Tage mit Leuchtkäfern - Zoe Hagen - E-Book

Tage mit Leuchtkäfern E-Book

Zoe Hagen

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Beschreibung

»Das Leben ist ein Privileg«, sagte ich. »Das Leben ist ein Privileg?«, fragte Noah erstaunt. »Ja«, sagte ich. Noah zog die Luft ein, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er drehte sich zu Fred und den anderen um und fragte: »Wo zum Henker hast du denn den kleinen Gandhi hier her?« Du bist einsam und unglücklich, dein Leben wie ein falscher Film, der an dir vorbeiläuft. Bis du neue Freunde triffst. Gut, die sind alle ein bisschen verrückt, sie nennen sich »Der Club der verhinderten Selbstmörder«. Aber sie geben dir Halt und sind wie Leuchtkäfer in deiner bodenlosen Traurigkeit. Denn du hast nur das eine Leben.

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Zoe Hagen

Tage mit Leuchtkäfern

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1270-5

© 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic®, München (Himmel und Mädchen) © Getty Images / Gary Waters (Wegweiser)

E-Book: L42 Media Solutions Ltd., Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Mama

26. November

Lieber Gott,

ich schreibe, weil ich sonst wahnsinnig werden würde. Ich weiß nicht, wohin mit all den Gedanken, die in meinem Kopf herumschwirren oder eher -kriechen, die an mir nagen und mich zerfressen. Ich könnte auch »Liebes Tagebuch« schreiben, denn eigentlich glaube ich nicht an dich. Aber an irgendetwas muss man glauben, das ist wichtig. Man braucht etwas, das einem Kraft gibt, zu jeder Sekunde, sofort und bedingungslos. Und weil ich so etwas nicht habe, schreibe ich dir, Gott. Ziemlich traurig, oder? Vermutlich liest oder siehst du das eh nicht, weil du nicht existierst. Das macht meine Situation nicht unbedingt besser. Aber das Leben ist eben voller Widersprüche, und wer weiß, vielleicht gibt es dich ja doch. Nicht Gott mit Jesus und so weiter. Für mich bist du einfach eine höhere Kraft. Mehr nicht. Kein Wesen, kein Schöpfer, kein Vater im Himmel. Nur weiß ich nicht, wie ich diese Kraft nennen soll, die alles zusammenhält, also spreche ich dich mit Gott an. Wenn ich »lieber Gott« schreibe, dann meine ich diese Kraft. Diese Kraft, die alles irgendwie zusammenhält. Kraft ist wichtig.

27. November

Lieber Gott,

weißt du, wie es ist, zu weinen und nicht zu wissen, warum? Ich verbringe Ewigkeiten im Bad, um auch das letzte bisschen Schokocreme aus mir herauszukotzen. Zwischendurch mache ich eine Pause und weine. Ich liege auf dem Boden, und die Tränen neben mir bilden eine kleine Pfütze, und ich weiß einfach nicht, warum. Ich denke dann immer, dass ich pathetisch bin und mich selbst bemitleide, was wahrscheinlich auch irgendwie stimmt, aber es hilft nichts.

Ich fühle mich leer. Und einsam. Wahrscheinlich ist es genau das. Ich fühle mich so unglaublich einsam. Deswegen sitze ich in dem Badezimmer eines leeren Hauses und kotze und weine. Weißt du, ich weine sogar, während ich das hier schreibe. Allerdings nicht mehr so wirklich, es scheint, als wären meine Tränen versiegt.

Es heißt doch, die Jugend ist die beste Zeit des Lebens. Nun, ich bin jung, und wenn das die beste Zeit meines Lebens sein soll, na dann Prost. Ich kann gerade nicht mehr schreiben, obwohl es noch so viel zu erzählen gibt. Aber meine Hand tut weh. Außerdem wird mir das hier jetzt alles zu depressiv, und das will ich auch nicht. Ich will nicht depressiv sein. Ich will nicht weinen oder mich so fühlen, wie ich mich gerade fühle. Ich versuche ja auch, dagegen anzukämpfen. Manchmal schaue ich bewusst Sachen an, von denen ich weiß, dass ich mich früher über sie gefreut hätte, und versuche das Lächeln vergangener Tage heraufzubeschwören.

