Tagebuch eines Sexsüchtigen - Scott Alexander Hess - E-Book

Tagebuch eines Sexsüchtigen E-Book

Scott Alexander Hess

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Beschreibung

"Tagebuch eines Sexsüchtigen" schildert einen Monat im Leben eines schwulen New Yorkers. Jede Nacht ist der mysteriöse Verfasser der Tagebucheinträge über Grindr und Manhunt auf der Suche nach hemmungslosem Sex. Doch als die nächtlichen Dates die Leere in seinem Leben nicht mehr zu füllen vermögen, ist der Erzähler gezwungen, sich seiner Sucht zu stellen und seinem Leben eine neue Richtung zu geben. "Tagebuch eines Sexsüchtigen" ist ein ebenso poetischer wie mitreißender Roman, der süchtig macht - schonungslos ehrlich, sprachlich brillant und mit viel schwarzem Humor.

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Für Ruben

Inhalt

7. Dezember

8. Dezember

9. Dezember

10. Dezember

11. Dezember

12. Dezember

13. Dezember

14. Dezember

15. Dezember

16. Dezember

17. Dezember

18. Dezember

19. Dezember

20. Dezember

21. Dezember

22. Dezember

23. Dezember

24. Dezember

25. Dezember

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Buchtipps

7. Dezember

Also ficke ich sein Gesicht – wortwörtlich. Lange harte Stöße, in denen sich all mein Ärger entlädt – über den miesen Job, das chronisch leere Konto, die vergeigte Beziehung, die Zwölfhundert-Dollar-Miete in Manhattan – all die Wut, die ich in meinem krampfhaft trainierten kleinen Fitnessstudioarsch habe. Ich ramme sie ihm einfach in den Mund. Nur so kann ich mich davon abhalten zu sagen: »Schluck ihn, Arschloch!« Ich weiß, dass er das unbedingt von mir hören will, und ich würde es auch gerne sagen. Aber schon beim Anblick seiner großen weißen Augäpfel, seiner Lippen und seiner dicken, hundeähnlichen, sabbernden Zunge spritze ich fast ab.

Wir sind seit zehn Minuten bei der Sache, auf dem Boden vor meiner Kochnische, und allmählich meldet sich bei mir die Erschöpfung. Ich spreche nur mit gedämpfter Stimme, weil meine Einzimmerwohnung an das Apartment eines niedlichen Mittzwanziger-Pärchens grenzt. Durch die Wand höre ich sie oft über Pottery Barn und Cheerios plappern. Wenn ich meinen Satz herausschreien würde, würden sie mich hören: »Lutsch meinen weißen Schwanz mit deinen geilen schwarzen Lippen.« Also flüstere ich nur, und ihm – nennen wir ihn Bing – scheint der sanftere Tonfall zu gefallen. Aber ich sehe, dass ihm die Knie wehtun. Als er vor Schmerz aufstöhnt, berühre ich seine Schulter.

Bings Haut ist glitschig und von einer exquisiten Mischung aus frischem Schweiß und äthiopischem Öl überzogen. Natürlich könnte es genauso gut Babyöl sein. Aber ich mag es ein bisschen exotischer. In Wahrheit weiß ich so gut wie nichts über Bing. Normalerweise reden wir nur miteinander, während er sich wieder anzieht, um zu gehen – niemals davor. Nach unserem zweiten Fick habe ich erfahren, dass er tagsüber als Juwelier arbeitet, und nachts als Maler. Enttäuschend. Denn in meiner Fantasie hatte ich aus ihm einen 22-jährigen Dealer auf Bewährung gemacht, dem die Drogen allmählich das Gehirn zerfressen.

Bing hat seine Position verändert und keucht, meinen Schwanz immer noch im Mund. Er kommt aus dem Rhythmus, als er die Knie anhebt und in die Hocke geht. Ich sollte meine Position ebenfalls verändern, mich ein wenig nach vorn lehnen, um unseren fünfzehnminütigen wilden Sexrausch am Laufen zu halten. Wird die Pause zu lang, fällt das fragile Fantasiegebilde schnell in sich zusammen. Also verlagere ich mein Gewicht, zögere dann aber, als mir klar wird, wie sehr Bings Knie schmerzen müssen. Ich frage mich, ob ich zu grausam oder ein schlechter Gastgeber bin, und dadurch öffnet sich ein winziger Durchgang zum gewöhnlichen, nichtsexuellen Teil meiner Gedanken. Plötzlich schießen mir alle möglichen Fragen durch den Kopf. Ist der Boden überhaupt sauber genug, um sich hinzuknien? Könnte Bing meinen Exfreund ersetzen? Und warum ist der Sex mit ihm so berauschend gut, und warum so viel besser als alles andere, was ich an diesem schrecklichen Tag durchgemacht habe?

Ich lege den Kopf in den Nacken. Mein Blick fällt auf ein vergilbtes Bild an der Küchenwand, auf dem ein explodierendes Kriegsschiff, die USS Shaw, zu sehen ist. In einer Ecke des Bildes steht in krakeliger Schrift: »Pearl Harbor, 7. Dezember 1941«. Um Mitternacht muss ich es abnehmen und den Adventskalender meiner verstorbenen Mutter aufhängen. Als ich noch ein Kind war, hat sie das immer getan, haargenau um diese Zeit. Mit dem Kalender begannen ihre drei Wochen des Wartens auf Weihnachten. Mein Vater – ebenfalls verstorben – hat im Zweiten Weltkrieg gedient, weshalb ansonsten dieses Pearl-Harbor-Ding an der Wand in der Küche meiner Eltern hing. Der Adventskalender strahlt Vorfreude aus und hält für jeden Tag ein kleines Geschenk bereit. Dieser kurze Anflug von Nostalgie bekommt meinem Ständer überhaupt nicht.

