Tage mit Milena - Katrin Burseg - E-Book

Tage mit Milena E-Book

Katrin Burseg

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Beschreibung

Annika führt ein ruhiges Leben und denkt schon lange nicht mehr an die traumatischen Ereignisse, die vor mehr als 30 Jahren ihre Welt aus den Angeln hoben. Bis die siebzehnjährige Klimaaktivistin Luzie ihren Alltag durcheinanderbringt und die Erinnerung an den Menschen wachrüttelt, dessen Namen sich Annika kaum auszusprechen traut: Milena. In der Hamburger Hausbesetzerszene der Achtziger waren Annika, Milena und Matti unzertrennlich. Sie hielten sich für unbesiegbar, so wie Luzie es tut. Um diese vor einem folgenschweren Fehler zu bewahren, nimmt Annika wieder Kontakt zu Matti auf. Sie reist zu ihm nach Italien – und erfährt, dass alles, was sie über damals zu wissen glaubte, eine Lüge ist.

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Seitenzahl: 418

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Das Buch

Hamburg, St. Pauli, in den Achtzigerjahren: Rebellion liegt in der Luft. Auch Annika, Milena und Matti sind dabei. Sie haben ihre Elternhäuser hinter sich gelassen und sind in die besetzten Gebäude in der Hafenstraße gezogen. Hier hofft Milena ihre einengende bürgerliche Herkunft abzuschütteln und für eine gute Sache zu kämpfen. Matti läuft vor einem traumatischen Erlebnis davon – und Annika möchte einfach nur dazugehören. Doch in der Hafenstraße geht es alles andere als friedlich zu. Immer gefährlicher wird es für die drei, und Annika beginnt sich zu fragen, ob sie und Matti nicht gehen sollten. Doch was wird aus Milena? Die radikalisiert sich immer mehr, bringt sich in immer ausweglosere Situationen. Bis alles eskaliert und Annika vor einer unmöglichen Wahl steht.

Mehr als dreißig Jahre später weckt die junge Klimaaktivistin Luzie in Annika Erinnerungen an diese bewegte Zeit. Um das Mädchen vor sich selbst zu beschützen, nimmt sie sich ihrer an. Doch Luzie hat nichts zu verlieren – und auch Annika wird von den dramatischen Ereignissen ihrer Jugend eingeholt.

Die Autorin

Katrin Bursegs Faible für Geschichte und Geschichten ließ sie Kunstgeschichte, Literatur und Romanistik studieren. Sie arbeitete als Journalistin, begann dann, Romane zu schreiben und erreichte mit »Unter dem Schnee« ein großes Publikum. In Norddeutschland aufgewachsen und in Hamburg zu Hause, hat sie sich schon früh für die Ozeane und den Klimawandel interessiert. Die damit einhergehenden Folgen für die Küstenregionen und die dort lebenden Menschen haben sie zu ihrem Bestseller »Adas Fest« inspiriert. Auch die Idee zu »Tage mit Milena« rührt von diesem Thema her.

KATRIN BURSEG

TAGE

MIT

MILENA

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Zitat S. 5: Text Rio Reiser aus dem Ton Steine Scherben Song »Mein Name ist Mensch«

Originalausgabe 09/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Uta Rupprecht

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München, unter Verwendung von shutterstock (PhuchayHYBRID, Amna Artist)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31045-5V002

www.heyne.de

Ich weiß, wir werden kämpfen, und ich weiß, wir werden siegen. Ich weiß, wir werden leben, und wir werden uns lieben.

Der Planet Erde wird uns allen gehören.

Und jeder wird haben, was er braucht.

aus: »Mein Name ist Mensch«, Ton Steine Scherben, 1971

I

MONTAG, 10.10.2022

Krone per WhatsApp an Zombie

KRONE

Bin wieder da.

Wie war’s bei Westkamp?

Alles in Ordnung?

8:50

ZOMBIE

Alles gut.

9:17

Krone

Wirklich?

9:18

Zombie

WIRKLICH!!!

9:19

1

Der Nachhall eines Traums, Bilder, die nicht festzuhalten sind und wie Wasser davonströmen. Annika dreht sich von der Seite auf den Rücken. Sie hat zusammengerollt geschlafen, Embryonalstellung, die Knie fast bis unters Kinn hochgezogen, die Arme eng am Körper. Jetzt streckt sie die Beine, bewegt die Hände, öffnet die Augen.

Montagmorgen. Es ist noch früh, kurz nach sieben, gedämpftes Licht hinter den Samtgardinen. Die Stille hat sie geweckt, Hendrik ist schon aus dem Haus. Sie sieht ihn vor sich, die langen Beine in der Cargohose, stabile Arbeitsschuhe, die schwarze Mütze tief in die Stirn gezogen. Mit dem Lastenfahrrad fährt er an der Trave entlang, von der Altstadtinsel hinunter weiter über die Marienbrücke bis zu seinem Blumenacker am Stadtrand von Lübeck. Die Herbstpracht ernten – Astern, Dahlien und Sonnenhut. Schnittblumen aus der Region, frei von Pestiziden und sonstigen Giften. Später wird er die Sträuße auf dem Markt am Rathaus verkaufen. Seit ein paar Jahren macht er das schon, lässt Annika den Laden führen – Oelkers & Söhne, Schreibwaren und feines Papier, in der vierten Generation. Sie muss nur die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, dann steht sie im Geschäft, wo es nach altem Holz und schwarzer Tinte riecht. Treppengiebelheimeligkeit, das mögen die Touristen. Hendrik dagegen braucht frische Luft, das Wühlen in der Erde, etwas Zartes, das unter seinen Händen gedeiht. Papier, das war ihm immer schon zu dröge.

Ohne Hast schlägt Annika die Decke zurück und schlüpft aus dem Bett, der Dielenboden knarzt unter ihren Schritten. Sie öffnet die Gardinen, der Himmel ist wolkenlos. Im Badezimmer nebenan empfängt sie ein Hauch von Zahnpastafrische und kompakte, feuchte Wärme. Auf dem runden Teppich vor dem Spiegel bleibt sie stehen. Sie bemerkt den fehlenden Knopf an der Pyjamajacke, lächelt und fährt sich durch den fransig geschnittenen Bob. Bevor sie zur Zahnbürste greift, sich duscht, die Haare wäscht, beugt Annika sich vor. Sie lässt Kopf und Arme hängen und versucht, die Zehen mit den Fingerspitzen zu berühren. Seit ein paar Monaten fühlt sie sich morgens ganz steif, vor allem im unteren Rücken und in der Hüfte, obwohl sie schlank ist und immer beweglich war.

Die Wechseljahre, na klar. Östrogene würden schmerzlindernd wirken, hat die Ärztin ihr erklärt. Je tiefer der Hormonspiegel sinke, umso stärker fühlten Frauen Schmerzen. Wenn es schlimmer werde, könnte sie es mit einer Hormonersatztherapie versuchen, aber vorerst will sie besser auf sich achten. Gemüse, Ballaststoffe, Morgengymnastik. Vorbeugen bedeutet loslassen, hat sie in den Yoga-Foren im Internet gelesen. Je besser du loslassen kannst, je weicher du dich durch den Schmerz hindurchatmest, desto tiefer wirst du in die Dehnung hineinsinken können.

Annika atmet, sinkt einen Millimeter tiefer, noch zehn Zentimeter bis zum Boden. Als Kind hat sie die Zehenspitzen mühelos erreicht, wie ein Wasserfall floss das lange, dunkle Haar hinab. Damals konnte sie auch auf den Händen gehen und sogar Flickflacks schlagen. »Zirkusmieze!«, haben die anderen ihr auf dem Schulhof nachgerufen, mehr Hohn als Anerkennung.

Vorbeugen bedeutet loslassen. Geduld und Weichheit bringen dich weiter. Eine Minute, zwei Minuten, das Blut rauscht ihr in den Ohren, sie kann nicht mehr. Langsam richtet Annika sich auf. Sie streicht sich den Pony aus dem Gesicht, streckt sich, beugt sich nach hinten. Geht in die Gegenbewegung und schiebt das Becken vor, atmet. Vorbeugen schärfen deine Achtsamkeit und helfen dir, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie weit du in eine Situation hineingehen kannst, ohne dich zu verletzen.

