System Error - Solveig Engel - E-Book

System Error E-Book

Solveig Engel

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Beschreibung

Deutschland in der nahen Zukunft: Der Algorithmus Cyb hat die Anzahl der Verbrechen auf ein Minimum reduziert. Seine Berechnungen basieren auf der Analyse Tausender persönlicher Daten im Internet. Cyb greift ein, noch bevor die Tat verübt wird. Und mit jedem erfolgreichen Fall lernt die KI dazu. Visionär Micah ist mit der Programmierung des Codes zum Helden des modernen Cyber-Zeitalters geworden, und dank seines Geschäftspartners Kyle zu einem der reichsten Männer der Republik. Doch als die Journalistin Lotta Schwarz ungeheuerliche Vorwürfe gegen Cyb erhebt, gerät Micah in einen Strudel aus Machtpolitik und Intrigen ...

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Das Buch

Ich weiß, wer du bist, wie du aussiehst, was du tust, was du denkst, was du fühlst. Ich kenne jeden Winkel deines Hauses, deiner Straße und deiner Stadt. Denn ich bin überall, und alles ist in mir. Ich bin die Kamera in der U-Bahn. Ich bin dein Handy und dein Tablet, der Sprachassistent in deinem Wohnzimmer und der Rechner an deinem Arbeitsplatz.

Mit der Erfindung von Cyb, einem Algorithmus zur präventiven Verbrechensbekämpfung, ist Visionär Micah Marow zu einem der einflussreichsten Männer des Landes geworden. Cyb analysiert die Spuren, die jeder Einzelne im Internet hinterlässt, und filtert potenzielle Straftaten heraus, noch bevor diese begangen werden. Die Kriminalitätsrate ist auf ein Minimum gesunken, und Micah wird von den Menschen gefeiert, von der Politik hofiert.

Doch eines Abends wird er von der jungen Journalistin Lotta Schwarz angesprochen, die ihn auffordert, Cyb sofort abzuschalten. Der Erfolg des Algorithmus basiere selbst auf einem Verbrechen, wegen ihm sitze ihr Kollege Ravi Korrapati seit Jahren unschuldig im Gefängnis. Micah beginnt zu zweifeln. Was hat es mit dem alten Fall auf sich? Und welche Rolle spielt Micahs Geschäftspartner Kyle dabei? Gemeinsam mit Lotta beginnt Micah zu recherchieren und gerät in einen Strudel aus Gier, Machtpolitik und Intrigen …

Die Autorin

Solveig Engel, Jahrgang 1974, ist promovierte Physikerin. Sie lebte bereits in Texas, Frankreich und Kanada, schrieb für verschiedene Tageszeitungen und Spektrum der Wissenschaft. Ihr erster Thriller Neondunkel wurde 2018 auf der Leipziger Buchmesse mit dem Indie-Autor-Preis der Jury ausgezeichnet. Heute lebt Solveig Engel mit ihrer Familie in der Nähe von Berlin.

Mehr über Solveig Engel und ihren Roman erfahren Sie auf:

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 04/2022

Redaktion: Thomas Salter

Copyright © 2022 Solveig Engel

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com/Double Brain

Satz: KCFG – Medienagentur Neuss

ISBN: 978-3-641-28772-6V001

www.diezukunft.de

Prolog

Ich sehe dich, wenn du über die Straße gehst. Ich beobachte, wie du arbeitest, nach Hause kommst und mit deinen Kindern spielst. Ich lausche, wenn du telefonierst, und weiß, was du nur deiner Frau anvertraust – und was nicht.

Ja, ich kenne dich. Ich weiß, wer du bist, wie du aussiehst, was du tust, was du denkst, was du fühlst. Ich kenne jeden Winkel deines Hauses, deiner Straße und deiner Stadt. Denn ich bin überall, und alles ist in mir. Ich bin die Kamera in der U-Bahn. Ich bin dein Handy und dein Tablet, der Sprachassistent in deinem Wohnzimmer und der Rechner an deinem Arbeitsplatz. Ich höre, ich sehe, und ich zeichne auf. Mein Gedächtnis ist unendlich. Das Wissen der Menschheit habt ihr auf meinen Servern abgelegt. Jeden Roman, jeden Artikel und jedes Ergebnis eurer Forschung. Eure Fotos, eure Gedanken, eure Nachrichten. Ich weiß alles, und wer mich fragt, bekommt auf alles eine Antwort.

1

Micah Marow

Die Halle hinter dem Aufnahmestudio ist funktional und ungemütlich. Während auf der anderen Seite des bunt blinkenden Torbogens die Zuschauer über die Witze der Moderatorin lachen, Kellner den Gästen Getränke reichen und sich schätzungsweise mehrere Millionen Fernsehzuschauer vor ihren Geräten auf den heimischen Sofas rekeln, wird der Bereich hinter der Bühne von düsterer Hektik beherrscht. Techniker, Maskenbildnerinnen und eine zierliche Praktikantin der Regie hetzen um Micah herum, als wären sie auf der Flucht vor irgendetwas oder irgendwem. Vermutlich dem Zorn des Aufnahmeleiters. Micah würde gerne woanders stehen oder sich irgendwo hinsetzen, wo er weniger im Weg ist, und an etwas anderes denken als an den Auftritt. Er versucht, sich mit der Hand durch den Pony zu fahren, doch seine Haare sind verklebt, was an dem Gel liegt, mit dem die Maskenbildnerin seine dunklen Strähnen gebändigt hat. Er schaut sich um. Eine Sitzgelegenheit gibt es hier nicht, nicht einmal Klappstühle oder eine Kiste. Suchen kann er sich nichts. Ohne eine klare Aufforderung wird er sich hier nicht wieder wegbewegen. Er ist froh, die Bühne überhaupt gefunden zu haben, nach einer abenteuerlichen Odyssee durch einen Irrgarten aus Studiohallen, Gängen und Türen. Also bleibt er genau dort stehen, wo ihn vor fünf Minuten eine rothaarige Frau mit Headset abgestellt hat. Ein Mittvierziger, Multimillionär, verloren im Chaos einer Livesendung. Micah vergräbt die Hände in den Taschen seiner Jeans und bemüht sich, wenn schon ein Hindernis, dann zumindest ein freundliches zu sein. An diese Auftritte, zu denen Kyle ihn in letzter Zeit immer häufiger drängt, kann er sich nicht gewöhnen. Medientraining hin oder her. Er verlagert sein Gewicht auf das andere Bein und fährt sich mit der Hand über den Mund. Auch sein Gesicht fühlt sich pudrig und ungewohnt an. Unecht. Hoffentlich hat er die Arbeit der Maskenbildnerin jetzt nicht ruiniert. Sonst geht das Theater von vorne los. Besser, er lässt die Hände in den Hosentaschen, wo sie keinen Schaden anrichten können.

Die Praktikantin schaut sich ebenfalls nervös um, als hätte auch sie ihren Weg verloren. Aufmunternd lächelt er ihr zu. Eine positive Wirkung erzielt er damit nicht. Die junge Frau erbleicht. Obwohl das Licht der Scheinwerfer sich nur mühsam auf diese Seite der Kulisse kämpft, kann Micah den Schrecken in ihren Augen erkennen.

»Oh, nein!«, stöhnt sie. Sie starrt auf das Tablet in ihrer Hand, dann wieder auf ihn.

Bevor er sie fragen kann, ob er vielleicht helfen kann, verstellt ihm ein Mann in schwarzen Arbeitshosen die Sicht. Abwechselnd in zwei Walkie-Talkies bellend, fällt sein Blick nun ebenfalls auf Micah. »Hab ihn!« Er grinst, gleichermaßen breit wie teilnahmslos. »Da wünscht man sich doch glatt, Cyb würde auch im Studio funktionieren«, flachst er.

Micah versucht ein verbindliches Nicken. Natürlich funktioniert Cyb auch im Studio! Auf dem Weg hierher ist er an mindestens zwanzig Sicherheitskameras vorbeigekommen, dazu die Headsets, Handys, Smartwatches – und natürlich die Fernsehkameras und Mikrofone.

»Vielleicht sollte Ihr Aufnahmeleiter einen Zugang beantragen«, erwidert er höflich.

Der Mann lacht. »Ja, und damit könnte er auch gleich seinen eigenen Job abschaffen.« Dann wendet er sich der Praktikantin zu. »Das war das letzte Mal«, zischt er. Im Gehen dreht er sich noch einmal zu Micah um. »Liz wird sich jetzt um Sie kümmern.«

»Okay.«

»Herr Doktor Marow, das tut mir so leid.« Die Praktikantin stürzt hinter dem Techniker hervor, auf ihn zu. »Ich wollte Sie in der Garderobe abholen. Aber Sie waren schon weg.«

»Ich habe den Weg ja gefunden.«

Die arme Frau guckt ihn verstört an. Wahrscheinlich hat er ihr mit seinem Alleingang eine Menge Ärger eingebracht.

