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Es war kein einfaches Jahr 2014, das Adrian Plass da durchzustehen hatte: Als ihn immer stärkere Kopfschmerzen plagen, vermuten die Ärzte einen Gehirntumor. Endlich ist dieser Verdacht ausgeräumt, und er kann aufatmen – da erleidet er einen Schlaganfall. Kaum in der Lage, seine rechte Hand zu benutzen (eine denkbar schwierige Situation für einen Schriftsteller), lässt er sich nicht unterkriegen und kämpft sich tapfer zurück. Schließlich steht die Deutschland-Tournee vor der Tür, die er um keinen Preis verpassen möchte. Und die wird ihm tatsächlich in ganz besonderer Erinnerung bleiben.
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Seitenzahl: 104
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Adrian Plass
Tagebuch eines
angeschlagenen Chaoten
Getragen in schweren Zeiten
Aus dem Englischen von Christian Rendel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86506-865-1
© Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: fotolia@Schlierner, fotolia@dmitrimaruta
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
www.brendow-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Wie alles begann
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
Postskriptum
Es ist doch eigentlich seltsam: Als Schriftsteller bin ich wahrscheinlich am ehesten für meine fiktiven humorvollen Tagebücher bekannt. Dabei habe ich in meinem ganzen Leben nie tatsächlich Tagebuch geführt. Warum nicht? Nun, ein Grund ist, dass ich genau weiß, dass ich irgendwann versuchen würde, meine Leser zu unterhalten, wer immer sie sein mögen, und das ist eindeutig nicht der allgemein anerkannte Zweck eines Tagebuchs. Ich schätze, unter dem Strich läuft es zudem darauf hinaus, dass ich als einziger potenzieller Leser meiner Werke mich selbst nicht interessant oder anregend genug finde.
Das Einzige, was entfernte Ähnlichkeit mit dem Schreiben eines Tagebuchs oder Journals haben könnte, ist der monatliche Brief, den ich seit Januar 2014 auf meiner leidgeprüften Website schreibe. Dazu hatte ich mich aus zwei Gründen durchgerungen. Erstens, weil meine Frau fand, das sei eine gute Idee; eine einfache Möglichkeit, mit allen in Kontakt zu bleiben, die sich dafür interessierten, ein wenig darüber zu hören, was sich in unserem Leben tut. Das sagte sie mehrere Male. Sogar etliche Male. Wenn Bridget etwas für eine gute Idee hält, dann ist es oft auch eine. Der andere Grund hat mit Furcht zu tun.
Solange das Leben seinen gewohnten Gang ging, ungestört von größeren persönlichen Katastrophen, hielt ich es nie für nötig, es auf Schritt und Tritt genau unter die Lupe zu nehmen oder zu dokumentieren. Doch wenn das Grauen über unseren Weg hereinbricht, scheint alles langsamer zu werden. Zeiten des Friedens werden zu etwas Bemerkenswertem. Das bewirkt die Furcht. Ich will euch ein wenig darüber erzählen, wie ich Furcht erlebe.
Wie den meisten von uns ist mir Furcht nicht ganz fremd. Einmal habe ich sogar ein Buch über all die Dinge geschrieben, die mir Angst machen. Das war keine leichte Aufgabe, vor allem, weil mir noch gar nicht klar gewesen war, was für eine außerordentliche Vielfalt von Ängsten ebenso Teil von mir waren wie meine Arme und Beine. Es ist nicht viel leichter oder weniger blutig, sich eine chronische Furcht abzuschneiden, als sich einen Arm oder ein Bein zu amputieren. Jesus sagte, es wäre besser, mit nur einer Hand oder nur einem Auge in den Himmel zu kommen, als ganz draußen bleiben zu müssen. Diese erschreckend eindrückliche Metapher hatte ich nie vollkommen verstanden, bis mich das Schreiben jenes Buches dazu zwang, mich eingehend damit zu beschäftigen, wie sehr manche Infektionen des Grauens sich in meinem Denken und Fühlen eingenistet hatten. Wir bestehen aus Schatten und Licht.