Heute zum Beispiel nahm ich ein Foto in die Hand, das mich und meine kleinen Geschwister zeigt. Das Foto an sich ist nicht sonderlich schön, aber letztendlich geht es nicht um das, was Fotos zeigen, sondern darum, was wir mit ihnen verbinden. Auf dem Bild sitzen mein kleiner Bruder, meine kleine Schwester und ich auf dem Boden und essen. Damals hatten mein kleiner Bruder und ich nämlich einen Asterix-und-Obelix-Club. Dieser Club war sehr geheim und hatte genau zwei Mitglieder, meinen Bruder und mich.

Wobei mein Bruder Asterix war, denn er war klein und dünn, und ich Obelix, denn ich war klein und fett. Eigentlich war das unfair, denn ich war gar nicht wirklich größer als er, aber irgendwie war Fettsein das ausschlaggebende Kriterium. Alljährlich feierten wir unseren Club mit einem Asterix-und-Obelix-Tag, an dem wir einfach die Endung »-ix« an unsere Namen packten. Meine Mutter kaufte zwei Hähnchen, schob sie in den Backofen, und wir durften unsere Wildschweine so essen, wie wir wollten.

Wir brauchten keine Servietten, sondern durften unsere Hände benutzen, die Knochen warfen wir einfach hinter uns auf den Boden.

Irgendwann kam dann unsere kleine Schwester auf die Welt. Nachdem wir sie in die Club-Regeln eingeführt hatten, »erste Regel des Asterix-und Obelix-Clubs, du verlierst kein Wort über den Asterix-und-Obelix-Club«, durfte sie mitmachen.

Fortan feierten wir unseren Asterix-und-Obelix-Club zu dritt, und meine Mutter kaufte zwei Hähnchen, schob sie in den Backofen, und mein Bruder und ich durften unsere Wildschweine so essen, wie wir wollten. Wir brauchten keine Servietten, sondern durften unsere Hände benutzen, die Knochen warfen wir einfach hinter uns auf den Boden, und dann kam meine kleine Schwester und nuckelte an den Knochen, denn sie war Idefix.

Das ist für mich Kindheit, lieber Gott. Und ich weiß, dass ich früher viel glücklicher war. Ich will damit nicht sagen, dass früher alles besser war, denn das war es nicht. Als ich mir die anderen Fotos von uns so anschaute, fragte ich mich, was wohl in den Köpfen meiner Eltern vorgegangen sein mag, dass sie uns so rausgelassen haben. Zu unseren zerzausten Haaren trugen wir Latzhosen, auf denen meine Mutter wahlweise so hässliche Blumen oder Dinos nähte, wenn sie Löcher bekamen, Schlabberpullis und Wollmützen – auch im Sommer. Wenn man so darüber nachdenkt, waren wir eigentlich die ersten Hipster. Aber uns war das egal, verstehst du? Es war uns völlig egal. Wir hatten unsere eigenen Träume und Vorstellungen vom Leben, wie absurd sie auch klingen mochten, wir bestanden drauf. Wir hatten keine Angst. Wir konnten alles werden, was wir wollten. Astronaut oder Tierärztin oder Kürbis. Meine kleine Schwester wollte immer Kürbis werden, wenn sie mal groß ist. »Wenn ich Kürbis werde«, sagte sie, »dann werde ich zu Halloween gegessen, und alle sind glücklich. Und ich bin auch nicht tot, weil ich ja im Magen lebe.«

Lieber Gott, ich will auch ein Kürbis werden. Ich will sein können, was ich will. Ich will mich freuen und lachen.