Wenn ich solchen Gedanken zu lange nachhänge, kommt mir irgendwann alles hyperreal vor, und dann hat sich der Sex erledigt. Bevor mein Schwanz schlaff werden und aus Bings Mundwinkel rutschen kann, stoße ich noch einmal richtig hart zu und spreche dabei die Worte, die wir beide hören wollen: »Lutsch ihn! Lutsch meinen weißen Schwanz! Sag, dass du ihn liebst, Arschloch!« Und er sagt es, und wie erwartet spritze ich ab. Aber nicht »in dein verficktes schwarzes Maul«, sondern safe, auf seine zarten Wangen. Ein paar Tropfen landen auf seiner Schulter, als er sich nach hinten fallen lässt – und dann geht Bing.

8. Dezember

Es ist 22.00 Uhr. Und was macht unser Sexsüchtiger gerade? Er liegt in einer Wanne voll dampfenden Wassers und Mr.-Bubble-Schaum und denkt darüber nach, warum die Stunden vor Mitternacht – kein Wortspiel – gefühlsmäßig immer die härtesten sind. Vielleicht, weil ich jahrelang abends immer stoned war. Vielleicht bin ich auch, als kleiner Junge, während eines Stromausfalls von einem Fettsack durchgefingert worden, genau um diese Zeit. Oder Manhattan wird Abend für Abend, vom Mond aus, mit ultravioletter Strahlung beschossen, die meine Gedärme zum Kochen und mich dazu bringen soll, vor ein fahrendes Auto zu springen. Fakt ist jedenfalls, dass ich die späten Abendstunden kaum aushalte und mich regelmäßig für Sex entscheide, um diesem Gefühl zu entkommen.

Wenn sich in meinem Kopf wieder und wieder die Szene mit dem Auto abspult, sage ich mir immer, dass ich das Leben eigentlich liebe. Und nur nachts wie besessen von Selbstmord bin. Aber dann spüre ich dieses schwarze Loch – ebenfalls kein Wortspiel. Obwohl ich mir in der letzten Zeit andauernd ausmale, wie ich Bings heiße, verdorbene Arschfotze durchnehme.

Mein schwarzes Loch tut sich jede Nacht auf, pünktlich um 22.00 Uhr. Es sieht aus wie einer dieser kreisrunden Brunnen auf dem Land. Wie ihn Schweinebauern in ihrem Hinterhof haben. Ich sehe mein schwarzes Loch vor mir, bei den nächtlichen Mr.-Bubble-Schaumbädern, wenn der manische Rausch meines übermäßig koffeinreichen Alltags in Verzweiflung umschlägt und einer tristen, lastenden Einsamkeit weicht. Ich sehe es vor mir, mit geschlossenen Augen, in meinem heißen, beruhigenden, betörend duftenden Bad. Ich blicke in das Dunkel, so tröstlich gleichförmig, und denke mir: »Warum nicht einfach hineinschlüpfen? Warum nicht einfach loslassen?«

In solchen Momenten kann ich mich entweder ertränken, mich zudröhnen oder Sex haben. Zum Ertrinken würde ich einen Haufen von den Vicodin-Tabletten schlucken, die man nach Zahnfleischbehandlungen bekommt (und die ich im Medizinschränkchen aufhebe), und dann für alle Zeit in meinem imaginären schwarzen Loch versinken. Ich habe mal einen Film gesehen, in dem eine betrunkene Blondine genau das macht – und am Ende elegant hinter einem Schleier aus Seifenblasen verschwindet. Aber bis jetzt habe ich mich stattdessen immer für stumpfen Sex entschieden.

Also schlage ich die Augen auf, lasse das nach Lavendel duftende Wasser ab und lösche die »Frühlingsbrise«-Kerze, um anschließend meinen heißen, drahtigen Körper in dem riesigen Spiegel neben der Kochnische zu begutachten.

Bevor ich das Badezimmer verlasse, schaue ich den letzten Seifenblasen nach, die sich strudelnd in Nichts auflösen.

Mein Spiegel ist zwei Meter hoch, ein Meter fünfzig breit und hat einen schönen, espressofarbenen Holzrahmen. Mein Freund Michael – ein verwöhnter Sprössling, der vom Vermögen seiner Eltern lebt und ein ziemlich talentierter Maler ist – ist mit mir zu Ikea gegangen, um ihn zu kaufen. Nach Hause habe ich ihn dann allein geschleppt, die vier Treppen hoch zu meiner Wohnung. Michael meinte, die Kochnische würde danach größer wirken, was auch stimmte. Natürlich wusste ich vorher schon, dass ich den Spiegel vor allem dazu verwenden würde, jeden Zentimeter meines im Fitnessstudio gestählten Körpers zu betrachten – und auch, um mir selbst beim Sex mit namenlosen Männern auf dem Küchenboden zuzusehen. Aber Michael habe ich das natürlich nicht gesagt. Er hat Komplexe wegen seines Körpers und hasst es, über Sex zu reden. Er weigert sich schon den ganzen Monat, seine Wohnung zu verlassen, weil er angeblich eine Tonne zugenommen hat. Wir schreiben uns SMS, um den Kontakt nicht abreißen zu lassen.