Sie ist froh, dass sie gut schlafen kann. Nur ihre Träume, die haben sich verändert. Sie erscheinen ihr intensiver, kraftvoller, manchmal sogar bedrohlich, so als ob die Hormonumstellung nicht nur das Schmerzempfinden verstärken würde, sondern auch etwas, das tief in ihr verborgen liegt.

Knapp anderthalb Stunden später schließt Annika unten den Laden auf und tritt auf den Gehweg hinaus. Ein weiterer herrlicher Vormittag kündigt sich an, mit einem schwerelos blauen Himmel und warmer Oktobersonne, die den Schattenriss der Treppengiebel auf das Backsteinrot der gegenüberliegenden Häuser zeichnet. Oelkers & Söhne befindet sich im Herzen der Altstadtinsel, die Straße ist belebt, Buddenbrookhaus, Mariendom und Holstentor sind nur wenige Minuten entfernt.

Es ist immer noch früh, kurz nach halb neun, aber vor der Bäckerei gegenüber hat sich bereits eine Schlange gebildet. Mütter und Väter mit Kinderkarren und ein paar ältere Leute mit zu viel Zeit. Sie kaufen Brötchen, Croissants und Laugenstangen – Proviant für einen langen Tag. Auch die kleinen, runden Caféhaustische mit den schwarz lackierten Beinen, an denen sich in Ruhe ein Becher Kaffee trinken lässt, sind allesamt besetzt. Von der Trave weht durch die Straße das Kreischen der Möwen herauf.

Annika – sie trägt ein weißes Hemd, dunkle Jeans, flache schwarze Stiefeletten und einen Spritzer von Hendriks Rasierwasser – winkt Vivian zu, einer Freundin aus dem Kirchenchor, dann schiebt sie die beiden Drehständer mit Ansichtskarten vors Geschäft. Als sie die Jalousie über dem Schaufenster herauskurbelt, entdeckt sie ein Spinnennetz im rechten oberen Fenstereck. Ein Nachtfalter hat sich darin verfangen, ein schwarzer Schmetterling.

Einen Moment lang betrachtet sie beides, Netz und Falter. Annika hat nichts gegen Spinnen, sie hat gelernt, mit ihnen zu leben. Das Treppengiebelhaus ist mehr als vierhundert Jahre alt, immer wieder kriechen Webspinnen aus den Ritzen im Mauerwerk und den Spalten zwischen den Dielen hervor. Manchmal denkt sie sogar, dass ihre schimmernden Netze eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart schaffen. Aber der Falter mit seinen weit ausgebreiteten Flügeln ist nicht zu übersehen. Er macht das Spinnengewebe, dessen Fäden kunstvoll zwischen Jalousiekasten und Rahmen verankert sind, erst sichtbar. In Erinnerung an die makellosen Schaufensterscheiben ihres verstorbenen Schwiegervaters Christian Oelkers zupft sie den leblosen Schmetterling aus dem Netz.

Zurück im Laden, wo ein Becher Tee am Kassentresen auf Annika wartet, lässt sie den Falter aus der hohlen Hand auf ein Blatt Papier gleiten. Ein wenig Staub rieselt von den zarten Flügeln herab. Wieder muss sie an die Dekorationen des alten Oelkers denken, Schaufenster so opulent wie Bühnenbilder. Sie erinnert sich deutlich, welchen Eindruck der Laden bei ihrem ersten Besuch auf sie gemacht hat. An das Gefühl von Geborgenheit, das sie nie wieder verlassen hat. Christian Oelkers hat sie damals unter seine Fittiche genommen, und heute sticht ihre Fensterdekoration, die handgeschöpftes Büttenpapier und edles Schreibgerät wie Naturschönheiten zwischen prächtigen Muskatkürbissen präsentiert, hervor aus dem Einerlei der Drogeriemärkte, Nagelstudios und Telefonshops, die sich auch in Lübeck breitgemacht haben. Schon zwei Mal ist die Auslage von Oelkers & Söhne zum schönsten Schaufenster Norddeutschlands gekürt worden, und auch der Onlineshop läuft ordentlich. Weil ihnen das Haus gehört und sie im zweiten Stock eine kleine Wohnung vermieten, können sie sich den Laden immer noch leisten.

»Kommst du heute Abend zur Probe?« Vivian steckt den Kopf zur Tür herein. Sie hat ihren Kaffee ausgetrunken und ist kurz stehen geblieben, um Annika Hallo zu sagen.

Annika blickt auf, lächelt der Freundin zu. »Ja, klar!« Sie freut sich auf das gemeinsame Singen, der Herbst gehört den Proben für die Weihnachtskonzerte. Sie will Vivian samt Hund hereinwinken, ein bisschen plaudern und dem Golden Retriever ein Leckerli zustecken, aber die Freundin ist auf dem Sprung.

»Dann bis später«, sagt Vivian nur und deutet an, dass sie das Reisebüro oben in der Breiten Straße öffnen muss. Wie ihr Hund hat sie große dunkle Augen, die ihrem Gesicht einen warmen, freundlichen Ausdruck verleihen.

Annika schaut ihr nach. Sie singen beide im Alt, und nach der Pandemie mit den beiden stillen Jahren studieren sie mit dem Kirchenchor Bachs Weihnachtsoratorium ein. Das ganz große Adventsspektakel. Die Chancen stehen gut, dass der Chor im Dezember endlich wieder auftreten kann. Dann beginnt für sie mit Auftritten in der Stadt und in ganz Norddeutschland die schönste Zeit des Jahres.

Als Annika vor mehr als dreißig Jahren nach Lübeck kam, konnte sie sich nicht vorstellen, je wieder so etwas wie Glück zu empfinden oder gar Teil einer Gemeinschaft zu sein. Eine Zeit lang hatte sie sogar unter einer Sprachstörung gelitten, Mutismus, sie brachte buchstäblich kein Wort heraus. Aber der alte Oelkers und später dann der Chor halfen ihr, sich wieder zu öffnen. Durch das Singen hat sie zum Sprechen zurückgefunden.

Annika fängt an zu summen, irgendeine Melodie, sie hat Lust auf Musik. Auf dem Tablet sucht sie ein Violinkonzert von Bach und findet eine alte, legendäre Aufnahme der Wiener Symphoniker mit David Oistrach an der Violine. Sie hört kurz rein und verbindet das Tablet mit dem Lautsprecher. Klar und tief empfunden erfüllt die Musik den Raum, vertreibt die Stille. Vor zehn und besonders montags, wenn die Museen geschlossen sind, ist es gewöhnlich ruhig im Laden. Dann arbeitet sie die Bestellungen vom Wochenende ab, sortiert Ware nach und stöbert im Netz nach neuen Ideen fürs Sortiment. Den meisten Umsatz macht sie donnerstags und freitags, wenn es auf das Wochenende zugeht und die Kunden Glückwunschkarten, Geschenkpapier, Bastelsachen und Tischdekoration kaufen, die Touristen nach einem Mitbringsel aus der Hansestadt suchen. Das Holstentor zum Falten, schöne Notizbücher mit Prägung, Aquarelle einer befreundeten Künstlerin, Buchstützen, die aussehen wie Treppengiebelhäuser. Bisweilen verkauft sie unter dem gnädigen Blick des »Zauberers« (Thomas Mann hat als Schüler sein Quartpapier und die Tinte bei Hendriks Urgroßvater Carl Oelkers erstanden, ein Porträt des Schriftstellers gehört quasi zum Inventar) auch ein Meisterstück von Montblanc oder einen Souverän von Pelikan.