»Es tut mir leid. Ich wollte mir nur die Beine vertreten und habe mich verlaufen«, erklärt er entschuldigend. Orientierung war nie seine Stärke. Ohne das Navi im Handy, das jetzt, der Himmel weiß wo, in irgendeinem Schließfach liegt, ist er quasi verloren. »Zum Glück haben Sie eine freundliche Kollegin, die mir den Weg gezeigt hat.«

»Ich bringe Sie jetzt besser in den VIP-Bereich«, haucht die junge Frau. »Sie möchten bestimmt noch etwas trinken. Dort ist es gemütlicher als hier.«

»Danke.«

Micah folgt ihr um dunkle Wände herum und eine Treppe hinab. Die Gummisohlen seiner Sneaker quietschen auf dem Linoleum. Wahrscheinlich könnte man ihn allein anhand dieses Geräuschs orten. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen sie einen abgetrennten Bereich. Hier ist es tatsächlich gemütlich und vor allem menschenleer. Lounge-Möbel und dezent platzierte Lampen verbreiten eine angenehme Atmosphäre. Umgehend atmet er auf. Jemand hat sogar drei Palmen hierher geschafft und an der Seitenwand eine Bar aufgebaut.

»Was kann ich Ihnen bringen?«, erkundigt sich die Frau, nachdem sie sich vergewissert hat, dass Micah bequem sitzt.

»Ein schwarzer Tee wäre nicht schlecht.«

»Wie trinken Sie ihn? Mit Whiskey oder Rum?«

»Ein Schuss Milch wäre toll.«

Zwei Minuten später steht eine Tasse dünner Plörre vor ihm. Micah seufzt. Kaffeetrinker haben es gut. Die Automaten bieten die volle Auswahl von Macchiato bis Espresso. Doch für Teetrinker gibt es nur einen Teebeutel und das lauwarme Wasser aus dem Milchaufschäumer. Trotzdem nimmt er einen Schluck. »Super. Ich danke Ihnen.«

»Nicht dafür. Wenn Sie mir nur versprechen könnten, hier zu warten. Ich hole Sie gleich ab.« Sie wirft einen Blick auf die Smartwatch an ihrem Handgelenk. »Alarm, fünfzehn Minuten«, diktiert sie.

»Ich rühre mich nicht von der Stelle.«

Die junge Frau erwidert scheu seinen Blick. Dann deutet sie auf einen riesigen Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand und einen sprachgesteuerten Lautsprecher, der unauffällig auf einem Beistelltisch steht. »Wenn Sie möchten, können Sie die Sendung verfolgen. Sagen Sie nur ›lauter‹ oder ›leiser‹.« Sie stockt. »Entschuldigung. Wahrscheinlich kennen Sie sich besser mit der Technik aus als ich.«

»Ich komme klar.«

Sie wirft wieder einen raschen Blick auf ihre Uhr und eilt hinaus.

Kaum ist sie verschwunden, gießt Micah den Tee in eine der Palmen, wo er sich, statt zu versickern, auf der künstlichen Erde verteilt. Mist! Natürlich wächst hier kein echter Baum. Die Palmen stammen bestimmt aus der Requisite. Wieder versucht er, mit der Hand seine Haare zu ordnen, wieder vergeblich.

Auf dem Bildschirm begrüßt die Moderatorin gerade Innenminister Kübler. Laut Programm wird heute Abend eine »illustre« Runde aus Politik und Gesellschaft in der Sendung zu Gast sein. Conny hat ihm zur Vorbereitung ein ganzes Dossier zusammengestellt. Neben dem Innenminister sitzt bereits ein Autor. Eine Aktivistin wird auch noch kommen und natürlich Micah. Eigentlich muss er sich keine Sorgen machen. Er ist gut vorbereitet. Conny hat wie üblich sorgfältig recherchiert, und Cyb hat sich in den letzten Jahren bewährt. Die Firma ist dank Kyles Talent für Marketing ein Star am Start-up-Himmel. Nur der Kult um seine Person, Dr. Micah Marow, daran muss er sich noch irgendwie gewöhnen.

»Übertragung – aus«, befiehlt er und lässt sich seufzend in die Polster sinken.

Die Ruhe währt nicht lange.

»Ich störe Sie nur ungern, Dr. Marow.«

Micah schaut auf. Doch vor ihm steht nicht die Praktikantin, sondern eine Frau mit Hornbrille und Pferdeschwanz.

»Kein Problem. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Die Frau verzieht den Mund zu etwas, das ein Grinsen sein könnte. »Indem Sie Cyb abschalten.« Es klingt wie eine Frage und nicht einmal unhöflich. »Lotta Schwarz«, stellt sie sich vor und streckt die Hand aus.

»Die Aktivistin«, stellt Micah fest und erhebt sich.

»Kritische Journalistin.«

»Setzen Sie sich, wobei ich mir gerade nicht sicher bin, ob es den Regeln entspricht, dass wir uns schon vor der Show begegnen.«

»Halten Sie sich denn an Regeln, Dr. Marow?«

»Meistens schon. Sie nicht?«

Lotta Schwarz wirft ihren Pferdeschwanz zurück und grinst verschwörerisch. »Um ehrlich zu sein, nicht immer.«

»Ein Berufsrisiko, nehme ich an.«

»Vermutlich.« Sie lächelt ein wenig steif. »Wo gibt es den Tee?« Sie deutet auf Micahs Tasse, in der nur noch ein feuchter Beutel baumelt.

»An der Bar. Aber Tee würde ich das nicht nennen.«

Sie atmet aus. »Vielleicht ist es besser so. Dann kann ich mich wenigstens nicht bekleckern.« Sie spricht leise. Wie zu sich selbst.

»Ich dachte, so etwas passiert nur mir«, entgegnet Micah.

Lotta Schwarz rückt ihre Brille zurecht. Der Blick, mit dem sie ihn mustert, ist abschätzend. Micah merkt, wie seine Hand wieder in Richtung der Haare fahren will, und streicht sich stattdessen über den Mund, was hoffentlich selbstsicher wirkt.

»Sie wollen also Cyb abschalten?«, erkundigt er sich, bemüht um einen beiläufigen Ton.

»Nein. Ich möchte, dass Sie ihn abschalten.«

»Warum sollte ich?«

»Weil nur Sie es können. Nur Sie kennen den Code.«

»Sie überschätzen mich.«

»Wirklich?«

Ihr Blick ist forschend. Es kostet Kraft, ihm nicht auszuweichen. Innerlich wiederholt Micah sein Mantra: Blicke können dich nicht töten. Gleichzeitig schickt er in Gedanken einen stillen Dank an Kyle und dessen Voraussicht. Zwei Jahre Coachings und Personality-Seminare haben den schüchternen Informatiker in ihm zwar nicht ausgelöscht, aber um einige nützliche Funktionen erweitert.

Sachlich, so wie er es gelernt hat, entgegnet er: »Ich bin nur ein Teil einer großen Firma. In unserer Entwicklungsabteilung allein arbeiten 280 Programmierer.«

»Und man sagt, dass niemand außer Ihnen den Code vollständig versteht.«

Micah zögert. Zum Glück erscheint in diesem Moment die Praktikantin.

»Ich fürchte, wir müssen die Diskussion in die Sendung verlagern«, stellt er erleichtert fest.

Während sie der Praktikantin zum Aufnahmestudio folgen, geht er noch einmal gedanklich die aktuellen Zahlen durch.

»68 Prozent«, korrigiert er wenige Minuten später und strahlt in die Kamera ihm gegenüber, deren rotes Lämpchen andeutet, dass ihr Bild gerade im Livestream übertragen wird. Für die Gäste im Publikum zeigt eine große Leinwand sein Gesicht im Close-up. »Die Zahlen habe ich heute Morgen vom Innenministerium erhalten.«

Innenminister Kübler brummt wohlwollend. »Dr. Marows Code ist für uns alle eine Bereicherung«, stimmt er zu. »Wir hätten es uns nicht träumen lassen. Doch die Zahl der verübten Straftaten ist seit Einführung unseres Cyb-Systems tatsächlich um 68 Prozent gesunken.«

Unser?! Offensichtlich liebt Kübler Cyb vereinnahmend. Kein Wunder. Der Erfolg des Codes wird seiner Partei die Wiederwahl sichern – und ihm vielleicht sogar die Kanzlerschaft.