Der große, an die Wand gelehnte Spiegel teilt Herd, Spüle und Minikühlschrank von der Industriestahltheke mit den zwei Barhockern, die ich zum Essen und zum Arbeiten nutze. Auf der anderen Seite der Theke hängt ein schneeweißer Vorhang, der vom Boden bis zur Decke reicht und die Kochnische vom Rest des Zimmers abtrennt. Das Zimmer ist stilvoll und elegant eingerichtet mit einem antiken Schreibtisch und dem dazu passenden Bücherregal, einem Ledersofa, Beistelltischen, teuren Lampen und Gardinen. An der Wand über dem Sofa hängen einige gerahmte Kunstwerke – eine gute Mischung aus Ölgemälden und obszönen Aktbildern. Diesen Teil des Zimmers nenne ich gern meinen Sexsalon.

Ich stehe nackt vor meinem Ikea-Spiegel, meine Haut ist feucht, die Mr.-Bubble-Reste glänzen. Jeder Tag fängt für mich hier an, genau an dieser Stelle, indem ich Fotos von meinem Spiegelbild mache, die ich anschließend auf Sexseiten im Internet hochlade. Dabei achte ich auf den richtigen Abstand, denn von Weitem sehe ich ungeheuer sehnig und kräftig aus. Ich mache die Bilder um 7.00 Uhr früh, weil ich um diese Zeit immer am glücklichsten bin – weil ich so früh am Morgen noch das Gefühl habe, den Tag bewältigen zu können. In den Stunden danach taumele ich meist nur noch wie in Zeitlupe auf mein schwarzes Loch zu. Ich glaube, Sartre hat mal so was gesagt wie: »Das Leben beginnt auf der anderen Seite der Verzweiflung.« Er war wirklich ein Genie. Und wahrscheinlich ebenfalls sexsüchtig.

Meinem klinisch kalten Blick in den Ikea-Spiegel entgeht nichts. Ich bin eins siebzig, und das Einnehmendste an mir sind meine Augen, weil sie einen ganz eigenartigen Blauton haben. Sie sind blass und glänzen und strahlen irgendwie. Mit achtunddreißig habe ich immer noch dichtes Haar, das ich kurz trage. Ich gehe locker als knapp dreißig durch. Aber wenn ich jemanden aufreißen will, sind das überzeugendste Argument meine Titten.

Nachdem ich von Fayetteville, Arkansas, nach Manhattan gezogen war, habe ich mich noch am selben Tag im Fitnessstudio angemeldet. Als Jugendlicher habe ich mir immer ein dickes Arnold-Schwarzenegger-Buch angesehen, voller Fotos, die Arnies geschmeidigen, muskulösen Körper in einer Speedo zeigten. Er hatte ein Funkeln in den Augen, das sagte: »Ich bin Europäer und heiß.« (Allerdings noch nicht: »Ich werde Gouverneur von Kalifornien.«)

Wie verrückt trainierte ich an den Freihanteln und begann, diese anregenden, herausnehmbaren Trainingspläne aus Männer-Fitnessmagazinen zu studieren, auf denen »heterosexuelle« Models abgebildet sind. Models, die ihre weißen Zähne zeigen, ihre knusprigen, haarlosen Körper anspannen und nichts als furchtbar knappe Shorts tragen. Obsessiv sah ich meinem dürren Oberkörper dabei zu, wie er allmählich Form annahm. Auf meinem Bizeps zeichneten sich nach und nach Muskelstränge ab, mein Arsch wurde fester und auch mit dem Sex klappte es besser. Ich konnte mich selbst als Ware – als »Mr. Titten-aus-Stahl« – auf den Markt werfen und nach Typen mit genauso schönen Brustmuskeln, mit Knackärschen und flachen Bäuchen Ausschau halten. Nach Typen ohne Namen, Typen mit viel überschüssiger Energie, die sich an denselben Pornomodel-Sportmagazinen aufgeilten wie ich.

Und solange ich den richtigen Abstand einhalte, sehen meine Protein-Shake-Titten im Ikea-Spiegel immer noch unverschämt heiß aus. Mein Schritt ist sorgfältig getrimmt. Ich fühle mich sexy. Bereit. Gerüstet. Leer.

Es wird Zeit, dass ich einen großen Schwanz an Land ziehe, um mir dieses bedrückende schwarze Loch vom Leib zu halten.

Heute Nacht läuft es nicht so gut. Die WLAN-Verbindung meines Nachbarn, die ich schamlos anzapfe, hat sich mitten in einem Pornoclip von Straight Boys Suck for Cash verabschiedet und mich hängen lassen, mit einer Hand voll Gleitgel und dem brennenden Bedürfnis nach mehr. Ohne WLAN bleibt mir nur noch die beschissene Verbindung meines iPhones, um meine Internet-Bedürfnisse zu befriedigen.

Normalerweise jage ich, weil das Zeit spart, in drei Revieren gleichzeitig. Auf zwei Sexseiten im Netz – Grindr und Manhunt – und einer Sexhotline. Bis 23.00 Uhr muss ich jemanden bei mir haben, und bis Mitternacht fertig sein, damit ich gegen 7.00 Uhr wieder aufstehen und ins Fitnessstudio gehen kann, meine Titten in Form halten. Planung ist das halbe Leben.