Auf dem Tablet kontrolliert Annika die Bestellungen, die am Sonntag eingegangen sind. Die ersten Weihnachtskartensets, Geschenkpapier aus Italien, Bastelbögen für Laternen und Windlichter, das wird sie nachher abarbeiten. Ihre Aufmerksamkeit kehrt zurück zu dem Falter, der wie ein seltenes Fundstück vor ihr liegt. Aus einer Schublade unter dem Tresen holt sie einen Skizzenblock und Bleistifte hervor. Sie setzt sich an den kleinen Tisch in der Nische zwischen den Vitrinen, wo die teuren Füllfederhalter und Tintenroller ausgestellt sind, schiebt ein Probierset mit bunten Schreiblernfüllern zur Seite und fängt an, den Falter zu zeichnen. Seine filigranen Beinchen und Fühler, die schwarz, braun, weiß marmorierten Flügel, die an schimmerndes Seidenpapier erinnern. Vielleicht lässt sich ein Motiv für eine ihrer Grußkarten daraus machen, die sie hinten in der kleinen Werkstatt im Innenhof im Letterdruck herstellt.

Eine Zeit lang arbeitet Annika konzentriert an ihrer Zeichnung, bis sie auf einmal ein Kribbeln im Nacken verspürt. Das Gefühl, nicht länger allein zu sein. Sie schaut auf, tatsächlich, ein Mädchen hat den Laden betreten. Wegen der Musik hat sie die Tür nicht gehört.

Das Mädchen – nicht besonders groß, sehr schlank, schwarze Jeans, grauer verwaschener Kapuzenpulli, Turnschuhe, sehr kurzes Haar – bleibt im Eingang stehen, schaut sich um. Sie scheint die sinnlichen Eindrücke aufzusaugen, die auf sie einströmen. Die Musik, den intensiven Geruch des alten Hauses, das viele Papier – wie ein Tier, das Witterung aufnimmt. Schließlich wendet sie sich den Geschenkpapierbögen zu, die im Eingangsbereich wie Stoffe über Stangen drapiert hängen.

Annika legt den Bleistift zur Seite, bleibt aber noch sitzen. Sie hat das Mädchen noch nie gesehen, wahrscheinlich sucht sie nur einen Collegeblock. In ihrer Nische scheint die junge Frau sie nicht zu bemerken. Auf dem Rücken trägt sie einen Kånken-Rucksack von Fjällräven. Dunkles Ochsenblutrot, eine Farbe, die man nur selten sieht. Mit den Händen streicht sie über das Geschenkpapier, als prüfe sie seine Textur. Das Mädchen durch das Glas der alten Vitrine zu beobachten, hat etwas unerhört Intimes.

Annikas Herz schlägt einen Takt schneller, überholt Oistrachs Legato. Sie erinnert sich, wie sie vor ein paar Wochen Rehe auf Hendriks Feld aufgeschreckt hat. Fasziniert sah sie die weiten Sprünge durch die Blumenreihen, bevor die Tiere im Wald verschwanden.

Unterdessen schlendert das Mädchen weiter – Annika schätzt sie auf sechzehn, siebzehn Jahre. Sie steht nun vor den von Annika entworfenen Grußkarten. Fünf Euro das Stück, beim Set mit zehn Karten gibt es zehn Prozent Rabatt. Sachte streicht sie mit den Fingerspitzen über die Karten aus cremefarbenem Karton, dann zieht sie ein Motiv heraus. Sie klappt die Karte auf und wieder zu, steckt sie zurück ins Regal, schaut sich um. Weiter hinten entdeckt sie die schmale Wendeltreppe, über die man früher ohne den Umweg über das Treppenhaus direkt in die Wohnung im ersten Stock kam, am Tresen registriert sie den Becher mit Tee.

Für den Bruchteil einer Sekunde hat Annika das Gefühl, dass ihre Blicke sich treffen. Sie spürt es geradezu körperlich, ein Stich ins Herz, wie von einer langen, dünnen Nadel. Oder ist das die Musik? Im nächsten Moment dreht das Mädchen sich wieder um. Sie nimmt eine Karte aus dem Regal und schiebt sie mit einer kleinen, schnellen Bewegung in die Bauchtasche ihres Hoodies.

Ein Schauer fährt Annika über den Rücken, nicht unangenehm, eher eine Art Steigerung der Spannung, die sie schon die ganze Zeit verspürt. Alles prickelt. Noch immer fühlt es sich so an, als beobachte sie ein scheues Tier. Sie wagt nicht, sich zu rühren, damit es keine Witterung aufnimmt, davonspringt.

Das Mädchen schlendert weiter. Vor dem Regal mit dem Briefpapier holt sie ihr Handy aus der Jackentasche, wirft einen Blick auf das Display, tippt schnell eine Nachricht und steckt es wieder ein.

Hat sie überhaupt schon einmal einen Brief geschrieben? Besitzt sie so etwas wie einen Füller? Schreibt sie mit nachtblauer Tinte, oder bevorzugt sie ein Rabenschwarz, das vom weichen Papier eingesogen wird?

Die Musik verstummt, die Stille ist für einen Moment sehr tief. Der Anblick des Mädchens reißt etwas in Annika auf. Auf einmal hat sie einen Kloß im Hals, etwas krampft sich zusammen, als müsste sie gleich weinen. Sie ringt nach Luft, muss sich räuspern – und der Zauber ist gebrochen. Mit einem Gefühl des Bedauerns steht sie auf und tritt zwischen den Vitrinen hervor.

»Kann ich helfen?«

Das Mädchen lässt sich nichts anmerken. Sie dreht sich noch nicht einmal um, zuckt auch nicht zusammen, als hätte sie Annika nicht gehört. Mit den Fingerspitzen streicht sie über die Briefpapierbögen. Dickes cremefarbenes Papier – italienische Spitzenqualität. Annika liebt seine Haptik. Es ist im ersten Moment leicht stumpf, aber gerade das macht es so angenehm griffig. Sogar der Klang beim Blättern ist besonders, sie findet, dass es den Altstimmen im Chor ähnelt.

»Ideales Schreibpapier«, hört Annika sich sagen. Sie spricht zu einem Hinterkopf. Der Buzzcut, plötzlich fällt ihr die Bezeichnung für diese auf wenige Millimeter rasierte Frisur wieder ein, betont die perfekte Rundung des Schädels. »Mine und Feder gleiten sanft darüber hinweg«, fährt sie fort, »die Tinte wird optimal aufgenommen, ohne zu verschmieren. Aber wenn …«, sie entscheidet sich, das Mädchen zu duzen, »wenn du einen Schreibblock suchst, kann ich dir die Drogerie oben in der Breiten Straße empfehlen. Die haben alles, was du für die Schule brauchst.«

Bei Annikas letzten Worten dreht das Mädchen sich um. Ihre Frisur ist wirklich radikal, nichts, wohinter man sich verstecken könnte. Das Licht der Strahler leuchtet ihr Gesicht fast schmerzhaft deutlich aus. Es ist oval, mit symmetrischen Gesichtszügen, einem zarten, blassen Teint und ausdrucksstarken, dunklen Augen unter fein geschwungenen Brauen. Ein spöttisches Lächeln kräuselt ihre Lippen.

»Sekundenkleber?«, fragt sie, die Stimme selbstbewusst und frei von jedem Schuldgefühl. Ihr Blick wandert von Annika zum Porträt des Zauberers in ihrem Rücken, dann zieht sie eine Augenbraue nach oben, als sei dieses ganze Buddenbrook-Gedöns, von dem die Stadt immer noch zehrt, lächerlich und aus der Zeit gefallen. Wer liest denn heute noch einen Roman aus dem Jahr 1901?

»Sekundenkleber …« Annika schüttelt den Kopf. Im Laden verkauft sie eine Auswahl von Papier- und Bastelklebern – Leim für Patchpapers, Klebeband, Klebestifte, buntes japanisches Washi Tape, solche Sachen. Aber hinten, in der Werkstatt auf dem Hof? Hendrik hat doch immer ein paar Tuben in seiner Werkzeugkiste.

»Muss ich aus dem Lager holen«, hört sie sich antworten. Die Worte überrumpeln sie einfach, bahnen sich ihren Weg, dann sind sie in der Welt.

»Okay.« Das Mädchen bleibt abwartend stehen und verschränkt die Arme vor der Brust. Annika sieht die Karte vor sich, die sie eben eingesteckt hat. Jene schnelle, fließende Handbewegung, die eine Diebin aus ihr gemacht hat. Jedes Jahr muss sie wegen Ladendiebstahls einen vierstelligen Betrag abschreiben. Warum stellt sie das Mädchen nicht zur Rede? Im nächsten Moment kommt ihr der alte Oelkers in den Sinn. Ihr Schwiegervater hat nie vorschnell über einen Menschen geurteilt, sie selbst weiß das am besten.