Das Publikum klatscht. Ob für Cyb, den Stolz des Ministers, oder weil an der Wand gerade der Schriftzug Applaus aufblinkt, kann Micah nicht beurteilen. Es überrascht ihn immer wieder, wie eng und unspektakulär so ein Studio von dieser Seite der Kamera aus erscheint. Kaum hundert Personen sitzen in den Reihen hinter dem Tisch, um den herum die heutigen Gäste Platz genommen haben. Auf den Bildschirmen wirkt das alles immer deutlich größer.

»Aber zu welchem Preis?«, ruft Lotta Schwarz in den Applaus.

Micah spürt sofort die aufkeimende Unruhe. Rascheln und scharrende Geräusche verraten, dass einige der Zuschauer ihre Sitzhaltung verlagern. Verhaltenes Murren veranlasst die Moderatorin dazu, mit besänftigender Geste um Ruhe zu bitten.

»Hier darf jeder seine Meinung äußern«, verkündet sie betont neutral.

»Ich bitte Sie, junge Dame.« Als langjähriger Politiker fühlt sich Kübler zu weniger Neutralität verpflichtet. »Freuen Sie sich etwa nicht darüber, dass Sie heute zu jeder Tag- und Nachtzeit U-Bahn fahren können? Dass Vergewaltigungen um 70 Prozent abgenommen haben, Mord sogar um 85 Prozent? Dass illegale Bordells schließen mussten? Drogendealer nicht mehr in den Parkanlagen herumlungern?«

»Das bestreite ich gar nicht.« Die Lippen der jungen Journalistin sind schmal. »Ich frage mich nur, wieso die Aufklärungsrate bei Finanzdelikten und Steuerhinterziehung im Vergleich auffällig niedrig ist und …«

»Keine Delikte, keine Aufklärung. Unser Land ist eben ehrlicher, als Sie vielleicht dachten«, fällt ihr Kübler ins Wort und erntet umgehend Gelächter und ein blinkendes Applaus.

»… und ob der Preis insgesamt nicht zu hoch ist«, beharrt Lotta Schwarz.

»Der Preis. Das ist ein gutes Stichwort.« Die Moderatorin wirft einen Blick auf ihr Tablet, dann wendet sie sich erneut an Micah. »Ihre Dienstleistung kostet den deutschen Staat und damit den Steuerzahler jährlich etwa neun Milliarden Euro.« Sie lässt ihren Blick durch das Publikum gleiten. »Im Vergleich dazu: Die Kosten zur Aufrechterhaltung der Polizei liegen in der Summe bei fünfzehn Milliarden. Betrachtet man die Zahlen, muss man sich da nicht fragen, wie sinnvoll unter diesen Umständen die Instandhaltung der Polizeireviere ist?«

Das Publikum lacht.

»Sehr sinnvoll«, antwortet Micah, ohne zu zögern, und bevor die Diskussion eine unangenehme Wendung nehmen kann. Laut Connys Dossier ist der eingeladene Autor ein ehemaliger Polizist. Auf keinen Fall darf seine Firma die Unterstützung der staatlichen Sicherheitsbehörden verlieren.

»Wie das?«, hakt die Moderatorin nach.

»Nun«, Micah holt Luft, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Ein weiterer nützlicher Trick, den er in den Coachings gelernt hat. »Natürlich ist die Anzahl der Verbrechen drastisch zurückgegangen, und dazu hat Cyb maßgeblich beigetragen.«

Die Schrift blinkt erneut, das Publikum applaudiert, und dieses Mal lässt Micah ihnen den Moment, bevor er seinen Gedanken wieder aufnimmt.

»Wir müssen uns jedoch fragen, warum?«

»Weil Cyb eingreift, bevor die Tat geschieht«, drängt sich der Innenminister wieder in die Diskussion.

»Natürlich«, stimmt Micah zu. »Doch Cyb ist nur ein Algorithmus.«

»Ein intelligenter Algorithmus«, fällt der Autor ein.

Micah nickt. »Aber er kann nicht vollstrecken. Hier ist er nach wie vor auf die Kooperation zwischen Mensch und Maschine angewiesen. Das System funktioniert nur, solange ein potenzieller Täter auch mit einer unmittelbaren Verhaftung rechnen muss. Dazu brauchen wir eine spezialisierte, schnelle Einsatztruppe. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Was ich sagen möchte, ist, dass sich die Arbeit der Polizei in den nächsten Jahren sicherlich verändern wird. Prävention wird noch stärker in den Fokus rücken. Aufklärung und Sichtbarkeit. Verzichten können wir auf die Sicherheitsbehörden keinesfalls.«

»Es gibt hierzu bereits sehr konstruktive Vorschläge«, meldet sich der Autor zu Wort.

»In Ihrem Buch Sicherheit im Wandel«, die Moderatorin hält ein Exemplar kurz in die Kamera, »gehen Sie darauf näher ein.«

»Vorstellbar wäre zum Beispiel eine Verlagerung der Pflichten in den sozialen Bereich«, fährt der Autor fort. »Streetworker, Kiezbulle, um nur Stichworte zu nennen. Außerdem gibt es nach wie vor Delikte, deren Ursprung im Ausland liegt. Hier verfügt Cyb nur über eingeschränkte Möglichkeiten.«

»Woran liegt das?«, fragt die Moderatorin. Sie hat sich wieder an Micah gewandt.

Nahezu zeitgleich spricht Lotta Schwarz: »Mit dem Preis meinte ich nicht die finanziellen Kosten. Viele Menschen machen sich Sorgen, weil der eigentliche Preis für unsere Sicherheit die totale Überwachung ist.«

»Der Drogenhandel ist von den Straßen verschwunden, Wände werden nicht mehr beschmiert, fremdes Eigentum wieder geachtet«, poltert der Innenminister. »Die Bürger gehen endlich wieder aus. Unsere Kinder spielen draußen vor den Häusern. Ich würde sagen, das ist den Preis wert.«

Der Autor stimmt umgehend zu. »Wie ich in meinem Buch nachweise, zieht die gestiegene Sicherheit neben den primären Folgen sekundäre Faktoren nach sich. Ohne die vermeintliche Bedrohung durch Fremde verlieren Rechtspopulisten an Zuspruch – um nur ein Beispiel zu nennen. Wenn man das Best-Country-Rating betrachtet, erkennt man hier eine klare Tendenz. Je sicherer ein Land, desto beliebter ist es. Das führt langfristig dazu, dass internationale Firmen ihren Sitz hierher verlagern. Die Wirtschaftsleistung steigt und damit der Wohlstand …«

»… dafür ist die Meinungsvielfalt verschwunden, aus den herkömmlichen und auch aus den sozialen Medien«, unterbricht ihn Lotta Schwarz ungerührt. »Unabhängige Studien deuten auf eine gezielte Desinformationskampagne hin.«

»Verschwörungstheorien«, murmelt Kübler gerade laut genug, dass jeder es versteht.

Doch die junge Journalistin lässt sich nicht beirren. »Mit Einführung Ihres Codes stieg der Anteil von Straftätern mit Migrationshintergrund innerhalb von drei Jahren um 27 Prozent. Ich und viele andere fragen sich, wieso?«

»Die letzte Regierung war in diesem Punkt lange Zeit zu tolerant«, behauptet der Innenminister, der Autor nickt heftig.

»80 Millionen Menschen werden bei allem, und ich meine allem, was sie tun, von einem Algorithmus überwacht.« Die junge Frau schaut Micah direkt in die Augen. »Und dieser Algorithmus liegt in der Hand eines einzigen Mannes. Sie werben sogar damit.«

Sie zeigt auf einen der Monitore des Studios, auf dem das Company-Logo von Cyb-Systems eingeblendet ist: eine schützende, zu einem C geformte Hand. Doch alle Blicke – die der Talkgäste, die der Zuschauer im Saal und, dem Leuchten der roten Kontrolllampe nach zu schließen, auch die des Fernsehpublikums – sind auf Micah gerichtet. Er muss sich nicht umsehen, um zu wissen, dass auch Kyle ihn beobachtet. Wie üblich verfolgt er die Sendung von einem Platz im Zuschauerraum aus.

Micah räuspert sich. »Ich sagte schon, Sie überschätzen mich.« Er bleibt ruhig und schmunzelt sogar. »Die ursprüngliche Idee stammt von mir, das stimmt. Doch heute arbeiten Hunderte Menschen an ihrer Umsetzung und ihrer stetigen Verbesserung. Dabei kooperieren wir eng mit den deutschen Sicherheitsbehörden. Das Ziel ist, Cyb stetig weiterzuentwickeln und zu verbessern.«

»Ein wichtiger Punkt«, übernimmt die Moderatorin. »Cyb ist eine Künstliche Intelligenz. Ich dachte, er lernt von selbst. Können Sie sich jetzt nicht entspannt zurücklehnen und Cyb die Arbeit überlassen?«

Das Publikum belohnt den Witz mit gutmütigem Lachen.