Natürlich meint Jesus die Sünde, wenn er davon spricht, sich Augen herauszureißen und Glieder abzuhacken. Ich rede von Furcht, und Furcht an sich ist keine Sünde. Oder wenn, dann hätte auch Jesus sie einige Male begangen, und wir müssten unsere ganze theologische Sichtweise verändern. Nein, wir kommen um solche Zeiten der Dunkelheit nicht herum, und niemand, jedenfalls ganz bestimmt nicht Gott (und höchstens eine kleine Zahl sonderbarer Christen) wird uns dafür verurteilen. Die Frage ist für uns dieselbe, vor der auch Jesus stand. Wie wehren wir die Versuchung ab, uns durch die Furcht von der wichtigen Aufgabe abhalten zu lassen, nur das zu tun, was wir den Vater tun sehen?
Diese Frage lässt sich nicht mit einem jener scheußlichen frommen Sprüche beantworten, die uns keinen Schritt weiterhelfen. Mag ja sein, dass die vollkommene Liebe die Furcht austreibt, aber wenn diese Ansammlung von Wörtern als Etikett herhalten muss, das wir auf etwas kleben, was wir nicht einmal ansatzweise verstehen, dann nützt uns das nicht viel, oder? Im Garten Gethsemane, so wird uns berichtet, hat Jesus gesagt: „Mein Kummer ist so groß, dass er mich fast erdrückt.“ Wir reden von den härtesten Herausforderungen in den härtesten Situationen.
Ja, die Furcht war mir wohl bekannt. Aber im Herbst 2013 passierte mir etwas, was mir neu war. Ich hatte noch nie wirklich mit der Furcht vor dem Tod gerungen. Natürlich war mir wie den meisten von uns Menschenwesen klar, dass einst, wenn mein langer Strom unaufhörlicher Sorgen endlich dünner wird und versiegt, eine bärtige Gestalt mit einer langen Sense in der Hand mich höhnisch grinsend heranwinken wird, um mein Schicksal zu besiegeln, aber die Freuden und Verzweiflungen des Lebens hatten mich davon abgelenkt, mich zu sehr damit zu beschäftigen (vielleicht hatte ich der Scheu davor auch einen geistlich respektableren Anstrich gegeben). Jesus sagt über die allgegenwärtige menschliche Angst vor dem Tod Folgendes:
Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann.Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.
Matthäus 10,28-31(Einheitsübersetzung)
Enttäuschung ist eines der traurigsten Dinge auf der Welt. Bridget und ich haben schon unzählige Male mit Christen geredet und gebetet und gelitten, die enttäuscht sind von dem Gott, der so viel zu verheißen schien, um sie dann verwirrt und verletzt sich selbst zu überlassen; wie Kinder, die von ihren Eltern im Stich gelassen werden. Eben diesem enttäuschenden Gott danke ich dafür, dass sie sich bei uns sicher genug fühlen, um solch tiefe Not des Schmerzes und der Verwirrung in Worte zu fassen. Paradoxerweise scheint er mittendrin zu stecken in diesen schrecklichen, merkwürdig wunderbaren Begegnungen mit dem gefährlichen Ding, das wir Wahrheit nennen.
Dazu gleich noch mehr. Ich wäre kürzlich beinahe dem Tod begegnet. Wie ist es mir flackerndem Spatz bei der Aussicht ergangen, in den Abgrund zu stürzen?