Und dann sitze ich so wie jetzt auf dem flauschigen Teppich in meinem Zimmer, um mich herum alles voller Fotos und Erinnerungen, ich sehe mich vor meinem inneren Auge auf dem Bobby-Car die Straße langcruisen. Damals war mein Lieblingsessen Pfannkuchen, Milchreis und Schlumpfeis. Ich spielte Topfschlagen oder wahlweise auch Nachbarskinderschlagen, so dass meine Mutter mir Pflaster mit kleinen Teddys drauf auf die Wunden klebte, die ich stolz als Zeichen meiner Gangsterness zur Schau trug.

Für meine Wunden heute gibt es keine Pflaster. Sie sind in mir, ich verblute innerlich und schaue mir dabei zu und kann doch nichts ändern. Und ich denke mir, heute werde ich ein Kürbis, aber wo früher der Gedanke Antrieb allein war, ist heute nichts. Es geht nicht. Es geht einfach nicht. Irgendetwas in mir hat sich unwiderruflich verändert, und ich weiß nicht, was. Ich weiß einfach nicht, was, weshalb und wieso. Das macht mich traurig. So unglaublich traurig, du kannst es dir nicht vorstellen. Die Schönheit der Welt liegt mir zu Füßen, und ich nehme sie wahr, aber realisiere sie nicht.

Meine Therapeutin sagt immer, ich muss lernen, das Gute in den Dingen nicht nur zu erkennen, sondern auch wirklich und wahrhaftig positiv zu sein. Ich bin positiv. Ich bin so positiv, ich zieh nur Scheiße an.

Das sag ich ihr aber nicht. Sie würde es eh nicht verstehen.

Sie ist so was von inkompetent, jede einzelne Stunde ist total sinnlos, weil ich sie die ganze Zeit eh nur anlüge. Sie sagt immer »Aha« und »Hmm« und stellt mir ständig Fragen, für die ich mir immer neue Antworten ausdenken muss. Ein Gedicht für meine Therapeutin:

Oh, ich liebe meine Therapie, so viel geredet hab ich noch nie. Meine Therapeutin weiß alles über mich,

10. Dezember

Lieber Gott,

ich will mich spüren. Mich spüren, wie heißes Wachs unter den Fingernägeln. Hast du das früher auch immer gemacht? Gewartet, bis das Kerzenwachs geschmolzen war, und dann schnell deine Fingerkuppe hineingesteckt und gleich wieder herausgezogen, so dass sich eine leichte weiße Haube darübergezogen hat? Das hat mir unglaublich viel Spaß gemacht. Ich will mich so wie damals fühlen. Die Hitze auf meinen Fingerkuppen spüren, nur dass die Wärme nicht von dem Wachs, sondern aus mir selbst kommt. Ich will brennen, für etwas leben, Leidenschaft in mir haben und nicht immer diesen tauben Trott der stetigen Monotonie durchmachen. Ohne Feuer ist doch alles sinnlos. Belanglos und unbedeutend. Ich habe so eine Angst davor, niemals eine Bedeutung zu haben. Etwas oder jemandem Bedeutung zu verleihen. Wirklich, lieber Gott, vor nichts fürchte ich mich so sehr, als niemals richtig zu leben.

Aber das ist schwer, nicht? Bist du eigentlich zufrieden dort oben? Oder schaust du manchmal auf die Erde, auf uns, klatschst dir an die Stirn und denkst: Was für eine Scheiße! Dir ist schon klar, dass du diese Scheiße fabriziert hast, oder? Aber das ist auch wieder leicht, zu leicht. Einfach sagen, der liebe Gott ist schuld, oder er wird‘s schon richten. Ich habe so lange auf dich gewartet, gehofft und sogar geglaubt, dass du kommst, aber du bist nie auf getaucht. Irgendwann hab ich dann einfach aufgehört. Ich glaube nicht mehr an dich. Du existierst nicht. Aber ich schreibe dir trotzdem. Denn manchmal ist die Illusion weitaus schöner als die Realität, die Realität nichts als die schlechte Kopie der Vorstellung.