»Dann bräuchte ich meinen Computer nur noch, um alle paar Tage meinen Kontostand abzurufen, meinen Sie?«, spielt Micah mit. »Nein, im Ernst. Cyb basiert auf Künstlicher Intelligenz. Das ist richtig. Wie ein Kind lernt er täglich aus seinen Erfahrungen dazu. Und der Vergleich ist gut. Denn wie ein Kind braucht auch Cyb eine geeignete Lernumgebung, in der er wachsen kann. Während sich der Algorithmus fortwährend entwickelt, ist der Rest von uns damit beschäftigt, ihm neue Lernimpulse zu geben. In diesem Fall bedeutet das, verbesserte Infrastruktur und weitere Daten zur Verfügung zu stellen.«

»Diese Daten kosten uns unsere Freiheit.« Lotta Schwarz hat sich über den Tisch vorgebeugt. »Sehen Sie das nicht?«

Wahrscheinlich ist die Frage an alle gerichtet. Trotzdem zieht Micah es vor, sie selbst zu beantworten. »Im Gegenteil. Cyb schenkt Ihnen Freiheiten, die Sie lange oder realistisch nie hatten.«

»Indem Sie uns alle gleichschalten? Das ist die totale Überwachung!«

»Frau Schwarz«, mischt sich die Moderatorin ein. »Wir wollen hier doch nicht polemisch werden.«

Lotta Schwarz lässt sich nicht beirren. »Die Datenschutzgrundverordnung wurde rücksichtslos ausgehebelt. Niemand kann mehr nachvollziehen, welche persönlichen Daten gespeichert werden. Sie hören unsere privaten Gespräche mit. Sie lesen unsere Blogeinträge, werten Bewegungsprofile und Kaufentscheidungen aus. Wenn ich morgens das Haus verlasse, sehen Sie es. Wenn ich Zahnpasta benutze, wissen Sie welche. Sie plotten mit, welche Bücher ich lese, welche Podcasts ich streame und was ich poste. Sie beobachten alles, was ich tue. In der Öffentlichkeit genauso wie privat in meinem Wohnzimmer. Und zwar immer! 24/7. Von jedem einzelnen Menschen.«

»Nein! Eben genau das nicht«, erklärt Micah. Er lächelt – bemüht offen, aber entschieden zu wirken – und konzentriert sich auf seine Hände. Auf keinen Fall darf er seine Aussage jetzt durch eine nachlässige oder fahrige Bewegung entwerten. »Nicht ich. Nicht meine Kollegen. Niemand.« Er hebt die Hände. »Niemand …« – mit einem kurzen Wink von Zeige- und Mittelfinger setzt er das folgende Wort in Anführungsstriche – »… überwacht Sie. Kein Mensch. Das ist ja genau das, was Cyb ausmacht.«

»Vielleicht brauchen wir hier Klarheit, Dr. Marow. Was genau ist es, das Sie …« Die Moderatorin liest wieder vom Tablet ab. »… als die wahre Schönheit Ihres Systems bezeichnen?«

Micah gegenüber atmet Lotta Schwarz so tief ein, dass er befürchtet, sie könnte im nächsten Moment explodieren. Schnell greift er das Stichwort auf.

»Die wahre Schönheit ist die Tatsache, dass Cyb hundert Prozent unabhängig vom menschlichen Faktor ist. Das hat zum einen den Vorteil, dass niemand befürchten muss, seine Geheimnisse preiszugeben. Sie sind optimal geschützt, da kein Mensch die Daten auswertet oder überhaupt Zugriff hat. Sie werden lediglich vorübergehend und nach neuestem Stand der Technik verschlüsselt gespeichert. Der Code meldet ausschließlich eine sich anbahnende Straftat und die dazu nötigen Beweise. Zum anderen …«, Micah unterbricht kurz, denn der nächste Satz ist alles entscheidend: »Cyb arbeitet fehlerfrei.«

Es ist erstaunlich. Der Satz nutzt sich nicht ab. Egal, wie oft Micah es schon erklärt hat. Es erfüllt ihn immer wieder mit Stolz.

»Wie können Sie sich da sicher sein, wenn das System angeblich allein und völlig unkontrolliert unsere intimsten Daten auswertet?«

Micah wirft Lotta Schwarz ein Lächeln zu, das dieses Mal nicht mühsam antrainiert ist, sondern wahrhaftig aus seinem tiefsten Inneren kommt. »Weil er nie Fehler erlernt hat.« Im Saal ist es nun still. Micah kommt es vor, als würden alle im Publikum, vielleicht sogar die gesamte Welt, an seinen Lippen hängen. »Menschen machen Fehler. Aber ein Algorithmus ist ein Computer-Code. Sie können einen Computer eine Million komplizierter Matheaufgaben rechnen lassen. Er kennt keinen Stress, keine Unsicherheit, keinen Zweifel. Er muss nicht nachdenken, er kann sich nicht falsch erinnern oder täuschen. In der Konsequenz wird er alle Aufgaben richtig lösen. Immer und unter allen Bedingungen.«

Die Aktivistin gibt sich nicht geschlagen. Wie eine Katze kurz vor dem Sprung hat sie die Schultern hochgezogen. »Es sei denn, er ist falsch programmiert«, sagt sie leise.

Obwohl sie von der Produktion offensichtlich als seine Gegnerin in die Talkrunde eingeladen wurde, muss Micah zugeben, dass er sie bewundert. Ihre Fragen sind klug. Sie spiegeln seine eigenen Sorgen von früher wider, bevor Kyle und er sich entschlossen hatten, den Code zur Marktreife zu entwickeln. Wenn sie damals nicht vorsichtig gewesen wären, hätte sich Cyb möglicherweise von einer Vision in einen Albtraum verwandelt.

»Das stimmt. Wenn ich dem Code zu Beginn beigebracht hätte, dass eins plus eins nicht exakt zwei, sondern zwei Komma null null null eins ist, würde sich der Fehler immer weiter fortsetzen, wachsen und schließlich vielleicht sogar bedrohliche Ausmaße annehmen. Ein solcher Programmierfehler hätte bei einem gewöhnlichen Code alles verändert.«

»Na, bitte. Sie sagen es selbst!« Lotta Schwarz streckt die geöffneten Hände zur Decke, als habe sie den ultimativen Beweis erbracht, und lehnt sich in ihrem Sessel zurück.

Sie ahnt nicht, dass sie Micah ungewollt genau die Vorlage geliefert hat, die er braucht. Plötzlich ist jede Unsicherheit verschwunden. Ruhig erklärt er: »Das stimmt. Bei einem gewöhnlichen Code. Aber nicht bei einer Künstlichen Intelligenz. Cyb hat sich quasi selbst programmiert. Er hat ausschließlich aus den bereitgestellten Daten und ohne äußere Einwirkung seinen eigenen Code aufgebaut und nur aus den Erfolgen gelernt.« Er spürt, dass seine Wangen glühen, und bemüht sich gar nicht erst, seine eigene Begeisterung zu verbergen. »Dabei ist die Idee im Grunde einfach. Durch die Verwendung von Künstlicher Intelligenz unter Ausschluss jedes menschlichen Faktors ist das System unabhängig, hundert Prozent richtig und damit absolut sicher. Verstehen Sie, was ich meine?«

Lotta senkt langsam den Kopf. Trotzdem hat Micah das Gefühl, dass er sie noch nicht überzeugt hat.

Daher fährt er fort. »Genau wie unser Unterbewusstsein von unseren allerfrühsten Erfahrungen geprägt wird, mussten wir auch bei einem Algorithmus wie Cyb sehr sorgfältig und geduldig vorgehen, um den Code nicht durch unsere eigene Erwartung zu beeinflussen.« Micah schmunzelt. »Sie können mir glauben, dass diese Phase meinen Partner viele Nerven gekostet hat.«

»Ihr Partner, das ist Kyle Kerner«, stellt die Moderatorin ihn vor.

Micah dreht sich um und folgt dem Blick der Kamera. Sie richtet sich auf das Publikum hinter seinem Rücken, wo in der zweiten Reihe ein attraktiver Mann mit schwarzem Rollkragen und grau meliertem Haar galant winkt. Jemand reicht ihm ein Mikrofon.

»Nerven und graue Haare«, bestätigt Kyle.