Wie es anfing, war fast lustig. Fast. Ich ging zu einem Optiker in der High Street (zu dem, zu dem jeder „hätte gehen sollen“, wie es in einer berühmten Werbekampagne in unserem Land heißt). Eigentlich wollte ich nur eine Brille. Ich litt unter Doppelbildern und einer Sehschwäche in einem Auge. Die Dame, die mich bediente, ließ an Effizienz nichts zu wünschen übrig. Sie fuhr alle möglichen technischen Errungenschaften des Raumfahrtzeitalters auf und führte einen Test nach dem anderen durch. Freilich kam es mir so vor, als ob sie sehr lange brauchte, um ihre Untersuchung abzuschließen. Vermutlich war sie einfach nur gründlich, dachte ich. Das war sie auch, aber es ging ihr nicht darum, mir die richtigen Brillengläser anzupassen.
Nach einer dreiviertel Stunde war sie mit ihren Tests fertig und sah mich ernst an.
Um das Schweigen zu überbrücken, fragte ich jämmerlich: „Kriege ich jetzt eine Brille?“
„Nein“, erwiderte sie, „ich gebe Ihnen kein Brillenrezept. Ich überweise Sie sofort in die Augenklinik.“
Warum, wollte sie nicht sagen.
Keine zwei Tage später wurde ich von jemandem, der sich als Optometrist vorstellte, noch einmal ebenso gründlich durch die Testmühle gedreht.
„So“, verkündete er schließlich ernst, nachdem er dieselbe Testreihe noch einmal durchgeführt hatte. „Ich überweise Sie sofort an eine Ärztin hier in der Augenabteilung.“
Warum, wollte er nicht sagen. Allmählich machte ich mir Sorgen.
„Soll ich mir am Tresen einen Termin geben lassen?“
„Nein, Sie können gleich zu ihr gehen.“
„Gleich – okay.“
In einem Sprechzimmer am Ende des Korridors wurde ich noch einmal untersucht, diesmal von einer Ärztin.
„So“, sagte sie, als sie mit ihrer Untersuchung fertig war. „Ich überweise Sie sofort an einen Spezialisten.“
Um eine kurze Geschichte noch kürzer zu machen: Der Spezialist überwies mich sogleich in die MRT-Abteilung, um mein Gehirn scannen zu lassen.
„Können wir damit nicht noch eine Woche warten?“, erkundigte ich mich zitternd. „Meine Frau und ich sollen kommende Woche in Wales eine Freizeit leiten.“
„Die müssen Sie absagen“, sagte er.
Immer noch keine Rede davon, was eigentlich mit mir nicht stimmte, aber offensichtlich vermutete man so etwas wie einen Hirntumor. Wir sagten Wales ab. Die Leute waren sehr verständnisvoll. Der MRT-Scan, Albtraum eines jeden, der an Klaustrophobie leidet, kam und ging vorbei. Während ich auf die Ergebnisse wartete, stand ich zum ersten Mal in meinem Leben vor der konkreten Möglichkeit, dass ich vielleicht nicht mehr sehr lange leben würde. Was für eine seltsame Zeit, in der ich im Geist über den schönen, gewöhnlichen Dingen des Lebens schwebte und mich fragte, wie ich jemals hatte so naiv sein können, zu glauben, das Leben ginge irgendwie immer weiter.
Endlich kam der Anruf. Bridget und ich standen zu diesem Zeitpunkt auf einem Feld und warfen einen Ball für unsere Hündin Lucy. Nach ein paar Würfen wollten wir Lucy hinten in unserem Auto unterbringen und uns in der nahegelegenen Eisdiele niederlassen, einem unserer Lieblingsorte. Mein Handy klingelte, als wir gerade den Ball aus einer üblen Schlammpfütze unter einem Baum bargen. Ich ging sofort dran. Ihr könnt Euch vorstellen, dass ich zu dieser Zeit bei jedem Anruf sofort dranging. Es war eine Frauenstimme.
„Hallo, ist da Mr.Plass? Hier ist die Klinik. Wir haben Ihre MRT-Ergebnisse.“
Manche Momente dauern ewig, nicht wahr? So war es auch jetzt. Eine absurde Sekunde lang war ich kurz davor, zu sagen, ich wolle es gar nicht wissen. Ich würde später schon noch dahinterkommen.