Über die Kontaktbotschaften der Sexhotline geht es am schnellsten. Aber die rasche Folge der Männerstimmen hat etwas Verstörendes, und manchmal bekomme ich es fast mit der Angst zu tun. Ich springe wahllos von einer Ansage zur nächsten und hoffe darauf, dass eine davon heraussticht und mich aus meinem Trott reißt. Es gibt seltsame, wie »Ich hab mir grade Crystal reingezogen, achtundzwanzig Zentimeter in der Hose, und er sitzt gefesselt neben mir« oder »Ich trage Damenhöschen«. Dann folgt eine verdächtig junge Stimme: »Ich werde alles tun, was Sie wollen, und Ihre persönliche Hure sein, Sir.« Oft nicke ich ein, und die endlose Folge der Stimmen verschmilzt zu einem einzigen, verzweifelten Flehen.

Aber ich gebe nicht auf. Ich wate durch »Lutsch meine Füße – ich zahle dafür« und »Meine Freundin ist bei der Arbeit – sie denkt, ich wäre hetero«, dann »Ich fresse Scheiße und liege schon unter dem Toilettenstuhl« und schließlich ein freundliches »Ich suche ein Date«.

Den Ansagen zuzuhören gleicht einem emotionalen Wechselbad. Die Vergewaltigungsfantasien verängstigen und erregen mich zugleich, ich bin angewidert von den Scheißespielen, die manche anbieten, aber vor allem macht mich die eine, junge Stimme traurig (zu der ich mir sanfte, grüne Augen vorstelle), die sagt, dass sie ein Date sucht und nette Männer kennenlernen möchte. Der Junge muss geistig zurückgeblieben sein, wenn er glaubt, dass eine Sexhotline der richtige Ort dafür ist.

Die Hotline ist das reinste Chaos, aber trotzdem liefert sie mir ziemlich oft brauchbare Typen. Ungefähr jeder Zehnte befindet sich im Umkreis von einer Meile und ist bereit für einen Fick. Fürs Protokoll, ich halte mich immer an die Safer-Sex-Regeln, und bei Schwulen bedeutet das: kein Analverkehr ohne Kondom und nicht schlucken. Mein Motto ist: Negativ und safe bleiben, dann kriege ich mehr berauschenden Sex. Wäre ich positiv, würden sich die Chancen, jemanden abzuschleppen, drastisch reduzieren. Und was wäre dann mit meinem schwarzen Loch?

Meine anderen beiden Jagdgebiete sind online. Manhunt ist eine Webseite voller Schwanz- und Arschbilder und scharfer Texte voller animalischer Gelüste. Sie wirkt wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, wie eine völlig abgestumpfte Version von match.com, mit umfangreichen Profilen, haufenweise Fotos und niedlichen Kategorien wie »Top«, »Bottom«, »Daddy«, »Exhibitionist« oder »Fitness-Junkie«. Die Erfolgschancen sind begrenzt, aber hin und wieder lohnt es sich.

Die letzte und auch neueste Plattform ist Grindr, eine iPhone-App, die Männer in der Reihenfolge der Entfernung vom eigenen Aufenthaltsort auflistet. Zum Beispiel: »Bob ist 55 Meter entfernt, bi-neugierig und steht auf Spanking.« Das Grindr-Icon auf dem iPhone ist eine seltsame gelbe Maske, die ein bisschen wie ein Totenschädel aussieht. Der Totenschädel fordert einen auf, sich einzuloggen. Nach dem Einloggen wirkt das Ganze allerdings etwas freundlicher. Der Bildschirm des iPhones leuchtet auf und gibt einem (oder mir zumindest, wie ich da im Dunkeln auf meinem Bett liege) das Gefühl, in eine andere, schönere Welt versetzt zu sein. Das Grindr-Fenster ist in winzige quadratische Vorschaubilder der verfügbaren Männer unterteilt. Sechzehn davon passen gleichzeitig auf den Bildschirm. Eine kurze Berührung, und man scrollt nach unten und kann sich die nächsten anschauen, Männer über Männer. Die kleinen Vorschaubilder zeigen alles Mögliche, von einem Augapfel in Großaufnahme über einen fülligen Oberkörper oder den Schritt irgendeines Typen bis hin zum Empire State Building. Einer, der sich »Blue Balls« nennt, hat das Foto einer Bowlingbahn reingestellt.

Sobald man eines der Bilder antippt, kann man sich gegenseitig texten und ist schon auf dem besten Weg zum One-Night-Stand. Auf Grindr findet man die jüngsten, schärfsten, merkwürdigsten und verwirrtesten Männer – und die Seite geht ziemlich auf die Augen. Wenn ich in der Dunkelheit durch die winzigen Männergesichter scrolle, kommt es mir immer so vor, als würde ich im Mondlicht auf einer Sommerwiese liegen und vorbeischwirrende Glühwürmchen dabei beobachten, wie sie aufleuchten und gleich wieder verlöschen, in einem ständigen Kreislauf von Licht und Dunkel. Keine Ahnung, woher das kommt. Vielleicht, weil sie genauso ziellos und ungebunden sind. Manchmal spüre ich auch Ruhe und aufkeimende Hoffnung. Mit Grindr fühle ich mich in der Dunkelheit weniger allein.