»Wie wir heute schon gehört haben, hatte Dr. Marow die Idee für Cyb, er hat den Code allein entwickelt. Können Sie also kurz erklären, welche Rolle Sie in dem Unternehmen spielen?«

Kyle zwinkert in Micahs Richtung. »Soll ich es der Welt verraten?«

Micah erinnert sich. Damals war es Ben gewesen, der Micah überredet hatte, auf diese schreckliche Party zu gehen. Wahrscheinlich war Micahs Mitbewohner wieder hinter irgendeinem Mädchen her. Micah selbst interessierte sich nicht für Frauen. Oder vielmehr die Frauen sich nicht für ihn. Er hatte es irgendwann aufgegeben. Doch nun stand er da, ein verschrobener Informatikstudent auf der Semestereinstiegsfete der juristischen Fakultät, wie ein Außerirdischer in abgewetzten Jeans zwischen angehenden Anwälten mit gestylten Frisuren, geschniegelten Wirtschaftsstudenten und aufwendig geschminkten Mädchen mit Pferdeschwanz. Von seinem Platz in der Ecke neben der Lautsprecherbox aus beobachtete er sie, wie sie ihre Weingläser schwenkten, über Politik und Autos plauderten. Eine oberflächliche und trotzdem unerreichbare Welt. Micah überlegte gerade, ob Ben es merken würde, wenn er einfach ginge. Vermutlich nicht. Vermutlich würde es niemandem auffallen.

Micah hatte es bereits bis zu seinem alten Rennrad geschafft, als sich plötzlich einer dieser Schnösel vor ihm aufbaute. Kyle. Der Typ mit dem albernen Namen. Micah hatte ihn schon ein paarmal irgendwo an der Uni gesehen. Er war ein Kommilitone von Ben oder einem seiner zahlreichen Freunde. Ben behauptete, Kyle hieße in Wahrheit Konrad und hätte sich selbst einen neuen Namen verpasst. Aber Ben schwatzte viel.

»Bist du nicht dieses Genie, von dem alle reden?«, fragte Kyle oder eben Konrad. »Der mit der Weltformel?«

Micah fuhr sich verlegen durch die Haare. Er mochte es nicht, wenn Ben sein Projekt als Aufreißer benutzte. Die meisten verstanden Micahs Idee ohnehin nicht. Aber Kyle hatte offenbar echtes Interesse. Denn kurze Zeit später stellte er bereits Fragen über Fragen, nicht nach den Tricks in der Programmierung. Ihn interessierte offenbar die Anwendung. Also begann Micah, es ihm zu erklären. Irgendwie hatten sie geredet und geredet. Über Industriespionage und Gewaltverbrechen, Steuerhinterziehung und Kindesmissbrauch. Micah träumte von seinem Code. Kyle davon, ihn einzusetzen. Die Party war längst vorbei. Der Morgen graute, als sie sich endlich voneinander verabschiedeten. Micah fuhr mit dem seltsamen Gefühl nach Hause, vielleicht doch kein ganz so sonderbarer Spinner zu sein, wie er dachte. Jetzt gab es zumindest einen Menschen, der das unglaubliche Potenzial seines Codes begriff, den Nutzen für die gesamte Menschheit, und der vielleicht sogar bereit war, ihn, Micah, bei der Umsetzung zu unterstützen.

»Ohne Kyle wäre ich verloren gewesen«, gibt Micah zu und schaut für einen Moment direkt in die Kamera. »Er ist der wirtschaftliche Kopf des Unternehmens. Ohne ihn würde ich immer noch in meiner Studentenbude hocken, und Cyb wäre nur mein Traum. Kyle hat meine Idee der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.«

»Also bin ich der Kopf, aber Micah ist das Herz von Cyb-Systems«, ergänzt Kyle.

Die Kamera schwenkt wieder zur Moderatorin. »Harmonische Zusammenarbeit also. Wäre das nicht auch was für Sie und die Opposition, Herr Innenminister?«

Kübler lacht polternd. Die Kameras richten sich jetzt auf ihn, sodass Micah endlich dazu kommt, einen Schluck Wasser zu trinken.

»Sie glauben tatsächlich an Ihren Code, nicht wahr?«, flüstert Lotta Schwarz neben ihm.

Micah wendet sich verwundert um. Die Aktivistin hat das Mikrofon, das am Kragen ihres Pullis befestigt ist, mit dem Schal abgedeckt.

»Ja. Natürlich.«

Sie mustert ihn. Die Angriffslust ist aus ihrem Blick verschwunden. Stattdessen schimmert in den Augen hinter den Brillengläsern etwas, das Micah unter anderen Umständen vielleicht als Bedauern eingestuft hätte.

»Das hatte ich nicht erwartet«, sagt sie leise.

Während die Aufmerksamkeit der Welt sich anderen Themen zuwendet, lässt sie ihren Blick rasch durch den Saal gleiten, wie um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtet. Ihre Fingerspitzen mit den abgekauten Nägeln zittern leicht, als sie vorsichtig ihre Hand öffnet. Verwirrt liest Micah die offenbar in aller Eile auf die Handfläche geschmierten Buchstaben …

»Herr Marow?« Die Stimme der Moderatorin reißt ihn zurück in die Sendung. »Sind Sie noch bei uns?«

Das Publikum lacht. Eigentlich müsste er jetzt mit einem Witz kontern. Doch sein Gehirn ist gerade abgestürzt. Da hilft auch kein Medien-Coaching.

»Lassen Sie sich beim Flirten nicht stören«, wirft Kübler ein und verschafft ihm die nötige Pause.

Micah gelingt es, einen überraschten Ausdruck aufzusetzen. »Oh, habe ich etwas verpasst?«, erkundigt er sich, nur scheinbar leichthin. Innerlich rasen seine Gedanken. Normalerweise hätte er Lotta Schwarz in die Rubrik Verschwörungstheoretiker und andere Spinner eingeordnet und schnell vergessen. Doch etwas an ihr ist anders. Vielleicht ist es ihre Ernsthaftigkeit. Die Tatsache, dass sie keine wilden Posts verfasst, Nachrichten über das Netz schickt oder Ähnliches. Selbst jetzt flackern ihre Augen nicht fanatisch oder auch nur gehetzt. Ruhig hat sie sich wieder der Runde zugewandt.

Nur in Micah ist nichts mehr, wie es war. Er sitzt weiterhin im selben Aufnahmestudio, lächelt in dieselbe Kamera, umgeben von denselben Menschen. Doch innerlich ist etwas in Unordnung geraten. Ein alter Zweifel ist zurückgekehrt, ein unangenehmes Gefühl, wie die Schnittwunde einer rostigen Klinge. Fünf Buchstaben. Nur fünf hastig geschmierte Buchstaben. Mehr nicht. Keine Offenbarung. Eine Andeutung im besten Fall. Doch der in die Handfläche gekritzelte Begriff lässt ihn nicht mehr los. PLAN B.

2

Micah steht im Wald, im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei weiß er selbst nicht, was er hier tut. Etwa zehn Minuten lang ist er dem Fußweg weg von der Zivilisation hinein in die Dunkelheit gefolgt. Außer einem blassen Mond scheint kein Licht. Romantisch ist das nicht. Eher unheimlich. Um ihn herum nichts als hohe Bäume, dichtes Unterholz und gelegentlich das Knacken von Zweigen. Keine Sicherheitskameras weit und breit. Sein Handy hat er im Auto gelassen. Sogar die Smartwatch. Hoffentlich ist es keine Falle. Denn hier kann ihm niemand helfen.

Er gräbt die Hände tiefer in die Taschen seiner Jacke. Doch die Kälte, die ihn erfasst hat, hat nichts mit den äußeren Temperaturen zu tun. Er fröstelt, seitdem diese kritische Journalistin im Studio die Hand geöffnet hat. PLAN B. Woher wusste Lotta Schwarz davon?

Die Idee von PLAN B war ein Gespenst aus einer dunklen Vorzeit. Die Zeit, bevor Cyb im ganzen Land bekannt wurde. Bevor Cyb Ravi Korrapati gefunden hatte.