»Einen Moment, ich bin gleich zurück.« Annika wirft dem Mädchen einen letzten prüfenden Blick zu und geht dann nach hinten. In einem anderen Leben hat sie sich einmal geschworen, sich keinen Panzer zuzulegen, nicht zu verhärten. Doch das Herz der Kauffrau, die sie seit vielen Jahren ist, protestiert mit harten, schnellen Schlägen gegen ihre Rippen. Die Kasse ist abgeschlossen. Ebenso die beiden Vitrinen mit den teuren Füllfederhaltern und Kugelschreibern, die in ihren schwarzen Kästen wie Juwelen schimmern. Aber das Mädchen könnte in die Auslage greifen oder das Tablet hinter dem Verkaufstresen entdecken. Ein paar Sekunden nur, dann wäre sie mit ihrer Beute fort.

Soll sie das wirklich riskieren?

Doch als Annika wenig später mit dem Kleber zurückkommt, ist das Mädchen noch da. Sie betrachtet die Zeichnung auf dem Tisch in der Nische. »Nicht schlecht«, sagt sie, als sie Annika bemerkt, dann folgt sie ihr zur Kasse. Sie nimmt die beiden Tuben, die Hendrik noch nicht angebrochen hat. Die Karte in der Bauchtasche ihres Hoodies erwähnt sie nicht.

Neun Euro zieht Annika ihr für den Sekundenkleber ab, als könnte sie so den Schaden kompensieren, der ihr durch den Diebstahl der Karte entstanden ist. »Was willst du denn reparieren?«, fragt sie, bekommt jedoch keine Antwort.

Als das Mädchen die Tuben in die Bauchtasche des Hoodies schiebt, hört Annika die Karte rascheln. Wieder treffen sich ihre Blicke. Annika hat das Gefühl, für eine Sekunde in ein sehr vertrautes Leben einzutauchen. Sie fühlt sich gespiegelt, will etwas sagen, öffnet den Mund und findet keine Worte.

Achselzuckend wendet das Mädchen sich ab. »Das ist eine Aueneule«, sagt sie im Gehen und deutet auf den Tisch. Auf den schwarzen Schmetterling und auf die Zeichnung. »Acronicta megacephala.« Dann ist sie zur Tür hinaus.

Annika schaut ihr nach, sieht, wie sie zur Breiten Straße eilt. Ein paar Schritte nur, dann ist das Mädchen aus ihrem Blickfeld verschwunden. Verwundert schüttelt sie den Kopf, auch über sich selbst. »Man weiß nie, wen man vor sich hat«, hört sie Christian Oelkers sagen. Ganz deutlich schwebt seine Stimme durch den Raum.

2

Eine Seiltänzerin hat das Mädchen mitgenommen. Eine Karte, die eine Frau im Glitzerkostüm zeigt, auf einem Regenbogen über dem Abgrund balancierend wie auf einem Seil.

Annika steht vor dem Regal mit den Glückwunschkarten. Am Samstag hat sie vor Ladenschluss noch ein paar Karten nachsortiert, sie weiß genau, dass von jedem Motiv fünf Stück in den Halterungen stecken. Eben hat sie alle Karten durchgezählt. Eine Seiltänzerin fehlt. Happy Birthday, Love. Ein Motiv, das sie seit mehr als dreißig Jahren im Sortiment hat. Die Kunden fragen sogar danach, wenn die Karte einmal nicht da ist.

Annika lächelt. Sie weiß noch genau, wie sie die Karte entworfen hat. Die Regenbogentänzerin war eines ihrer ersten Motive. Sie hatte gerade beim alten Oelkers angefangen, Hendrik kennengelernt. Der Regenbogen in leuchtenden Neonfarben war ein Ausdruck ihrer Hoffnung, alles Dunkle hinter sich zu lassen. Ihr Silberstreif am Horizont.

Damals haben sie hinten in der Werkstatt noch Geburtsanzeigen, Hochzeitseinladungen und Danksagungskarten gestaltet. Persönliche Karten für besondere Anlässe. Druckverfahren im Letterpress. Was bei anderen Drucken nur auf der Oberfläche sichtbar wird, ist hier auch fühlbar. Für die Texte oder Grafiken fertigt Annika Klischees, eine Art Metallstempel, die in den weichen Karton regelrecht hineingedrückt werden. Als das Kartengeschäft sich mehr und mehr digitalisierte, hat sie mit eigenen Entwürfen angefangen. Kunsthandwerk. Motive, die es nur bei Oelkers & Söhne gibt und die sie manchmal auch ins Ausland verschickt. Manche Kunden lassen sich die Karten sogar signieren und rahmen wie ein kleines Kunstwerk.

Kurz denkt Annika darüber nach, welche Karte sie anstelle des Mädchens eingesteckt hätte. Welches Motiv versinnbildlicht ihr Leben heute? Der silberne Apfel mit Wurm, der schwarze Schwan, die lila Wolken, die mit einem Lächeln über den Himmel ziehen?

Oder ist es immer noch die Tänzerin auf dem Regenbogen?

Draußen hupt ein Auto, dann ein zweites. Annika geht zur Tür, wirft einen Blick auf die Straße. Vor dem Laden staut sich der Verkehr. Die Müllabfuhr kommt montags, die Mülltonnen stehen schon an der Straße, dann wird es in der Altstadt eng. Blockiert ein Lieferwagen den Verkehr? Oder hat es oben auf der Breiten Straße einen Unfall gegeben? Auf der Kreuzung vor St. Jakobi kracht es immer wieder.

Hoffentlich nur ein Blechschaden und nichts Schlimmeres, denkt Annika. Sie kehrt zum Tresen zurück, stellt die Musik wieder an, um an ihrer Zeichnung weiterzuarbeiten. Der Falter, nein, die Aueneule – den lateinischen Namen hat sie schon wieder vergessen. Als sie an der Zeichnung sitzt, fällt ihr Blick auf den Block, der auf dem Tisch für Schreibproben bereitliegt. Etwas hat sich ins Papier eingeprägt, Buchstaben, ein Wort, als hätte das Mädchen beim Warten einen der bunten Schreiblernfüller ausprobiert und das Blatt dann abgerissen und eingesteckt.

Mit den Fingerspitzen fährt Annika über das Papier, sie kann das Wort nicht entziffern. Etwas mit Z vielleicht, doch außer Zirkus fällt ihr dazu nichts ein. Erst als sie die Fläche sachte mit dem Bleistift schraffiert, tritt das Wort hervor. Da steht Zombie.

Zombie – was soll das bedeuten?

Ist das ein Nickname? Jemand, den das Mädchen kennt oder dem es auf Social Media folgt?

Annika lehnt sich zurück, denkt nach, schüttelt den Kopf. Die meisten Menschen, die einen neuen Füller oder Tintenroller ausprobieren, schreiben ihren Namen auf das Papier. Als hätte man sie nach ihrer Unterschrift gefragt. Es ist fast wie ein Naturgesetz. In all den Jahren bei Oelkers & Söhne hat sie selten etwas anderes erlebt. Schreiben sei mehr als Buchstaben aneinanderreihen, hat ihr der alte Oelkers einmal erklärt, ein kreativer, sinnlicher Prozess. Wer einen Stift in der Hand halte, wolle sich selbst Ausdruck verleihen – und der eigene Name sei Ausdruck dieser Selbstvergewisserung. Seinen Namen, seine Unterschrift auf Papier zu setzen, ist wie ein Fingerabdruck aus Buchstaben. Ein Bekenntnis zu sich selbst. Das bin ich.

Aber wie passt so ein hässlicher Begriff wie Zombie zu dem Mädchen?

