen, dass in ihrem gemeinsamen Haus niemals Graupen auf den Tisch kommen würden, egal, wie schlecht es ihnen ginge. Er spricht sehr wenig von der Flucht, und nur manchmal traut sich einer von uns, nachzufragen.
Eine Geschichte erzählt er aber doch sehr gerne:
Wenn der Treck für ein paar wenige Tage in der Nähe eines Dorfes haltmachte, schickte man die Kinder los, um zu betteln. Mein Großvater war zehn Jahre alt und völlig frei von jeglicher Scham. Wenn der Hunger einigermaßen erträglich war, dann machte ihm das Betteln sogar ein wenig Spaß. Er begriff es als Spiel, zwar eines um Leben und Tod, aber er hatte die Regeln schnell verstanden und auch ein paar Tricks und Kniffe entwickelt, die er den anderen Kindern beibringen konnte. Zum Beispiel ließ er sich nicht gleich abwimmeln, wenn man ihm am Vordereingang eines Hauses die kalte Schulter zeigte, sondern ging immer noch hinters Haus. Dort traf er oft auf ältere Frauen, die Kartoffeln schälten oder im Zuber Wäsche wuschen. Und die hatten immer Mitleid mit ihm. Von einer alten Frau, sagte er, sei er beim Betteln nie abgewiesen worden. Und an jenem Nachmittag gab es für ihn neben einem halben Laib Brot und etwas Milch sogar eine Feldflasche voll Rotwein. Stolz trug mein Großvater die Schätze zurück zum Treck, doch es waren fast fünf Kilometer, die er zurücklegen musste, seine Beine waren kurz, die Sonne verbrannte sein Gesicht, und seine Zunge klebte vor Durst am Gaumen. Die Milch war tabu, weil im Treck auch zwei Kleinkinder mitreisten, also trank er einen einzigen winzigen Schluck Rotwein. Dann noch einen und noch einen, dann tanzte er über den Feldweg und sang Pfadfinderlieder, bis irgendwann die ganze Flasche leer war. Er wachte erst wieder auf, als sein Vater ihn am Ohr aus dem Graben zog, in dem er volltrunken das Bewusstsein verloren hatte. Die Milchkanne lag umgestoßen da, und das Brot hatte sich mit dem brackigen Grabenwasser vollgesogen. Sein Vater, »der alte Zickelschuster«, wartete nicht bis zu seiner Ausnüchterung und verprügelte ihn noch vor Ort derart, dass er erneut das Bewusstsein verlor. Als er das nächste Mal erwachte, war es nicht mein Urgroßvater, der ihn weckte, sondern das Fieber. Er bekam Typhus, und, so endet die Geschichte jedes Mal: »… fast hätten wir alle nicht hier gesessen.«
Weil Graupen tabu waren, das Geld aber trotzdem knapp, begannen meine Großeltern früh