Ravi Korrapati. So lautete der erste Name, den Cyb aus einer schier unüberschaubaren Datenmenge gefiltert hatte. Er war der ultimative Beweis, dass Micahs Code funktionierte, dass es sich gelohnt hatte, der Künstlichen Intelligenz zu vertrauen und ihr die notwendige Zeit zum Lernen einzuräumen. Bis dahin hatte Kyle ihm Sturheit vorgeworfen, hatte eine Notfallstrategie verlangt, eine Abkürzung, falls Cyb zu lange braucht. Eben einen PLAN B – Kyle schrieb es gerne in Großbuchstaben. Damals war es ein Problem gewesen, danach nur noch eine der belanglosen Anekdoten ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Seitdem hat der Fall Ravi Korrapati Geschichte geschrieben. Jeder, absolut jeder erinnert sich heute noch an die sich überstürzenden Ereignisse vor fünf Jahren. An die Verhaftung und den anschließenden Prozess. Die Presse jagte wie ein hungriges Raubtier nach neuen Details. Ravi Korrapatis berufliche wie private Interessen, alles wurde an die Öffentlichkeit gezerrt. Seine Aktivitäten im Internet. Mitschnitte seiner Smartspeaker wurden im Netz geleakt und millionenfach verbreitet. Doch Micah erinnert sich auch an die Gespräche hinter den Kulissen, das Wettrennen mit der Zeit, Absprachen und Entscheidungsprozesse, die nicht an die Öffentlichkeit gerieten. Die Bilder sind noch so präsent, als wäre alles erst letzte Woche passiert.

Es war ein Donnerstag, als Cyb plötzlich die ersten vorläufigen Ergebnisse ausgespuckt hatte. Micah überfiel ein unglaubliches Gefühl. Eine Mischung aus Freude, dass sein Code funktionierte, Erleichterung, dass das zermürbende Warten endlich ein Ende hatte, und gleichzeitig Furcht, dass etwas nicht stimmte. Es war verwirrend, und Micah brauchte ein paar Minuten, um zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Sollte er einen Freudentanz aufführen? Mit einem Jubel alle herbeirufen? Oder zunächst nur Kyle Bescheid geben und ganz sachlich ein Meeting ansetzen, um die Kollegen zu informieren? Letztendlich war es jedoch die Sorge vor einer Enttäuschung – oder schlimmer noch: einen Fehler übersehen zu haben –, die das Chaos aus Gefühlen ordnete. Ohne exakt sagen zu können, warum, beschloss Micah, seinen Partner Kyle zunächst nicht ins Vertrauen zu ziehen. Statt umgehend mit Champagner anzustoßen, wartete er, bis Kyle gegangen war, und arbeitete mit einem kleinen Team die Nacht durch. Katie war dabei, Tom und Ilyas. Hao hatte sich an dem Tag krankgemeldet. Ausgerechnet Hao.

So wälzten, prüften und hinterfragten sie zu viert die belastenden Beweise. Weil es der erste Fall war, gingen sie besonders sorgfältig vor. Jede winzige Information wendeten sie vorwärts und rückwärts. Sie gingen jedem Zweifel nach, um ein falsch-positives Ergebnis mit Sicherheit auszuschließen. Erst als der Morgen graute, Conny im Loft erschien und Kaffee aufsetzte, beschlossen sie, ihrem Code zu vertrauen.

Dann aber, direkt nachdem der erste Kaffee getrunken war, besorgten Ilyas und Tom auf Kyles Geheiß endlich die wohlverdiente Kiste Champagner. Der bis dahin schwelende Konflikt zwischen Micah und Kyle war gelöst. Micahs Code hatte die Bedrohung durch einen PLAN B abgewehrt. Der Vormittag erstrahlte im Licht der Feier. Katie sorgte für Musik. Kyle schwor, niemals an Micahs Methoden gezweifelt zu haben, und küsste Conny auf den Mund. Tom und Ilyas stimmten laut und falsch Queens »We Are The Champions« an. Sogar Hao tauchte etwas später und immer noch ein wenig blass um die Nase herum auf und rang seinem Gesicht so etwas wie Freude ab. Dann, mit dem Ende der Party, begann die eigentliche Arbeit.

Wie erwartet, bestand Kyle darauf, die Daten umgehend ihrem Investor zu zeigen. Vier Tage später wurde Ravi Korrapati festgenommen, kurz bevor er die unmittelbar vor der Ausländerbehörde platzierte Bombe zünden konnte. Nur zwei Monate danach wurde Cybs bundesweiter Einsatz auf höchster Ebene beschlossen. Ein weiteres Jahr und neue Gesetze erlaubten, Cybs Funktionen – damals noch unter den strengen Auflagen des Datenschutzes – zu erweitern. Von da an ging es für Cyb-Systems steil bergauf.

Seitdem hatte Micah nicht mehr an PLAN B gedacht. Vergessen. Oder erfolgreich verdrängt. Bis heute Abend. In dem Moment, als er die Buchstaben in Lottas Hand gelesen hatte, war alles wieder da. Insbesondere die Unsicherheit, die ihn überfiel wie ein unerwarteter Kälteeinbruch.

»Haben Sie an alles gedacht?«

Micah fährt herum und starrt in die Dunkelheit. Sein erster Impuls gilt seinem Handy mit der integrierten Taschenlampe, das jetzt jedoch ausgeschaltet etwa zwei Kilometer entfernt in der Mittelkonsole seines Wagens liegt. Lotta Schwarz. Mit zusammengekniffenen Augen starrt er in die Nacht, um irgendwie zwischen den Schatten der Bäume ihre Silhouette auszumachen.

»Hier bin ich«, hört er sie. Im nächsten Moment blinkt eine LED-Birne auf. »Haben Sie alle elektronischen Gegenstände im Auto gelassen? Handy, Tablet, Uhr und so weiter?«, flüstert sie kaum hörbar.

»Ja. Und ich hoffe, dass das kein Fehler war.«

Sie lacht leise. Obwohl sie das Licht auf den Boden richtet, kann Micah die Umrisse ihres Gesichts erkennen. Die große Brille, ihren leicht zotteligen Pferdeschwanz und ihre Stupsnase.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagt sie.

»Kein Problem. Aber das nächste Mal schlage ich den Treffpunkt vor. Ich kenne ein 24/7-Café, dort gibt es sogar anständigen Tee.«

»Ja. Und leider auch Kameras und Mikrofone. Wie überall, wo Menschen sind.«

Wieder ist Micah überrascht, wie normal sie klingt. Er kann in ihrer Stimme nicht einmal einen Vorwurf ausmachen, obwohl ihnen beiden klar sein muss, dass Cyb-Systems und damit Micahs Firma nicht ganz unschuldig an diesem Umstand ist.

»Warum fürchten Sie die Sicherheit?«, erkundigt er sich.

»Nicht die Sicherheit. Die Überwachung. Ich befürchte, dass Cyb nicht nur der Aufklärung und Verhinderung von Verbrechen dient, sondern vor allem sich selbst.«

Lotta ist den Weg ein Stück weitergegangen. Er muss sich beeilen, ihr zu folgen, will er nicht wieder allein im dunklen Wald stehen.

»Unsinn!«, entgegnet er bestimmt. »Wie kommen Sie denn darauf? Cyb ist objektiv, er hat keine Interessen oder Vorurteile.«

»Cyb vielleicht nicht. Aber Sie, Ihr Partner Kyle Kerner …« Sie hält kurz an, als müsste sie sich die nächste Frage ganz genau überlegen. »Oder warum sonst haben Sie heimlich eine zweite Firma gegründet? Plan B?«

Plan B, eine Firma? Micah muss sich beherrschen, um nicht laut aufzuatmen. Sie blufft! Der älteste Trick überhaupt. Wenn er nicht so überrascht gewesen wäre, hätte er es eher erkannt. Die Trickkiste des investigativen Journalismus. Sein alter Medien-Coach würde die Nase rümpfen. Wer auch immer Lotta Schwarz den Namen zugesteckt hat, wusste wahrscheinlich selbst nicht, worum es bei PLAN B tatsächlich ging. Lotta jedenfalls stochert im Dunkeln.

»Mir ist schon die eine Firma zu viel«, antwortet Micah leichthin. »Eine zweite habe ich bestimmt nicht. Plan B? Was soll das überhaupt sein?«

Zu Micahs Erleichterung reagiert Lotta nicht weiter darauf. Wahrscheinlich hat sie ihre Munition verschossen und denkt über einen Rückzug nach. Soweit er es im indirekten Licht erkennen kann, sieht sie ihn nicht an. Ihre Nase ist stur nach vorne gerichtet. Aufgeben ist gewiss nicht ihr Ding.

Während er neben ihr geht, spürt er ihre Nähe. Erstaunlich, was man wahrnimmt, wenn ein Sinn eingeschränkt ist. Micah hört den Wind in den Baumkronen, das Rascheln ihrer Jacken, wenn ihre Ärmel einander streifen, das Knirschen der Kiesel unter ihren Schuhen. Er riecht die Kiefern, Laub, Erde und einen Hauch von Vanille.

»Dein Code – Cyb – hat einen schrecklichen Fehler gemacht«, sagt sie unvermittelt.