21. Dezember

Lieber Gott,

ich habe beschlossen, dass ich handeln muss. Ich habe so die Nase voll von meiner Passivität. Allein deswegen bin ich gerade glücklich. Endlich tue ich was. Ich bin glücklich, und das meine ich auch so. Ich als Person, ich als Mensch. Ich bin, lebe, atme, existiere. Das vergesse ich manchmal. Ich bin ein Wunder, nicht wahr? Ein glückliches Wunder. Das klingt so furchtbar esoterisch, aber es stimmt. Ich versteh es nicht. Eigentlich ist es doch verdammt leicht, glücklich zu sein. Man muss sich nur umschauen, realisieren, was man hat. Und trotzdem verzweifeln alle daran. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, Glück ist immer nur die eigene Vorstellung von Glück. Und, dass man es in kleinen Dingen findet. In dem Anflug eines Lächelns, einer flüchtigen Berührung, einer Brise im Nacken. Also, natürlich auch in den großen Dingen, den Abiturfeiern, den Geburtstagen, den unvergesslichen Momenten im Leben. Aber eben auch in den kleinen. In der Betrachtung eines Mistkäfers, der auf dem Waldweg krabbelt und dessen Panzer im Licht der Sonne glänzt.

Und ich glaube, die meisten Menschen sind glücklich, aber die wenigsten wissen es.

22. Dezember

Lieber Gott,

ich will dir erzählen, was heute passiert ist. Ohne zu fatalistisch zu klingen, ich glaube, es wird mein Leben verändern. Ich weiß nicht, irgendwie hab ich da so ein Gefühl. Aber der Reihe nach.

Draußen hat es geschneit, und es sah aus wie eine Märchenlandschaft, wie die Kulisse für Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Hast du das auch immer geschaut? Vermutlich nicht, im Himmel hat man wohl Besseres zu tun. Auf jeden Fall bin ich rausgegangen, denn zu Hause hab ich es nicht mehr ausgehalten. Dort war mir alles zu viel. Widerlich zu viel.

Ich saß morgens mit meinen Geschwistern in der Küche, schaute mich um und konnte es nicht ertragen. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Diesen widerlichen Glanz der geputzten Herdflächen, das Schimmern der Töpfe und Tassen, das Funkeln dieser heilen Welt um mich herum, die mich einfach nur ankotzt. Mit ihren Smartphones und Blockbustern und Popmusik. Ich bekomme davon Kopfschmerzen. Das ging schon los, als ich in die Küche kam.

Meine Mutter stand mit einer Pfanne Blaubeerpfannkuchen vorm Herd und bot mir einen an, obwohl sie ganz genau weiß, dass ich sie nicht esse. »Und?«, fragte sie. Ich blickte auf den Pfannkuchen, den sie mir unter die Nase hielt, auf die Schüssel auf der Anrichte, auf die vor Teig tropfende, auf einem Teller ruhende Kelle und dann schließlich in das selig lächelnde Gesicht meiner Mutter. Und es machte mich wütend. Du verstehst das wahrscheinlich nicht. Du wirst denken, Kind, was ist dein Problem, deine Mutter macht dir Pfannkuchen, oh mein Gott, das Ende der Welt! Und wahrscheinlich hast du sogar recht. Aber weißt du, sie macht die Pfannkuchen nicht, weil sie Lust dazu hat. Sie macht sie, weil es ihr nutzt. Ihr hilft, dieses Bild der perfekten Übermutter aufrechtzuerhalten, dieses Bild, das mich tagtäglich fertigmacht. Frau Mama macht Pfannkuchen, die undankbare Tochter lehnt ab. Das ist es, was sie damit zeigen will. Was sie damit sagt, weil sie meinen Zustand nur allzu gut kennt. Das machte mich wütend. Und meine Wut mischte sich mit Schmerz, mit Trauer, mit Hass.