Heute Nacht – ohne Verbindung zum Gratis-WLAN – liege ich nackt und mit Gleitgel beschmiert auf meinem Bettsofa, abgeschnitten von allen Internetpornos, während ich an der Sexhotline hänge und mich auf meinem winzigen iPhone bei Grindr einlogge. Es ist schon 22.58 Uhr, und ich frage mich, wo Bing wohl gerade ist.

Manisch wechsle ich zwischen Grindr und der Hotline hin und her, habe aber bis kurz vor Mitternacht kein Glück, und dann sacke ich mit dem Telefon in der Hand langsam weg. Im schwindenden Licht des Bildschirms sehe ich, wie mein sexloses, schwarzes Loch langsam zu mir emporsteigt. Etwas, das wie ein knorriger, verrotteter Ast oder wie eine verkrüppelte Hand aussieht, langt nach oben, um mich nach unten zu ziehen.

Ich schlafe ein.

In meinem Traum, der sich langsam auflöst, geht es um eine warme, gemütliche Kiste.

Ich bin gerade erst in meiner stockfinsteren, aber luxuriösen und gut geheizten Wohnung aufgewacht und liege schweißgebadet unter meiner superdicken Daunensteppdecke von Macy’s. Mein iPhone schnattert vor sich hin.

Unter der Decke ist es dunkel wie im tiefsten Wald; ich fühle mich sicher und geborgen, wie entrückt in eine himmlische Wildnis, während das Telefon plärrende Geräusche von sich gibt. Ich sehe noch Bruchstücke des Traums mit der Kiste vor mir, die langsam verschwimmen. Ich passe genau in die Kiste. Sie ist aus Pappe – Pappe, die sich irgendwie weich anfühlt, wie Stoff oder Haut. Ich höre zischendes, fließendes Wasser.

Das iPhone hört auf herumzuquaken. Ich bin deprimiert, weil ich glaube, dass ich gerade den denkbar schärfsten Typen verpasst habe, der etwas spät dran war, nur einen Block entfernt ist und einen unglaublich riesigen Schwanz hat. Doch dann meldet sich das Telefon erneut, ich lange danach und stelle fest, dass ich in ein paar Stunden zur Arbeit muss.

Ich kenne seine Stimme nicht, also knurre ich nur, in der Hoffnung, ihm ein paar Informationen zu entlocken. Er ist zwanzig, Latino, hat einen beschnittenen Zwanzig-Zentimeter-Schwanz, kommt aus der Bronx und will, wie er mir sagt, heute Nacht ganz, ganz, ganz dringend gefickt werden. Ich gebe ihm meine Adresse, krieche zurück unter die Decke und hoffe, dass der Traum mit der Kiste zurückkommt. Doch der Anruf hat mich zu sehr erregt. Also sinke ich nicht zurück in meine Traumwelt, sondern drifte immer weiter davon weg. Und mir wird bewusst, dass der Morgen schon unterwegs ist, genauso wie ein merkwürdiger, zwanzigjähriger, kakaofarbener Power-Bottom mit Riesenschwanz aus der Bronx. Ich überlege, ob ich mir eine pflanzliche Melatonin-Schlaftablette einwerfen soll.

Die Klingel meldet sich scheppernd, und ich drücke den Summer. Dabei frage ich mich, wie zur Hölle der Typ so schnell von der Bronx hierhergekommen ist. Bis ich mich vage daran erinnere, dass er angeblich auf irgendeiner Party war, irgendwo ganz in der Nähe.

Ich stehe nackt in der Dunkelheit hinter meiner Wohnungstür. Die Spannung steigt. Ich greife nach meinem Penis und erwecke ihn mit einer Hand zum Leben, und plötzlich mache ich mir Sorgen, dass er viel zu klein und verschlafen ist. Mit der anderen Hand halte ich den Spion offen, damit ich einen Blick auf meinen Besucher werfen kann, bevor ich ihn reinlasse. Wenn er, sagen wir, völlig entstellt oder über sechzig ist oder ein Fleischermesser in der Hand hat, kann ich immer noch mucksmäuschenstill und regungslos dastehen und darauf hoffen, dass er wieder abzieht. In diesen Momenten, wenn ein Fick die vier Treppen zu meiner Wohnung hochsteigt, bin ich immer ganz aufgekratzt. Ein heiterer Rausch, fast wie Unschuld.

Echte Unschuld kann es nicht sein, schließlich bin ich ein abgestumpftes Sexmonster. Aber es fühlt sich jedes Mal an, als würde jetzt etwas Neues kommen. Und während ich den Schritten auf dem letzten Absatz im totenstillen Treppenhaus lausche, taucht irgendwo in meinem Hinterkopf ein zerbrechlicher, kleiner Gedanke von früher auf: dass es der eine, dass es Liebe sein könnte.

Ich kann ihn durch den Spion sehen, und er sieht genauso aus, wie er sich beschrieben hat. Ich seufze, lasse ihn rein und weiß, dass der schönste Teil meines Abends vorbei ist.

Er liegt auf dem Bauch auf meinem Bettsofa; im Zimmer ist kaum Licht, sein Körper ist vollkommen schwarz. Ich glaube nicht, dass er Latino ist, vielleicht ein Mix. Beim Aufreißen wird immer gelogen. Das wird erwartet. Aber er ist wirklich so jung, wie er behauptet hat, das höre ich an seiner Stimme. Und obwohl er unrasiert ist und um die Taille ein bisschen speckig, ist sein Arsch ziemlich prall und hübsch. Er behält seine Kunststoffbrille auf und wartet, während ich mich in Position bringe.