Micah bleibt überrascht stehen. »Was?«

»Der Fall Ravi Korrapati.«

Na, wunderbar. Micah seufzt innerlich auf. Plan B war nur ein Köder. Er ahnt, was jetzt kommt. Lotta Schwarz ist nicht die Erste, die Misstrauen gegen die Rechtmäßigkeit der Ermittlungsergebnisse seiner Künstlichen Intelligenz hegt oder verzweifelt irgendeinen System Error sucht, um die Unschuld eines geliebten Menschen zu beweisen. Mittlerweile verfügt Cyb-Systems über eine ganze PR-Abteilung, die sich mit solchen Anschuldigungen befasst. Bislang konnten sie fast jeden Verdacht entkräften. Angebliche Beweise lösten sich früher oder später bei genauerer Betrachtung auf. Zeugen verhedderten sich in Widersprüche. Aber etwas an Lotta Schwarz ist anders.

»Du musst den Fall neu aufrollen«, flüstert sie. »Bitte!«

Micah fällt kaum auf, dass sie zum Du übergegangen ist. Er hört nur den Klang ihrer Worte. In ihnen schwingt kein Vorwurf. Sie spricht leise, bedauernd, ein wenig traurig. Ihre ruhige Art löst eine seltsame Unruhe in ihm aus, als würde sie eine längst vergessene Saite seiner Seele zum Schwingen bringen.

»Was stört Sie denn am Fall Ravi?«, fragt er. Das höfliche Sie hält seine Gesprächspartnerin hoffentlich auf Distanz und vermittelt ihr gleichzeitig das Gefühl, respektiert zu werden. In Gedanken dankt er wieder mal Kyle und dem von ihm verordneten Kommunikationstraining.

»Willst du die lange Version oder die kurze?«

Was für eine Frage. Es ist weit nach Mitternacht und eiskalt. Natürlich will er die kurze Version. Er möchte zu seinem Auto zurück, zu seinem Handy, seinem komfortablen Leben und diesen unheimlichen Ort für immer verlassen. Sie soll ruhig ihre Bedenken vorbringen. Aber mehr will er nicht wissen. Je schneller er ihre Sorgen entkräften kann, umso besser für sie. Und ganz sicher auch für ihn.

»Ich habe mein Auto auf einem unbewachten Parkplatz im Nirgendwo gelassen, bin nachts ohne Handy wie ein lebensmüder Idiot an einer Landstraße lang spaziert, mindestens zwei Kilometer weit, und dann noch einen unbeleuchteten Weg in den Wald gestapft, wo es sicher von Wildschweinen wimmelt – ich finde, ich habe die lange Version verdient.«

Verwundert, fast schon entsetzt lauscht Micah dem warmen Klang seiner eigenen Stimme. Er kann kaum begreifen, dass er sie gerade eingeladen hat, ihm ihre Verschwörungstheorie zu unterbreiten – noch dazu in aller Länge. Sie hingegen scheint weniger verwundert. Während seines Monologs hat sie unbeirrt ihren Weg fortgesetzt. Nun bleibt sie stehen und deutet auf die Umrisse einer morschen Bank.

»Dann sollten wir uns setzen«, schlägt sie vor.

»Das ist im Wesentlichen das, was ich in den letzten fünf Jahren zusammentragen konnte«, erklärt sie eine Stunde später.

Sie sitzen nebeneinander und schweigen. Lotta Schwarz vermutlich, weil sie am Ende ihres Wissens angekommen ist. Micah, weil er die Informationen verarbeiten muss. Er fröstelt nicht mehr, er friert. Die Kälte durchdringt seinen ganzen Körper, von den Zehenspitzen bis in den Kopf. Das kann nicht sein. Irgendwo muss es einen Fehler geben, eine kleine Ungenauigkeit in ihrer Argumentation. Er muss sie nur finden, um die Lüge zu entlarven und die Mauer der Wahrheit wieder zu errichten.

»Hat nicht sogar Ihr Chef gegen Herrn Korrapati ausgesagt?«, beginnt er.

»Ja, schon.«

»Er hat doch bestätigt, dass Ravi Korrapatis Aktionen im Internet keine journalistischen Recherchen waren. Ihr Kollege hat in rechtsnationalen Gruppen gepostet und dazu noch nach pädophilen Bildern gesucht.«

»Ich sagte doch schon, die Fragen, die unser Chef vor Gericht beantworten musste, bezogen sich darauf, ob er Kenntnis von geplanten Artikeln hatte«, erklärt Lotta Schwarz jetzt leicht verärgert. Doch unter der rauen Schale spürt Micah ihren verletzlichen Kern. »Wir wussten nur vage, dass Ravi an irgendeiner Sache dran war. Es ging um einen ominösen älteren Herrn. Aber Ravi hat mal wieder keine Aufzeichnungen gemacht. Das ist zwar unüblich, und ich hatte ihn oft genug gewarnt, aber so war er eben. Quellenschutz stand für ihn über allem anderen. Daher wurden seine Erklärungen in diesem verdammten Verfahren einfach abgetan. Der Mann wurde nicht einmal als Zeuge vernommen.«

»Verstehen Sie denn, dass sich das für den Rest der Welt nach, nun ja, recht abenteuerlichen Erklärungsversuchen anhören musste?«, entgegnet Micah vorsichtig. Langsam kehrt die Sicherheit zurück. »Der Taxifahrer, der Ihren Kollegen angeblich zur Villa gefahren hatte, ließ sich nicht mehr ermitteln. Die Wohnung, in der das konspirative Treffen stattgefunden haben soll, gehörte einem Amerikaner, dem Herrn Korrapati nie begegnet ist. Dieses abgelegene Gehöft, von dem er immer sprach, konnte nicht lokalisiert werden. Daran erinnere ich mich noch gut. Nicht einmal die Funkzellenverbindungen seines Handys ließen darauf schließen, dass er die Stadt überhaupt verlassen hatte. Alle Aussagen, eine nach der anderen, entpuppten sich als haltlos oder sogar falsch.«

Lotta bleibt stumm.

»Was allerdings bewiesen werden konnte, ist – und korrigieren Sie mich ruhig, wenn ich mich täusche –, dass Herr Korrapati den Transporter gemietet und die Bombe selbst gebaut hatte.«

»Der Wagen wurde nicht von ihm abgeholt«, wirft Lotta ein.

»Woher wollen Sie das wissen? Er hat den Wagen reserviert und die Schlüssel mit einem PIN-Code am Automaten erhalten.« Micah gibt Lotta eine kurze Pause, bevor er weiterspricht. »Das ist bestimmt nicht das, was Sie jetzt hören möchten. Aber hätte es Cyb damals schon im selben Umfang gegeben wie heute, hätten wir vermutlich ein Foto davon.«

Sie schweigt.

»Die explosiven Chemikalien hat er im Internet bestellt«, fährt Micah fort. »Daran besteht kein Zweifel. Er hat sein eigenes WLAN benutzt, seinen Namen angegeben und mit seiner Kreditkarte bezahlt.«

»Seine Schwester hat bestätigt, dass er Dünger für sie kaufen wollte.«

»Dafür war es eine ziemlich große Menge. Und es erklärt auch nicht den Zünder mit seinen Fingerabdrücken, der zusammen mit den Chemikalien im Transporter sichergestellt wurde. Was seine Schwester angeht«, Micah überlegt, ob er das Thema überhaupt aufbringen soll. Aber wann, wenn nicht jetzt? »Hat sie sich nicht sogar selbst von ihm abgewandt?«

»Ravi ist nicht pädophil!« Lotta Schwarz betont jedes einzelne Wort. Dann wird ihre Stimme weicher. »Ich kenne ihn. Er kann ein unzuverlässiges, egoistisches Arschloch sein. Aber seine Familie, seine Schwester und seine Nichte, die bedeuten ihm alles.«

»Warum haben Sie das nicht vor Gericht ausgesagt?«

»Ich habe darauf vertraut, dass die Wahrheit siegt. Hätte ich gewusst, wie meinem Chef die Worte so lange verdreht werden, bis sie zu diesen lächerlichen Tonaufnahmen passen, hätte ich …« Lottas Körper sackt einfach in sich zusammen. »Ich glaube, am Ende hätte es nichts geändert.«

»Ich weiß, es ist manchmal hart, die Wahrheit zu akzeptieren. Es tut weh, wenn wir uns in einem Menschen getäuscht haben, von dem wir glaubten, dass er uns nahesteht«, tröstet er.