Annika versucht, das Wort mit der jungen Frau in Verbindung zu bringen. Sie ruft sich die feinen Gesichtszüge in Erinnerung, die dunkle, etwas nachlässige Kleidung, den Buzzcut. Eine Melodie steigt in ihr auf und verschwindet gleich wieder. Im nächsten Moment sieht sie den schnellen Griff nach der Karte vor ihrem inneren Auge, wie eine Filmsequenz, und den spöttischen Blick des Mädchens auf das Porträt des Zauberers über dem Tresen. Auf diese ganze Lübecker Treppengiebelheimeligkeit. Ganz deutlich empfindet sie eine Dissonanz, etwas, was das Mädchen wie ein Pendel zwischen Faszination und Verachtung für das Schöne hin und her schwingen lässt.

Draußen vor der Tür lässt das Hupen nicht nach, es übertönt die Musik. Annika schaut auf die Uhr, Hendrik ist auf dem Rückweg vom Acker. Er trägt keinen Helm, auf dem stabilen Lastenfahrrad fühlt er sich sicher. Unruhig steht sie wieder auf. Sie öffnet die Ladentür, tritt auf den Gehweg hinaus, schaut die Straße hinauf und hinunter. Der Verkehr staut sich inzwischen auf der gesamten Länge zwischen Breite Straße und An der Untertrave. Eine Kolonne aus Motorhauben, die sich weder vor- noch zurückbewegt. Das Hupen schmerzt in den Ohren, die Luft riecht nach Abgasen. Ein Fußgänger zeigt den wild hupenden Autofahrern einen Vogel. Eine Radfahrerin weicht auf den Gehweg aus und stößt dort beinahe mit einem Jungen zusammen, der auf seinem Roller unterwegs ist. Aufgebracht ruft ihr der Vater des Kindes etwas Grobes hinterher.

Auch an den Caféhaustischen vor der Bäckerei ist es ungemütlich geworden. Kinderkarren werden eilig in Richtung Trave davongeschoben, ein Baby brüllt. Der Stau hat die ruhige Straße in eine Kampfzone verwandelt. Es ist sowieso ein Wahnsinn, dass man die Altstadt mit ihren engen Straßen nicht längst vollständig verkehrsberuhigt hat. Jedes Jahr erreichen die im Zentrum gemessenen Feinstaubwerte neue Rekorde, ein Bußgeld der EU droht. Wieder muss Annika an Hendrik denken, sie haben ihren Wagen schon vor ein paar Jahren verkauft. Dann hat sie das Mädchen vor Augen, wie sie am Tresen steht und ungerührt den Kleber bezahlt. Das Knistern der Glückwunschkarte in ihrem Hoodie, ihr spöttisches Lächeln, das raspelkurze Haar.

Eine Ahnung durchzuckt Annika. Bilder von ernsten, jungen Menschen, die Straßen blockieren, flackern vor ihrem inneren Auge auf. Klimaaktivisten in orangen Warnwesten. Das Internet ist voll davon: #klimakrise,#aufstandderletztengeneration,#waswenndieregierungdasnichtimgriffhat?

Annika fährt es heiß in den Magen. Der Sekundenkleber. Warum hat sie nicht an die Blockaden der Klimaaktivisten gedacht? Sie dreht sich um, zieht die Ladentür zu, schließt hastig ab, dann läuft sie die Straße hoch. Sie weiß, dass sie zu spät kommt, und will doch trotzdem etwas tun.

Annika hat eine Kette von protestierenden Klimaschützern erwartet, die die Kreuzung vor St. Jakobi blockieren. Aber da sitzt bloß das Mädchen mit dem Buzzcut im Schneidersitz auf dem Asphalt, links und rechts ein paar Mülltonnen als Kameraden. In einer Rotphase muss sie die Tonnen auf die Straße gezogen haben. Zwischen den schweren schwarzen Behältern wirkt das Mädchen noch schmaler und zerbrechlicher, als es ohnehin schon ist. Die linke Hand presst sie auf den Asphalt, in der rechten hält sie ein Schild aus Pappe. Lauter Großbuchstaben: CLIMATEJUSTICENOW! Im Hintergrund, zur Großen Burgstraße hin, ragt der riesige Müllwagen der Stadtreinigung auf. Eingekeilt zwischen parkenden Autos und Lieferwagen, bildet der Koloss die perfekte Blockade, daran kommt keiner vorbei.

Außer Atem bleibt Annika zwischen den Schaulustigen am Straßenrand stehen. Auf der Kreuzung ist das Gehupe ohrenbetäubend laut, die Stimmung aufgeheizt. Ein paar Autofahrer schreien etwas aus den geöffneten Wagenfenstern. »Verpiss dich!« ist noch eine der freundlicheren Äußerungen, die wie Steine auf das Mädchen einprasseln. »Der sollte man die Hand abhacken«, hört Annika auch. Ganz vorne brüllt einer: »Einfach überfahren, die Schlampe!«

In diesem Moment strömen auf dem Koberg Kitakinder aus der Kirche auf den Vorplatz von St. Jakobi. Ein Gewusel aus bunten Jacken und Mützen. Die Kinder scheuchen Dohlen und Tauben auf und bleiben dann wie angewurzelt stehen. Sie zeigen auf die Straße und halten sich die Ohren zu.

»Da ist doch neulich erst eine Radfahrerin in Berlin umgekommen, weil die Klimachaoten die Straße blockiert haben und der Notarztwagen nicht durchkam«, hört Annika eine Passantin sagen. Die Frau ist etwa so alt wie sie und trägt einen Stoffbeutel mit Einkäufen aus dem Bioladen um die Ecke. »Die sind doch irre.«

Annika hat in der Zeitung gelesen, dass das so nicht stimmt, dass die genauen Umstände dieses Vorfalls nicht geklärt sind, aber die meisten Schaulustigen quittieren die Sitzblockade des Mädchens mit Kopfschütteln und verständnislosen Kommentaren: »Die soll arbeiten gehen, statt andere Leute von der Arbeit abzuhalten.« Ein paar Jüngere holen ihr Handy hervor und filmen die Szene. Vor der Kirche lotsen die beiden Erzieherinnen die Kitakinder an den hupenden Autos vorbei. Ein Junge fürchtet sich, fängt an zu weinen und wird auf den Arm genommen.

Trotz all der Anfeindungen bleibt das Mädchen gelassen, als ginge sie das alles nichts an. Ruhig begegnet sie der Wut der Straße, als hätte sie sich darauf vorbereitet. Annika kann den Blick nicht von ihrem Gesicht lösen, das keine Angst und keinen Zweifel zeigt, sondern vielmehr Mut und ernste Entschlossenheit.

Im nächsten Moment heult in der Breiten Straße ein Motor auf. Ein Autofahrer gibt Gas, der Wagen rollt auf das Mädchen zu. Für einen Augenblick wird es ganz still, die Menge scheint den Atem anzuhalten. Das Auto stoppt, bleibt für ein paar Sekunden stehen, dann fährt es wieder an. Es ist jetzt etwa drei Meter von dem Mädchen entfernt.

Zwei Meter, einen Meter. Ist das nicht der Typ, der eben noch »Einfach überfahren, die Schlampe!« gebrüllt hat?

»Jo, Mann, mach sie platt!«, feuert ihn jemand aus der Menge an.

Annika wird schlecht. Sie hat Angst. Angst um das Mädchen. Das Blut pocht ihr in den Schläfen, ihr Mund ist trocken. Sie beißt sich auf die Unterlippe, schmeckt Blut.

Das Auto stoppt, der Motor läuft. Die Wagentür wird aufgestoßen, ein Typ steigt aus. Der Mann ist vielleicht Anfang vierzig, trägt Rolli, Sakko und eine dunkle Hose. Sein Gesicht ist rot, wutverzerrt. Die Zeit sitzt ihm im Nacken. Er muss zur Arbeit, zu einem Kunden, zum Termin. Drohend geht er auf das Mädchen zu, schreit sie an: »Was bildest du dir ein, du dumme Kuh!«

Das Mädchen hebt das Kinn. Sie verzieht keine Miene, schaut ihm offen ins Gesicht. Ihr Trotz macht den Mann noch aggressiver. Die Wut schüttelt ihn. Er hebt eine Hand, als wollte er sie schlagen. Würde er sie packen und einfach von der Straße zerren, würde er die Haut an ihrer Hand in Fetzen reißen. Für den Bruchteil einer Sekunde ist nicht klar, was passieren wird, dann tritt er mit voller Wucht gegen eine Mülltonne. Es knallt. Die Tonne kippt nach hinten, der Deckel springt auf, Müll ergießt sich auf den Asphalt.