Ich glaube, ich hasse meine Mutter. Ich kann gerade nicht fassen, dass ich dir das wirklich schreibe, hassen ist so ein starkes Wort. Aber ich glaube, es stimmt. Ich hasse meine Mutter. Ich hasse sie dafür, dass sie mir gottverdammte Blaubeerpfannkuchen macht, und dafür, dass diese Mühe einzig ihrer Selbstdarstellung dient. Ich hasse sie dafür, dass sie mich dazu bringt, so für sie zu empfinden. Und ich hasse sie, weil hassen manchmal so viel leichter fällt. Meine Mutter zeigte auf den Pfannkuchen und fragte: »Und?« Und ich sagte nur: »Mama.« Es war keine Frage, keine Feststellung, kein Vorwurf. Nichts als ein einziges, simples Wort. Mama. Aber ein Wort, das so unendlich viel bedeutet. Mama heißt: Warum machst du das? Es heißt: Du weißt, dass ich nicht kann. Es heißt: Es tut mir leid. Und: Ich bin ein Nichts. Eine Versagerin, ein Niemand. Einfach nichts.

Und dann bin ich gegangen. Ich hab den schönen Schein einfach nicht mehr ausgehalten. Jetzt kommen wir zu dem Teil, von dem ich dir eigentlich erzählen wollte. Manchmal drifte ich so ab. Meine Deutschlehrerin sagt auch immer, ich muss lernen, auf den Punkt zu kommen. Siehst du, schon wieder.

Ich lief also raus und spazierte den ganzen Tag durch die Gegend, strich durch Parks und ging auf leere Spielplätze, wo ich mich auf die Schaukeln setzte und ein wenig schaukelte, den Wind auf meiner Haut spürte und über nichts nachdachte, was mir ganz gut gefiel. Bis mir auf einmal der Gedanke kam, dass die Schaukel, auf der ich mich befand, eigentlich eine einzige Metapher meines jetzigen Lebens war. Kaum bin ich oben, bin ich auch schon wieder unten. Mal fühl ich mich gut, dann rase ich wieder in das tiefe Schwarz meiner zerfressenen Seele. Ich hörte auf zu schaukeln und machte mich auf den Heimweg.

Ich lief durch die Dunkelheit, als ich auf dem Boden vor mir etwas zucken sah. Es wand sich wie ein Würmchen, als ob sein Körper von Stromstößen durchzuckt würde. Ich ging näher ran, bis ich nur noch knapp zwei Meter von dem Ding entfernt war. Vor mir auf dem Boden lag ein Junge. Also kein Junge, eher ein Typ, ein junger Mann, vielleicht zwanzig oder so, der panisch mit seinen Armen hin und her ruderte. Das mit dem Wurm, das war eher so bildlich gemeint, mir war schon klar, dass da ein Mensch lag. Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Er merkte, glaub ich, dass er beobachtet wurde, denn er drehte seinen Kopf und starrte zurück. Blickduell. Dann langsam, ganz, ganz langsam, machte sich ein Lächeln auf seinen Lippen breit. Ich lächelte zaghaft zurück und frag te ihn, ob alles in Ordnung sei. Und er sagte: »Ja.« Und dann: »Warum?«

»Na ja«, sagte ich. »Ich dachte nur, weil Sie da …«

»Du«, unterbrach er mich.

»O. k., also weil du da so liegst.« Da grinste der Typ nur noch breiter. Er machte auch gar keine Anstalten, sich zu erheben, stattdessen zwinkerte er mir zu und erklärte dann, als wäre es das Selbstverständlichste der ganzen Welt: »Ich mache einen Schneeengel.«

»’nen Schneeengel?«, fragte ich ungläubig.