»Also«, sagt er, mit langgezogener Betonung auf dem ›a‹, wodurch er sich wie ein gelangweilter kleiner Junge anhört, »warum fickst du mich immer noch nicht?«

Seine Stimme klingt jetzt sogar noch jünger, und ich frage mich, ob er wirklich schon zwanzig ist – und nicht ein Junge von der Highschool, der mit seiner Crackhurenmutter in einem schäbigen Sozialbau lebt. Die Vorstellung erregt mich irgendwie, und mein Schwanz wird endlich hart genug, um das Kondom drüberzuziehen. Dann schiebe ich ihn rein. Er hat den Kopf auf seine Unterarme gelegt, und obwohl ich so hart zustoße, wie ich kann, sagt er genauso gelangweilt und monoton wie zuvor: »Geht das nicht härter?«

Wieder stelle ich mir seine Mutter vor, eine fette wütende Crackhure, die zu ihm Dinge sagt wie: »Warum kannst du kein richtiger Mann sein?«, oder: »Du bist eine wertlose Schwuchtel!« Solche Sätze habe ich in Filmen über bedürftige, misshandelte Kinder gehört, die in Armut leben und am Ende auf ein College gehen, wo jemand wie Sandra Bullock ihnen Lesen beibringt. Ich stoße härter und härter zu. Aber er seufzt nur und sagt schließlich: »Wenn du gekommen bist, kannst du ihn rausziehen. Ich muss los.«

Ich bin nicht gekommen, aber ziehe mich bereitwillig zurück. Mir wird klar, dass er hier das Sagen hat. Er steht auf und zieht sich langsam an, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Im Halbdunkel versuche ich, mich zusammenzureißen, mich auf einen Ellbogen aufzustützen, um männlich oder cool oder entspannt auszusehen.

»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, lüge ich.

»Ja, das glaube ich«, antwortet er.

Dann geht er. Ich habe einen langen Aussetzer und warte geistesabwesend darauf, dass der Morgen endlich anbricht, doch die Nacht scheint festzuhängen. Ich nehme doch eine Melatonintablette und schlafe endlich ein. Aber von der Kiste träume ich nicht wieder.

9. Dezember

Mein Morgen beginnt mit: »Ich will dein Schwein sein, erzieh mich und lass mich deine Pisse trinken.« Es ist eine Nachricht von, nun ja, von ihm. Bei den Textmännern ist es am schwierigsten, den Überblick zu behalten: Es gibt weder Bilder noch Namen. Aber dieser hier schreibt schon seit zwei Monaten, dass er bare durchgenommen werden will, am besten von mehreren und gleich mit dem ganzen Unterarm. Ich frage mich, ob er wirklich »38, durchtrainiert und gut bestückt« ist, wie es in seinem Profil heißt. Oder ein alter, fetter Sack, der an irgendeiner furchtbaren Krankheit leidet und seine Fantasien nur noch in Nachrichten wie dieser hier ausleben kann.

Ich stehe auf und gehe ein paar Schritte durch das Dunkel. Meine Wohnung liegt auf der Rückseite des Hauses. Das ist einerseits ein Segen, weil es so ruhig ist. Andererseits fast ein Fluch, weil kaum Licht reinkommt. Aber mich stört die Dunkelheit nicht – ich finde die gruftartige Atmosphäre beruhigend.

Noch ganz schwach auf den Beinen, fühle ich mich wie ausgehöhlt. Ich male mir aus, dass sich letzte Nacht ein hübscher Serienmörder in meine Wohnung geschlichen, mich im Schlaf ausgeweidet und meinen Brustkorb mit parfümiertem Sägemehl ausgestopft hat, um mich dann wieder zuzunähen und die Narbe mit Max-Factor-Concealer zu kaschieren. Solche Fantasien habe ich am frühen Morgen oft. Sie machen mir nichts. Während ich allmählich zu mir komme, erinnere ich mich nach und nach an den fiesen kleinen Latinobengel, für den unser Fick gar nicht hart genug sein konnte. Aber dann frage ich mich, ob ich das nicht auch nur geträumt habe.

Zwei große Gläser Eiskaffee später geht es mir etwas besser. Ich gehe zu meinem Adventskalender und hänge eine winzige Stoffpuppe und einen Spielzeugtruck mit Augen an die Haken für den achten und neunten Dezember. Der Tag kann beginnen. Als ich mich wegdrehe, kommt es mir kurz so vor, als würde die Stoffpuppe mich auslachen.

Nach der Dusche betrachte ich mich in meinem Ikea-Spiegel, in dem ich heute besonders geschmeidig aussehe, fast wie gemeißelt. Ich bekomme Lust, ein paar Fotos zu schießen, wie jeden Morgen, und meine Profilbilder auf Manhunt und Grindr zu aktualisieren. So habe ich einen Vorsprung und erwische die Typen, die schon tagsüber auf der Suche nach Sex sind – heute Nacht muss es klappen, denn sonst …

Denn sonst was? Sonst stürze ich mich wahrscheinlich kopfüber in das schwarze Loch und löse mich auf.