Im selben Moment springen zwei Müllmänner aus dem Wagen der Stadtreinigung, sie schreien den Autofahrer an. Ein Wort gibt das andere. Es geht nicht mehr um das Mädchen, es geht um den Müll. Als hätte der Typ sich an ihrem Eigentum vergriffen. Hinten auf der Breiten Straße heult eine Sirene auf, aber die Polizei kommt nicht durch. Wegen der Mülltonnen ist es zu eng für eine Rettungsgasse.

Tränen steigen Annika in die Augen. Ihr Puls geht noch schneller, das Herz klopft ihr bis hinauf ins Gehirn. Lauf weg!, kreischt eine panische Stimme in ihrem Kopf. Das hier hat nichts mit dir zu tun.

Doch sie hört nicht auf die Stimme. Sie ballt die Fäuste, drängt sich durch die Menge, steht auf der Straße. Vier, fünf Schritte noch, dann ist sie bei dem Mädchen und setzt sich auch auf die Kreuzung.

3

Sie begehen eine Straftat.«

Die Polizei ist da. Ein Beamter in Uniform steht vor Annika, seine Stimme klingt heiser. In seinem Rücken versucht seine Kollegin, den aufgebrachten Autofahrer zu beruhigen. Sie drängt ihn zurück, fordert ihn auf, sich in seinen Wagen zu setzen. Das Hupen lässt nach, ist aber noch nicht völlig verstummt. Auf dem Dach des Einsatzfahrzeugs, das halb auf dem Bürgersteig steht, flackert Blaulicht. Ein kaltes, hypnotisches Licht, das Gefahr signalisiert.

Annika muss kurz die Augen schließen, doch das Warnlicht dringt selbst durch die geschlossenen Lider, reißt alle Barrieren ein. Wie ein Stroboskop wirbelt es durch ihren Kopf, in ihrem Gehirn. Alles dreht sich, ihr wird schlecht.

»Das habe ich verstanden.«

Das Mädchen bleibt ruhig, als habe sie sich auf die Konfrontation mit der Polizei vorbereitet. Vermutlich gibt es dazu einen Leitfaden im Internet: Wir sind absolut gewaltfrei in unserem Verhalten und unserer Sprache. Vielleicht hat sie auch ein Trainingsseminar der Klimaaktivisten besucht: Gewaltfreiheit und ziviler Ungehorsam – oder wie auch immer so etwas heißt.

Der Polizist tippt ungeduldig mit der Schuhspitze gegen das Pappschild. Seine Stimme verrät keinerlei Gefühlsregung. Er klingt vielmehr wie eine Maschine, ein Apparat, der eine Tonspur abspult: »Sie stellen eine nicht angemeldete Versammlung dar, behindern den fließenden Verkehr und gefährden die öffentliche Sicherheit.«

Er fordert sie auf, die Straße zu verlassen und sich auf den Gehweg zu begeben. Sollten sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, werde man sie von der Fahrbahn entfernen.

»Haben Sie das verstanden?« Der Polizeibeamte sieht Annika wieder an, als traue er ihr mehr Vernunft zu als dem Mädchen. Über der Brusttasche seiner Weste ist eine Nummer angebracht: SH10098. Annika kann ihm nicht antworten. SH10098 – die Zahl macht ihr Angst.

Das Mädchen lässt das Schild in den Schoß sinken. Mit der freien Hand drückt sie Annikas Arm, als könnte sie ihre Angst spüren. »Ich bin hier festgeklebt«, sagt sie ruhig.

»Okay.« Der Beamte tritt zurück, tauscht sich kurz mit seiner Kollegin aus, spricht dann in sein Funkgerät. Die beiden warten auf Verstärkung.

»Speiseöl«, hört Annika eine Stimme, die von hinten kommt. Sie gehört einem der Müllmänner. Er hält sein Handy hoch und geht auf die Beamten zu. Offenbar hat er gerade im Internet recherchiert, was gegen Sekundenkleber hilft. »Die kriegen Sie mit Öl von der Straße.«

Als die Beamtin nickt, macht er sich daran, die umgekippte Mülltonne aufzurichten. Mit den Füßen schiebt er den Abfall zu einem Haufen zusammen.

»Einen Moment noch!« Die Beamtin fordert ihn auf, zur Seite zu treten. Sie holt eine Kamera aus dem Einsatzwagen und macht Aufnahmen von Annika, dem Mädchen und der Barrikade aus Mülltonnen. »Die Kollegen sind unterwegs.«

»Ich will ja nur helfen …«

Der Müllmann dreht sich um und wirft einen verächtlichen Blick auf Annika und das Mädchen. Er ist noch jung, vielleicht Mitte zwanzig, trotzdem scheint er wenig Verständnis für den Protest zu haben. »Warum klebt ihr euch nicht in Berlin ans Kanzleramt? So werdet ihr gar nichts verändern.«

»Wir müssen den Alltag stören, damit die Menschen sich mit der Klimakatastrophe beschäftigen«, antwortet das Mädchen, ohne zu zögern. Ihre Worte klingen wie einstudiert, auch sie spult ein Band ab. »Die Erde steht in Flammen, begreift ihr das denn nicht?« Sie holt kurz Luft, will weitersprechen. Da ist noch eine Menge, was sie zu sagen hätte, aber ein Pfiff ruft den jungen Mann zu seiner Truppe zurück. Achselzuckend trottet er nach hinten.

»Danke«, hört Annika die Stimme des Mädchens an ihrem Ohr. Sie lässt ihren Arm los und drückt ihr etwas in die Hand. »Ich bin noch keine achtzehn, die kriegen mich nicht dran. Aber Sie sollten jetzt besser aufstehen. Ich will nicht, dass Sie meinetwegen Ärger bekommen.«

Annika nickt. Sie hocken im Schatten der Kirche, der Turm von St. Jakobi ragt über ihnen auf. Der Asphalt ist trocken, aber kühl. Kleine Steinchen drücken sich durch den Stoff ihrer Jeans. Obwohl sie lange nicht mehr auf einer Straße gesessen hat, erinnert sich ihr Körper noch genau, wie es sich anfühlt, wenn man an Armen und Beinen gepackt und zur Seite getragen wird. Wie es ist, wenn man sich möglichst schwer macht und dann wie ein Stück Dreck behandelt wird. Wenn man aus Ohnmacht und Verzweiflung schreit und spuckt und um sich tritt.

Bullenschweine!!!, gellt eine Stimme in ihrem Kopf, der grelle Tonfall tut ihr genauso weh wie das Blaulicht. Ihr Herz pocht bis hinauf zu den Schläfen, alles schmerzt. Sie versucht aufzustehen, kann sich aber nicht bewegen. Es ist, als steckte sie in einem dunklen Tunnel fest.

»Annika? Ist dir etwas passiert?« Auf einmal löst sich Hendrik aus der Menge. Hendrik mit seinen Blumen, sie hat ihn gar nicht kommen sehen. Der Polizist, SH10098, versucht, ihn zu packen und zur Seite zu drängen.

»Das ist meine Frau«, sagt Hendrik. Er bleibt stehen und hebt beschwichtigend die Arme. »Annika Oelkers. Wir haben hier einen Laden in der Engelsgrube. Oelkers & Söhne …«

Der Beamte zögert kurz, dann nickt er. Vielleicht kennt er den Laden, oder seine Menschenkenntnis signalisiert ihm, dass von Hendrik keine Gefahr ausgeht. Er lässt ihn durch.

Vor Annika geht Hendrik in die Hocke. Er schaut ihr in die Augen, versucht, sie aus dem Tunnel zu ziehen. Wieder sind Sirenen zu hören, noch mehr Polizei. Die Verstärkung kommt jetzt von allen Seiten. Es hört sich so an, als hätte es einen Unfall mit vielen Verletzten gegeben.

»Ich zieh dich hoch, ja?«

Annika kann sich immer noch nicht rühren. Sie begreift, dass sie unter Schock steht. Stresshormone überschütten ihren Körper, stören alle Abläufe im Gehirn, blockieren es. Sie kann nicht denken.