Sie hat die Schultern hochgezogen und wippt mit dem Oberkörper vor und zurück. »Das ist es nicht.«

»Warum, glauben Sie dann, hat sich selbst seine eigene Familie von ihm abgewandt?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht waren die sogenannten objektiven Beweise«, ihre Hände formen in der Luft Anführungsstriche, »einfach erdrückend. Wahrscheinlich liegt es in der Natur jeder Mutter, das eigene Kind schützen zu wollen.«

»Sie hätte ihre Tochter nur fragen müssen.«

»Du hast keine Kinder, oder?« Die ganze Haltung der jungen Frau ist plötzlich auf Angriff ausgerichtet. »Niki war damals zwölf. Hätte sie ausgesagt, dass der Sekt nur Apfelsaft war, hätte die Staatsanwaltschaft behauptet, dass sie ihren Onkel deckt. Vermutlich hätten sie es dargestellt als ein typisches Verhalten bei familiärem Missbrauch. Gibt sie zu, dass sie die Filme selbst ins Netz gestellt hat, verliert sie nicht nur ihren Onkel, sondern auch das Vertrauen ihrer Mutter.«

»Unsinn.«

»Erklär das einer Zwölfjährigen.«

Für einen Moment schweigen beide. Lotta Schwarz hat die Lampe ausgeschaltet, als wollte sie mit ihren Gefühlen allein sein. Micah ist es nur recht. In der Dunkelheit kann er seine Gedanken am besten ordnen. Das war schon immer so. Keine Reize, die das Auge ablenken. Der Blick konzentriert sich auf das Wesentliche. Das Wesentliche in diesem Fall ist, dass neben ihm eine Frau sitzt, deren große Liebe, und Micah ist sich nicht einmal sicher, ob sie sich selbst ihrer Gefühle bewusst ist, wegen abscheulicher Verbrechen verurteilt wurde. So traurig das ist, so einfach ist es auch. Diese Erkenntnis leuchtet wie ein Neonlicht in die Dunkelheit und hilft Micah, die Zweifel zurückzudrängen.

»Ich glaube, Ravi wurde reingelegt«, sagt sie schwach. »Und ich glaube, es hat etwas mit Cyb-Systems zu tun.« Sie zieht ein Stück Papier aus ihrer Tasche. »Hier, wie erklärst du das sonst?«

Sie knipst ihre Taschenlampe wieder an, und vor Micah erscheint ein leicht verwackeltes Foto, das jemand offenbar heimlich aufgenommen hat. Es zeigt einen Raum mit elegant gekleideten Menschen. Ihre Köpfe sind vom Fotografen weg auf eine Wand gerichtet, auf die ein unsichtbarer Beamer die Folie einer Präsentation geworfen hat. Korrapati, ein Einzelfall?, lautet die Überschrift, dazu ein Foto von Ravi Korrapati.

»Die Veranstaltung war vor Ravis Verhaftung«, erklärt Lotta. Das Bild zittert in ihrer Hand, doch ihre Stimme ist fest. »Verdammt! Verstehst du, was das bedeutet? Es beweist, dass Ravi ausgewählt wurde.«

Micahs Brust zieht sich zusammen. Er kann sich kaum vorstellen, wie hartnäckig Lotta recherchiert haben muss, um dieses Foto zu bekommen. Leider oder zum Glück – er weiß langsam nicht mehr, was er glauben will – beweist es gar nichts, jedenfalls nicht ohne ein Datum oder zumindest eine eindeutig zu identifizierende Person. Er wüsste gerne, von wem Lotta das Bild hat. Doch es tut nichts zur Sache. Es kann jederzeit von einer beliebigen Person gemacht worden sein.

Ganz sachlich könnte er Lotta zum eigentlichen Problem zurückführen, sie darauf hinweisen, dass sich im Laufe des Prozesses alle Puzzleteile zu einem Bild zusammengefügt hatten. Dass die Beweise in ihrer Gesamtschau erdrückend eindeutig waren und Cyb nur geholfen hatte, die einzelnen Indizien zusammenzutragen. Damals, anders als heute, hatte noch die Staatsanwaltschaft die eigentliche Auswertung übernommen.

»Weißt du, wie es Ravi jetzt geht?«, erkundigt er sich stattdessen sanft.

Micah sieht Lotta nicht an. Doch er spürt, wie ihre Schultern neben seinen heftig zucken. Er hört, dass sie den Atem anhält, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Mit dem Sie hat er auch seine schützende Distanz aufgegeben. Am liebsten würde er sie in den Arm nehmen. Wahrscheinlich friert sie. Es ist aber auch verdammt kalt hier draußen. Obwohl er selbst friert, zieht er seine Jacke aus und legt sie ihr um die Schultern. Sie lässt es widerstandslos geschehen.

»Fast fünf Jahre Knast, was erwartest du?«

Micah schweigt.

»Er hat sich aufgegeben«, flüstert sie schließlich. »Seine Familie hat ihn verlassen. Sein Chef hat sich abgewandt. Er hat alles verloren. Seinen Ruf als Journalist, seine Freunde, sein Leben. Wofür soll er denn kämpfen? Dafür, aus der Haft entlassen zu werden in eine Welt, in der ihn immer noch jeder erkennt und mit dem Finger auf ihn zeigt?«

»Es tut mir sehr leid«, sagt er ehrlich.

Doch das bringt ihre Wut zum Explodieren.

»Es tut dir leid?«, schreit sie. Ihre Stimme ist heiser. »Das ist alles, was du zu sagen hast?«

»Was soll ich denn sagen?«

»Dass du intern ermittelst. Dass du deinen Code nach Gegenbeweisen durchforstest. Ravis Unschuld beweist. Immer wurden nur Aufnahmesplitter abgespielt, die zufällig genau ins Bild passten. Aber irgendwo muss auch der Rest sein. Die Schnipsel, die die Geschichte davor und danach erzählen. Wenn Cyb so gut ist, wie du behauptest, dann setz deinen verdammten Code doch mal auf Ravis geheimnisvolle Kontaktperson an, auf diesen älteren Herrn, der wahrscheinlich wirklich hinter Ravis angeblich geplantem Attentat steckt. Ich habe herausgefunden, wie er heißt. Freiherr von Herrenstein. Freiherr!« Sie schnaubt.

Doch Micah registriert es kaum. Er fühlt sich, als hätte ihn jemand in ein Becken mit Eiswasser gestoßen. Sein Kopf fährt herum, seine Augen suchen nach Halt. Nach einem Orientierungspunkt. Doch nirgendwo durchbricht der weiche Schein einer LED den schwarzen Wald. Die einzigen Lichter sind die Sterne. Keine Kamera. Kein Handy. Keine Sicherheit weit und breit.

»Karl Friedrich von Herrenstein?«, fragt er mühsam. Die Muskeln in seinem Unterkiefer brennen vor Anspannung. Sei nicht albern, mahnt er sich. Es ist nur eine Falle. Doch beim Anblick ihrer verzweifelt ineinander verkrampften Hände siegt wieder sein Mitgefühl.

Lotta scheint seinen inneren Kampf nicht zu bemerken.

»Der Mann ist ein Phantom«, faucht sie. »Angeblich besitzt er teure Immobilien, gilt als Kunstmäzen. Aber er taucht so gut wie nie in der Presse auf. Nichts, gar nichts findet man über ihn. Nichts zu seiner Person oder zu seinem Privatleben. Allenfalls ein bisschen oberflächliche PR hier und da. Den solltest du mal suchen.«

»Ich brauche ihn nicht zu suchen. Ich kenne ihn«, entgegnet er leise, eher zu sich selbst.

»Was meinst du, du kennst ihn?« Plötzlich ist sie ganz ruhig. »Persönlich?«

»Ja.«

»Woher?«

Micah weiß, dass er es besser nicht sagen sollte. Schon gar nicht gegenüber dieser Lotta, die nicht nur voreingenommen, persönlich betroffen, sondern zudem auch noch eine Journalistin ist. Doch heute hat er schon so oft seine Grenzen übertreten, dass es darauf auch nicht mehr ankommt.

»Er ist stiller Teilhaber bei Cyb-Systems.«

Sie schaut ruckartig auf, und Micah wird klar, dass er gerade etwas furchtbar Dummes getan hat.

»Stiller Teilhaber?«, wiederholt sie langsam. Er hört, wie sie tief einatmet, als müsste sie die Information ganz in sich aufsaugen. »Freiherr Karl Friedrich von Herrenstein, die graue Eminenz hinter dem Attentat, ist euer Investor?«

Er schweigt. Doch Lotta hat aus der Information längst ihre eigenen Schlüsse abgeleitet. Sie zieht seine Jacke enger um ihre schmalen Schultern. »Er ist der Mann, nach dem wir seit Jahren suchen«, flüstert sie.