»Ja«, sagte er, »’nen Schneeengel. Was dachtest du denn?«

»Hmm …« Ich überlegte kurz. »Ich finde, du siehst eher aus wie ein Würmchen.«

Der junge Mann lachte auf, es war ein schönes, kehliges Lachen. Dann erhob er sich. Lieber Gott, du wirst es kaum glauben, aber wir standen tatsächlich so, dass uns der Schein einer Straßenlaterne bestrahlte. Wir hatten unseren eigenen kleinen Spot. Kitsch, lass nach! Wobei so kitschig war es dann auch wieder nicht. Dafür sah er zum Beispiel gar nicht gut genug aus. Nicht, dass er schlecht aussah oder so. Er war groß und schlaksig und hatte rostrotes Haar, trug eine dunkle Cordhose, schwarze Schneestiefel und einen langen dunklen Mantel bis zu den Knien, der ihn wie eine Mischung aus Dr. Who und Sherlock Holmes aussehen ließ. Um den Hals hatte er einen dicken dunkelgrünen Schal drapiert, und seine Hände steckten in hellbraunen Lammfellhandschuhen. Er sah nett aus, weißt du? Sympathisch. Nicht übermäßig gut, sondern eher normal, er gehörte diesem Schlag Menschen an, bei denen man nicht anders kann, man muss sie einfach mögen.

»Wie ein Würmchen, sagst du?« Er lächelte mich erneut an und klopfte sich dabei den Schnee von der Hose. »Hmm.«

Ich beobachtete ihn, machte dabei aber einen unsicheren Schritt zurück. Auf einmal war mir etwas mulmig zumute. Klar, er war nicht viel älter als ich, und er sah eigentlich ganz nett aus, aber trotzdem: Letztendlich blieb das irgendein Typ, den ich nicht kannte, es war dunkel und ich allein, außerdem, sagt man nicht von Mördern, dass sie eine sympathische Ausstrahlung haben?

»Was meinst du?«, fragte er. »Sind wir nicht alle Würmchen?« Er lächelte dabei. »Also wenn ich schon in deinen Augen eines bin, dann hoffe ich wenigstens darauf, ein Glühwürmchen zu sein. Oder was meinst du?« Er kam noch näher und schaute mich herausfordernd an. Mulmig ist untertrieben, jetzt hatte ich Angst, und so machte ich noch einen Schritt zurück. Der Typ sah das und blieb augenblicklich stehen. Er wollte mich nicht erschrecken. Diese Erkenntnis beruhigte mich.

Der Typ fragte: »Oder was meinst du?«

Und ich sagte: »Ich meine, dass Winston Churchill das gesagt hat.«

Da lachte er erneut sein kehliges Lachen.

»Oh Mann, und ich hab mir so viel Mühe gegeben, dich mit meinem pseudophilosophischen Gelaber zu beeindrucken.« Er lächelte mich warm an, und ich lächelte zurück.

Der Wurm heißt Fred. Ich weiß, was du jetzt denkst. So fangen alle Liebesgeschichten an, nicht wahr? Besonders in Büchern und Filmen. Man sieht sich, steht unter dem Schein einer einsamen Straßenlaterne, Schneeflocken rieseln wie Amors Boten zu Boden, hüllen ihn in eine sanfte Decke aus Weiß, einer sagt etwas, dem anderen gefällt’s, Violincrescendo, ein Lächeln, ein Blick, und schwuppdiwupp passiert’s.

Aber ich kann dir versichern, lieber Gott, das hier ist keine Liebesgeschichte.

23. Dezember

Lieber Gott,

Fred gehört dem geheimen Club der verhinderten Selbstmörder an. Sie nennen sich so, weil sie alle einen gescheiterten Selbstmordversuch hinter sich haben. Er hat mich zu einer ihrer Sitzungen eingeladen, und ich will dir erzählen, wie es da abläuft. Ich weiß nicht, was du dir darunter vorstellst, aber ich dachte, man sitzt im Kreis und redet über die Beschissenheit der Dinge und die Trostlosigkeit des Seins und verflucht das Leben schlechthin, dennoch jedoch unfähig, sich dieses zu nehmen. Aber so ist es ganz und gar nicht.