Hendrik greift nach ihren Händen. Er zieht sie langsam hoch und nimmt sie dann in die Arme. Annika drückt ihre Nase in die Beuge zwischen Hals und Schulter, dorthin, wo es so ganz nach dem Mann riecht, den sie liebt. Jetzt, in Hendriks Armen, fängt sie an zu zittern. Es ist, als habe sie Fieber und Schüttelfrost. Ihre Knie knicken ein, sie kann sich nicht auf den Beinen halten.

»Komm, stütz dich auf mich.« Hendrik führt sie langsam zur Seite und bugsiert sie auf eine Bank, die unterhalb der Kirche steht. Da parkt auch sein Lastenfahrrad. Die Ladefläche ist voller Blumen, rote, pinke und violette Blütenbälle. Dahlien, die er auf dem Markt verkaufen wollte.

»Sie wollte doch nur dem Mädchen helfen.« Die Masse der Schaulustigen spuckt Vivian aus. Sie setzt sich zu Annika auf die Bank, drückt sie, während Hendrik jetzt ratlos und schockiert vor den beiden Frauen steht. »Da ist so ein Irrer auf das Mädchen losgegangen, das war wirklich brutal.«

Hendrik schüttelt den Kopf. Er ist gerade erst dazugekommen, da war die Polizei schon vor Ort. Er holt eine Flasche Wasser aus seinem Rucksack, lässt Annika trinken. Wie in Trance nimmt sie wahr, was um sie herum geschieht.

Auf der Straße wird das Mädchen von drei Polizisten umringt. Einer der Beamten nimmt das Pappschild an sich und faltet es zusammen, ein zweiter hält eine Flasche mit einer gelblichen Flüssigkeit in der Hand. Das Speiseöl. Die Polizei ist inzwischen auf die Blockaden der Klimaaktivisten vorbereitet. Annika sieht, wie der Beamte sich neben das Mädchen auf die Straße kniet und die festgeklebte Hand mit Öl einpinselt. Dabei spricht er mit ihr. Vielleicht erklärt er ihr, was er vorhat.

Das Mädchen nickt, der dritte Polizist rollt die Mülltonnen zur Seite. Der Müll bleibt neben dem Mädchen auf der Straße liegen. Im Hintergrund laufen weitere Beamte durch die Autoreihen in der Breiten Straße. Sie sprechen die Autofahrer an, suchen wohl Zeugen, die sich genötigt fühlen. Für ein mögliches Ermittlungsverfahren und eventuelle Schadenersatzforderungen brauchen sie Aussagen.

Dann kommt die Polizeibeamtin auf Annika zu, sie will ihre Personalien aufnehmen.

»Hast du deinen Ausweis dabei?«, fragt Hendrik, als sie nicht reagiert.

Annika schüttelt langsam den Kopf, ihre Tasche liegt zu Hause, ihr Handy mit einem Foto des Personalausweises auf dem Tresen im Laden.

Hendrik zieht seine Brieftasche hervor, zeigt seinen Ausweis, erklärt noch einmal, dass Annika seine Frau ist. Wieder deutet er quer über die Kreuzung auf die Engelsgrube.

Auch Vivian springt ihr zur Seite. Sie wiederholt, was sie schon Hendrik berichtet hat. Dass Annika dem Mädchen nur helfen, sie vor dem aggressiven Autofahrer beschützen wollte.

Noch mehr Passanten kommen dazu. Auf einmal will jeder etwas sagen, auch die, die vorher geschwiegen oder eine abfällige Bemerkung gemacht haben.

Geduldig hört die Beamtin zu. Vivians Aussage wird notiert, auch sie muss ihren Personalausweis zeigen.

Auf der Straße verzieht das Mädchen das Gesicht, es tut weh, wenn die Hand mit einem Spatel von der Straße gelöst wird. Der Pastor von St. Jakobi, der gerade erst aus der Kirche gekommen ist, redet mit einem der Polizisten. Dann geht er zu dem Mädchen, aber sie schüttelt den Kopf, will nicht mit ihm sprechen.

Als das Mädchen von der Straße geführt wird, hebt der Pastor den Rucksack auf und trägt ihn ihr hinterher zum Streifenwagen.

»Was passiert mit ihr?« Vivian steckt ihren Ausweis wieder in die Tasche.

»Wir nehmen sie mit auf die Wache und überprüfen, ob bereits etwas gegen sie vorliegt. Wenn sie keine Papiere dabeihat, müssen wir sie dabehalten, bis wir die Personalien geklärt haben«, antwortet die Beamtin.

Annika öffnet ihre Faust. Sie blickt auf die kleine Plastikkarte, die das Mädchen ihr vorhin in die Hand geschoben hat. Ein Personalausweis. Winther, Luzie, geboren am 12. Oktober 2004 in Eckernförde. Übermorgen wird sie achtzehn.

»Sie gehört zu mir«, sagt sie, auf einmal ist ihre Stimme wieder da. Sie hält der Polizistin die Karte hin. Auf dem Bild hat Luzie lange braune Haare. Sie sieht glücklich aus – wie ein Mädchen, das Pferde liebt und gern Gitarre spielt. Vielleicht ist sie auch schon einmal verliebt gewesen.

4

Es ist Nachmittag geworden, in der Engelsgrube sinkt die Sonne langsam hinter die Treppengiebel auf der anderen Straßenseite. Das Café liegt nun im Schatten, der Himmel nimmt eine weißgraue Färbung an. Wind kommt auf, bewegt die Blätter in den Bäumen, wirbelt eine leere Brötchentüte die Straße hinunter in Richtung Trave. Weil es auf der Wache lange gedauert hat, bis Luzie gehen durfte, hat Annika das Geschäft nicht mehr geöffnet. Sie hat lediglich die Kartenständer, die aufgereiht wie Zinnsoldaten vor dem Schaufenster warteten, in den Laden gerollt, die Jalousie zurückgekurbelt. Da hatte sich der Stau in der Altstadt längst aufgelöst.

Luzies Aktion hat sich inzwischen ins Internet verlagert: #heuteinlübeck, #letztegeneration, #klimakatastrophe, #actnow, #tempo 100, #tempolimit. Aus einer kleinen, lokalen Blockade sind Bilder, Hashtags und Kommentare geworden, die sich zu unzähligen Beiträgen über weitere Aktionen in ganz Deutschland addieren. Ein Wust an Fakten und Meinungen. Und morgen steht alles noch einmal in den Tageszeitungen. Annika hofft, dass es kein Bild gibt, das sie neben Luzie auf der Straße sitzend zeigt. Jetzt, mit etwas Abstand, kann sie sich selbst kaum erklären, was in sie gefahren ist. Bestimmt hat sich in der Altstadt längst herumgesprochen, dass Annika Oelkers sich mit der Klimaaktivistin solidarisiert hat. Was soll sie nachher bei der Chorprobe sagen, wenn man sie nach dem Grund für ihr Handeln fragt?

Dass Luzie den Sekundenkleber von ihr bekommen hat? Dass sie sich daher irgendwie schuldig fühlte, mitverantwortlich für die Aktion? Und dass sie Luzie immer noch nicht ziehen lassen kann, weil ihre Ernsthaftigkeit und ihr Mut sie tief berühren? Jedenfalls hat sie Luzie nach den gemeinsam auf der Wache verbrachten Stunden noch zu sich nach Hause eingeladen.

Jetzt steht Annika in der Küche ihrer Wohnung im ersten Stock des Hauses. Luzie möchte etwas Heißes trinken, einen Tee, dabei würde sie ihr viel lieber einen Kakao kochen, mit einem Klecks Schlagsahne obendrauf. Etwas mit extra viel Kalorien, damit Luzie wieder zu Kräften kommt. Sie ist doch so zart! Durch das Küchenfenster kann Annika das Lastenfahrrad sehen, es steht unten im Hof. Hendrik ist dabei, die Blumen mit Wasser zu versorgen. Er lässt sich Zeit, versteht wohl nicht, warum sie Luzie noch mitgenommen hat. »Du hast doch getan, was du konntest. Lass dich da nicht reinziehen, das tut dir nicht gut.«

Luzie sitzt auf der Bank am Küchentisch und knibbelt an den Kleberesten an ihrer Hand. Sie sieht müde aus, abgekämpft. Der Rucksack klemmt zwischen ihren Füßen. In der aufgeräumten Küche, zwischen den mattweißen Fronten und dem Tellerbord mit dem von Hand glasierten Keramikgeschirr, wirkt sie wie ein Fremdkörper. Ein Meteorit, der in Annikas Welt eingeschlagen ist.