„Ja?“, sagte ich. „Und?“
„Keinerlei Befund. Kein Anlass zur Sorge. Okay?“
„Okay. Ich danke Ihnen – ganz herzlichen Dank.“
Wir machten uns mit Genuss über unsere Eisbecher her.
In der folgenden Woche wurde ein Bluttest gemacht. Kein Befund. Eine Woche später erbrachte ein MRT an meinen Beinen und am unteren Rücken ein weniger erfreuliches Ergebnis. Zwei Bandscheiben waren herausgesprungen und „trocken“, was immer das bedeutet. Ich brauchte eine Operation. Bis dahin würde ich mich mit Schmerzmedikamenten und Krankengymnastik durchschlagen müssen.
Aber immerhin war ich am Leben. Ich hatte mehr Glück als manch anderer. Ich lebte.
Was empfand ich gegenüber Gott, als ich ernsthaft glaubte, mein Leben würde bald zu Ende gehen? Wenn jetzt nicht die Stunde der Wahrheit war, wann dann? Ich bat ihn, mich zu heilen. Natürlich tat ich das. Ich bat ihn, meine Familie zu beschützen. Manchmal hatte ich große Angst, weniger vor der Aussicht auf den Tod als vor dem Prozess des Sterbens, und hin und wieder vor der grausigen Möglichkeit des völligen Erlöschens, der Vergessenheit. Ich habe einmal geschrieben: „Vergessenheit ist nichts, worum man sich sorgen müsste.“ Eine ironische Bemerkung, aber nur zur Hälfte scherzhaft gemeint. Ich fürchtete die Sinnlosigkeit des Erlöschens beim Tode mehr als alles andere, wie unlogisch sich das auch anhören mag.
War ich enttäuscht von Gott? Nein. Das ist die Wahrheit. Zu verdanken habe ich das Euch, all Ihr lieben Menschen, die uns erzählt haben, wie sehr Ihr Euch in qualvollen Zeiten voller Trauer, Verlust und zermürbender Härte im Stich gelassen fühltet von dem, der euch hätte beschützen sollen. Ihr habt uns geholfen, zu lernen, dass unsere geistlichen Prioritäten ernsthaft in Schieflage geraten sind, besonders in den reichen Gegenden der Welt, wo eine ganz andere Form der Armut umso verderblicher ist, weil man sie nicht sieht.
Lass es mich um Euret- und um meinetwillen ganz langsam buchstabieren. Der größte Triumph Gottes ist die Erlösung. Ja, wir wissen, dass er manchmal eingreift, aber wir wissen auch, dass wir Spatzen weiterhin zu Boden fallen werden. Das haben wir immer getan. Und wir werden es immer tun. Nicht vor dem Fallen sollten wir uns fürchten, sondern vor der Möglichkeit, dass wir vielleicht nicht aufgefangen werden.
Lasst uns tapfer sein. Lasst uns ihm vertrauen. Lasst uns weiter hoffen und glauben, dass wir, weil er uns liebt, am Ende nicht enttäuscht sein werden. Leicht wird das nicht sein.
Ein paar Tage später fuhren Bridget und ich hinunter zur Kathedrale von Ripon, noch einem Lieblingsort von uns. Seite an Seite saßen wir lange Zeit schweigend dort im Kirchenschiff, dachten nach, beteten, waren einfach da, saugten die kräftige Mischung aus Schock und Erleichterung in uns auf. Unsere schlimmsten Befürchtungen waren zerstreut, aber was würde das nächste Jahr bringen? Es war Zeit, langsamer zu werden. Zeit, zu lernen, im Augenblick zu leben, an diesem Tag, in dieser Stunde, in diesem Monat.
Ich kam zu dem Schluss, dass ein Teil dieses Prozesses darin bestehen würde, meiner Website mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Bridget hatte recht. Ich nahm mir vor, jeden Monat einen Brief zu schreiben. So fing alles an.