All das geht mir durch den Kopf, während ich in den Spiegel schaue. Plötzlich wird mir klar, wie viel Angst ich davor habe, näher an den Spiegel heranzutreten. Ich mag es nicht, mich von Nahem zu sehen. Ich fühle mich dann alt. Meine Haut hat unter der Sonne gelitten, und ich habe zu viele von diesen abstoßenden Sommersprossen.

Ich mache einen Schritt nach vorn und habe dabei das Gefühl, etwas besonders Waghalsiges zu tun. Noch einen. So weit, so gut. Drei schnelle Schritte. Schließlich noch zwei, und da bin ich, da steht es direkt vor mir: mein Gesicht. Die achtunddreißigjährige, mit Sommersprossen übersäte Stirn, die Krähenfüße, die nicht mehr ganz straffe Kinnpartie. Schnell gehe ich wieder auf sichere Distanz. Jetzt zählen nur noch meine Titten und meine 74-Zentimeter-Taille. Aus anderthalb Metern Entfernung bin ich ein ganzer Kerl, ein geiler Hengst.

Dann schließe ich die Augen und lasse zum ersten Mal seit Monaten meine Schultern hängen, so tief, wie es nur geht. Um mir zu beweisen, dass es mir ernst ist, sage ich laut zum Spiegel: »Wirst du jemals der sein können, der du wirklich bist?« Ich schaue mir den schlanken, blassen, perfekt geformten nackten Körper in meinem Ikea-Spiegel an und sage zu ihm: »Wer zur Hölle bist du eigentlich? Warum lässt du das Versteckspiel nicht einfach sein und versuchst es herauszufinden?«

Es ist völlig still, und mein Kopf ist leer. Die kleine Stoffpuppe am Adventskalender blinzelt boshaft in meine Richtung. Ich möchte ihr eine Nadel ins Auge stechen. Das dumpfe Rumgrübeln nervt. Der Tag muss weitergehen. Ich wichse schnell zu einem verpixelten Video auf meinem iPhone, in dem ein angeblich heterosexueller arabischer Nerd meisterhaft an einem großen körperlosen Schwanz lutscht.

Fürs Erste befriedigt, ziehe ich mich an für die Arbeit. Ich suche mir ein richtig schönes Outfit zusammen, um mich aufzumuntern, denn ich spüre bereits die Folgen der viel zu kurzen Nacht. Außerdem will ich halbwegs anständig aussehen, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit einen kurzen Zwischenstopp einlege und meine Tante Flora besuche. Ich sehe sie einmal in der Woche. Sie ist ziemlich alt und könnte jeden Moment abkratzen.

Als ich das Haus verlasse, beschließe ich, dass ich mir heute zehn Dinge überlegen werde, die ich noch tun will, bevor ich sterbe. Ich bin mir sicher, dass ausschweifender anonymer Sex nicht dazugehören wird.

Tante Flora ist ein altes Showgirl und ziemlich viel herumgekommen. Seit ein paar Monaten besuche ich sie regelmäßig. Nach einem leichten Herzinfarkt hatte sie plötzlich den Wunsch, ihren »einzigen lebenden Verwandten« kennenzulernen. Sie ist die kleine Schwester meines verstorbenen Vaters, und sie ist stinkreich. Wenn sie nicht noch einmal heiratet (ihr Ehemann, ein Gastwirt aus Manhattan mit Verbindungen zur Mafia, ist vor Jahren von der Bildfläche verschwunden), nicht wahnsinnig wird oder mich irgendwann satt hat, werde ich es sein, der ihr langsam versiegendes Vermögen erbt. Ihre verlockendsten Besitztümer sind eine stattliche Dreizimmerwohnung in Manhattans nobler Upper West Side und eine riesige Kunstsammlung, zu der auch ein Pollock und ein Warhol gehören.

Sie ist eine wohlgenährte Frau von achtzig Jahren mit ovalen blauen Augen, glänzendem blonden Haar und einer Haut, die dank professioneller Botoxbehandlungen wieder aussieht wie Porzellan. Sie ist kerngesund und noch ziemlich gut beeinander. Allerdings hat sie die Angewohnheit, längere Zeit einfach nur dazusitzen, ohne ein Wort zu sagen. Bis ihre Gedanken dann plötzlich ins Rotieren kommen, wie ein verstaubter Ventilator, der lange nicht benutzt worden ist, und man von dem Schwall unzusammenhängender Erinnerungen fast weggeblasen wird. Ob ihre Geschichten der Wahrheit entsprechen oder nur ausgedacht sind, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Am liebsten spricht sie von früher, als ich noch ein sechsjähriger Junge war und sie jeden Sommer zu Besuch auf den Bauernhof meiner Eltern in Arkansas kam – oder sie erzählt von ihrer Zeit auf den Bühnen New Yorks. Ich erinnere mich, dass sie uns jeden Sommer besuchte, bis ich zwölf war. Dann hörten ihre Besuche auf. Ich weiß nicht, warum.

Tante Floras Theaterkarriere (sie nannte sich damals Florence Tanner) lief in den frühen 1960ern hervorragend. Aber als sie heiratete, wurde es schlagartig still um sie. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich aus freien Stücken entschieden hat, der Bühne den Rücken zu kehren. Sie hatte immer ihren eigenen Kopf, und auch damals hätte sie sich von niemandem herumkommandieren lassen. Schon gar nicht von ihrem rabiaten Mafioso-Ehemann. Bevor er ein paar Nobelrestaurants kaufte, war er Boxer. Auf den Fotos, die ich von ihm kenne, sieht er ziemlich scharf aus. Ich würde ihn ficken.