Am späten Vormittag auf der Wache hat man ihre Personalien aufgenommen und sie beide dann endlos warten lassen. Länger als zwei Stunden, vielleicht Schikane. Erst als klar war, dass nichts gegen Luzie vorlag, konnte sie eine Anzeige wegen Nötigung gegen den aggressiven Autofahrer erstatten. Während Annika den Tee aufgießt, sieht sie ihn wieder vor sich, diesen gut gekleideten Mann, und wie er mit seinem Wagen drohend auf Luzie zurollt. Wie er dann aussteigt und seine Wut sich an ihr entlädt. (»Einfach überfahren, die Schlampe!«) Sie hat große Angst gehabt, dass er Luzie in den Magen oder ins Gesicht treten könnte. Dass er sie schwer verletzt.

Annika greift nach dem Brotmesser. »Möchtest du auch etwas essen?«, fragt sie Luzie. Sie schneidet Brot, holt Margarine und Käse aus dem Kühlschrank. Seit dem Müsli zum Frühstück hat sie nichts mehr gegessen, trotzdem fühlt sie sich jetzt besser als vorhin auf der Wache. Den aggressiven Typen angezeigt zu haben, gibt ihr ein Gefühl von Stärke.

Luzie nickt, sie hat keine Einwände gegen Käse. Als sie beide am Tisch sitzen und essen, kommt auch Hendrik nach oben. Er hat Blumen mitgebracht. Ohne viel Aufhebens stellt er den Strauß in eine Vase und diese auf den Tisch. Rote, weiße und violette Dahlien mit einem hellen Kranz rund um den gelben Stempel. Halskrausen-Dahlien, er weiß, wie gerne Annika die mag.

Dankbar lächelt sie ihn an, dann gießt sie ihm einen Becher Tee ein. Ein Käsebrot möchte Hendrik nicht, dafür etwas Süßes. Nervennahrung. Aus der Schublade mit den Keksen und Süßigkeiten holt er sich eine Tafel Schokolade.

»Und was bringt das Ganze jetzt?«, fragt er Luzie, als er sich ans Kopfende des Tisches setzt. Er reißt das Papier von der Schokolade ab und bietet Luzie ein Stückchen an. Seine Stimme klingt wachsam und ein bisschen von oben herab.

Annika ärgert sich. Sieht er denn nicht, wie angeschlagen Luzie ist? Über den Tisch hinweg wirft sie ihm einen langen, verständnislosen Blick zu.

Luzie nimmt ein Stück Schokolade, steckt es sich aber nicht in den Mund. »Wir sind im Klimanotstand«, sagt sie knapp. Sie hört sich jetzt müde an, unter ihren Augen liegen Schatten. Die ganze Aktion und der feste Wille, dem Zorn der Straße standzuhalten, müssen sie viel Kraft gekostet haben. Oder ist es die Verzweiflung über den Zustand der Welt und über die eigene Ohnmacht, was sie so erschöpft aussehen lässt?

Hendrik zieht die Augenbrauen hoch. Er hat die Mütze abgenommen, sein graues Haar ist fast so kurz wie Luzies Buzzcut und am Hinterkopf ein wenig licht. Im kommenden Frühjahr wird er sechzig, doch seine blauen Augen blitzen angriffslustig. Er hat immer noch unglaublich viel Kraft und Energie. »Glaubst du wirklich, dass die Leute wegen so einer Aktion aufs Fahrrad umsteigen? Dass wir deshalb mehr Windräder aufstellen?«

Luzie umschließt das Stückchen Schokolade mit der Faust. »Wir müssen nur drei Prozent der Leute erreichen«, sagt sie. »Nur drei Prozent, dann gerät etwas ins Rutschen, und wir können etwas verändern. Deshalb gehen wir auf die Straße.«

»Aber so vergrault ihr doch alle, die längst auf eurer Seite sind. Ich zum Beispiel bin einer von ihnen. Und die anderen, die am Klimawandel zweifeln, überzeugt ihr mit den Blockaden erst recht nicht.« Hendrik bricht sich noch eine Rippe von der Schokolade ab. Bio und Fair Trade – es stimmt, er bemüht sich wirklich, viel mehr noch als Annika. Deshalb hat er sich auch der Slowflower-Bewegung angeschlossen. Die meisten Schnittblumen, die in den Blumenläden verkauft werden, stammen aus Ländern wie Äthiopien, Kenia oder Ecuador, wo Wasser knapp ist und Böden, Seen und Naturschutzgebiete von den Spritzmittelrückständen aus den Monokulturen vergiftet werden. So hat er es ihr jedenfalls bei seinem Einstieg erklärt, als sie daran zweifelte, ob sich das mit dem Blumenacker überhaupt rechnen würde. Außerdem gebe es in diesen Ländern schlechte Arbeitsbedingungen, Niedriglöhne und Ausbeutung. Die Slowflower-Leute, ein paar von ihnen hat Annika inzwischen kennengelernt, wollen das verändern. Sie setzen auf Saisonalität, Regionalität und Nachhaltigkeit und arbeiten mit jeder Menge Idealismus. Bei ihnen gibt es kurze Transportwege – und keine Rosen im Winter. (»Damit musst du leben, Anni.«)

Während des Corona-Lockdowns war der Blumenacker am Stadtrand sogar ein Zufluchtsort, wenn ihnen beiden in der zugesperrten Stadt die Decke auf den Kopf fiel. Der Bauer, von dem Hendrik das Land pachtet, hat ihnen erlaubt, dort eine kleine Hütte zu errichten. Und so waren die Ausflüge zum geöffneten Baumarkt in der Nähe ein Highlight in dieser schwierigen Zeit. Die Hütte bietet Platz für eine gemütliche Bank, einen Tisch und einen Campingkocher, auch die Gartengeräte lagern dort. Im Sommer haben sie sogar ein paarmal draußen am Blumenacker übernachtet, im Morgengrauen Rehe und einen jungen Fuchs beobachtet.

»Was bringt es dem Klimaschutz, wenn ihr immer wieder die Straße blockiert oder Kunstwerke mit Kartoffelbrei und Farbe beschmiert?«, fährt Hendrik fort. Über den Suppenanschlag auf van Goghs Sonnenblumen in Amsterdam hat er sich unglaublich aufgeregt. (»Was für ein Unsinn!«) Er will die Sache jetzt ausdiskutieren, Luzie auf ihre Sattelfestigkeit hin prüfen. »Das ist doch ein globales Thema. Was hilft es dem Klima, wenn Deutschland noch strengere Maßnahmen einführt, die wirklich großen CO2-Schleudern wie China, die USA oder Indien aber nichts verändern?«

»Auf den ersten Blick wahrscheinlich wenig«, gibt Luzie ihm recht. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Ein wenig Farbe ist in ihr Gesicht zurückgekehrt, die Wangen röten sich leicht. Sie beugt sich vor, ihre Miene ist ernst. »Aber ich denke, es ist komplizierter.«

»Okay, dann lass mal hören.« Hendrik lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander, sein rechter Fuß wippt auf und ab. Er kennt alle Daten und Fakten, hat Annika oft genug damit konfrontiert, wenn sie wegen der Preise lieber im Discounter statt auf dem Biomarkt einkaufen wollte.

»Wenn sich Deutschland nicht an seine Verpflichtungen zum Klimaschutz hält, ist das für Länder wie China oder Indien doch die perfekte Ausrede, es ebenfalls nicht zu tun«, erwidert Luzie ernst. Noch immer umschließt sie mit der Faust das Stück Schokolade, wahrscheinlich ist es längst weich geworden. »Wenn aber ein Industrieland wie Deutschland es schafft, klimaneutral zu werden, zeigen wir allen anderen, dass sie es auch können. Und dass es sich lohnt.«