Fred hat mich zu sich nach Hause eingeladen, und ich hatte ein wenig Angst, das Angebot anzunehmen, weil ich dachte: Was ist, wenn er ein Irrer ist, total krank und mich zerstückelt oder so was in der Art? Aber ich habe mir doch vorgenommen, nicht mehr so passiv zu sein, sondern Gelegenheiten zu ergreifen. Da war sie nun mal vor mir und winkte. Und falls ich doch sterben sollte, so würde ich eine Menge Papier sparen, weil wir uns dann von Angesicht zu Angesicht unterhalten könnten. Wieder was für die Umwelt getan. Also sagte ich o. k., und wir verabredeten uns für heute. Ich weiß, dass ich vielleicht lieber zu Hause sein sollte, weil ja bald Weihnachten ist, das Fest der Familie und Liebe, aber das sind zwei Begriffe, die ich einfach nicht zusammenbekomme. Manchmal denke ich ja: Jetzt geht es gut. Jetzt bekomme ich es hin, lebe richtig und gut. Schätze das Leben und bin einfach glücklich. Dann schreibe ich dir auch diese euphorischen Briefe, so wie der vorletzte, und in dem Moment ist es auch keine Übertreibung. Ich denke dann wirklich, dass ich es schaffe. Aber rückblickend habe ich das Gefühl, als wäre das Glück jener Momente eine Illusion. Als säße ich in einer riesigen Seifenblase und stiege höher und höher, und irgendwann muss sie ja platzen. Aber ich will es nicht wahrhaben und denke, jetzt, jetzt wird alles gut. Neustart.

Aber man kann nicht immer neu starten. Manchmal muss man das Problem an den Wurzeln packen und durcharbeiten, um es aus der Welt zu schaffen. Alle wollen immer alles besser, schneller, neuer. Man nimmt sich keine Zeit mehr, wirklich nachzudenken. Das ist wie in der Ehe. Wusstest du, dass über 35 Prozent aller in einem Jahr geschlossenen Ehen wieder geschieden werden? Es klappt gerade nicht gut, also die Scheidung bitte. Das ist doch traurig, oder? Ich glaube, die Leidensbereitschaft der Menschen ist immens gesunken.

Auf jeden Fall ging ich also zu Fred. Er wohnt in so ’ner angesagten Friedrichshainer Altbauwohnung, ich persönlich finde ja Friedrichshain ein bisschen anstrengend. Aber seine Wohnung ist schön. Ich mochte schon das Treppenhaus. Das Treppengeländer ist olivgrün gestrichen, jedoch schon leicht blättrig, und die Wände sind weiß, also sie sollen weiß sein, denn an manchen Stellen blättert auch da bereits die Farbe ab, zudem sind sie bekritzelt, verschmiert, oder sagen wir lieber: kreativ verschönert. Auf ihnen stehen so inspirierende Dinge wie: »Timo ist ein Hurensohn«, »Mach ruhig mal Fehlär«, »Das Leben ist schön« und als direkter Kommentar darauf: »Deine Mudda ist schön.«

Ich stand also vor Freds Tür, unschlüssig ob ich nun klingeln sollte oder nicht, ich überlegte tatsächlich, einen Rückzieher zu machen. Dann schloss ich die Augen und drückte den Knopf. Warum schließt man eigentlich die Augen, wenn man im Begriff ist, etwas Mutiges zu tun? Sollte man der Gefahr nicht lieber entgegenblicken? Ich weiß es nicht. Das nächste Mal aber werde ich die Augen geöffnet lassen.

Ich klingelte, und von innen ertönte Freds Stimme.

»Ich komme! Nicht weggehen! Bleib, wo du bist! Das ist ein Befehl!« Mit einem Schwung wurde die Wohnungstür aufgerissen. Auf einmal war da Fred, umgeben von Zigarettenschwaden, grinsend, die Arme zu einer Umarmung ausgebreitet.

»Sehr gut, du bist noch da.« Er grinste mir zu.

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