Ich bin mit dem Rad zum Apartment meiner Tante gefahren, und jetzt sitze ich ihr gegenüber. Flora hat auf einem thronähnlichen Sessel im Wohnzimmer Platz genommen und ist eingenickt, ihr Kopf ist nach hinten gesunken. Ich glaube, was sie geprägt hat, war, dass sie sich, als armes Mädchen aus Arkansas, im Leben immer durchsetzen musste, gegen unmenschliche Armut und alle möglichen anderen Grausamkeiten – genau wie mein Vater. Dank ihrer exklusiven Kleidung, ihrer kultivierten Ausdrucksweise und des Geldes sieht man ihr die raue Kämpfernatur nicht mehr an. Aber wie ein Skorpion mit Giftstachel sticht sie zu, sobald sie sich in die Enge getrieben fühlt. Jetzt schnarcht sie leise.

Bei meinen Besuchen rede ich nicht viel – hauptsächlich, weil ich befürchte, sie unabsichtlich zu verärgern und dann enterbt zu werden. Aber wenn Flora ins Erzählen kommt, fühle ich mich immer wie ihr Privatsekretär, angestellt, um ihre Biografie zu schreiben. Heute sitzen wir uns schon seit fünfzehn Minuten schweigend gegenüber. Sie hebt den Kopf, aber ihre Augen bleiben geschlossen. Dann leckt sie sich die Lippen, wie eine erschöpfte Katze.

Ich sitze auf einer Chaiselongue. Wie eine Puppe, die jemand dort hindrapiert hat. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen und stelle mir vor, wie ich die antiken Möbel für eine schicke kleine Orgie umstellen würde. Wir sitzen vor einer hohen Fensterfront, die einen schönen Ausblick auf die West End Avenue bietet. So ist es jedes Mal, wenn ich sie besuche: Immer das gleiche Arrangement, und immer steht ein Teller mit Ingwerkeksen auf einem kleinen Tischchen zwischen uns. Keiner von uns rührt die Kekse an. Wir müssen eben beide auf unsere Linie achten.

»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagt sie und reißt, plötzlich hellwach, die Augen auf.

Dann zieht sie eines ihrer vielen Fotoalben hervor. Ich muss zugeben, dass ich diese Besuche, so kurz und belanglos sie sind, als sehr tröstlich empfinde. Hier wird nichts von mir erwartet, und ich glaube sogar, dass Flora manchmal vergisst, wer ich bin. Es fühlt sich fast anonym an, und das gefällt mir. Außerdem ist es schön, mit jemandem Zeit zu verbringen, den ich nicht vögeln will.

»Komm, setz dich zu mir«, sagt sie. Dabei klopft sie leicht auf einen barocken, mit Troddeln behangenen Fußhocker neben ihr.

Aufgeschlagen ist das Album bei einem Schwarzweiß-Foto. Auf der linken Seite des Bildes steht eine junge, wirklich bezaubernde Flora, in einem bodenlangen Abendkleid. Ihr Haar ist nach hinten gekämmt und zu einer Betonfrisur fixiert. An ihrer einen Hand, mit der sie ein Glas Sekt hält, prangt ein riesiger Diamantring.

»Das ist die Fotze«, sagt sie sanft und zeigt auf die Frau auf der rechten Seite.

Ich liebe es, wenn sie flucht. Dabei wird sie immer ziemlich derb.

Die andere Frau auf dem Foto, ein dunkler exotischer Typ mit fülligen schwarzen Haaren, ist kleiner und kurvenreicher als Flora. Sie lächelt filmreif in die Kamera, und ihre enormen Brüste drängen sich fast aggressiv aus ihrem figurbetonten weißen Kleid, das mit Perlen bestickt und äußerst tief ausgeschnitten ist.

Flora sieht – jetzt und auf dem Foto – etwas verbittert und geknickt aus. In ihren Augen liegt mehr Wut als Schmerz. Doch ich glaube, dass die Wut nur dazu da ist, den Schmerz zu verdecken, und plötzlich spüre ich zwischen uns eine unerwartete Verbindung, die mir unangenehm ist. Es ist wohl an der Zeit zu gehen. Ich sollte nicht zu spät zur Arbeit kommen.

»Er hat das Foto geschossen, das Arschloch. In derselben Nacht hat er es mit ihr getrieben«, fährt Tante Flora fort.

Sie schlägt das Album zu, was hoffentlich bedeutet, dass mein Besuch für diese Woche beendet ist.

»Ich habe es ihnen heimgezahlt«, sagt Flora, um mit der Erinnerung abzuschließen. Ihre Augen schließen sich wieder.

Während ich noch auf ein Zeichen warte, dass ich gehen soll, versuche ich mich an den Tod ihres Mannes zu erinnern. Mir fällt wieder die Doppelbeerdigung meiner Eltern in Arkansas ein, zu der Flora nicht erschienen war.

Nach der Beerdigung hatte ich vollkommen apathisch auf einem ungepolsterten Stuhl in dem bescheidenen, maroden Landhaus meiner Eltern gesessen. Ich schüttelte die schwieligen Hände von Männern und Frauen, die das ganze Jahr über im Freien arbeiten, und lauschte dem rührseligen Gemurmel unbekannter Stimmen, die Sinnloses sagten.